FRED FAKLER

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FRED FAKLER
FRED FAKLER
im Wiener und im siebenbürgischen Literaturbetrieb
Stefan Melwisch
1. Die Aporien einer Minderheitenliteratur
Die siebenbürgisch-deutsche Literatur in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts weist nur spärliche Rückkoppelungen mit dem binnendeutschen Raum auf, sie
nähert sich, vor allem aufgrund der Konzentration der kulturellen Kräfte auf nationalpolitische
Interessen, einem beinahe geschlossenen Produktions-Rezeptions-Kreislauf. Unter solchen
Voraussetzungen waren ambitionierte Schriftsteller, die überregional wirksam werden wollten,
ohne dabei die eigene Herkunft zu verleugnen, vor zahlreiche Probleme gestellt.
Am Beispiel Fred Faklers (1877-1943) läßt sich sehr anschaulich demonstrieren, wie
schwierig es ist, den Anforderungen der beiden literarischen Systeme — dem überregionalen
wie dem regionalen — zu genügen. Fakler ist ein literaturgeschichtlicher Grenzfall: Einerseits
würde ihm aufgrund der eigentümlichen Qualitäten seines einzigen umfangreichen Werks —
dem Roman Das Gespenst (1905) — eigentlich das Verdienst zukommen, den ersten modernen
Roman der siebenbürgischen Literatur verfaßt zu haben. Er blieb dort aber aus verschiedenen
Gründen (lange) wirkungslos. Andererseits erfüllte er das entscheidende Kriterium, um mit
seinem Roman überregional wirksam zu werden, nämlich bei einen großen Verleger unterzukommen. Aber auch außerhalb Siebenbürgens verlief die Rezeption zu seinen Ungunsten. Dabei
hatte Fakler meines Erachtens versucht, den Ansprüchen beider Literaturbetriebe zu genügen.
Er präsentiert uns mit nämlich mit seinem Erstlingswerk so etwas wie den prekären Versuch,
sich von der siebenbürgischen Tradition zu lösen und ihr gleichzeitig in gewisser Weise treu zu
bleiben. Diesen Balanceakt unternahm er als junger Wahl-Wiener aus Siebenbürgen.
2. Inhalt
Da Faklers Roman nicht gerade zu den kanonisierten Texten — nicht einmal innerhalb der
siebenbürgisch-sächsischen Literatur — gehört, scheint es mir angebracht, den plot kurz zusammenzufassen:
Der Erzähler, ein an Syphilis erkrankter Schriftsteller, lernt im Zug eine Schauspielschülerin,
die „Konservatoristin“ Ada Werner kennen und beschließt, um ihr nahe zu sein und sie in der
Folge für sich zu gewinnen, sich in der freigewordenen Wohnung im Haus ihrer Eltern in Rodaun bei Wien einzumieten. Ihre Schwester hatte sich, nachdem sie verführt worden war, zwei
Jahre zuvor im Garten des Hauses das Leben genommen und die Eltern befürchten nun ähnliches bei Ada. Deren Ziehbruder, Theodor Ritter von Enzersberg, kurz Thedi, Redakteur des „Grazer sozialistischen Tagblattes“ ist so etwas wie die idealistische Gegenfigur zum kranken
Schriftsteller und besucht die Familie mehrmals im Jahr. Der Erzähler nimmt den „Musterknaben“ auch sofort als Nebenbuhler wahr, da Ada diesem aufgrund der gemeinsam verlebten
Kindheit sehr zuneigt und ihn gegen die Angriffe des Erzählers verteidigt. Die Einstellung Adas
und auch der Eltern dem letzteren gegenüber verbessert sich erst, als sie sich bei einem Unfall
Fred Fakler im Wiener und im siebenbürgischen Literaturbetrieb
mit einem Messer gefährlich verletzt und der Erzähler alles Erforderliche bis zum Eintreffen des
Arztes in die Wege leitet.
Ada weiß nichts von seiner Krankheit und beginnt den Erzähler wirklich zu lieben, während
dieser sich zwar durch sie einen Ausweg aus seinem „verpfuschten“ Leben erhofft, aber noch
zwischen bloßer Verführung und dem Wunsch nach einem gemeinsamen Leben schwankt. Die
Geschlechtskrankheit belastet ihn zunehmend, und er fürchtet auch die Folgen, die eine Verführung Adas für diese bedeuten würde, doch will er davon nicht Abstand nehmen. Als sie ihm
einmal in die Falle geht, wird das Unheil noch einmal durch einen „Stich in den Drüsen“ abgewendet und Ada kann entfliehen. Vollkommen entsetzt entzieht sie sich ihm nun, und der
Erzähler beschließt, das Haus ihrer Eltern zu verlassen und kündigt Ada gegenüber an, sein
Leben als „Lump“ fortsetzen zu wollen. Diese wiederum fordert ihn auf, sein Dasein in neue
Bahnen zu lenken und sich zu mäßigen, da sie ansonsten nicht bereit sei, ihm „diesen reinen
Leib“ hinzugeben. Er entschließt sich, endlich ein Krankenhaus in Wien aufzusuchen, gibt aber
vor, dringend nach Siebenbürgen abreisen zu müssen.
Während der Wochen im Krankenhaus läßt der Erzähler seinen Diener die Briefe aus Rodaun abfangen und die seinigen aus Siebenbürgen an Ada schicken. Zwar sind nach der merkurialen Kur Rezidive zu erwarten, doch stellt ihm der Arzt in Aussicht, in drei Jahren vollkommen
geheilt zu sein. Durch das verordnete enthaltsame Leben im Krankenhaus und wegen der wochenlangen Distanz zu Ada schmiedet der Erzähler schon wieder Pläne zu ihrer Verführung.
Nach seiner Entlassung fordert er sie auf, ihn in seiner Wiener Wohnung aufzusuchen und
beschließt, ihr „Diavolini“, ein Aphrodisiakum, einzuflößen. Als dieses zu wirken beginnt,
schreckt der Erzähler aber plötzlich vor der „Besudelung“ der „reinen Glieder“ zurück. Er verpflichtet sich Ada und eröffnet ihr, daß er krank sei, benennt jedoch die Art der Krankheit nicht.
Jedenfalls stellt er sich die vollkommene Wiederherstellung seiner Gesundheit als Bedingung
für ein Verlöbnis und reist ab, ohne von ihr zu verlangen, sich ihrerseits auch ihm gegenüber für
gebunden zu erachten.
Der Erzähler verbringt nun mehrere Monate in Kurorten und hat eine Informantin angeworben, die ihm jede Neuigkeit aus Rodaun berichten sollte. Seine Läuterung beginnt, er will
„hart“ und „genügsam“ werden, während sich für Ada erste Erfolge am Theater einstellen. Als
die beiden nach einiger Zeit wieder zusammentreffen, teilt sie ihm mit, daß sowohl über die
eingeschleuste Informantin als auch über seine Krankheit Bescheid weiß. Sie ist betrübt, da
Thedi den Kontakt mit ihr in dem Glauben abgebrochen hatte, daß sie sich vom Erzähler hat
verführen lassen. Diesen muß Ada wiederum beschwichtigen, als er Thedi zum Duell fordern
will. Nachdem er seine Angelegenheiten amtlich geordnet und Ada sein gesamtes Vermögen
überschrieben hat, reist er nach Siebenbürgen ab, um die dort die Jahre bis zur vollständigen
Heilung abzuwarten.
Anfangs fühlt sich der Erzähler noch als Fremdkörper in seiner Heimat und sucht nach einem Weg, „tätig“ zu werden. Nachdem ihn Ada in einem Brief auf die Unterdrückung der Siebenbürger Sachsen aufmerksam macht, tritt er in den „Dienst seines Volkes“, wird politisch
tätig und verwendet Teile seines Vermögens für gemeinnützige Zwecke. Als Adas Vater stirbt,
reist der Erzähler nach Rodaun. Es kommt zu einem Streit wegen Thedi, an dem Ada noch immer sehr hängt. Seine „gefesselte Bestie im Leib“ und seine Krankheit lassen den Erzähler einsehen, daß eine Verbindung mit Ada trotz aller Liebe unmöglich ist. Um seiner Einsamkeit in
Siebenbürgen zu begegnen, macht er eine Wiener Straßendirne zu seiner „Gesellschafterin“, um
sich zumindest vorübergehend der Illusion eines trauten Heims hinzugeben, doch er wirft sie
sehr bald hinaus, nachdem sie sich mehreren Husaren angeboten hatte.
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Drei Jahre vergehen: Ada ist Thedis Braut, die beiden sind berühmt geworden. Die Krankheit
des Erzählers stellt sich als unheilbar heraus, dazu droht ihm der Prozeß wegen einer politischen Rede. Er entschließt sich zum Selbstmord.
3. Zwischen Selbstreflexivität und Didaktik
Schon diese kurze Inhaltsangabe macht klar, daß Faklers Roman in Siebenbürgen zu jener
Zeit Anstoß erregen mußte. Aber hinter dem rein Inhaltlichen verbirgt sich ein narratives Konzept, das — so könnte man den Text lesen — darauf angelegt sein könnte, die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der zwei erwähnten Literatursysteme gewissermaßen aufzulösen. Ich
unterstelle Fakler also, zweigleisig gefahren zu sein.
Von Anfang an meldet sich im Text immer wieder der Erzähler zu Wort und reflektiert über
Probleme des Erzählens, vermengt die Ebene der Handlung und der Reflexion und weist vor
allem des öfteren auf die Fiktionalität des Beschriebenen hin. Da kommt es schon einmal vor,
1
daß der Erzähler das Geschehen mit „War das nicht eines tollen Hirnes Ausgeburt?“ kommentiert oder daß die direkte Rede des Erzählers gleichzeitig als Leseransprache zu deuten ist.
Angesichts eines solch modernen Konzepts darf es nicht verwundern, daß der Roman den siebenbürgischen Durchschnittsleser jener Zeit wohl überforderte.
Zum Spiel mit den fiktionalen Ebenen tritt aber noch eine weitere, die nicht nur eine gewisse „Strategie“ Faklers offenbart, sondern die auch dazu angetan ist, letzteren vor — gewiß
möglichen — eindeutigen Identifikationen zu bewahren. Fakler meldet sich nämlich einmal
persönlich als „Schreiber“, also als realer Verfasser zu Wort, und distanziert sich explizit von
2
seinem „Helden“. Es stellt sich hier die Frage, ob Fakler sich damit auf den gesamten Text
bezieht, oder ob diese nur für den ersten Teil gilt, also vor dem Einsetzen des Läuterungsprozesses seines „Helden“. Durch die explizite Distanzierung scheint sich Fakler nämlich gegen
jene Kritik immunisieren zu wollen, die ihm eine Apotheose des siebenbürgischen „Arterhaltungskampfes“ im zweiten Teil vorwerfen könnte.
Daß Fakler verschiedene Lesarten möglich macht, ist ihm einerseits als Leistung anzurechnen und spricht für sein Vermögen, den Roman für verschiedene Erwar-tungshaltungen
eines potentiell vielfältigen Publikums konstruiert zu haben. Andererseits ist auch sehr deutlich
zu bemerken, daß der gewagte und avancierte Entwurf sowie die Darstellungsweise des
Romans im zweiten Teil nicht fortgesetzt wird. Fakler gibt das Spiel mit den fiktionalen Ebenen
und die Ironie weitgehend zugunsten einer eher eindeutigen Fabel auf.
Deshalb ist es verwunderlich, daß man gerade jene Abschnitte, in denen sich eine dem siebenbürgischen Geschmack und dem Wunsch nach Eindeutigkeit entgegenkommende Lesart
anbietet, eigentlich noch mehr ignoriert hat als den Anstoß erregenden ersten Teil des Romans.
Hält man den ersten und den zweiten Teil von Faklers Roman gegeneinander, so kann das
schon Irritationen auslösen: hier ein mit modernen Themen und Mitteln spielender Romanentwurf, da die allmähliche Reduktion auf konventionelle Strategien in Handlung und Aufbau.
Interessanterweise begnügt man sich in allen bisherigen Untersuchungen mehr oder weniger
mit einer solch lapidaren Feststellung und geht angesichts des komplexen ersten Teils gar nicht
mehr auf den zweiten ein, speziell was die Szenen in Siebenbürgen betrifft. Ist Fakler hier das
Talent ausgegangen? Oder ist das alles einem — gewissermaßen didaktischen — Konzept untergeordnet?
1
2
Fakler, Fred: Das Gespenst. Wien, Leipzig: Wiener Verlag 1905, S. 100.
Vgl. Ebd., S. 138.
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Der Erzähler sucht nach seiner Rückkehr nach Siebenbürgen nach einer neuen Aufgabe,
nachdem er sein dichterisches Unvermögen eingesehen hatte, möchte ein „Mann sein“ und „um
3
Ruhm und Ehre für me i n Weib, me i ne Kinder“ kämpfen. Schließlich macht Ada den Erzähler
in einem Brief auf die Unterdrückung seines Volkes aufmerksam und fordert ihn auf, tätig zu
werden, womit sie einen weiteren Prozeß in Gang setzt:
Ich beschäftigte mich eingehender mit den Verhältnissen, fand da noch immer etwas Neues und
was die Hauptsache war: ich erkannte den großen Zug in diesem Kampfe meines Volkes.
4
Mein Pessimismus bekam Lücken.
Der Erzähler beginnt nun, „Geschmack“ zu finden an den „wortkargen, phlegmatischen
Menschen, die so schwer nicht nur um ihr politisches, sondern ganz besonders um ihr wirt5
schaftliches Dasein ringen.“ Er unterstützt sächsische Institutionen finanziell und hält schließlich auf einer Veranstaltung seine erste Rede. Anfangs noch von Selbstzweifeln geplagt, gibt er
dem Drängen seiner Landsleute nach und wird zu einem ihrer Wortführer. Hieran schließen sich
dann zum Teil lokalpolitische Erörterungen, in denen sich der Erzähler beispielsweise Gedanken
6
über eine zu gründende „Nationalbank“, oder eine „Milchmeiereigenossenschaft“ macht. Dennoch findet er kein restloses Vertrauen bei seinen Landsleuten, da er aufgrund der Tatsache,
daß er ja wegen seiner Krankheit nichts zu verlieren hat — auch auf eine Verbindung mit Ada
setzt er ja keine Hoffnungen mehr — zu einer radikaleren Gangart gegenüber dem „Feind“
neigt. Die Krankheit macht ihn auch in seiner Heimat zum Außenseiter.
Drei Jahre vergehen, dem Erzähler droht eine längere Gefängnisstrafe wegen einer Rede bei
der Eröffnung der Nationalbank. Die Krankheit hat sich als unheilbar erwiesen und er wendet
sich an Ada, der er den „Rechenschaftsbericht“ vorlegt: „Und ich lege dir hier in diesen Blättern
die Beichte ab. Höre sie und dann — verzeih. Und suche zu verstehen den Mann, der sein be7
drängtes Volk verläßt.“ Er schließt sein Leben ab und richtet sich an die „Ahnen“, die ihn bereits „erwarten“:
Hier ist das Schuldbuch meines Lebens, hier Liebe, hier Haß, hier Untat, hier Sühne; gebt mir g e r e c h t e s Urteil!
Und sie antworten und sprechen: Ave, ave! Trete unter uns!
Mit diesem pathetischen Ende findet also ein Roman seinen Abschluß, der, überspitzt formuliert, mit dem Horizont des modernen, urbanen Schriftstellers ansetzt und in einer offenbaren Selbstbeschränkung auf einen provinziellen Horizont endet. Natürlich könnte man Fakler
seine Distanzierung von seinem „Helden“ glauben oder dessen politisches Engagement als
Ausdruck des beginnenden Wahnsinns deuten, wie es auch gegen Ende des Textes nahegelegt
8
wird. Auffallend sind nämlich Faklers Versuche, sich von seiner Hauptfigur zu distanzieren bzw.
die Lesart zu insinuieren, daß alles aus der Perspektive eines wahnsinnig werdenden Künstlers
geschildert sei. Die Frage ist, ob es Fakler nun auch gelingt, sich von einer etwaigen Lösung zu
distanzieren An jenem Punkt, an dem der Erzähler eine Betätigungsmöglichkeit jenseits der
3
Ebd., S. 250.
Ebd., S. 255.
5
Ebd., S. 257.
6
Ebd., S. 266.
7
Ebd., S. 309.
8
Vgl. Ebd., S. 296f.
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Schriftstellerei sucht, beginnt er sein bisheriges Leben äußerst kritisch zu betrachten. Er richtet
Vorwürfe gegen sich selbst und gleichzeitig gegen eine ganze Lebensform, die das Ich und den
(ästhetischen) Genuß zu sehr in den Mittelpunkt stellt. Er möchte diese Stufe überwinden, ist
aber ratlos, nicht zuletzt nachdem er sich seine mangelnde künstlerische Begabung eingestanden hatte. Eine Antwort gibt ihm ausgerechnet Ada und spricht in einem Brief „merk9
würdig ernste Gedanken aus“ . Sie weist ihn auf die Unterdrückung seines Volkes und somit
eine politische Betätigungsmöglichkeit hin. Der Erzähler beginnt, sich mit seiner Heimat auseinanderzusetzen, die den „Verirrten“ rufen würde. Es folgen nun zahlreiche Passagen, in denen
er alles Sächsische bedingungslos heroisiert und einer Diktion verfällt, die in nichts mehr an die
Sprache der ersten Teils erinnert.
Keine Kasten bestehen, kein Adel, aber auch kein Proletariat; der Sachsengraf war immer ein einfacher Bürger. Es findet sich keine Sächsin in einem Lupanar, den Ehebruch in Permanenz kennt
man nicht und nicht die bevorrechtete Prostitution der Kulissen- und Chantanwelt. Keine Verbrecherfamilien hüten und züchten die Zersetzung; Verdorbenes wird erbarmungslos abgestoßen
10
und verendet in der Fremde.
Der letzte Satz richtet der Erzähler wohl auch gegen sich selbst. Diese und andere Verherrlichungen des Sachsentums im Roman sind aber nun keine Gespinste eines wahnsinnig
Werdenden, wie es zum Teil suggeriert wird. Es ist eine Ausdrucksweise, die Fakler auch in
nicht-fiktionalen Texten gebraucht. Damit beginnt Fakler, sein „Versteckspiel“ zu desavouieren,
er ergeht sich in immer deutlicheren antimagyarischen Anklagen bei gleichzeitigen Lobpreisungen des Sachsentums. Doch leider hat sein „Held“ aus seinem „vertrödelten“ Vorleben
ein Stigma mitgebracht: die Geschlechtskrankheit, die sich gegen Ende als unheilbar erweist, ist
zwar einerseits Auslöser, sich überhaupt nach Siebenbürgen zurückzuziehen, dann aber auch
entscheidendes Hindernis in jenem Moment, als der Erzähler endlich seine Bestimmung gefunden hat:
Fred Fakler [...] führte seine in der Großstadt lädierte Figur im zweiten Romanteil in ein völlig
idyllisierend und Sächsisches heroisierend geschautes Siebenbürgen zurück und ließ die Künstler11
gestalt in Volkstumskampf und Wirtschaftsreformen einen perspektivischen Lebenszweck finden.
Der durch seine Existenz als „Lump“ in der Großstadt „lädierte“ Erzähler ist gerade jetzt, da
er endlich seinem Volk dienlich sein kann, dem Untergang geweiht. Die Krankheit erweist sich
nach dieser Lesart als Sühne für das exzessive Vorleben des Erzählers, wodurch alles, was dem
siebenbürgischen Durchschnittsmenschen als erstrebenswert gilt, verunmöglicht wird. Wer eine
Lösung wollte, hätte sie auch haben können.
4. „Ein Sohn der siebenbürgischen Erde “
Wie ist man mit aber in Wien und Siebenbürgen mit diesem seltsamen und äußerst ambivalenten Gebilde umgegangen?
Zunächst ist festzuhalten, daß Fakler etwas gelungen ist, wovon andere siebenbürgische
Autoren seiner Zeit nur träumen konnten: Er hatte einen großen Verleger gefunden. Sein Roman erscheint 1905 beim Wiener Verlag. Ich möchte diesen kurz vorstellen, um deutlich zu
machen, in welch beachtlicher Gesellschaft sich der junge Siebenbürger Sachse befand.
9
Ebd., S. 253.
Ebd., S. 258.
11
Markel, Michael: Siebenbürgische Künstlergeschichten 1900-1925. In: Schwob, Anton (Hrsg.): Methodologische und
literarhistorische Studien zur deutschen Literatur Ostmittel- und Südosteuropas. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1994, S. 155.
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Der Wiener Verlag wurde 1899 von Oskar Friedmann, dem älteren Bruder von Egon Friedell gegründet und zählte zu den wenigen Verlagen in Österreich zu jener Zeit, die nicht von Deutschen ins
Leben gerufen worden sind. 1903 übernahm der 1879 geborene Wiener Schriftsteller Fritz Freund
den Verlag und baute das ohnehin schon recht produktive Geschäft noch weiter aus. Freund übernahm sich jedoch finanziell und das Unternehmen gewann solche Ausdehnungen, daß er es nur
noch durch Kredite finanzieren konnte, was nicht zuletzt daran lag, daß er viel Geld in Werbung
steckte. Eines Tages war der Verlag jedoch so hoch verschuldet, daß er 1908 schließlich die Produktion einstellen mußte.
Zahlreiche Vertreter der „Wiener Moderne“ bzw. „Jung-Wiens“ veröffentlichten ausschließlich oder teilweise beim Wiener Verlag, so zum Beispiel Felix Dörmann (überließ von 1900-1906
sämtliche Werke dem Verlag), Felix Salten, Raoul Auernheimer u.v.a. Aus vielen Gründen bemerkenswert ist die Erstveröffentlichung von Schnitzlers Reigen im Jahre 1903. Eine zentrale
Figur für den Verlag — wie auch sonst im Wiener Geistesleben — war Hermann Bahr, der nicht
nur sechs seiner Schriften dort drucken ließ, sondern auch jenen Vermittler darstellte, „über
13
den wahrscheinlich viele junge Autoren zum Verlag gekommen sind“ . Ob darunter auch Fred
Fakler gewesen ist, läßt sich nicht feststellen. Den Gegenpol zu dieser Produktion bildete die
14
Heimatkunst, die parallel zur Moderne im Verlagsprogramm breiten Raum einnahm. Polemisch könnte man sagen, daß kaum jemand so wie Fakler mit seinem Roman derart maßgeschneidert die Hauptrichtungen des Verlagsprogramms in einem Werk repräsentierte.
Die Möglichkeit, beim Wiener Verlag zu veröffentlichen, barg jedoch auch zahlreiche Gefahren für Fakler. Wenn man nämlich bedenkt, daß die Verlagsproduktion insgesamt sehr groß
war und im Jahr 1905, als Das Gespenst erschien, allein 32 deutschsprachige Neu15
erscheinungen umfaßte , so war die Eventualität, als unbekannter Autor unterzugehen, nicht
von der Hand zu weisen. Trotzdem gelangen dem Verlag einige beachtliche Entdeckungen, allen
voran der junge Robert Musil, der Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 1906 dort unterbrachte.
Der Verlag hatte einige beachtliche Verkaufserfolge aufzuweisen, „[a]ber für jeden ‚Schlager‘
16
[...] gab es ein Mehrfaches an ‚Nieten‘.“ Fakler scheint keine dieser lukrativen Neuentdeckungen gewesen zu sein, wie einer seiner Landsleute spöttisch zu berichten weiß:
Auch einen Roman hat er [Fakler] zuwege gebracht. Dies Beutestück der Literatur brachte ihm den
Titel eines siebenbürgischen Knut Hamsun ein und er war sehr stolz darauf, daß dieses Buch leider
verramscht und um 50 Heller je Stück verkauft wurde. ‚Es geht nämlich gerade den besten Büchern
17
so‘, meinte er.
12
Vgl. zu den folgenden Ausführungen stets: Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band I:
Geschichte des österreichischen Verlagswesens. Graz, Wien, Köln: Böhlau 1985, S. 80 ff.
13
Ebd., S. 87.
14
Vgl. Reyhani, Brigitte: Das literarische Profil des Wiener Verlages von 1899. Diss., Graz 1971, Zusammenfassung, S.
III.
15
Vgl. Ebd., S. 64 f. Das Gespenst erschien ausgerechnet im Jahr mit der zahlenmäßig größten Produktion: neben den
32 Neuerscheinungen umfaßte diese die Bände 1-10 der „Bibliothek moderner deutscher Autoren“, 12 Werke fremdsprachiger Autoren sowie die Bände 31-50 der „Bibliothek berühmter Autoren“. Zum Vergleich: die deutschsprachige
Neuerscheinungen in den beiden Jahren davor und danach: 1903: 13; 1904: 19; 1906: 15; 1907: 4 (Produktion bereits
stark im Rückgang).
16
Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band I, S. 83.
17
Hajek, Egon: Wanderung unter Sternen. Erlebtes, Erhörtes, Ersonnennes. Stuttgart: Steinkopf 1958, S. 171.
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Fakler hatte wahrscheinlich das Pech, daß sein Roman in einer Zeit der Hochblüte der Wiener Literatur ausgerechnet in einem derart großen Verlag erschienen war. Dieser hatte nämlich
nicht nur zahlreiche Neulinge im literarischen Leben zur gleichen Zeit in petto, sondern darüber
hinaus mit der Ende 1904 geschaffenen Reihe „Bibliothek moderner deutscher Autoren“, deren
Bände 1 bis 10 im selben Jahr wie Faklers Roman erschienen und mit Namen wie Schnitzler
und Hofmannsthal aufwarten konnte, verlagsinterne Konkurrenz aufzubieten, gegen deren
Renommee ein siebenbürgischer "Nobody" nur verblassen konnte. Trotzdem erfuhr Das Gespenst eine beachtliche Würdigung, als es vom damals nicht unbekannten Kritiker der Neuen
18
Freien Presse, Franz Servaes rezensiert wurde. Daß diese — einzige nachweisbare — Rezension
ohne Wirkung auf den Erfolg des Romans blieb, kann vielerlei Gründe haben. Servaes widmet
der Charakterisierung der Hauptfigur breiten Raum und hebt besonders die Beziehung zum
„reinen Weib“ hervor, die aufgrund der Krankheit des Erzählers viele Konflikte in sich birgt. Er
tippt einige Themen kurz an und weist auch besonders auf Faklers sprachliches Geschick hin,
ehe er im letzten Absatz dem Autor ein ganz bestimmtes Epitheton verpaßt:
Eine höchst männliche, vielfach noch ungebändigte Kraft spricht aus Faklers ganzem Buch. Der so
zu uns redet, ist ein Sohn der siebenbürgischen Erde, jenes wilden und rauhen Gebirgslandes, das
der Schriftsteller mit so viel eindringlicher Fülle uns lebendig zu machen weiß. [...] Unter der
bleichen, blasierten Schar nervöser Kaffeehausjünglinge eine festgefügte, straffgewirkte Er19
scheinung von sehr germanischem Typus.
Servaes hebt gegen Ende seiner Besprechung explizit hervor, daß hier ein „Sohn Siebenbürgens“ zu uns spricht, während er jene Passagen im Roman, die in Faklers Heimat handeln,
bis dahin unerwähnt läßt. Er stellt aber frei, ob man dies als Hinweis auf mögliche „exotische“
Qualitäten des Buches verstehen will oder nicht. Insgesamt blieb die Rezension an der Oberfläche und diente eher der Präsentation eines jungen Autors. Die Publizität, die ihm der Wiener
Verlag mit dieser Rezension verschaffte, ist aber durchaus beachtlich.
5. Ein entarteter „Vatermörder “
Es ist nun durchaus denkbar, daß man den Roman, wäre er nicht in einem derart bekannten
Wiener Blatt rezensiert worden, in Siebenbürgen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen
hätte. Doch angesichts einer solchen Würdigung brachte das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt etwa zwei Wochen nach der Rezension in der Neuen Freien Presse eine kurze Notiz, die
20
davon berichtete, daß der Roman „günstig besprochen“ worden sei, aber statt einer eigenen
Rezension bloß die Schlußpassage der Besprechung von Servaes abdruckte. Es war also wohl
nicht so wichtig, daß ein „Landsmann“ in einem solchen Fall etwas besonderes geleistet hatte,
sondern daß überhaupt über einen Siebenbürger Sachsen an so prominenter Stelle gesprochen
wurde. Auch mutet die im Titel des Beitrags enthaltene Kombination von „Landsmann“ und
„moderner Schriftsteller“ sonderbar an, quasi eine Hervorhebung dessen, was es üblicherweise
nicht gibt. Man hatte also anhand der kurzen Charakterisierung des Romans durch Servaes
erkannt, daß es sich also um etwas „Modernes“ und dementsprechend im Sachsenland eher
fremdartiges Machwerk handelte, weshalb man Fakler also das Etikett „moderner Schriftsteller“
verpaßte. Daß man nicht gewillt war, dazu selbst Stellung zu beziehen, sondern nur eine
18
Vgl. Scherg, Georg: Fred Fakler. In: Die Literatur der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1849-1918. Redigiert von
Carl Göllner und Joachim Wittstock. Bukarest (Kriterion) 1979 S. 303. Scherg spricht zwar davon, daß „in der Wiener
Presse die Meinungen eins zu eins standen“, nennt aber auch nur die Rezension in der Neuen Freien Presse.
19
Servaes, Franz: Das Gespenst. In: Neue Freie Presse, 4.12.1904.
20
--: Ein Landsmann als moderner Schriftsteller. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 19.12.1904.
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fremde Meinung referierte, läßt auch darauf schließen, daß man sich möglicherweise für den
ausgewanderten Kronstädter, der da plötzlich in Wien als Autor aufgetreten war, überhaupt
nicht mehr für zuständig erklärte.
Im Mai 1905 entschloß man sich in diesem Blatt dann doch zu einer eigenen Rezension.
Doch wird bereits durch eine kurze Vorbemerkung durch die Redaktion offenbar, in welchen
Bahnen sich die Literaturrezeption in siebenbürgischen Medien selbst im Jahre 1905 immer
noch bewegte:
Nicht ohne anfängliche Bedenken haben wir die obige Besprechung, die uns von geschätzter Seite
zukommt, aufgenommen. Wir möchten sie keinesfalls als eine E m p f e h l u n g des besprochenen
Romans selbst aufgefaßt wissen, der seinem Stoff nach wohl zu den Gewagtesten gehört, was die
modernste Literatur hervorgebracht hat, sondern als einen Hinweis auf ein starkes und vielversprechendes Talent, an dem auch wir eine durch das Stoffliche seiner Erstlingsleistung nicht ge21
trübte Freude haben.
Man distanziert sich also von der abgedruckten Rezension eines „geschätzten“ Verfassers,
obwohl dieser, wie aus seinem Text hervorgeht, selbst Siebenbürger Sachse ist. Es stellt sich die
Frage, woran man nun jenseits des „Stofflichen“ seine Freude hatte. Vermutlich noch immer
daran, daß ein Landsmann jenseits der eigenen Grenzen überhaupt Aufmerksamkeit auf sich
zieht. Der Verfasser der Rezension selbst, der sich mit „-t“ unterschreibt, ist hingegen durchaus
in der Lage, Faklers Werk ein wenig differenzierter zu sehen, auch wenn er einige in Siebenbürgen wohl sehr eingefahrene Geleise der Kritik nicht verlassen kann. Die Besprechung setzt
ein mit einer kurzen Darstellung der „modernen“ Geistesentwicklung. Durch das unbedingte
Suchen nach Wahrheit sei die Seele „obdachlos“ geworden und würde „sich in die Tiefen ihres
eigenen Wesens“ versenken. Diese Suche vollziehe sich, angeregt durch die Wissenschaft, heute
in der Kunst, in der sich uns „der moderne Mensch, der mit verfeinerten Sinnen und vertieftem
Empfinden unter der Wucht einer rauhen und unverhältnismäßig rohen Gegenwart sich
22
windet“ , erschließen würde. Damit sind einige der zentralen geistigen und literarischen
Strömungen der Jahrhundertwende angesprochen, von denen unser Herr „-t“ durchaus Notiz
genommen hat. Allerdings stellt er fest:
Kein Zweifel, von dieser westlichen Kulturentwicklung sind bei uns bisher sehr wenig Spuren bemerkbar, und es muß daher umsomehr unser Interesse erregen, wenn aus unserer Mitte plötzlich ein
Schriftsteller hervorgeht, der gleich in seinem ersten Buche einen modernen Stoff mit modernen
23
Mitteln behandelt.
Dieses Interesse werden allerdings nicht sehr viele Landsleute teilen. Hier befinden wir uns
in einem literarischen System, in dem die Moderne noch nicht einmal in Grundzügen Fuß gefaßt hat und in dem kaum jemand in der Lage ist, ein Werk wie Faklers Roman auch nur annähernd in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen. Der Verfasser der Rezension nähert sich dem
Roman dementsprechend auch etwas einseitig, wenn auch im Vergleich zu literaturkritischen
Standards in Siebenbürgen jener Zeit geradezu unbefangen. Er paraphrasiert den Roman als
„geistige Wiedergeburt eines in roheste Sinnlichkeit versunkenen Mannes“, der mit einer „ekel24
haften Krankheit als Sühne für eine schuldbefleckte Vergangenheit“ behaftet ist. Allerdings
21
Anmerkung der Redaktion zu: -t: Ein Siebenbürger Sachse als „moderner“ Schriftsteller. In: SiebenbürgischDeutsches Tageblatt, 19.5.1905.
22
Ebd.
23
Ebd.
24
Ebd.
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zeigt sich bereits hier, daß er den Roman nicht sehr sorgfältig gelesen hat: er behauptet nämlich, daß die Krankheit den Erzähler erst ereilt, nachdem er begonnen hat, wahre Liebe für Ada
zu empfinden. Er betrachtet Krankheit also zu einseitig als bloße „Sühne“ und sieht sie nicht als
eminent wichtiges Element, das die Handlung von Anfang an in Gang hält. Wirklich mißverstanden hat der Rezensent allerdings erst die Abschnitte, in denen sich der Erzähler in
Siebenbürgen aufhält:
Dieser letzte Abschnitt im Leben des Helden ist, abgesehen von einige poetischen Schilderungen, der schwächste Teil des Buches, und der sächsisch-nationale, mit warmem Empfinden
gemalte Hintergrund rein äußerlicher Natur, der leicht auch durch etwas anderes hätte ersetzt
werden können. Wir sehen den Helden inmitten eines tätigen, idealen Zielen geweihten Lebens
und schließlich sein tragisches Ende, das er, als die Natur ihm ihr unerbittliches Veto entgegen25
ruft, selber herbeiführt.
Das würde bedeuten, daß Siebenbürgen im Roman zur bloßen Staffage degradiert ist, die
nur einen Hintergrund für das Schicksal des Helden abgibt. Ich meine, daß sich der Erzähler zu
konkrete politische Gedanken macht, als daß der Handlungsort ausgetauscht werden hätte
können. Hier zeigt sich zweierlei: erstens, daß man die Thematisierung politischer Probleme in
einem „solchen“ Buch nicht anerkennen wollte; und zweitens, daß der Verfasser der Besprechung sich hier zwar für eine didaktische Lesart entscheidet, aber bezeichnenderweise
gerade die Darstellung der siebenbürgischen Verhältnisse im Gegensatz zum Verständnis des
restlichen Textes eben nicht als konkret nehmen will. Er konnte mit den Ambivalenzen Faklers
einfach nicht umgehen und hat auch versucht, eine einsträngige Handlungsführung zu extrahieren. Das beweist er beispielsweise dadurch, daß er die „Reflexionen“ als „störend“
26
empfindet, da sie „nichts zur Charakterisierung des Helden beitragen“ . Der Rezensent ist ganz
einfach überfordert mit einem Werk, das mit seiner eigenen Fiktionalität spielt und den
Entstehungsprozeß selbst reflektiert, deshalb verwirrten ihn vermutlich die Passagen über
Siebenbürgen, in denen der Erzähler zuweilen derart eindeutig wird, daß es angesichts der
Vieldeutigkeit und Verworrenheit des ersten Teils für einen siebenbürgischen Leser eher unglaubwürdig wirken mußte. Allerdings muß man dem Verfasser auch konzedieren, daß er
durchaus in der Lage war, das künstlerische Vermögen als solches zu erkennen:
Fragen wir uns nach dem künstlerischen Wert des Buches, so können wir zu unserer Freude konstatieren, daß wir es hier mit einem Schriftsteller zu tun haben, der an Ursprünglichkeit und Temperament, überhaupt an inneren künstlerischen Qualitäten alle unsere heimischen Prosaschriftsteller
27
übertrifft.
Nicht zuletzt diese Klassifikation dürfte die Redaktion des Siebenbürgisch-Deutschen Tagblattes dazu genötigt haben, sich vom Verfasser zu distanzieren. Daß dieser selbst aber auch
noch einem gewissen eingespielten Schema unterliegt, wird neben den bereits erwähnten
Mängeln seiner Interpretation auch dann deutlich, wenn er von einem Kunstwerk auch Transparenz der Handlungsmotivationen der Protagonisten fordert. Hier bleibt er stehen bei dem
jahrzehntelang gepflegten Postulat nach einer für jedermann nachvollziehbaren Handlungsschablone, nach einer Plausibilität also, die den Forderungen eines „realistischen“ Realismus
entspricht. Somit war es Faklers Roman auch nicht möglich, didaktisch zu wirken, da man eben
Siebenbürgen im Roman als poetisch verfremdete Kulisse auffaßte, die, obwohl man diese
Zusammenhänge ja noch nicht wirklich begreifen konnte, eben den Hintergrund abgab für ein
25
Ebd.
Ebd.
27
Ebd.
26
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Fred Fakler im Wiener und im siebenbürgischen Literaturbetrieb
Geschehen, daß scheinbar bloß den Gesetzen der Fiktion folgte. Dennoch blieb diese Rezension
die vorerst differenzierteste Auseinandersetzung in Siebenbürgen mit dem Werk und wurde
wohl auch weitgehend ignoriert. Denn jene Reaktion auf Faklers Roman, der ich mich jetzt
28
zuwenden möchte, war vermutlich derart „einer unvoreingenommenen Rezeption abträglich“ ,
daß es lange Zeit dauern sollte, bis man sich in Siebenbürgen wieder Faklers Leistung — wenn
überhaupt — erinnerte.
Wenige Wochen nach der Besprechung im Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt erschien in
den Akademischen Blättern ein Beitrag zum selben Thema. Der entscheidende Unterschied zur
Rezension war jedoch, daß man sich hier auch der Person Fakler in Form eines Autorenporträts
oder „Interviews“ näherte, bevor man sich dem Roman zuwandte. Entscheidend war auch, daß
man den Beitrag redigierte, da der Verfasser es angesichts von Faklers Art, sehr „freimütig“ zu
29
antworten, nicht über sich bringen konnte, „ausnahmslos alles wiederzugeben.“
„Wenn ein Weltblatt über unsere Heimat schreibt, so erregt das in unsern kleinen Kreisen
30
mit Recht Aufsehen“ , meint Guido Gündisch, der damit nicht nur auf die Rezension in der
Neuen Freien Presse, sondern auch auf Faklers „Stimmungsbild“ Am Königstein anspielt, das im
Sommer 1904 ebendort erschienen war. So sei man auf den Autor aufmerksam geworden und
beschloß ihn mit folgender Begründung persönlich aufzusuchen:
Denn wir Sachsen sind nun einmal so wenige, dass wir mit noch grösserer Berechtigung als die
31
Magyaren auch dem ‚Vatermörder‘ verzeihen, namentlich, wenn er es zu ‚etwas‘ bringt.
Mit dem vollkommenen unverhältnismäßigen Beinamen „Vatermörder“, der hier implizit
Fakler hinzugefügt wird, ist der Rezeption eine Bahn gelegt, die sie nicht mehr so ohne weiteres
verlassen sollte. Überhaupt ist Gündisch sehr bestrebt, Person und Werk in einer Art und Weise
gleichzusetzen, mit der er nicht bereit zu sein scheint, die Distanzierungsversuche Faklers von
dem in seinem Roman Ausgesprochenen überhaupt anzuerkennen. Das gilt aber nur, wie wir
noch sehen werden, für jene Passagen, die eben als Provokation empfunden wurden. Dazu
kommt noch, daß in diesem Beitrag auch eine Ablehnung von Faklers gesamter Lebensweise
artikuliert wird, in der sich alle Vorurteile und alle Intoleranz seiner zur Schau getragenen
Künstlerexistenz gegenüber bündeln. Fakler hat natürlich auch seinerseits dafür gesorgt, dem
Affront seines Werkes auch einen durch seine Person folgen zu lassen und ist sehr bemüht, die
Pose des Großstädters, dem die siebenbürgischen Verhältnisse einfach zu knapp bemessen sind,
zu präsentieren:
Weil er aus keiner angesehen Familie stamme, so habe es ihm zu Hause immer geblüht, von jedem
Pastors- und Senatorssohn über die Achsel gesehen zu werden. In der Welt — für Fakler ist Wien die
Welt — sei er mit Hofräten gesellschaftlich gleichgestellt und wenn er auch in den primitivsten äußeren Umständen lebe. Zu Hause war ihm die Bahn durch kleinliche Verhältnisse und beschränkten
Sinn versperrt, hier sei ihm die Bahn frei, ganz frei. Und er habe mitgelebt mit der Welt. Die Landsleute, die die Gebiete des modernen Lebens besonders als Studenten betreten, genießen und arbeiten meistens nicht mit. Sie seien schon als Studenten Philister. Von der Kunst haben unsere jungen
28
Kessler, Dieter: Die deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banates und des Buchenlandes. Von der Revolution bis
zum Ende des Ersten Weltkrieges (1848-1918). Köln: Böhlau 1997, S. 199.
29
γ [=Gündisch, Guido]: Ein Wiener Schriftsteller aus Siebenbürgen. In: Akademische Blätter. Organ der siebenbürgischsächsischen Hochschüler Hermannstadt, 9. Jg. (1904/05), Nr. 10 (20. Juni), S. 122-123. Zit. n.: Sienerth, Stefan
(Hrsg.): Kritische Texte zur siebenbürgisch-deutschen Literatur. Vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1996, S. 227.
30
Ebd.
31
Ebd.
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Stefan Melwisch
Leute keine bange Ahnung. Die Zeitströmungen lassen sie unberührt. So z.B. sei keiner mit Männern
der Sozialdemokratie je im Verkehr gestanden. [...]
Wir sehen, unser sonst origineller Schriftsteller weiß eigentlich über seine Landsleute nichts Neues
zu sagen. [...]
Welche Stellung soll das heimische Publikum zu Fred Fakler und besonders zu seinem unlängst erschienenen Roman: ‚Das Gespenst‘ einnehmen? Ich denke, es liegt bloß daran etwas, daß überhaupt
Stellung genommen wird. Fakler selber ist diesbezüglich über die Landsleute nicht gut zu sprechen.
Ihre Gleichgültigkeit und Mißgunst soll schon so manches heimische Talent zugrunde gerichtet haben. Ähnliches kann Fakler von unserer Seite nicht widerfahren. Er hat sich unserem Einfluss ent32
zogen. Wird es ihm dabei besser ergehen?
Hier spielt sich eine Provinzposse ab, in der jede der Seiten die von ihr erwartete Rolle verkörpert. Doch gelang es Fakler nicht, wie sich gezeigt hat, durch Provokation das Interesse
seiner Landsleute auf seinen Roman zu lenken, er stieß vielmehr auf kategorische Ablehnung,
die nicht zuletzt durch diesen Beitrag in den Akademischen Blättern sich von seinem Roman
nun auch auf seine Person ausdehnte:
Meine gedrängte trockene Wiedergabe seiner Ausführungen ist nicht imstande, das Bild dieses
selbstbewußten und derben, offenen und nervös-kräftigen Mannes vors Auge zu stellen. Ein Bild,
das manchen unsympathisch ist, denn es erinnert den Normal-Menschen ans Krankhafte und Ent33
artete.
Fakler wird hier chiffriert als „entartet“ bezeichnet, und wie ich nun anhand der Ausführungen von Gündisch über den Roman zeigen werde, wird auch diesem eine solche Einschätzung zuteil. Durch ähnliche Prädikate wird nämlich auch der Erzähler im Gespenst charakterisiert werden, womit eine Gleichsetzung von Autor und geschaffener Figur nahegelegt
34
wird. Gündisch möchte sich davor hüten, „eine Rezension zu verbrechen“ . Er tut es trotzdem.
Ich möchte nun einige längere Abschnitt der Ausführungen über den Roman zitieren, den Gün35
disch „eine Schilderung des Gefühlslebens eines körperlich und geistig kranken Mannes“ nennt,
um zu zeigen, auf welch erbärmlichen Niveau sich für die siebenbürgische Regionalliteratur
maßgebliche Rezensenten in jenen Jahren bewegten:
Wie schaut es mit dem Gemütsleben des Helden, des kranken Mannes aus? Es wird manchen Normalmenschen als die Raserei eines Tobsüchtigen vorkommen. Mit maßlos grellen
Farben wird ein Mann geschildert, der seine Höllenqualen nicht nur einer selbstverursachten
Krankheit, sondern auch seiner irrsinnigen Genialität, besser seinem genialen Irrsinn zu verdanken hat. Aus dem mysteriösen Jammern und dem konstanten Gepolter entsteht eine ohrenbetäubende Disharmonie, die der Roman selber als ‚ein Gewühl berstender Nervenstränge und
uferloser Gemütsbrandungen“ bezeichnet. Wo bleibt bei dieser ganz unwahrscheinlich gellenden Disharmonie Klarheit und Schönheit? Die sucht man im Werke vergebens. Von der ersten bis zur letzten Seite darf der Leser keine Ruhe finden. Das ist eine permanente Ruhestörung, die auf die Nerven des Lesers lediglich darum nicht zerstörend wirkt, weil diese Revolution der Gefühle keine abwicklungsreichen Ereignisse aufzuweisen hat. Der Romancier hat
sich eine fast unmögliche Aufgabe gestellt: ewige Klagen eines wütenden Hypochonders fesselnd darzustellen. Das Innenleben eines uns fremden Geisteszustandes interessiert uns mei-
32
Ebd., S. 228.
Ebd.
34
Ebd.
35
Ebd., S. 229.
33
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Fred Fakler im Wiener und im siebenbürgischen Literaturbetrieb
stens nicht. Es zieht ja bekanntlich in der Aussenwelt das Fremde und Neue, in der Welt der
36
Seele das Verwandte und Bekannte an.
Hier wird in unfaßbar unsachlicher Weise und ohne eigentlich auf den Roman einzugehen,
eine derart fundamentale Ablehnung artikuliert, die dem Leser der Rezension nur eines nahelegen soll: daß sich die Lektüre dieses Romans eines „Entarteten“ keinesfalls lohne. Diese polemische Reduktion des Textes auf jene Elemente, die wohl am meisten Anstoß erregen mußten,
läßt ganz klar die Absicht durchscheinen, den Autor ein für alle mal zu diskreditieren. Darüber
hinaus behauptet Gündisch sogar, es sei Faklers Intention gewesen, in eine bestimmte Richtung
wirksam zu werden:
Was will nun Fakler? Den Leser nicht nur für die Anarchie der Seele interessieren, sondern in ihm
sogar ähnliche ‚Gemütsbrandungen‘ aufpeitschen. Denn jedes Kunstwerks eigentlicher Sinn ist ja, im
Genießenden die Gefühle zu erwecken, die die Künstler im Werke von sich gegeben. Wie namenlos
schwer ist es in diesem Falle den gesunden Leser für die kranken Gefühle einzunehmen und sie ihm
sogar zu suggerieren und bei dem Versuch nicht langweilig und unangenehm zu werden — ich
37
glaube Fakler war sich dessen nicht bewußt.
Des Verfassers Ansprüche an ein Kunstwerk sind noch ganz jene aus der Zeit der „Nationa38
len Erbauungsliteratur“ . Demgemäß sind auch die Bewertungsmaßstäbe die gleichen geblieben: es geht nicht um ästhetische Qualitäten, es geht um die Absicht des Autors, auf ein
bestimmtes Ziel hin Wirkung zu erzielen und den Leser zu belehren. Eben diese Kriterien
werden hier absurderweise auf Faklers Roman angewandt, was in kaum überbietbarer Weise die
Hilflosigkeit des Rezensenten dokumentiert. Gündisch kam, wie auch der zuvor behandelte Herr
„-t“, mit der Fiktionalität auf mehreren, auch reflexiven Ebenen überhaupt nicht zurande,
konnte aber im Gegensatz zu jenem nicht einmal ein gewisses sprachliches Talent bei Fakler
feststellen. Vielmehr sucht er krampfhaft nach etwas „Schönem“ im Roman:
Und da kommen wir zu dem schönen Problem, das im Roman Gott sei Dank auch enthalten ist: die
Läuterung des kranken Mannes durch das reine Weib. [...] Allerdings bleibt für diesen
Läuterungsprozeß nicht viel Zeit und Sorgfalt übrig, denn die Beschreibung der Krankheit nimmt
alle Kräfte in Anspruch. Wir erfahren wohl zur Genüge, wie schwer die Heilung wäre, denn die
Krankheit ist schrecklich, doch zu einer Genesung der seelischen Zustände kommt es nicht,
ebensowenig wie zur körperlichen Genesung. Damit bleibt die einzige wirklich schöne Aufgabe, die
39
sich der Verfasser stellt, ungelöst.
Auch bei Gündisch bleibt nicht sehr viel Zeit und Sorgfalt übrig, um jenseits der Anstoß erregenden Szenen im Roman noch etwas anderes als das Werk eines „Irren“ ausfindig zu machen. Dieses Porträt hat wahrscheinlich maßgeblich die Rezeption in Siebenbürgen gesteuert,
somit also verhindert. Gündischs zweifelhaftes Verdienst ist es, die Beachtung auch ästhetischer Kategorien bei der Auseinandersetzung mit Faklers Roman bis auf weiteres suspendiert zu
haben, und so blieben die „Anklagepunkte“, die er am Ende seines Beitrages zusammenfaßte,
noch einige Zeit in Siebenbürgen bestehen:
36
Ebd.
Ebd.
38
Kessler, Dieter: Die deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banates und des Buchenlandes, S. xxi.
39
γ [=Gündisch, Guido]: Ein Wiener Schriftsteller aus Siebenbürgen, S. 229 f.
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Stefan Melwisch
Es ist im Roman ein Moment, welches mir mit den Bedürfnissen eines gewissen Publikums zu spekulieren scheint, wodurch sich aber der Roman zu anderen, weiteren Kreisen den Weg so ziemlich
versperrt hat.
Die Sprache ist ganz unklar, sprunghaft und — sagen wir — berauscht. Peinlich und geschmacklos
sind die vielen oft ganz unbekannten Fremdworte und geflügelten Worte.
Zu bemerken ist noch, daß der Roman in den letzten Abschnitten auch Politisches aus Siebenbürgen
enthält, zu dem ich mich leider nicht äußern kann.
Die erzieherische Wirkung der Lektüre ist die, daß jeder von der Lebensart abgeschreckt wird, die so
viel Exzeß und so viel Unglück verschafft.
Dass ein Landsmann diesen sezessionistischen und pathologischen Roman schreiben konnte, wird
40
jeden Wunder nehmen.
Das „gewisse Publikum“ war aber vermutlich im Gegensatz zu Gündisch in der Lage, mit jenen Nuancen umzugehen, die durch Faklers Ironie und seine reflexive Auseinandersetzung mit
dem Schaffensprozeß des Schriftstellers entstanden. Sehr bezeichnend ist hier die totale Mißachtung jener Teile des Romans, für die das rezeptive Vermögen von Gündisch noch gereicht
hätte, der zwar eine potentielle „erzieherische Wirkung der Lektüre“ ausmachen kann, diese
aber bloß als „Abschreckung“ definiert und somit nur aus den inkriminierten Passagen des
Romans ableitet. Der Schlußsatz bringt es schließlich auf den Punkt: ein „sezessionistischer“
und „pathologischer“ Roman von einem ebensolchen Autor. Dieses Stigma sollte Fakler nicht
mehr so schnell loswerden.
40
Ebd., S. 230.
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HEIMATVERBUNDENHEIT, IDENTITÄTSBEWUSSTSEIN
Zum Prosawerk von Ursula Bedners
Reka Santa-Jakabhazi
„Schässburgs Sachsen und
Sachsens Schässburg
fehlen hier am meisten.“
(Ferenc Nagy, Schässburger Pfarrerdichter)
Als Motto dieser Untersuchung haben wir diese Verse des Schässburger Pfarrerdichters Ferenc Nagy gewählt, denn sie widerspiegeln das Gefühl der „Hierbleibenden“, worüber die Dichterin-Schriftstellerin Ursula Bedners so oft und so gerne schreibt.
Ursula Bedners — ein Name, der für die rumäniendeutsche Literatur von Bedeutung sein
sollte, eine Schriftstellerin, Dichterin, von der aber zu wenig gesprochen — geschrieben wurde,
1
2
obwohl drei Gedichtbänder , zwei Prosabücher und die Übersetzung eines Romans aus dem
3
Ungarischen aus ihrer Feder stammen. In unseren Recherchen haben wir nur zwei Artikel über
4
5
Ursula Bedners in Karpatenrundschau und zwei in Kunst und Kultur bzw. in der Neuen Litera6
tur gefunden, doch diese Artikel beziehen sich auf die Dichterin Ursula Bedners, denn bis 1986
(Jahr der ersten Prosaveröffentlichung) galt sie ausschließlich als Autorin solcher Gedichte,
deren „Hermetik, dunkle und naturmythische Metaphorik, raunendes Sprechen und beschwörendes Umschreiben — als Ausdruck (teilweise anempfundener) existentieller Nöte und
7
als Mittel zum Ausloten unermesslicher seelischen Tiefen und geheimster Regungen“ als
Charakteristika erwähnt wurden.
Peter Motzan und Joachim Wittstock erwähnen die Dichterin in einigen ihrer Schriften aber
niemand beschäftigte sich weitgehend mit den Gedichten und Prosastücken dieser in dem
Heimatland so verwurzelten Autorin. Die Dichterin ist gebürtige Schässburgerin, ihre Heimatgebundenheit ist bemerkenswert. In den Zeiten, wo die Kindheitsfreunde, Familienangehörige,
Bekannten die Stadt und das Land verlassen haben, in der Stadt, wo die Vorahner ihr Leben
ruhig oder stürmisch geführt haben, wo aber heute nur wenige in der Muttersprache der Autorin grüßen, dann und dort entfaltet sie ihre schriftstellerische Begabung.
1
Im Netz des Windes. Jugendverlag Bukarest 1969; Schilfinseln. Kriterion Verlag Bukarest 1973; Märzlandfahrt. Kriterion Verlag Bukarest 1981.
2
Hinter sieben Bergen. Kriterion Verlag Bukarest 1986, bzw. Der Meisterdieb und andere Geschichten aus Siebenbürgen. Hora Verlag Hermannstadt 2001.
3
Bálint, Tibor: Der schluchzende Affe. Kriterion Verlag Bukarest 1979.
4
Richard Adleff: Gedicht — ein Bündnis mit der Sprache. In: Karpatenrundschau 3/1970, bzw. Peter Grosz: „Gedichtinseln“. In: Karpatenrundschau 16/1974.
5
Friedrich Engelbert: Zum Sterben zu viel-zum Überleben zu wenig. Über die Arbeits- und Lebenssituation der deutschen Schriftsteller in Rumänien. In: Kunst und Kultur 1/1996.
6
Gerhardt Csejka: Metaphysizieren im Netz des Windes. In: Neue Literatur 5/1970.
7
Emmerich Reichrath, Vorwort in: Kritische Beiträge zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur. Kriterion Verlag
Bukarest, 1977.
Reka Santa-Jakabhazi
In dem 1986 erschienenen Buch Hinter sieben Bergen,, das als Übergangswerk von der Lyrik
in die Prosa gesehen werden kann, sind Texte erhalten, die formell der Prosa gehören, die aber
dieselbe lyrische Stimmung aufweisen, die in den Gedichten zu spüren ist. Es sind meist kurze
Skizzen, Eindrücke, Gedanken über Vergangenheit, Gegenwart, über die Vergänglichkeit der
Dinge, aber auch über die Ausdauer und das Immer-sich-erneuern-können des Lebens.
Der erste Teil des Bandes — zwölf kleine Texte — wird Mein Garten — meine Stunde betitelt
und wurde als Auftrag von Horst Schuller, dem damaligen Chefredakteur der Karpaten Rundschau geschrieben. Schuller bat die Schriftstellerin, ihre Eindrücke, Gedanken, die sie in ihrem
Garten hat, aufzuschreiben, da man wusste, dass der Garten eine Inspirationsquelle der Dichterin ist (viele ihrer Gedichte sind im Garten entstanden). So erschien jeden Monat ein kleiner
Text in der Karpaten Rundschau. Zwölf kleine Texte, Impressionen, Gedanken, zwölf Monate im
Garten. Man könnte diesen Zyklus auch als eine Meditation über Werden und Vergehen im
Gartenjahr betrachten. „Eingeschlossen in den lebendigen Kreislauf, wir, mit dem unverbesser8
lichen Sinn fürs Dauerhafte. Und was hätte mehr Dauer als ein Garten?“ Eigentlich finden wir
dieselben Emotionen, Gefühle wieder, die uns schon aus den Gedichten bekannt sind: die Vorliebe der Dichterin zum Detail (auch im Zusammenhang mit diesen Prosatexten können wir
ruhig über die Dichterin sprechen, da die Texte sehr poetisch sind, eine lyrische Stimmung prägt
alle Skizzen), Nachdenken über Leben und Tod, ein Vergleich: Garten — Universum. In Ein Chor
von Farben (wie in den Gedichten, finden wir auch hier viele rhetorische Figuren, wie zum Beispiel diese Synesthesie im Titel) schreibt sie:
Gärten sind ja immer reich an Aufschlüssen, sie zwingen uns, vieles vom Vergangenen zu wissen, in
allem zu sein, um nichts zu versäumen. Darum fehlt mir die Freude an großen Reisen, sie stören den
Rhythmus, in dem ich mit Pflanzen und Getier lebe, was könnte mich denn anderswo erwarten, was
9
ich nicht auch hier finde, aufgeschlüsselte Schönheit, in greifbarer Nähe.
Diesen Gedanken des Hierbleibenwollens finden wir oft in den Gedichten wieder (s. etwa
die Gedichte Löwenzahn und Distel oder Mit etwas Mayonäse). Auch der Titel des dem Oktober
gewidmeten Textes weist auf die tiefe Verwurzelung der Dichterin-Schriftstellerin in der Heimat: Nachdenklich, dankbar, hier.
Man kann diese Texte nicht Geschichten nennen, Handlung gibt es kaum, außer dem
Wachsen der Pflanzen, dem Zug der Wandervögel oder dem Spiel der winzigen, hilfslosen Lebewesen, die im Garten den Wechsel der Monate miterleben.
Ist der erste Zyklus des Bandes (12 Monate — 12 Texte) noch lyrisch geprägt, so sind die
folgenden Geschichten mehr als Chronik zu betrachten: Chronik vierer Generationen einer Familie aus Schässburg, aus der selbst die Autorin stammt. Jeder, der in Schässburg zu Hause ist,
kennt den Namen Markus; den Dr. Friedrich Wilhelm Markus (oder Fritz Markus, wie er genannt
wurde), den Vater der Dichterin kannte noch die ältere Generation der Stadt. Die Markusdrukerei brachte am Anfang des 20. Jahrhunderts erst in Schässburg, dann in Kronstadt ansehliche
Veröffentlichungen heraus. In die Welt dieser Familie führt uns die Schriftstellerin in den folgenden Geschichten.
Die interessantesten Gestalten der Familie werden wieder ins Leben gerufen: die Fritzi
(Mäusejahre), die noch den General Bem gesehen hatte, die fröhlich-munter auf der Truhe saß,
mit Zuckerbrot in der Hand (die alte Truhe gibt es noch und ist in dem Arbeitszimmer der Autorin zu sehen), der Will, angesehener Buchdrucker der Stadt („er steht mitten im Leben dieses
8
9
Hinter sieben Bergen. Kriterion Verlag Bukarest 1986, S. 35.
Ebd., S. 19.
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Heimatverbundenheit, Identitätsbewusstsein. Zum Prosawerk von Ursula Bedners
mehrsprachigen Landstrichs und beweist seinen universalen Geist, indem er auch Bücher für
10
andere Völkerschaften herausbringt.” –Jenseits des Knotenpunktes) , dessen Sohn, Fritz Krafft,
der erste, der sich aus diesem Kreis losreißt, eine neue Heimat in der Ferne sucht („so ein Hallodri” — wird über ihn gesagt, denn ein passenderes Wort findet die zurückgebliebene Familie
nicht), der eine Illusion verfolgt, er wird zuletzt „zweiundneunzigjährig, kinderlos, als letzter in
der Reihe (...) auf Reichenau am Bodensee, ein Fremder unter Fremden, der Erde zurückgegeben,
11
die überall recht war, nur in Siebenbürgen nicht.” Das alte-neue Thema taucht wie wir sehen
auch in diesen Geschichten immer wieder auf. „Was heißt Fortgehn, fort von wem?” stellt sich
12
der alte Großvater und mit ihm Ursula Bedners die Frage. „Hier wär sein Platz gewesen”.
Trauer und Unbeholfenheit strömt aus dieser Geschichte: Trauer den Weggebliebenen gegenüber, Unbeholfenheit der Autorin, jetzt selber die Letzte in der Reihe, die die Ihrigen nicht aufhalten kann. 1986 erschien das Buch, die verzweifelte, hoffnungsvolle Emigration der Sachsen
begann schon. Die Dichterin erkennt die Gefahr: sie hat aber keine Mittel die Strömung aufzuhalten, außer dass sie schreibt, und hofft, irgendwen schon ansprechen zu können. Ursula Bedners bekennt sich immer wieder — so auch hier — zu den siebenbürgischen Lebens- und Wertvorstellungen.
In der Skizze Lichtschein unter der Tür finden wir auch Kindheitserinnerungen der Autorin,
Gefühle aus der längst vergangenen Zeit, aus den Kindheitsjahren, aus deren Realien sie die
Kulissen für das äußerst arme Handlungsgeschehen gestaltet. In den letzten sieben Texten finden wir wieder die Melankolie der Ersten. Es sind wieder Eindrücke, Impressionen, lyrische Meditation über Leben, Tod und Vergänglichkeit.
Der Humor darf natürlich auch nicht fehlen in den Geschichten, die die Autorin meistens
aus den Aufzeichnungen des einstigen Stadthauptmanns Albert Reinhardt (übrigens auch ein
ferner Verwandte) übernahm, und in denen die Schässburger Anekdotik aufgenommen wurde.
So auch in der Geschichte mit dem Titel Tischgespräch, in der die damaligen Gewohnheiten der
Schässburger „alten Herren” zum Vorschein kommen: täglich nachmittags im Kaffeehaus, am
Stammtisch wird alles besprochen, was in der Stadt neulich passiert ist und das wissenswert
ist, etwa dass dem Pitz ein Zahn herausgerissen wurde, oder es wird besprochen, was die Lokalzeitung, der „Großkokler Bote” berichtet, zum Beispiel, dass man preiswertes Mehl annonciert,
oder dass die Frau Haraszti „ihre Bocknadel auf dem Weg von der Kirche bis zu ihrer Wohnung,
Schulgasse 11, verloren hat”. Erwähnenswert ist auch die groteske Komik des Endes der Geschichte, und zwar, als Herr B. den Herrn Magistratrat begrüßt und sich höflich über den Gesundheitszustand dessen Frau erkundigt, dabei fällt es ihm beim letzten Wort ein, dass die Frau
schon vor zwei Monaten gestorben ist. Er fügt schnell hinzu: „noch immer tot, noch immer
tot?” und ist erleichtert, dass er nichts Falsches gesagt hat („um ein Haar hätte er ein zweites
13
Mal daneben geredet.”)
*
Geschichten nennt Ursula Bedners die epischen Kurzformen, die sie in ihrem Band Der Meisterdieb und andere Geschichten aus Siebenbürgen vereint hat. Diese anspruchlose Bezeichnung
entspricht der erklärten Absicht der Autorin, bloß erzählen zu wollen.
10
Hinter sieben Bergen, S. 55.
Ebd., S. 66.
12
Ebd. S. 65.
13
Ebd. S. 72.
11
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Reka Santa-Jakabhazi
Wie in der Lyrik, ist auch in einem Teil der Prosatexte die Ich-Bezogenheit evident. Die
Schriftstellerin ist davon überzeugt, dass ein Verhältnis subjektive — objektive Realität nur
dann in ein Gleichgewicht gebracht werden kann, wenn die Ich-Findung geleistet ist.
Schlichtheit, Einfachheit, Geborgenheit, alte Bilder, neue Gefühle; jeder, der sich in Schässburg auskennt, erkennt die Orte, Plätze, wo die Handlung dieser Geschichten abläuft. Die erzählte Zeit ist in den meisten Geschichten die Nachkriegszeit, erzählt werden die Not, das Elend
dieser Periode. Die Personen sind einfache Menschen, deren Leben der Krieg, und vor allem das
Deutschsein im Krieg hier, in Siebenbürgen ändert. Mal sind es unschuldige Kinder, die unter
der Not leiden, mal alte Menschen, die ihre Söhne aus dem Krieg, ihre Töchter aus dem russischen Lager erwarten, Söhne und Töchter, die nicht immer nach Hause zurückkehren.
Am ergiebigsten für die bednersche Prosa erwiesen sich Begebenheiten aus dem Erfahrungsfeld der siebenbürgerlichen Kleinstadt Schässburg.
In ihren Erzählungen treffen wir die typischen Personen einer siebenbürgerischen Kleinstadt. Den tüchtigen Handelsmann, sowie den Pfarrer, die küchentüchtige, viele Kinder gebärende Mutter, die auf den sonntaglichen Kirchenbesuch wartende alte Frau, die sächsischen
Kinder, die mit den anderssprachigen Kindern zu leben lernen, aber eben auch schon die neuen
Zeiten verkündenden Beamten, die Vertreter der Macht, die Securitate, die das ruhige Leben der
Schässburger (und nicht nur) verkrüppeln, die die Geschäfte schließen, die auf nichts Wert legen, das mit den eigentlichen Werten zu tun hat, die die neue, fremde und entfremdende Welt
verkünden, die die totale und rückgriffslose Vergehen des schässburgschen Lebensstils bedeutet.
Die Personen gehen fast alle auf reale Vorbilder zurück, sie sind überwiegend Projektionen
aus dem eigenen Leben; Selbstgehörtes und -erfahrenes, aber auch Gehörtes (von dem Vater
und dem Onkel hat Ursula Bedners vieles erzählt bekommen) oder Gelesenes (die anekdotenhaften Aufzeichnungen des Stadthauptmannes Reinhardt zum Beispiel) nimmt die Autorin in
ihre Geschichten — natürlich vielfach verändert, verdichtet und stilisiert. — auf.
Ich möchte die Rolle des Humors, der in diesen Geschichten zu spüren ist, erwähnen, denn
so wie die Autorin selbst sagt, Humor ist dem siebenbürger Sachsen nicht eigen. Adolf Schullerus bemerkt in seinem 1926 erschienenen Buch Siebenbürgisch — sächsische Volkskunde im
Umriss: „Eigentlichen Humor, ein gutmütiges Sichfreuen und Erheben über die kleinen Be14
engungen des Lebens, kennt der Siebenbürger Sachse kaum.” Da unterscheidet Schullerus
zwischen dem „pflichtmäßigem” Lachen bei geselligen Zusammenkünften, „Kaimes” Hochzeit,
Richttag, und dem Spott des anderen (oder der Spott der Nachbardörfer über einander), das aus
der Beobachtung der Fehler und Schwäche anderer stammt. Aber der „gesunde” Humor ist den
Sachsen nicht eigen, so Schullerus.
Der Schässburger Sachse unterscheidet sich aber auch dadurch von seinen, in anderen
sächsischen Städten lebenden Brüdern, das hier mehr gewitzelt wird, man erzählt immer aufs
neue witzige Geschichten und Begebenheiten, die in Schässburg vorgekommen sein sollten.
Ursula Bedners sagt in dem Gespräch, das wir mit ihr geführt haben:
Ja, Humor wird bei uns groß geschrieben. Das ist eben der Unterschied zu anderen Städten hier, in
15
Siebenbürgen, die Schässburger besitzen irgendwie mehr Humor.
14
15
Adolf Schullerus: Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde im Umriss. von Quelle und Mezer Verlag Leipzig 1926, S. 65.
Das Gespräch wurde am 20. 03.2003 in Schässburg, im Haus der Dichterin aufgenommen.
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Heimatverbundenheit, Identitätsbewusstsein. Zum Prosawerk von Ursula Bedners
Manche humorvolle Geschichten sind von der Autorin selbst erfunden worden, die meisten
sind aber Überlieferungen Schässburger Anekdotik. So zum Beispiel Ein Sandhaufen als Schutzengel, wo Meister Konrad, der gewissenhafte Dachleger bei der Arbeit auf dem Stundturm
kopfüber 50 Meter in die Tiefe stürzt, und auf einen Sandhaufen gelandet sein erster Gedanke
ist: „Fünf vor zwölf, Mittagspause, lohnt sich nicht, noch einmal hinaufzusteigen“. So geht er
nach Hause, um Warmes zu Essen, doch da findet er die Suppe noch nicht fertiggekocht, die
Küche leer, denn die Frau des Meisters ist schon, nachdem sie von den Gesellen benachrichtigt
worden ist „Frau Meisterin, Ihr seid Witwe“, zum Turm geeilt. Meister Konrad schneidet sich zu
Hause ein Stück Speck, isst ihn, geht wieder an die Arbeit und dort trifft er eine große Menge,
die darüber rätselt, wohin könnte die Leiche verschwunden sein. Der Meister drängt sich durch
die Menge und hat nur eins zu sagen, indem er auf den Sandhaufen zeigt: „Auf den da bin ich
gefallen — und nun an die Arbeit!“
Neben dem Humor kann man in dieser Geschichte auch die typisch sächsische handwerkliche Einstellung zu fühlen bekommen, und zwar, dass was immer passiert, die Arbeit muss
fertiggemacht werden.
Eine andere anekdotenhafte Geschichte ist Ein unfreiwilliger Ritt, wo eine Frau, die ihrem
auf dem Feld arbeitenden Mann das Essen bringen will, deren Pferd aber sich in eine Militärkolonne einreiht und samt Frau in den Kasernenhof einmarschiert. Der Ehemann aber wartet
ungeduldig aufs Essen, er ist wütend, denn „Mittag ist längst vorüber“, und als er über das
Abenteuer seiner Ehefrau erfährt, erzählt er eine andere Geschichte über eine Urahne, die
während eines Tatareneinfalls von einem Tartaren entführt wurde und deren Mann lange hinter
dem rasenden Pferd und auf dessen Rücken der Ehefrau nachsah und vor sich murmelte: „Ormer Tatter, ormer Tatter“. Es ist eine weitverbreitete Anekdote, die Ursula Bedners in ihre Geschichte einbettet und damit mehr Humor in die Geschichte bringt.
Wie auch in dieser Geschichte entdecken wir im Hintergrund die Absicht der Autorin, dem
Leser einige Informationen über die Sitten und Bräuche der Siebenbürger Sachsen mitzuteilen.
In vielen Geschichten wird man zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht, dass die Sachsen
ihre Hauptmahlzeit punkt am Mittag hatten. Das berichtet auch Adolf Schullerus, der schreibt:
„Das Mittagessen („Mättachämmes“, nösn. „Mättachmol“), den Sommer über in der Regel Brot
und fleischlose Zukost, meist Speck oder Käse, im Winter noch einfacher — Brot und Äpfel, gebratene oder gekochte Kartoffeln, wenn`s hoch kommt „geschmiertes Brot“ — folgt um 12 Uhr
16
oder etwas früher.“
Aber nicht nur wann, sondern auch was gegessen wurde, wird in den Geschichten ausführlich geschildert. Die Essgewohnheiten der Sachsen kommen in vielen Geschichten zum Vorschein, dass man gerne Kartoffel isst (Die Schwelle, Es war einmal eine Apotheke), Eierspeise
(Guten Morgen, Mathilde, Zwischen Ost und West) und wenn man nichts gekocht hat, dann isst
man halt Speck mit Brot („Das eigentliche Backwerk ist das 'Brit'–Brot. Es steht so sehr im
17
Mittelpunkt des Essens, dass es als die eigentliche Nahrung bezeichnet wird.“ ). Der Ersatz für
Brot, die „Palokes“, wird nur als Notbehelf angesehen, und wird als „giel Mächeltort“ (gelbe
Micheltorte) gespottet. „Unter den Speisen, die von vornherein fleischlos zusammengestellt
16
17
Ebd., S. 65.
Ebd., S. 74.
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Reka Santa-Jakabhazi
sind, nimmt den ersten Platz „de Palokes mät Mältch“ ein.(Maisbrei mit Milch) (...) In der Regel
18
ist das in Zeiten nicht dringlicher Feldarbeiten das Frühstück oder Abendessen.“
Ein anderes, typisch sächsisches Gericht, über die Ursula Bedners auch schreibt, ist die
Kächen. „Die „Kächen“ wird, sobald Fleisch und Gemüse gar sind, entweder „ägeklopft“ (eingeklopft) oder „ägebrät“ (eingebrannt). Im ersten Falle — zumeist bei saueren „Kächen“ — mit
einem Gemenge von Ei, Mehl, Milchrahm, kaltem Wasser und Essig, im letzteren Fall — bei süßen „Kächen“ — mit „Äbra“, „Ägebrässel“ (Mehlschwitze, Mehl in Fett gebraten) verdickt und
gebunden. Diese Zubereitung gilt auch für die fleischlose „Kächen“, die aus Sparsamkeitrücksichten zum Frühstück auch im Winter, aus Fleischmangel aber im Sommer und Herbst über19
haupt gegessen wird.“
Das Buch sollte ursprünglich den Titel Auf den Spuren der Vergangenheit tragen, ein Allusio
dafür, dass sich die Autorin in ihren Geschichten fast ausschließlich an die Vergangenheit wendet. Vergangenheit heißt hier mehr als die der eigenen oder die von Schässburg. Es gibt Geschichten, in denen Ursula Bedners über die selbsterlebte und –erfahrene Vergangenheit
spricht, andere, in denen die Handlungszeit das frühe zwanzigste Jahrhundert ist, oder man
erfährt von Vorkommnissen aus 1703, die (natürlich) in Schässburg geschehen sind.
Der bednersche Lokalpatriotismus ist, obwohl stark zu spüren, nicht so ausgeprägt, dass die
Autorin nicht auch über andere Ortschaften (allerdings siebenbürgische) und Regionen schreiben könnte. Was man schon in den früheren Gedichten und im Büchlein Hinter sieben Bergen
so klar zum Ausdruck kommt, und zwar die Heimatgebundenheit Ursula Bedners', wird auch in
diesen neueren Geschichten erkennbar. In dem letzterschienenen Buch gibt es zwei Geschichten, Zwischen Ost und West, bzw. Ein Anfang, ein Ende, wo die Autorin das vielbesprochene
Problem der Siebenbürger Sachsen — bleiben oder weggehen — behandelt. Die Handlung (oder
besser gesagt das Problem) beider Geschichten sind aus dem realen Leben geliehen worden, die
Personen gehen auf reale Vorbilder zurück (wie übrigens die meisten der in diesem Buch vorkommenden Personen), so haben die Geschichten einen fast chronikhaften Charakter. In der
ersten Geschichte treffen wir ein Ehepaar, das sich nicht entscheiden kann, was für das künftige Leben besser ist: in der Heimat zu bleiben, als eines der Letzten oder aber der Familie ins
fremde Ferne zu folgen. Die überraschende Entscheidung fällt: sie geht, er bleibt mit dem Gedanken: „Mich geht das nichts an, ich hab mein Haus, meine Stelle, Freunde und Nachbarn, soll
20
sie zu den Ämtern laufen, sich eine Wohnung suchen, mich geht das alles nichts an.“ Der Satz
„mich geht das nicht an“ bietet ihm den Schutz, den er nötig hat, um bleiben zu können in der
Heimat, wo sich allmählich alles verändert, wo er nur noch als „Zurückgebliebener“ bezeichnet
wird. Dann ist er auch beim Kofferpacken, er zieht zwar auch nach Deutschland, aber „er ist im
Niemandsland“ und versucht sich anzupassen, was ihm aber nicht gelingt. Als sie sich dann für
eine Heimreise entschließen (nach langen Jahren in der neuen Heimat sprechen sie noch von
„zu Hause“ und „nach Hause“), fühlen sie sich irgendwie befreit. Wie Besessene beginnen sie in
dem alten Haus und Garten zu arbeiten, nach langer Zeit haben sie wieder Pläne, gemeinsame
Pläne. Idyllisch, ja ein bisschen auch naiv könnten wir diese Freude bezeichnen, denn man
denkt weiter und stellt fest: es gibt keine gute Lösung dieses Problems, man bleibt mit dem
Gefühl einer gewaltigen Leere. Ob hier oder dort.
18
Ebd., S. 70.
Ebd., S. 68.
20
Der Meisterdieb und andere Geschichten aus Siebenbürgen. Hora Verlag Hermannstadt 2001, S. 66.
19
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Heimatverbundenheit, Identitätsbewusstsein. Zum Prosawerk von Ursula Bedners
Dasselbe Problem, nur mit tragischerem Ausklang wird in der Geschichte Ein Anfang, ein
Ende behandelt, in der ein alter, aus einem kleinen siebenbürgischen Städtchen in eine Großstadt in Deutschland übersiedelte Sachse sich zum Tode hungert, er verweigert bewusst das
Essen, weil er sich nicht anpassen konnte; „Stille und Sonne scheinen ihm ein Symbol der alten
21
Heimat geworden zu sein“. Die Trauer der Autorin, der „Zurückgebliebenen“ spürt man schon
am Anfang der Geschichte; als sie nach dem alten Seildreher fragt, bekommt sie die prompte
Antwort: „Doar sunt sa[i, au plecat în Germania — das sind doch Sachsen, die sind nach
22
Deutschland ausgewandert” .
Das Buch hat die Schriftstellerin ihrem Vater gewidmet, dem in Schässburg gut bekannten
Dr. Fritz Markus. Es dürfen also auch nicht solche Geschichten fehlen, in denen man den geliebten Vater und dessen Freunde erkennt, so die Geschichte In memoriam A. F. und F. M., die
die Erinnerung an die Freundschaft zwischen einem Mädchengymnasiallehrer, Fiedler und dem
Arzt Markus wachruft.
Aber auch andere Personen können den Schässburgern bekannt vorkommen: der berüchtigte „Wundarzt“, der mit seinen selbstgemachten Salben und Tropfen am Marktplatz zu
heilen versuchte, das arme aber umso stolzere Fräulein Chlothild, das als Kind verwöhnt, im
Alter sich nicht erhalten konnte, von den Kindern verspottet, von den Erwachsenen voller
Mitleid betrachtet ihr Leben führte, die jeden Tag „zu Besuch“ zu vornehmen Familien ging,
eigentlich nur, um etwas zum Essen zu bekommen („Die Anfrage der Nachbarschaft auf
Unterstützung lehnt sie aus Stolz, ihre Mittellosigkeit einzugestehen, ab. Besuche zu machen
23
und eingeladen zu werden, erscheint ihr standesgemäßer.“ )
Die Personenwahl reicht aber weit über das Sachsentum hinaus. Es gibt Geschichten, in denen das rumänische (Bogdan und die Störche), ungarische (Das Brautbild) oder sogar zigeunerische Leben (Gábor und das Loch im Topf) geschildert wird, als Zeichen dafür, dass die Autorin
dieses Milieu auch gut kennt, „das Gespür für ein adequates Verhalten zu Menschen anderer
24
Sprache und Sitte“ hatte sie sich schon als Kind angeeignet. Denn Schässburg ist ein typisches Beispiel dafür, dass Menschen verschiedener Ethnien, Religionen das Zusammenleben
gelernt haben und deren Kultur und Sprache im Laufe der Zeit sich gegenseitig beeinflusst hat.
Auch die politischen Realitäten des vergangenen Jahrhunderts gewinnen im Buch von Ursula Bedners eine Rolle. Schässburg war von dem Zweiten Weltkrieg zwar nicht direkt betroffen, das heißt, die Stadt blieb verschont, doch zahlreiche Familien litten darunter, da die
Männer in den Krieg ziehen mussten. Einige Geschichten handeln davon. In Reise in die Ewigkeit zum Beispiel, fällt der talentierte Journalist Fritz indirekt dem Krieg und der Judenpolitik
von Hitler zum Opfer, indem er sich erschießt, da er wegen der jüdischen Abstammung seiner
Frau seine Stelle bei der Zeitung bedroht sieht. Mehr als der Krieg selbst werden in einigen
Geschichten die Folgen des Krieges geschildert. In Begegnung auf dem Bahnhof sind wir Zeugen
der Auswanderung eines Juden aus Schässburg, der im Gespräch mit dem im Zug mitfahrenden
Arzt die düstere Zukunft aufleuchten lässt: ihr folgt. Oder die schreckliche Zeit der Deportation,
wo Männer und Frauen (verschont blieben nur Frauen mit Kindern unter einem Jahr) in Viehwaggons nach Russland deportiert wurden, wo sie Zwangsarbeit leisteten, von wo sie nach
21
Ebd., S. 86.
Ebd., S. 82.
23
Ebd., S. 45.
24
Joachim Wittstock: Vom lebendigen Erzählen. Geleitwort zu den Geschichten von Ursula Bedners S. 9.
22
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Jahren abgemagert und totenschwach nach Hause kamen, wenn überhaupt (s. Das geteilte Brot
oder Es war einmal eine Apotheke).
In der Mehrheit ihrer Geschichten aus diesem Band geht Ursula Bedners von der Überlieferung aus, „von authentischen Vorfällen und Gestalten, von ernsten und heiteren Begebenheiten, von Personen, die zum Bild ihrer Heimatstadt und anderen Ortschaften in Siebenbürgen
gehört haben, und ist bestrebt, die einst bekannten Episoden und Menschenschicksalen festzu25
halten, bevor diese in Vergessenheit geraten“.
Hiermit haben wir den Versuch unternommen, das Prosawerk von Ursula Bedners, dieser zu
Unrecht vernachlässigten Dichterin — Schriftstellerin aus Siebenbürgen, darzustellen. Obwohl
der erste Gedichtband schon 1969 erschienen ist, hat bisher niemand ausführlicher über das
Werk der Dichterin geschrieben. Kurze Rezensionen, Geleitworte zu einigen ihrer Bücher — das
ist aber auch alles, was zum Werk dieser Autorin bisher zu finden sind.
Sie selbst hält sich für eine Dichterin — ihre ersten drei erschienenen Bücher waren Gedichtbände — doch als Schriftstellerin, besser gesagt als Chronistin siebenbürgischer Ereignisse
ist sie auch zu schätzen. Aus ihrem sympatischen Lokalpatriotismus, ihrer Heimatverbundenheit
schöpft sie die Themen ihrer Geschichten und Gedichte. Sehr trefflich ist das Motto ihres zuletzt erschienenen Bandes: „Was wir nicht aufschreiben, / hat umsonst gelebt, / ist wie nie gewesen.“ (Hermann Kesten). In dem Gespräch, das wir mit der Dichterin geführt haben, sagte sie:
In den Zeiten, wo sich alles so schnell verändert, und wo nichts stabil ist, muss man etwas von den
alten Zeiten festhalten und weitergeben. Es wäre schön, wenn meine Bücher dazu beitragen könnten, dass man nicht vergisst.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
25
Richard Adleff: Gedicht — ein Bündnis mit der Sprache. In: Karpatenrundschau, 3/1970
Peter Grosz: „Gedichtinseln“. In: Karpatenrundschau, 16/1974
Jede Reise ist ein kleines Sterben. Ein Gespräch mit Ursula Bedners. In: Hermannstädter Zeitung, 22.12.1995.
Friedrich Engelbert: Zum Sterben zu viel-zum Überleben zu wenig. Über die Arbeits- und Lebenssituation der
deutschen Schriftsteller in Rumänien. In: Kunst und Kultur, 1/1996
Kritische Beiträge zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Emmerich Reichrath. Kriterion Verlag,
Bukarest 1977
Peter Motzan: Die rumäniendeutsche Lyrik nach 1944. Problemaufriss und historischer Überblick. Dacia Verlag,
Klausenburg 1980
Die siebenbürgisch — deutsche Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur. Hrsg. von Anton Schwob und Brigitte
Tontsch. Böhlau Verlag, Köln 1993
Gerhardt Csejka: Metaphysizieren im Netz des Windes. In: Neue Literatur, 5/1970
Richard Schuller: Alt-Schässburg. Kulturhistorische Skizze. Friedrich J. Horeth Verlag, Schässburg 1934
Adolf Schullerus: Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde im Umriss. Von Quelle & Mener Verlag, Leipzig 1926
Joachim Wittstock, Vom lebendigen Erzählen. Geleitwort zu den Geschichten von Ursula Bedners, S. 9.
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ZWEI AUTORINNEN SCHAUEN FERN
Aglaja Veteranyi und Herta Müller zwei aus Rumänien stammende deutschsprachige Autorinnen
im Vergleich
Judith Schifferle
Der vorliegende Literaturvergleich ist der Versuch einer neuen Herangehensweise an (deutsche) Exil- oder Minderheitenliteratur. Ausgewählt wurden zwei Autorinnen, die aus Rumänien
stammen und ungefähr gleichzeitig die „Heimat“ Richtung deutschen Westen verliessen. Für
Herta Müller war Rumänien der Ort ihrer Kindheit. Aglaja Veteranyi verliess ihre Heimat schon
früh und emigrierte mit ihren Eltern als Zirkuskind in die Schweiz. Sowohl Herta Müller als
auch Aglaja Veteranyi ist ein fremder Blick eigen, der über Sprachbilder und Motive eine neue
Wirklichkeit oder Wahrheit zwischen Realität und Erfindung vermittelt. Zahlreiche Rezensionen
führen diesen fremden Blick – v.a. bei Müller – auf den Ortswechsel von Heimat (Rumänien)
und Emigrationsland (Deutschland BRD) zurück.
Der Begriff „rumäniendeutsch“ – wenn er auch unterschiedlichen Definitionen unterliegt –
1
trifft weder auf Herta Müller noch auf Aglaja Veteranyi eindeutig zu. Herta Müller, 1953 im
Banat (Nitzkydorf) geboren, steht seit ihrem 1980 in Deutschland erstmals erschienen Roman
Niederungen im literaturwissenschaftlichen Diskurs. Den bisher grössten Teil ihrer Literatur hat
sie in Deutschland geschrieben. Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest geboren, hat mit Warum das
Kind in der Polenta kocht zwar Aufmerksamkeit erreicht (Graz), wurde bisher aber, zumindest
2
bis zu ihrem Tod 2001, weniger enthusiastisch in die Fachdiskussion aufgenommen. Daher
stützt sich die vorliegende Untersuchung hier fast ausschliesslich auf Zeitungsrezensionen.
„Rumäniendeutsch“ können die beiden Autorinnen deshalb nicht bedingungslos genannt
werden, weil Herta Müller ihre Romane nun vorwiegend in Deutschland schreibt und Aglaja
Veteranyi die deutsche Sprache erst nach ihrer Emigration in die Schweiz 1977 erlernt hat.
Herta Müller wird dennoch von der Rezeption klar dieser Literatur zugeschrieben. Und dies
insofern mit Recht, als sie vor ihrer Abreise nach Deutschland Mitglied der Aktionsgruppe Banat war und die rumäniendeutsche Literatur der 70er Jahre entscheidend mitgeprägt hat. Weniger als bei Herta Müller wird in den biografischen Angaben der Rezeption Aglaja Veteranyis
rumänische Herkunft erwähnt. Primär ist hier viel mehr, dass sie als Kind einer Zirkusfamilie
1
Bei der Definition des Begriffs "rumäniendeutsch" heben alle eine territoriale Bindung hervor. D.h., dass „unter rumäniendeutscher Literatur /werde/ sämtliches Schrifttum, das in deutscher Sprache auf dem Gebiet des heutigen Rumänien entstanden ist“ (Roxana Nubert, 1994, in: Predoiu, Frankfurt a. M. 2001. S. 15.) bzw. „die Literatur der deutschen
mitwohnenden Nationalität“ verstanden, wobei die einmaligen Gegebenheiten des Zusammenlebens“ hervortreten
sollen (Heinz St`nescu, 1975, in: Predoiu, Frankfurt a M., 2001. S. 14.) Siehe dazu grundsätzlich auch: Peter Motzan,
die rumäniendeutsche lyrik nach 1944. Problemaufriß und historischer überblick, Dacia Verlag, Cluj-Napoca, 1980,
sowie George Gu]u, Abriß der Geschichte der rumäniendeutschen Literatur. Teil I: Von den Anfängen bis 1918, Tipografia Universit`]ii din Bucure[ti, Bucure[ti, 1986.
2
Der zweite Roman von Aglaja Veteranyi: Das Regal der letzten Atemzüge ist erst 2002 und nach ihrem Tod erschienen.
Aus diesem Roman wird hier nicht zitiert. Die im folgenden diskutierten sprachlichen und stilistischen Eigenschaften
des ersten Romans treffen aber weitgehend auch auf den zweiten zu.
Judith Schifferle
viel Autobiografisches in ihren Erstling miteinfliessen lässt. Der Juror des Ingeborg-BachmannWettbewerb 1999 in Klagenfurt meinte zum Buch: "Das ist ein unerträgliches Kinder-Rumä3
nien-Armuts-Zirkus-Kitsch". Darauf schreibt Marco Guetg in der Sonntagszeitung: "Hettche
lag falsch! Immerhin kam Veteranyi mit ihrem Beitrag bei diesem Wettlesen in die Endausmar4
chung." Er bezeichnet das Buch als eine "herrlich naive, traurig-schöne wie auch grausame
Geschichte einer alltäglichen Kindheit, die selbst eine profunde Kritik nicht zu scheuen
5
braucht." Und Aglaja Veteranyi selbst meinte zur Hettchen-Kritik: „Hettche sagte damit nichts
aus über die literarische Qualität meines Beitrages. Er wollte sich einfach nicht mit dem Inhalt
6
auseinandersetzen." Hier weist Veteranyi bereits auf den Unterschied zwischen Form und
Inhalt hin, der bei der nachstehenden Untersuchung des fremden Blicks einer näheren Betrachtung unterzogen wird.
Veteranyi als literaturwissenschaftliche Vergleichspartnerin anzunehmen, hat zwei Gründe:
Zumal fallen bei der Lektüre beider Autorinnen überraschende Ähnlichkeiten bezüglich der
Motivwahl und der inhaltlichen Aussage auf; zudem ist interessant, dass trotz dieser Parallelen,
ihres gemeinsamen „fremden Blicks“, die Kritiker bei Herta Müller intensiv nach der Herkunft
dieses Blicks suchen, während sie sich bei Aglaja Veteranyi mit dem Urteil einer „kindlichen
Perspektive“ mehr oder weniger zufrieden geben. Der Versuch, dieser Art ‚subjektiver Literatur’
einen freien, territorial unbehinderten und differenzierteren Zugang zu ermöglichen, ist Ziel der
vorliegenden Überlegungen.
Gibt es eine gemeinsame Herkunft des fremden Blicks? Oder in welchem Verhältnis steht
der fremden Blick der Autorinnen mit einer Definition von Regional- bzw. Minderheitenliteratur? Ist der fremde Blick nicht eher Erkennungs- oder sogar Definitionsmerkmal deutschsprachiger Literatur ab den 70er Jahren?
7
„Zu Orten kann man nicht gehören “
Herta Müllers Geschichten spielen sich vor dem selbsterfahrener Hintergrund der Diktatur
ab. Sie schildert aus einer subjektiven Perspektive, wenn sie auch immer wieder versucht, sich
vom Eigenen zu distanzieren. Eckhard Gropp sieht in den dichterischen und essayistischen
Texten nicht hauptsächlich eine autobiografische Ausrichtung, sondern traumatische Erleb8
9
nisse. Für Herta Müller selbst „gehört alles in ein und denselben Schädel.“
Einerseits legt sie hier Unterschiede zwischen der bundesdeutschen und der deutschen bzw.
der Minderheitenliteratur fest, andererseits definiert sie diese Unterschiede durch die individuellen Erlebnisse und Erfahrungen, die als solche weniger an einen bestimmten Ort wie Rumänien gebunden sind.
Als ich aus Rumänien wegging, habe ich dieses Weggehen als ‚Ortswechsel’ bezeichnet. [...] An
den Orten, an denen ich bin, kann ich nicht fremd im allgemeinen sein. Auch nicht fremd in allen
10
Dingen zugleich. Ich bin, so wie andere auch, fremd in einzelnen Dingen.
3
Marco Guetg-Interview: www.sonntagszeitung.ch.S.1.
Ebd.
5
Ebd.
6
Aglaja Veteranyi, in: www.sonntagszeitung.ch. S. 1.
7
Herta Müller,Hamburg, 1992, S. 11.
8
Eckhart Gropp in: Köhnen, Frankfurt 1997, S. 175.
9
Herta Müller, in: Eckhart Gropp in: Köhnen, Frankfurt 1997, S. 175.
10
Herta Müller, Hamburg, 1992, S. 10-11.
4
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
Was ist der fremde Blick in der Literatur Herta Müllers? Die von Norbert Otto Eke mit einem
„subjektiven Ansatzpunkt“ bezeichnete Schreibweise erklärt Herta Müller selber wie folgt:
Es war ein Schreiben gegen diese Identität [...], gegen diese sprachlose Kindheit, die alles unterdrückte. [...] Ich hatte mir nicht vorgenommen, etwas über diese Gegend, über diese Bevölkerung zu schreiben [...]. Ich habe auf meine Erfahrung reagiert, und ich habe überhaupt
keinen Überbau dazu gemacht [...]. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als täglich Erfahrungen
11
zu machen, als täglich Dinge zu sehen, und ich versuche auch hier auf diese Dinge zu reagieren.
Der fremde Blick ist weder „eine Eigenart der Kunst, eine Art Handwerk, das Schreibende
12
von Nichtschreibenden unterscheidet“, noch ist er Produkt des deutschen Exils. Der fremde
Blick liegt, wie sie selber sagt, in ihrer Biografie begründet. Die biografischen Erfahrungen sind
nicht auf die Ausreise aus Rumänien beschränkt und können nicht auf einen örtlichen Wechsel
der Wahrnehmung reduziert werden. „Erfahrungen setzen sich ja auch immer fort, lernen heisst
ja, man verknüpft eines mit dem anderen. Man überlegt immer anhand der Dinge, der Knoten13
punkte in der Biografie, die man zur Verfügung hat“.
Ina-Maria Greverus definiert für ihre Untersuchung des territorialen Menschen einen Literaturbegriff, „der keine ‚autonome Wirklichkeit' und damit eine ‚literaturgemässe Einstellung’
von Dichter und seinen Rezipienten erfordert, sondern Literatur als schriftlich und mündlich
tradierte Sprachverdichtung auffasst, die einen Teilbereich der kulturellen Möglichkeiten des
Subjekts Mensch im Rahmen seiner jeweiligen historischen Bedingtheiten und Möglichkeiten“
14
ausmacht.
Greverus beschreibt den Wiederspiegelungscharakter von Literatur für die BetrachterInnen
sowohl als objektiv als auch subjektiv. Zur objektiven Wirklichkeit gehört auch die „jeweilige
Einstellung, die jeweilige Umweltselektion der Literaturträger, die als solche, und nur als solche,
subjektiv ist, das heisst der Bedeutungsperspektive des Subjekts in seiner spezifischen Situation
15
16
angehört.“ Die interpretierte Wirklichkeit der literarischen Aussage ist dagegen subjektiv. Bei
Veteranyi und Müller zeigt sich deutlich wie der vermeintliche subjektive „fremde Blick“ objektiv wirken kann, wenn die LeserInnen aus ihm als unbekannte, eben „fremde“, Vorlage eigenständig heraus- oder hineinzulesen beginnen.
Wenn Cristina Tudoric` das Augenmerk der Kritik zu stark auf den biografischen Zugang der
Müllerschen Literatur legt, stellt sich die Frage, inwiefern eine fremde Sicht auf die Dinge in
17
einer allgemeinen, zeitgebunden historischen Tendenz liegt. Im Roman Niederungen, der kurz
nach Herta Müllers Übersiedlung nach Deutschland erschienen ist (Rumänien 1980, Deutschland 1984) und ihr im Westen zum Erfolg verhalf, wird die fremde, ungewöhnliche Wahrnehmung der Umgebung besonders deutlich dargestellt:
Die Beschreibung des Dorfes ist wie die Beschreibung eines Hauses, und die Beschreibung
seiner BewohnerInnen wie die Beschreibung einer Familie. Die Beschreibung einzelner Familienmitglieder ist gleichzeitig auch die Beschreibung der Dorfgesellschaft:
Vaters Fuss hatte eine Sohle, und die Sohle hatte auch im Winter eine raue rissige Ferse. Und wenn
sich Vater abends diese rauen rissigen Fersen mit einem Dachziegel glattrieb, wurden sie nicht
11
Herta Müller, in: Die erfundene Wahrnehmung, Paderbom, 1991, S. 11-12.
Herta Müller, Göttingen, 1999. S. 21.
13
Herta Müller in: www.hainholz.de, S. 2.
14
Greverus, Frankfurt a.M., 1972. S. 6.
15
Greverus, Frankfurt a.M., 1972. S. 6.
16
Ebd.
17
Vgl. Tudoric`, Tübingen /Basel, 1997, S. 90-98.
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Judith Schifferle
glatter und nicht weicher. Sie gehörten, so rau und hart, wie sie waren, zu ihm. Und ich glaube, es
18
gab niemanden im Dorf, der nicht diese rauen rissigen Fersen hatte.
Diese Vertrautheit im familiären Dorfbild funktioniert nur innerhalb des Dorfes. Es entsteht
der Eindruck, als wären alle miteinander verwandt oder bekannt. Die Vertrautheit ist allerdings
ambivalent und wirkt genauso verfremdend. Die Ambivalenz veranlasst entweder zum Bleiben
oder zum Gehen. Die Vernetzung spielt sich nicht nur zwischen den BewohnerInnen ab. Sondern auch der Kater, der sich mit der Häsin des Dorfältesten paart, „ist eine Kreuzung von Dorf19
hund und Dorfkatze“.
Gelingt es hier Herta Müller die Stummheit der unteren Klasse zu überwinden und im Sinne
Ina-Maria Greverus’ deren „Hoffnungen, Wünsche und Phantasien auszudrücken“?
Wenn der fremde Blick „aus dem Verlust von Vertrautheit, dem Verlust der Selbstverständ20
lichkeit resultiert“, steht er hier in Konflikt mit der dörflichen Vertrautheit. Oder die tierische
„Vertrautheit“ wirkt gleichzeitig befremdend und entfremdend. Paola Bozzi sieht in Niederungen den Konflikt zwischen Identitätsfindung und Tradition. Das Verbot vor dem Spiegel drückt
die Angst vor der Möglichkeit der Selbsterkenntnis aus, die die Gruppenidentität gefährden
würde. Das dörfliche Leben orientiert sich am Kollektiv. Im Motiv des Spiegels, welches auch in
Reisende auf einem Bein auftritt, kehrt dagegen das Erkennen des Eigenen in der Fremde und
21
des Individuums in seiner Reflexion wieder.
Dass sich das Kleine im Grossen wiederfindet, dass das Dorf quasi nur Projektion der Familie
ist, sieht Bozzi hauptsächlich in einer Steigerung des Verbots (vor dem Spiegel) "von der Ebene
22
er Familie über jene des Dorfes bis hin zum obersten Mechanismus des Staates".
Friedmar Apel erklärt den fremden Blick in seinem Aufsatz Wahrheit und Eigensinn. Herta
Müllers Poetik der einen Welt vor dem Hintergrund der Diktatur. Gegenüber einer politischen
ideologischen Blicklenkung sieht er in der Literatur ein „widerständiger Blick“, der einen inne23
ren Halt zu geben vermag. Der politische Hintergrund wie auch die Wirkung der Diktatur auf
die Autorin mag nicht zu unterschätzen sein. Dennoch scheint mir ein solcher Blick zu wenig
weit geworfen, um die ganze Fremdartigkeit der Texte zu erkennen und zu erklären.
Ausland und Heimat haben keinen Ort
Aglaja Veteranyi beschreibt aus der Kindperspektive heraus die Familie als einen Ort von
Vertrautheit und Befremdung. Deutlicher als bei Müller zeigt sich bei Veteranyi eine bereits
vollzogene Distanzierung von Rumänien als geografischen Ort von Heimat. Rumänien kehrt an
24
konkreten Beispielen wieder, über Gegenstände, die Sprache und Personen.
Das Ausland verändert uns nicht, überall essen wir mit den Händen.
25
Die Fremde verstärkt anfangs die familiäre Einheit bei Veteranyi und wirkt quasi als Konstante für das schwankende Beziehungsverhältnis zwischen Vater und Mutter:
18
Herta Müller, Berlin, 1988, S.44.
Vgl. Herta Müller, 1988, S. 118.
20
Vgl. auch Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 53.
21
Vgl. S.11 u.18; Paola Bozzi, www.fu-berlin.de. S.3.
22
Paola Bozzi, www.fu-berlin.de. S. 3.
23
Apel, in: Text und Kritik, Heft 155, 2002, S 43.
24
Vgl. Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 56: „Heimat als Raum der Entfremdung, der Ausgrenzung.“
25
Aglaja Veteranyi, Stuttgart, 1999. S. 49.
19
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
Im Ausland sind wir aber keine Fremden untereinander, obwohl mein Vater hier fast in jedem Satz
26
eine andere Sprache spricht, ich glaube, er versteht manchmal selber nicht, was er sagt.
Die Loslösung des Begriffs Heimat vom geografischen Ort bestätigt die Situation des Vaters,
27
„der auch in unserem Land ein Fremder“ war. I
Das Erleben von Fremdsein, Entfremdung und die gleichzeitiger Vertrautheit spielt sich aber
primär innerhalb und durch die Familie (im Ausland) ab. Heimat ist hier kein Ort, sondern die
Familie. Die Orte, die das Zirkuskind erlebt, werden nicht beschrieben, weil sie für dieses Kind
28
total unwichtig waren, weil es in diesem Land eh keine klare Ordnung gegeben hat.“
Umso mehr wird dagegen die Familie in ihren zerrütteten Verhältnissen geschildert. Dass
Fremdsein kein fester Begriff ist, zeigt die „naiv“-kindliche Wahrnehmung und Formulierung
bzw. Sprache umso mehr. Sprachbilder wie „seine Sprache klingt wie Speck mit Paprika und
Sahne“ zeigen über das kindliche Wahrnehmungsmuster die soziale Zuordnung des Vaters (als
29
Zigeuner). Fremd ist die ganze Familie im Ausland und fremd bleibt der Vater auch „zuhause“.
Ausland und Heimat werden mehrdeutig. Die einst scheinbar festen Begriffe werden veränderlich und beginnen sich je nach Kontext neu zu formieren:
Unsere Eltern kommen nicht. Sie sind im Ausland, sagt Frau Hitz. Hier ist aber auch Ausland sagen
30
wir.
Je nach Betrachterstandpunkt transportieren die Begriffe andere Inhalte. Die Kindperspektive erlaubt es Veteranyi verschiedene Ansichtsmöglichkeiten alltäglicher Dinge und Situationen
deutlich zu machen:
Meine Mutter sagt, hier ist alles viel besser, und weint. Ich denke nur daran, dass ich wieder zurück
will. Die anderen, die wir zurückgelassen haben, werden von uns wollen, dass wir sie auch hierher
31
bringen, wenn wir reich sind, sie lieben uns alle.
Der verherrlichende Blick der Erwachsenen auf das Ausland wird durch die Wahrnehmung
des Kindes relativiert. „Wenn wir uns hier verstecken müssen, weiss ich nicht, warum wir weg32
gegangen sind von zu Hause.“ Andererseits zeigen die Äusserungen der Mutter, dass die
Zurückgelassenen, die aus der Sicht des Kindes „uns alle lieben“, auch als Spione wahr33
genommen werden können, denn: „nur wer selber geflohen ist, ist kein Spion“.
Das Kind erkennt seine Position nicht nur zwischen Heimat und Ausland, in und ausserhalb
der Familie, sondern gleichzeitig zwischen seinen eigenen, den fremden und erwachsenen Ansichten. Wenn Herta Müllers Schauplätze häufiger in Rumänien liegen als dies bei Veteranyi
der Fall ist und diese in den Personen stärker verinnerlicht zu sein scheinen , stimmt Heimat als
einen ortsgebundenen Begriff dennoch nicht mit der vermittelten Wahrnehmung überein: In
Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne schildert Herta Müller die Reaktion
von LeserInnen, die das in Niederungen beschriebene Heimatdorf besuchten. Sie seien enttäuscht gewesen und hätten kaum etwas wiedererkannt. Weshalb? Liegt die Verfremdung in
den Augen der (fremden) BesucherInnen oder in der Literatur, die das Dorf verfremdet?
26
Ebd., S. 50.
A.V., Stuttgart, 1999. S. 50.
28
Marco Guetg. www.sonntagszeitung.ch, S. 2.
29
Aglaja Veteranyi, Stuttgart, 1999, S. 90.
30
Ebd.
31
Ebd., S. 52.
32
Aglaja Veteranyi., Stuttgart, 1999, S. 52.
33
Ebd.
27
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Es ist ein anderer Blick auf die Dinge und die Welt. Dass Herta Müller den fremden Blick aus
ihrer „Heimat“ mit nach Deutschland genommen habe und nicht erst in der Fremde gegenüber
der Heimat erhalten habe, verweist auf eine Art von Wahrnehmung, die primär aus den Erlebnissen und Erfahrungen stammt und Heimat und Fremde nicht als ortsgebunden definiert. An
dieser Stelle sei Ina-Maria Greverus zitiert, die „Heimat als höchster Wert“ definiert: „für den
Menschen nicht erreichbar, wie im Existentialismus, oder noch nicht erreicht, wie in religiösen
und sozialistischen Utopien. Heimat ist hier Metapher, die in ihrer Eigentlichkeit auf die Qualitas „Heimat“ zurückgeht, die in der Bedeutung, Geborgenheit, Sicherheit gegenüber Ungeborgenheit, Unsicherheit' auf ein Vitalbedürfnis zielt, dem ein ideeller Satisfaktionsraum die
34
Richtung gibt .“ Die Erlebnisse der Heimat werden zu Paradigmen und Parti pro toto, deren
Inhalte - wenn sie auch über die subjektive Sichtweise der Autorin vermittelt werden für das
35
Allgemeine, für einen anderen fremden Blick, stehen:
-
"Der Politiker war jung und tot. Mord oder Selbstmord, man wusste es nicht. An diesen Tagen waren
36
die Politiker am Fernsehschirm fremder denn je. Sie suchten einander und waren verstört.“
Die Politiker - vom Vorfall betroffen - zeigten nicht Bestürztheit, sondern ihre Nagel37
wurzeln wurden „weisser, immer weisser [...] von der Heuchelei“.
Christina Thurner verweist in ihrer Dissertation den Utopie- Begriff in die Exilliteratur und
führt Zusammenhänge beider Begriffe aus. Die „narrative Verarbeitung des Exils“, von Heimatlosigkeit, „kann insofern als utopische Praktik bezeichnet werden, als sie zwei charakteristische
Merkmale des Utopischen aufweist. Sie wendet sich gegen die herrschenden, etablierten Diskurse und behandelt mit dem Exil einen (nicht idealen) „Nicht-Ort“, der allerdings geographisch
38
und chronologisch gerade nicht in unerreichbarer Ferne liegt.“ Das Erzählen ist daher die
begründete meist gewählte Gattung der Exilliteratur, weil die Narration selbst zu einem „neu39
en, jedoch flüchtigen Lebensort“ wird.
Für Herta Müller wie auch für Aglaja Veteranyi findet die Heimatlosigkeit nicht zuletzt
hauptsächlich im Kopf statt, über die Wahrnehmung, dass alles Vertraute unvertraut wurde.
40
„Meine Geburt fand gleichzeitig an mehreren Orten statt“40
Und wie die Autorin flieht Irene im Roman aus Rumänien nach
und ist gezwungen, Heimat und Fremdsein für sich neu zu definieren:41
Deutschland
Einen halben Tag lag das Photo des toten Politikers allein in Irenes Zimmer auf dem Fussboden. Irene kämmte sich. Sie sah das Photo im Spiegel. Den Kamm in der Hand legte Irene das Photo mit
34
Greverus, Frankfurt a. M., 1972, S. 32.
Hier sei aber angefügt, dass dieses "dichterische Selbstverständnis Heimat, als Auseinandersetzung des ich mit seiner
Umwelt' nicht im Sinne Ina-Maria Greverus gemeint ist und dabei "ideologiehaltig" wird, "wenn es Allgemeingültigkeit intendiert und zur Lehre erhoben wird'. Greverus, Frankfurt a. M., 1972, S. 46. Im Allgemeinen wird die Tatsache
des fremden Blicks als solcher transportiert, der immer subjektiv bleibt.
36
Herta Müller, Hamburg, 1995, S. 48.
37
Ebd.
38
Christina Thurner, Böhlaau, Köln, Weimar, Wien, 2003, S. 42.
39
Ebd., S. 43.
40
Aglaja Veteranyi, in: www.carpe.com, S. 1.
41
Herta Müller, Göttingen, 1999. S. 38.
35
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
dem Gesicht nach unten. Irene schloss die Wohnungstür. Gehend knöpfte sie den Mantel zu. Ihre
42
Schritte klangen auf den Treppen zweifach.
Das Bild des fremden Politikers in der fremden Wohnung in Deutschland wird durch die Reflexion im Spiegel plötzlich wiedererkannt und für Irene unangenehm vertraut. Das Bild des
Politikers wirft in ihr nicht nur Erinnerung wach an die „Heimat“ und Herkunft, sondern lässt
sich selber gleichzeitig wiedererkennen. Sie dreht das Photo um und verlässt die Wohnung.
Fühlt sie sich als „zweifache“ Person, wenn ihre Schritte auf den Treppen zweifach klangen?
Einmal als fremde und einmal als vertraute Person im Treppenhaus, das sich zwischen drinnen
43
und draussen befindet?
Die Kälte kam von innen [...] Im Innenhof sah sie noch einmal hinauf zu den Fenstern. Sie
spürte feuchtkühle Flecken unter den Armen. Sie schwitzte. Dann stand
Irene wieder vor der
44
Wohnungstür. Sie lief ins Zimmer. Steckte das Photo in die Manteltasche.
Vor allem bei Aglaja Veteranyi kommt der fremde Blick auch aus einer kindlichen Vorstellungs- und Wahrnehmungswelt heraus, in der Selbstverständlichkeiten ohnehin nicht zweifellos als solche aufgefasst werden. Wenn Herta Müller ihrerseits häufig in der Kindperspektive
schreibt, beinhalten ihre Vergleichsbeispiele doch vermehrt eine erwachsene Relation zu
Fremdheit und Heimat. Vor allem in Reisende auf einem Bein zeigt die noch im Erwachsenwerden begriffene Irene eine innere Auseinandersetzung zwischen Verstand und Gefühl, die
Suche nach Identität sowohl in der Heimat als auch in der Fremde. Bei Veteranyi ist das Erwachsenwerden vielmehr auf einen Loslösungsprozess von der Familie bzw. der Mutter
reduziert, schildert aber weniger deutlich den psychologischen Prozess. Das Erwachsenwerden
spielt sich auf einen noch kindlicheren, primär physischen oder gegenständlichen Ebene ab.
Während das Kind mehr oder weniger den Entscheidungen der Erwachsenen ausgeliefert ist,
verfügen die Figuren Herta Müllers doch eher über eigene Entscheidungsfähigkeit und geraten
dadurch in einen zusätzlichen Konflikt. In dem Sinne wirken die Darstellungen und
Wahrnehmungen der erwachsenen Personen bei Herta Müller komplexer. Bei beiden
Autorinnen allerdings führen die Erlebnisse der Kindheit und Ausreise die unklare Position
zwischen Heimat und Fremde zu einer anderen Art von Wahrnehmung.
45
„Denn Sätze sind ohnehin ein einziger Satz“
Stärker als der Roman Aglaja Veteranyis weisen einige Texte Herta Müllers scheinbar bewusst keine klare Gattungszugehörigkeit auf. Die zweifache Lesbarkeit der Texte, gekoppelt an
die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven der Figuren zieht eine eindeutige Gattungsbestimmung für Herta Müller in Frage. Dies bestätigt schliesslich auch die Autobiografieforschung, wenn sie bemerkt, dass Text und Leben nicht identisch aber auch nicht voneinander
46
zu trennen seien, dass Literatur, die sich keiner äusseren Bedingung unterordnet, erfundene
47
Realität sei, [...] sogar ein Stück eigenes Leben, oft intensiver als das selbst Erlebte“ .
Insofern dürfte die Erfahrung mit strenger Zensur in Rumänien bei Herta Müller zu einer Befreiung der Gattungen in der Literatur geführt haben.
42
Herta Müller, Hamburg, 1995, S. 48.
Vgl.: Herta Müller: „Vom Überfall des Glücks auf die Gedanken“, in: Herta Müller, Hamburg, 1992, S. 25.: „Vorbeigehender Atem macht die Person, der er gehört, doppelt. Eine Weile liegt diese Verdoppelung an der Fremdheit der Gehenden.“
44
Herta Müller, Hamburg, 1992, S. 49.
45
Herta Müller, in: Tudoric`/Basel, 1997. S. 98.
46
Martina Wagner-Egelhaaf, Stuttgart, 2000. S. 99.
47
Herta Müller, in: Cristina Tudoric`, Basel/Tübingen, 1997, S. 43.
43
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Die Frage nach autobiografischen Zugängen der Romane dieser beiden Autorinnen ist deshalb berechtigt, weil sowohl Veteranyi wie auch Müller unmissverständlich darauf hinweisen:
textimmanent als überpersönliche Stellungnahmen. Die nach Dilthey „fragmentarischen Teilan48
sichten des ursprünglichen Lebensflusses“ findet man in der Literatur beider Autorinnen.
Dennoch aber sehen beide eine Trennung von Subjektivem und Objektivem, von Erfindung und
Wahrheit als unerreichbar in der Literatur.
Diese nicht mögliche Trennung von Subjektivem und Objektiven zeigte sich bereits in der
Auseinandersetzung mit dem ortsgebundenen Begriff Heimat in Verbindung mit dem fremden
Blick ihrer Literatur. Die Erlebnisse und Inhalte sind zwar subjektiven Charakters, erlangen aber
eine Art objektiven Wert über die künstlerische, literarische Verarbeitung. Oder anders gesagt:
Der literarische, künstlerische Wert, das meint, der bewusst geformte Gesamtzusammenhang
eines Werks überwiegt letztendlich gegenüber einer einfachen Teilhandlung innerhalb, gegenüber einem klar definierten Schauplatz oder einer Heimat. Was bleibt, ist die Wahrnehmung
des „Einen“ und des „Anderen“: Ein Sehvermögen, das sich „überall“ einstellen kann.
Die Erweiterung des Kontextes durch Hinzuziehen anderer deutscher AutorInnen der siebziger Jahre soll zeigen, dass die Beschreibung und Verarbeitung der Themen Utopie, Angst, Kindheit, Fremdheit und Heimat in einer allgemeinen Tendenz liegen. Kindheit und Fremdheit sind
49
bei Christa Wolf wesentliche Themen. Irmgart Scheitler weist die LeserInnen in ihrer „Erzähltheorie der Gegenwartsprosa“ darauf hin, dass „das Was und Wie der ‚Erzählung‘“ nicht von50
einander zu trennen seien. „Die Erzählrevolutionen seit der sog. Moderne zersetzen Stück für
Stück die Einheit eines Textes und die epische Illusion. Verloren ging die sogenannte Welthaltigkeit zugunsten von Innenperspektive und stream of consciousness, der allwissende
Erzähler wurde von einer Fülle von Perspektiven abgelöst, an die Stelle der Geschlossenheit trat
51
das offene Ende, an die Stelle der Einheitlichkeit die Montage.“ Müller geht aber vielmehr von
einer Verschränktheit verschiedener Perspektiven aus und negiert dabei nicht eine Einheitlichkeit des Ganzen. Paola Bozzi weist in Langsame Heimkehr oder der Betrug der Dinge auf Gemeinsamkeiten zwischen den Werken von Herta Müller, Thomas Bernhard und Franz Innerhofer
52
hin. Gemeinsamkeiten sieht Bozzi in den Themen Tod, Brutalität (in der Erziehung) und
Stumpfsinn „einer nicht emanzipierten Landbevölkerung und eines patriarchalischen Sozial53
gefüges“ (bei Thomas Bernhard). Bozzi sieht Gemeinsamkeiten (zwischen Innerhofer und
Bernahrd) zudem in einer autobiografisch, realistischen Schreibweise und in der Auseinandersetzung mit der Kindheit, die „bei der rumäniendeutschen Autorin permanent und obsessiv“
54
55
sei. In der Darstellung der Kindheit sieht sie eine „Zeit der Heimatlosigkeit“. „Die Heimat
wird zur Fremde, und die Suche nach Heimat als reale oder fiktionale Rückkehr zu derselben
56
wird hier zur Abkehr.“ Auch Aglaja Veteranyi hat ihre „Heimat in der Heimatlosigkeit“ wieder57
entdeckt.
Diese allgemeine Wende in den Themen der Literatur in den Siebziger Jahren, zusammen
mit einer neuen Subjektivität, die nicht selten missverständlich mit dem Begriff „Frauen48
Martina Wagner-Egelhaaf, Stuttgart, 2000. S
vgl. Brita Baume, in: Krohm, München, 1999. s. 113.
50
Irrngart Scheitler, Tübingen/Basel, 2001. S. 10.
51
Ebd.
52
Paola Bozzi, www.fu-berlin.de.
53
Paola Bozzi, www.fu-berlin.de. S. 4.
54
Ebd., S. 5.
55
Ebd.
56
Ebd.
57
Aglaja Veteranyi, in: www.sonntagszeitung.ch.
49
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
literatur“ einherging, haben vorwiegend soziale und politische Umwälzungen herbeigeführt. Es
kann davon ausgegangen werden, dass die politisch bedingte Trennung von Ost und West nicht
nur bewusst den Blick auf das Andere geschärft, sondern zusätzlich auch den Reiz an diesem
Anderen und Fremden gesteigert hat. Dabei muss man auch beachten, inwieweit die Rezeption
auf die Literatur einwirkte oder diese wahrnahm. Klaus-Michael Bogdal definiert diese Wende
aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers als einen Prozess, der in beiden Gesellschaften
(sowohl in der östlichen als auch in der westlichen) bereits vorher begonnen hat und sich in
den Neunzigern fortsetzt. Eine Ausdifferenzierung in der jeweiligen kulturliterarischen Sphäre
58
führt er auf Modernisierungsschüben in beiden Gesellschaften zurück. Christina Tudoric`
schreibt dazu, dass der Ost-West-Konflikt in der Zeit der Emigration der Aktionsgruppe Banat
1989 besonders akut gewesen sei. Herta Müller sei dabei von den Medien instrumentalisiert
worden, und „das von ihr gekennzeichnete Bild national denkender und handelnder Banater
Schwaben, die ihr Deutschtum engstirnig pflegen, wurde bereitswillig von den Medien auf59
gegriffen und auf die gesamte deutsche Minderheit in Rumänien übertragen“. „In einer Zeit,
als Informationen aus dem Osten nur verzerrt in den Westen drangen und als es galt, eben
diesen Osten als das Böse par excellence darzustellen, kamen Herta Müllers abstossende Dar60
stellungen der banaterschwäbischen Minderheit den Medien regelrecht gelegen.“
Der von Walter Fromm geprägte Begriff der „engagierten Subjektivität“ übernimmt Emmerich Reichrath für die Akzentverschiebung in der rumäniendeutschen Literatur und meint damit
61
den Generationenwechsel von 1967 – 1974. Predoiu sieht aber trotz dieser allgemeinen Tendenz eine „rumäniendeutsche“ Prägung in der Literatur, in dem sie die Sprache als zentrales
62
Problem von Minderheitenliteratur sieht. Und weiter führt sie aus, dass „Die Vereinnahmung
der Sprache durch die Diktatur wohl der Grund dafür sein mag, warum in der unmittelbaren
63
Nachkriegszeit, die Lyrik die gepflegteste Gattung gewesen ist.“ Die Lyrik ermöglichte dabei
ein Ausweichen in die Metapher als ein polyvalentes und hermetisches Bild, das sich einer
64
eindeutigen Interpretation entzog. Dieter Schlesack sieht in der Sprachproblematik einen
65
„Minderwertigkeitskomplex“ seit Paul Celan. Richard Wagner sieht der Grund für eine Neueinstellung der Wirklichkeit darin, dass sie (Aktionsgruppe Banat) als erste Generation Schrei66
bender in die sozialistischen Verhältnisse hineingeboren wurden.
Trotz des Zersetzungsprozesses einer abgerundeten Einheit innerhalb der Gegenwartsliteratur kommt bei Herta Müller wie auch bei Aglaja Veteranyi eine Einheit durch die
Verknüpfung unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen zustande. Dabei treffen zwar eine
„fremde“ und eine „heimatliche“ Welt aufeinander - aber als Gegensatzpaar und bleiben, als
solche miteinander verknüpft, in der einen und derselben Welt.
58
Monika Melchert über Klaus-Michael Bogdal, in: Krohm, München, 1999, bzw.: Andreas Erb. www.luise-berlin.de, S.
1.
59
Cristina Tudoric`, in: www.luise-berlin.de, S. 1-2.
60
Ebd.
61
Emmerich Reichrath, in: Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 32
62
Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 19. „Dieses ist dadurch begründet, weil das Deutsche durch die Abgrenzung, „durch das Abgelöstsein vom Festland des geschlossenen Sprachraums“zur Sprachinsel wird, gleichzeitig aber
über die Bedingungen der Mehrspachigkeit zu Lehnübersetzungen aus dem Rumänischen führt.“
63
Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 18.
64
Ebd.
65
Dieter Schlesak, in: Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 18.
66
Richard Wagner, in: Grazziella Predoiu, Frankfurt a. M., 2001. S. 32.
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Diese Einheit findet sich, wie bereits angedeutet, nicht nur auf inhaltlicher und bildhafter
Ebene, sondern kommt auch durch diese selbst zustande, wobei die Sprache (mit Inhalt und
Sprachbild) durch die Übermittlung des „fremden Blicks“ selber zum Inhalt wird. Das Fremdgesehene lässt sich so in einer „fremden“ Form darstellen, dass es von den LeserInnen als
solches nachvollziehbar wird: Wiederholungen, ungewöhnliche Gegenüberstellungen,
unvollendete Sätze oder Fragen, die ohne Fragezeichen enden.
Mein Herz klopft vor Freude. Ich warte auf den Abend. Es ist auch Angst in der Freude. Mein Herz
klopft vor Angst in der Freude, vor Angst, dass ich mich nicht mehr freuen kann, vor Angst, dass
67
Angst und Freude dasselbe ist.
Inhalt und Sprache werden, vor allem bei Herta Müller, zusätzlich ineinander verflechtet:
Gegenstände und bestimmte Situationen können sowohl innerhalb als auch ausserhalb des
68
Dorfes „fremd“ wirken. Die Sätze müssen für Herta Müller von allen Seiten offen sein, da es
neben den geschriebenen und gesprochenen Sätzen immer auch verschwiegene Sätze gibt.
69
„Genauigkeit ist nicht Wahrheit “
In den Werken beider Autorinnen fallen gemeinsame Motive oder Themen auf, die durch ihr
ungewöhnliches Erscheinungsbild Teil des fremden Blicks ausmachen. Im Prozess des Erwachsenwerdens - sowohl bei Müller wie auch bei Veteranyis Kindfigur – sind die Haare
Indikatoren von Angst und Übelkeit oder, bei Veteranyi, auch Gradmesser von Glück und Erfolg.
70
„Es gibt nur eine Welt“ heisst es in der Literatur Herta Müllers nicht nur die Einheit von
poetischer und tatsächlicher Welt, sondern im stilistischen Sinne auch das Ausdrücken dieser
Einheit durch Aneinanderreihen scheinbar unpassender Sätze und Satzinhalte. Norbert Otto Eke
nennt es die „eigene ästhetische Logik der Müllerschen Diktion“, die sich „zwischen ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis befinde. Poetischer und theoretischer Diskurs durch71
dringen sich und erscheinen als zwei Seiten des einen Werks.“
Ich stand da neben dem rauschenden Zug und schaute in seine Rädern, und ich hatte das Gefühl,
dass der Zug mir aus dem Hals herausfährt und es ihn nicht kümmert, das er mir die Eingeweide
72
zerreist und ich sterben würde.
Wenn der Zug in Wirklichkeit auch nicht aus dem Hals hinausfährt, wird die beschriebene
Situation umso wirklicher je weniger sich das Sprachbild im Kopf logisch auflösen kann und um
so mehr dadurch das Gefühl angesprochen wird.
Jeden Abend trug ich den Bettvorleger hinaus, weil ich nachts alle Haare spürte im Hals. Ich
träumte, dass ich das Fell mit Messer und Gabel essen musste, dass ich ass und erbrach und weiteressen musste und noch mehr Haare erbrach, und Onkel sagte, du musst alles essen, oder du musst
73
sterben. als ich im Sterben lag, wachte ich auf.
In diesem Zitat fallen zwei Motive auf, die sich bei Herta Müller wie auch bei Aglaja Veteranyi wiederholen. Haare werden mit Übelkeit und Ekel gleichgesetzt. In Niederungen löst
das Kämmen dem Vater Schmerzen aus:
67
Herta Müller, Berlin, 1988. S. 75.
"Auf den Möbeln stehen Nippsachen, die im Dorf Figuren genannt werden und verschiedene Tiere, von Käfern und
Schmetterlingen bis zu Pferden, darstellen". Herta Müller, Berlin, 1988, S. 75.
69
Aglaja Veteranyi über Henry Matisse, in: www.sonntagszeitung.ch, S. 1.
70
Wolfgang Müller im Gespräch mit Herta Müller. www.dickinson.edu. S. 1.
71
Norbert Otto Eke, Paderborn, 1988. S. 77.
72
Herta Müller, Berlin, 1988. S. 77.
73
Herta Müller, Berlin, 1988. S. 67.
68
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
Wenn ich es dennoch tat, wenn aus Versehen geschehen war, riss Vater sich die Maschen und
Spangen, die Tücher und Halsketten herunter und stiess mich mit dem Ellbogen weg und schrie:
Jetzt weg da. Jedesmal fiel ich hin und begann zu weinen, und zerbiss den kamm in meiner Verletztheit, und wusste in diesem Augenblick, dass ich keine Eltern hatte, dass diese beiden niemand
für mich waren, und fragte mich, weshalb ich da in diesem Haus, in dieser Küche mit ihnen sass,
ihre Töpfe, ihre Gewohnheiten kannte, weshalb ich nicht endlich von hier weglief, in ein anderes
Dorf, zu Fremden und in jedem Haus nur einen einzigen Augenblick blieb, und dann weiterzog, noch
74
bevor die Leute schlecht wurden.
Das Kämmen löst beim Vater einen physischen Schmerz aus, während derselbe beim Vater
eine Reaktion auslöst, die beim Kind zu einer psychischen Verletzung führt.
Der Feiertag war verdorben wie alle Feiertage in diesem Haus. Man erkennt das auch auf diesem
75
Bild, an der schiefen Rolle aus Haar und Zuckerwasser und an meinem schiefen Lächeln.
Haare aus Zuckerwasser nehmen eine metaphorische Bedeutung an. In der „schiefen“ Haarrolle zeigt sich die Fremdheit in der Heimat und zwischen Bild und Bildinhalt, denn der das
schiefe Lächeln passt nicht zum Feiertag.
Bei Aglaja Veteranyi ist die Mutter
ANDERS ALS ANDERE; WEIL SIE AN DEN HAAREN HÄNGT UND DAS ZIEHT DEN KOPF UND DIE LÄN76
GE UND MACHT DAS GEHIRN LANG.
Und auch bei Veteranyi werden die Haare mit Zucker behandelt: Je weniger Haare der
Mutter ausfallen, wenn sie oben am Zirkuszelt hängt, desto besser war die Vorbehandlung mit
Zuckerwasser, denn
77
AN DEN AUSGEFALLENEN HAAREN KÖNNEN WIR DIE GEFAHR ABSCHÄTZEN.
Häufig vermischen sich Glück, Angst in realistischen Momenten innerhalb des Spiels:
Ich kratze mich bis ich blute. Sie reisst sich eine Handvoll Haare aus. Ich lasse mich rittlings auf ei78
ne Stuhlkante fallen. Wir wollen ins Spital.
Angstgefühl in der Realität:
Die anderen Kinder haben keine Angst, sie sprechen alle dieselbe Sprache. Wir sprechen auch ihre
79
Sprache, aber sie nicht unsere.
Die Angst verursacht bei Veteranyi nicht nur das Problem der Sprache, sondern sie zieht
sich durch die ganze kindliche Erlebniswelt hindurch. Dabei erscheinen die Angstgefühle des
Kindes meistens da, wo die LeserInnen ( oder die Erwachsenen) sie nicht erwarten: Ungewöhnliche Erklärungen der Mutter wirken auch dann beruhigend auf das Kind, wenn sie möglicherweise selbst nur Formulierung oder Interpretationen des Kindes selbst sind.
Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst, sagt meine Mutter.
80
74
Ebd. An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass die Fremde hier als etwas Positives gewertet wird, im Gegensatz zur
Heimat, die bedrohend wirkt und sogar die eigene Identität in Frage stellt. Die These Greverus‘ stimmt an dieser Stelle
überein, wenn sie davon ausführt, dass „Orientierung (...) das Absetzen gegen das Andere, das Nicht-Vertraute“ bedeutet (Greverus in: Grazziella Predoiu, Frankfurt a.M., 2001. S. 55.).
75
Herta Müller, Berlin, 1988. S. 45.
76
Aglaja Veteranyi, Stuttgart, 1999. S. 27.
77
Aglaja Veteranyi, Stuttgart, 1999. S. 42.
78
Ebd., S. 103.
79
Ebd., S. 100.
80
Ebd., S. 126.
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Der quasi „unmögliche“ Ratschlag der Mutter scheint dem Kind verständlich zu sein. Die
Angst, die sich als solche nie (be-)griffen werden kann, lässt sich durch Lächeln bekämpfen.
Zudem lässt sich die Vorstellung, das Herz zu essen und zu lachen, als einen positiven Ge81
danken betrachten, der die schlechten, die mit Angst gefüllten, verdrängt. Predoiu sieht in den
Gestalten Herta Müllers die Angst als Grundzug ihrer Empfindungen: „Alle Gestalten der Autorin leiden an existentieller oder sozialer Angst, an dem Erzwungenen der menschlichen Verhält82
nisse, an der Gewalt.“
Wenn sowohl bei Müller als auch bei Veteranyi die Erfahrung der Angst massgeblich den
Inhalt ihrer Literatur prägt, muss im Zuge dieser Untersuchung annähernd die Frage beantwortet werden, ob dies als rumäniendeutsches Merkmal gelten mag oder nicht. Nach
Predoiu wird „auch auf das nach Zwängen, Mustern vorgegebene Verhalten der eigenen
83
ethnischen Gruppe“ eingegangen. Das Spiel mit der Angst weitet sich schliesslich aus, und
wird zum Spiel mit dem Leben. Wenn sowohl Müller als auch Veteranyi Kinderspiele beschreiben, so vermischen sich in ihm nicht nur Erfindung und Wahrheit, sondern aus dem Spiel
heraus kommt das Erwachsensein - als wäre es Symbol der Kindheit.
Ich koche im Sand und ziehe meine Puppe an und aus, ich füttere sie mit Sandkuchen und Grasblumensuppe. Ich rücke meine Brüste zurecht, und Wendel schwitzt unter seinem Schnurrbart. So
geht das Spiel.
Ich werfe den Sandkuchen zusammen und zertrete ihn mit den Schuhen. Die Grasblumensuppe
fliegt an die Wand und fliesst auf die Erde. Ich renne mit meiner nackten Puppe und Haus und verliere meine Brüste vor der Küchentür. Dann locke ich Wendel mit den ersten grünen Aprikosen, die
noch halb in der Blüte stecken, zu mir her. Und Wendel kommt. Wir spielen wieder Mann und
84
Frau.
Wie eine Steigerung vom Kleinen ins Grosse in Niederungen, von der Familie, zu Dorf und
Staat, zeigt sich hier eine Steigerung der Dimension vom Kinderspiel zum Erwachsensein. Die
Verfremdung der Inhalte besteht bei beiden Autorinnen nicht nur in der Formulierung der
fremden Wahrnehmung. Genauso ins Spiel mit der Wahrnehmung wird auch der Leser gezogen,
wenn er auf Fragesätze ohne Fragezeichen oder auf Sätze in Grossbuchstaben stösst. Die Sätze
in Grossbuchstaben signalisieren weder Überschriften noch diene sie als Zusammenfassungen
vorhergegangener Abschnitte. Viel eher wirken sie betonend und heben parolenhaft unterschiedliche Inhalte hervor. Die Grossschrift rhythmisiert gleichsam auch den Text, der ansonsten keine Gliederung durch Kapitel erfährt. Das Abwechseln von Normal- und
Grossbuchstaben bei Aglaja Veteranyi ist die formale Ergänzung zur Einheitlichkeit des mit
Kinderaugen geschriebenen biografischen Romans.
Schluss:
Die Gegenüberstellung hat gezeigt, dass der fremde Blick in der Literatur von Aglaja Veteranyi und Herta Müller vergleichbar ist. Wenn die Rezeption lediglich Herta Müller ausdrücklich als rumäniendeutsche Schriftstellerin bezeichnet, macht sie dabei auch stärker die rumänische Vergangenheit für den fremden Blick ihrer Literatur verantwortlich. Beide Autorinnen
81
Haar und Glück als zwei zusammen auftretende Begriffe finden sich auch im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (Bd. III, S. 1239-1287): „Im Voigtland aber wird geglaubt, ein Kind werde glücklich, wenn sich bei ihm Haargewirre bilden: je mehr solche dem Kamm widerstrebende Haarknoten vorhanden sind, desto lieber ist es der Mutter“
(1275), oder: „Das Haar (...) als Sitz des Lebens, der Seele, der Kraft“(1258).
82
Grazziella Predoiu, Frankfurt.a.M., 2001. S. 47.
83
Grazziella Predoiu, Frankfurt.a.M., 2001. S. 47-48.
84
Herta Müller, Berlin, 1988. S. 89.
180
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
negieren auch selbst nicht, dass der fremde Blick, und in diesem Falle ihr jeweils ‚eigener’ fremder Blick, mit der Biografie zusammenhängt. Biographie meint hier aber eben nicht zugleich
eine auf Rumänien bezoegene Vergangenheit.
Aglaja Veteranyi beschreibt ihre Kindheit im Zirkus aus einer anderen Perspektive als Herta
Müller die ihre in Rumänien. Dennoch erlauben die vielen gemeinsamen Merkmale in Inhalt,
Sprache und Sprachbilder, die mit einer fremden Sicht auf die Dinge zusammenhängen, für
beide Autorinnen einen gemeinsamen Zugang an ihre Literatur. Auch der Vergleich mit anderen
deutschen AutorInnen aus Deutschland zeigt, dass ab den späten siebziger Jahren das verarbeitete Themenspektrum in einer allgemeinen Tendenz gesehen werden kann.
Indem ich ihre Literatur oder Sprache als einen eigenen künstlerischen Ausdruck zu verstehen versuchte, distanzierte ich mich vom Kanon der Rezeption. Obwohl der fremde Blick
zwar innerhalb einer subjektiven und biografisch bedingten Literatur gesehen werden kann,
möchte ich diese von einem territorialen Bezug loslösen. Durch den „fremden Blick“ wird die
subjektive Literatur möglicherweise objektiviert. Die literarische Beschreibung wirkt dabei
einem Bildwerk vergleichbar: Erst in der Negation des Bildes bzw. des Abbildes erhält das Bild
seinen eigentlichen Wert. In dem Sinne wirkt diese „fremde“ Literatur als Öffnung oder
Erweiterung des Blicks der Leserschaft und erlaubt ihr eine eigene Interpretierbarkeit.
Die Themen Heimat und Fremde und auch die Auflösung der beiden Begriffe in und durch
die Figuren der Romane, sind nicht spezifisch rumäniendeutsch. Wie die beiden Autorinnen
deutlich formulieren, hat der fremde, poetische und kindliche Blick mit Erfahren und Erleben als
solchem zu tun. Die Wirklichkeit ist geprägt von Erfahrungen und Erlebnissen innerhalb als
auch ausserhalb der „Heimat“. Vor allem Veteranyi zeigt durch die Perspektive des Kindes, dass
allein schon Aufbau, Sprache und Inhalt der Romans die Anlage zum Erleben und Erfahren
enthalten. Sowohl in Inhalt als auch in seiner Form ist das Prozesshafte miteingeschlossen.
Mehr noch bei Veteranyi ist damit eine performative Darstellung verbunden, begriffen als Einheit in Form und Inhalt über das Sinnbild des Zirkus’. Bei Herta Müller dagegen funktionieren
die Texte umso mehr wie Bilder, die in Sprache übersetzt als Film abrollen. Ein fremder Blick
darf bei allen vorhanden sein, aber die Beispiele, mittels derer er ausgedrückt wird, unterscheiden sich. Die Erfahrungen der Diktatur lassen sich darin ablesen, und selbst wenn die
Zustände im schweizerischen Kinderheim das Kind in Veteranyis Roman auch „nur“ an
rumänische Zustände erinnert.
Der fremde Blick ist weder Wirklichkeit noch Erfindung. Für beide Autorinnen sind diese
beiden Wahrnehmungen nicht voneinander zu trennen. Und wenn Herta Müller meint, Erfahrungen setzen sich immer fort, so heisst dies, dass es nicht nur stehts neue gibt, sondern
sich die alten durch die neuen auch stets verändern. Sowohl Herta Müller als auch Aglaja
Veteranyi machen deutlich, dass schliesslich nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände,
kulturelle Besitztümer und Eigenheiten auf Wanderung gehen. Dadurch entstehen neue
Erfahrungen und Wahrnehmungen in gegenseitigem Wechsel, zwischen „Heimat“ und
„Fremde“.
Der fremde Blick (und die Biografie) ist nicht nur an einen Ort gebunden, er ist nicht aufgrund des Orts-(bzw. Heimats-)wechsel entstanden. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt
vermischt sich wie die Begriffe Heimat und Fremde. Für Herta Müller gab es ihn bereits in der
veränderten Heimat Rumänien. Herta Müller und Aglaja Veteranyi betrachtet im Kontext der
Exilliteratur bietet mehr Möglichkeiten einer Einordnung. Der im zweiten Teil ausgeführte Begriff der Angst und die vor allem bei Herta Müller verarbeitete Zeit der Diktatur vermögen
treffender den fremden Blick in Verbindung mit Utopie zu sehen. Diese als Reaktion auf das
Raum-Zeit-Problem innerhalb der Exilliteratur zu begreifen, ermöglicht zugleich den fremden
Blick der beiden Autorinnen von einer zu territorial gebundenen Interpretation loszulösen. Die
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181
Judith Schifferle
Politik, die Diktatur und die Verfolgung, verbunden mit Angst und dem Gefühl permanenter
Fremdheit, sind wie bei den AutorInnen der sogenannten Exilliteratur Katalysator des besprochenen fremden Blicks der beiden Autorinnen. Vor allem Herta Müllers Inhalte sind von der
Verarbeitung der Diktatur geprägt. Bei Aglaja Veteranyi wird diese aber vom familiären Beziehungsnetz überboten und fungiert nur mehr als nebenbei erwähnt. Dennoch äussern sich bei
beiden Angst und Identitätsfindung wie ausgeführt in vergleichbaren Mustern und Metaphern.
Die besprochenen beiden Autorinnen können nicht in einer gemeinsamen bereits vorhandenen Kategorie von Literatur eingeordnet oder untergeordnet werden. Regionale und
rumänienbezogene Motive treffen bei beiden zu, werden aber bei Müller von den Erlebnissen
der Diktatur eindeutig übertroffen. Anders bei Veteranyi, die das Spiel mit der Angst und das
Spiel des Erwachsenwerdens eigentlich zum Thema nimmt. Bei ihr bekommen die Gegenstände,
die meistens auf die Herkunft Rumänien verweisen und mit jenen Herta Müllers vergleichbar
sind, mehr Gewicht im Textganzen als bei Müller.
Wenn in Zukunft der kulturelle Austausch und die Migration zunehmen, stellt sich auch
der Begriff Exil- oder(deutsche) Minderheitenliteratur in Frage. Ein offener neuer oder fremder
Blick in der Literaturwissenschaft ist unabdingbar für das Erkennen neuester Strömungen der
Gegenwartsliteratur.
Literatur:
A. Primärliteratur:
1.
Herta Müller: Vom Überfall des Glücks auf die Gedanken. In: Ernest Wichner (Hrsg.): Das Land am Nebentisch.
Leipzig 1993.
Dies.: Niederungen. Berlin 1988.
Dies.: Reisende auf einem Bein. Hamburg 1995.
Dies.: Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne. Göttingen 1999.
Dies.: Wie Wahrnehmung sich erfindet. Paderborn 1990.
Dies.: Das Land am Nebentisch, in: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg, 1992.
Dies.: Vom Überfall des Glücks auf die Gedanken, in: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg, 1992.
Aglaja Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht. Stuttgart 1999.
Dies.: Das Regal der letzten Atemzüge. Stuttgart, 2002.
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an Herta Müller. Paderborn 1991.
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George Gu u, Abriß der Geschichte der rumäniendeutschen Literatur. Teil I: Von den Anfängen bis 1918, Tipografia Universit` ii din Bucure ti, Bucure ti, 1986
Claus-Dieter Krohm (Hrsg.): Exil und Avantgarden. Edition: Text und Kritik. München 1998.
Monika Melchert: Kindheit als Quelle der weiblichen Identität. Schriftstellerinnen und ihre Bücher der Erinnerung
an Kindheit und Jugend. In: Claus-Dieter Krohm (Hrsg.): Frauen im Exil. Edition: Text und Kritik. München 1999, S.
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Zwei Autorinnen schauen fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller
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Grazziella Predoiu: Faszination und Provokation bei Herta Müller. Eine thematische und motivische Auseinadersetzung. Frankfurt a. M. 2001.
Alexander Ritter: Deutsche Minderheitenliteratur. München 2001.
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Basel/Tübingen 1997.
Christina Thurner: Der Andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und
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Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III.. Leipzig, 1927-1942..
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www.literaturkritik.de/txt/2000-09/2000-09-0015.html Rezensionsforum: Hrsg.: Prof. Dr. Thomas Anz, PhilippsUniversität Marburg. Stand: 19. Februar 2002.
2.
Harris Dzajic und Herta Müller: Paradigma der Diktatur. Interview mit Herta Müller am Rande der internationalen
Kosovo-Konferenz am 3./4. Juli 1999.
3.
www.hainholz.de/wortlaut/mueller.htm Göttinger Zeitschrift für neue Literatur: Red.: Harris Dzajic, Göttingen.
Stand: 19. Februar 2002.
4.
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Lesezei/Blz99_067text12.htm Stand: 15.05.02.
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Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke. www.fu-berlin.de/phin/phin6/p6t1.htm Stand: 15.05.02
6.
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Carlisle (USA): www.dickinson.edu/departments/germn/glossen/heft1/hertainterview.html
7.
Glossen: Internationale Zeitschrift zu Literatur, Film und Kunst nach 1945. Stand: 19.02.02.
8.
Portrait Aglaja Veteranyi: „Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.“ www.felu.ch/portrait1.htm1
Stand: 7. Februar 2002.
9.
Marco Guetg: Mit Netz und doppeltem Boden. www.sonntagszeitung.ch/1999/sz35/S63-3553.htm Stand: 21.
Februar 2002.
10. Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Aglaja Veteranyi. www.carpe.com/wandler/w18veter.html Stand: 7.
Februar 2002.
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183
INTERKULTURELLER HINTERGRUND
beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
Elena Viorel
Nie werde ich das Geheimnis der Worte ergründen, der Sprachen unter1
einader, und wie die Worte verschiedener Sprachen einander beleben.
1. Ein beharrliches Plädoyer für die deutsche Sprache
Die Suche nach dem Geheimnis der Worte und der Sprachen sowie der Einander- Belebung
der Worte verschiedener Sprachen , um die Aufzeichnung von Canetti zu paraphrasieren, gehört
meiner Meinung nach gleichermaßen zum Arbeitsapparat des Schriftstellers und des Übersetzers. Beide schöpfen aus dem unerschöpflichen Material natürlicher Sprachen, indem sie
sich freiwillig in den Dienst des dichterischen Schaffens stellen. Durch seine polyglotte
Erziehung wird Canetti, der neben der schriftstellerischen Tätigkeit zeitweilig auch übersetzt
hat, nicht nur zum Hüter der Verwandlung, sondern auch zum Hüter der Sprachen und ihrer
Kulturen, mit denen er sich im Laufe seines Lebens auseinandergesetzt hat.
Bei der Begegnung mit den Büchern von Elias Canetti muß der Leser auf Multikulturelles
und Multilinguales gefaßt sein. Durch die familiären Verhaeltnisse mußte er von klein auf
mehrere Kulturen durchwandern und in mehreren Kulturen aufwachsen. Es scheint so, als entzöge sich Canetti bewußt jedem Klischee, aber auch jeder bewährten Ordnung, als ob er als
“Welt- und Kulturmensch” an einer jeder individuellen Ordnung überlegenen “Weltordnung”
festhalten würde, die verschiedene Kulturen und die deutsche Sprache, seine “Wahlmuttersprache”, mit einschließt, von der Canetti behauptet, daß sie “ seine Heimat sei”, auf deren
Eroberung er sein Leben lang stolz war, in der er sich künstlerisch produziert, und von der er
dezidiert behauptet:
Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf
jede Weise verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten. Auch ihr Schicksal ist meines; aber ich bringe noch ein allgemein menschliches Erbteil mit. Ich will ihrer Sprache zurück2
geben, was ich ihr schulde. Ich will dazu beitragen, daß man ihnen für etwas Dank hat.
Auch anläßlich des Nobelpreis-Festes in Stockholm (1981) blieb der Literaturnobelpreisträger, Elias Canetti, seiner “Wundersprache” treu und hielt die Dankrede in deutscher Sprache.
Es begann mit der Faszination jener Geheimsprache seiner Eltern, die er anfangs nicht
verstehen durfte. Kurz nach der Übersiedlung nach Manchester wurde dann dem Sechsjährigen
die Gunst erwiesen, einem von den Eltern gesungenen Lied, Das Grab auf der Heide, zuzuhören:
Das Lied wurde mir erklärt, wohl hatte ich schon in Bulgarien Deutsch gehört und heimlich, ohne es
zu verstehen, für mich nachgesprochen, aber dies war das erstemal, daß man mir etwas übersetzte,
3
die ersten Worte Deutsch, die ich erlernte, entstammen Dem Grab auf der Heide.
1
Canetti: Die Fliegenpein. Aufzeichnungen, 1992, S. 78.
Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972, Fischer Taschenbuch Verlag, 1973, S. 62.
3
Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Fischer Taschebuch Verlag, 1979, S. 52.
2
Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
Die kulturelle Identität des späteren Schriftstellers erscheint als ein Resultat seiner großen
Liebe für die in die Weltkultur eingebettete deutsche Sprache , eine schon früh erfolgte geistige
Option. Daß dieser Entschluß für die damalige Zeit und für die Spaniolen seiner Familie keine
Selbstverständlichkeit war, geht auch aus einem späteren Gespräch mit seinem Vetter, Bernhard Arditti, hervor, anläßlich jener letzten Reise nach Bulgarien (Sofia). Ardittis Mission war
damals die Bekehrung der dort lebenden Spaniolen zum Zionismus und zur Auswanderung,
einer damals brennenden Sache. Dazu notiert Canetti im zweiten Band seiner Autobiographie:
Keinen einzigen Gegner seiner Sache traf ich, er sprach Spanisch zu ihnen und geißelte sie für ihren
Hochmut, der sich auf diese Sprache gründete. Es war das alte Spanisch, dessen er sich bediente
und ich erfuhr mit Staunen, daß es möglich war, in diesem, wie ich dachte, verkümmerten Kinder4
und Küchenidiom von allgemeinen Dingen zu handeln…
Von diesem Cousin schreibt Canetti weiter, daß er “auf seiner Seite war”, daß er sich bis zu
einem Punkt geistig mit ihm identifiziert hat; bei der Wahl der Schreibsprache aber waren sie
sich plötzlich nicht mehr einig:
Aber es war klar, daß er auf meiner Seite war, und nur als ich sagte, daß ich Deutsch schreiben
wolle, in keiner anderen Sprache, schüttelte er unmutig den Kopf und meinte: Wozu? Lern Hebrä5
isch! Das ist unsere Sprache. Glaubst du, daß es eine schönere Sprache gibt?
1937 bei Canettis Aufenthalt in Prag anläßlich der Übersetzung des Romans Die Blendung
ins Tschechische schreibt der auf alle Nuancen des Deutschen aufmerksame Schriftsteller:
Ich sprach aber mit vielen Menschen deutsch, ich sprach nichts anderes, und es waren Leute, die
mit dieser Sprache bewußt und differenziert umgingen. Meist waren es Dichter, die deutsch schrieben, und daß diese Sprache, an der sie gegen den kraftvollen Hintergrund des Tschechischen festhielten, etwas anderes für sie bedeutete als für jene, die in Wien mit ihr operierten, war immer
6
spürbar.
Canetti solidarisiert sich mit dieser Kategorie von Schriftstellern, die außerhalb des
deutschsprachigen Raumes Deutsch schrieben und, wie er selber, diese Sprache gegen den
“Hintergrund” einer anderen pflegten und um sie rangen. Genannt seien hier nur zwei seiner
Hauptwerke, an denen er in London, nach seiner Emigration aus Wien, geschrieben hatte:
Masse und Macht und Das Augenspiel. Der deutschen Sprache und Kultur zollt Canetti sein
Leben lang den größten Respekt, sie verteidigt er bei jeder Gelegenheit, von ihr läßt er sich
7
verzaubern, so wie nur er sich überhaupt von Sprachen und Kulturen verzaubern lassen kann.
2. Canetti als Vorgänger des zeitgenössischen
Interkulturalitätkonzepts
Im Falle von Canetti, einem innerhalb der europäischen Kultur sehr gebildeter Menschen,
kann man von einer interkulturellen Veranlagung und zugleich von einer erlebten Multikulturalität sprechen. Durch die Vertrautheit mit mehreren Kulturen, der jüdischen, deutschen,
französischen, englischen, gelangte Canetti zu einer transkulturellen Harmonie und wurde
Mitte des 20. Jahrhunderts zur Verkörperung einer europäischen Identität deutscher Zunge. Das
4
Elias Canetti: Die Fackel im Ohr.Carl Hanser Verlag, München, 1980, S. 106.
Ebd., S. 108.
6
Elias Canetti: Das Augenspiel.Carl Hanser Verlag, München, 1985, S. 341.
7
Vgl. auch die Stelle im Augenspiel, wo Canetti dem jungen Schriftsteller H. G. Adler in Prag begegnet und von dem er
sich für eine Weile gern trennt, um auf der Straße der unbekannten tschechischen Sprache zu lauschen: “Er spürte
aber auch, wieviel es mir bedeutete, allein zu hören, Menschen, die verschiedensten Menschen, in einer Sprache reden
zu hören, die ich nicht verstand, ohne daß mir gleich übersetzt würde, was sie sagten. Das mußte für ihn etwas Neues
sein, daß jemand auf die Nachwirkung unverstandener Worte aus war…” (a.a.O., S. 342).
5
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185
Elena Viorel
erschwert auch seine Eingliederung in eine bestimmte Nationalliteratur, er gehört einfach der
deutschsprachigen Literatur an. Diese Öffnung zu den Weltkulturen widerspiegelt sich größtenteils in seiner Autobiographie, die sich dem Leser als ein typisches Beispiel für dieses Genre und
prägend für sein dichterisches Schaffen erschließt. So unstetig Canettis Leben und also seine
künstlerische Entwicklung verlief, so disparat stellt sich dem Leser auch sein in deutscher Sprache verfaßtes literarisches Werk dar, in welchem seine Autobiographie einen besonderen Platz
einnimmt.
1905 in Rustschuk geboren, jüdisch-spanischer Abstammung, kam Canetti als Kind mit seinen Eltern nach England und lebte nach dem Tod seines Vaters mit der Mutter in Zürich, in
Frankfurt/Main, wo er das Abitur machte, und in Wien. 1938 emigrierte er aus Wien nach London. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Zürich. Dadurch, daß Canetti im benachbarten
Bulgarien geboren wurde, stellt er einen besonders interessanten Fall für den rumänischen
Leser dar. Nicht zuletzt durch die rumänischen Tangenten: die rumänische Amme, die ihn als
Kleinkind mit ihrer Mutternmilch ernährt hat, die Schlittenfahrten im Winter nach Giurgiu,
durch die Stadt Kronstadt, wo Familie Canetti in einem Sommer ihre Ferien verbrachte oder die
Reisen nach Wien, die durch dieselbe Stadt führten, wo auch sein Vater zeitweise eine deutsche
Schule besucht hatte, und nicht zuletzt durch die Reisen nach Wien, mit dem Schiff die Donau
aufwärts. Diese Berührungspunkte mit dem Territorium unseres Landes motiviert den Leser und
weckt in ihm das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen geographischen Raum und
8
das einer balkanischen Verwurzelung.
Davon zeugt auch die frühe Rezeption seiner Bücher in Rumänien, nicht zuletzt durch
Übersetzungen folgender Werke: Die Blendung, Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das
Augenspiel, Die Provinz des Menschen, Die Stimmen von Marrakesch sowie die literaturkritischen Beiträge in rumänischen und deutschen Publikationen. Zu bedenken ist auch die
Existenz einer relativ zahlreichen jüdischen Bevölkerung in Rumänien und einer großen
Sephardenkolonie in Bukarest zwischen den beiden Weltkriegen. Diese Tatsachen haben
Canettis Übersetzer bei der Übertragung seiner Werke ins Rumänische mit Sicherheit auch in
Betracht gezogen.
3. Die literarische Übersetzung als ein Akt interkulturellen Verstehens
In der Übersetzungswissenschaft spielt die Problematik interkulturellen Verstehens eine
zentrale Rolle, und “ in bezug auf die Rolle des Fremden als ästhetisches Mittel in Literatur und
Theater muß natürlich besonders an Brechts Dialektik der Verfremdung (Verfremdungseffekt)
9
erinnert werden.” Diese Bemerkungen eines Sprachdidaktikers weisen auf ein grundsätzliches
Problem hin, das Übersetzer und Fremdsprachenlehrer aus eigener Erfahrung kennen: die ständige Konfrontation des Fremden mit dem Eigenen. Canetti selbst hat eine Zeitlang als Broterwerb aus dem Englischen übersetzt, er äußert sich gelegentlich in seinen Aufzeichnungen
auch zur interkulturellen Dimension des Übersetzungsprozesses, was mir nur als natürliche
Folge seiner besonderen Lage als Mensch und Schriftsteller erscheint. Im folgenden seien einige
seiner Reflexionen bezüglich des Übersetzungsprozesses angeführt:
Das Enttäuschende an den Sprachen: daß sie so verbindlich erscheinen, mit ihren Lauten und Worten und Regeln, und daß man dann beinahe dasselbe sagen kann, auf eine ganz andere Weise, in einer anderen Sprache.
8
Die genannten Berührungspunkte mit dem Territorium unseres Landes sind im ersten Band der Canettischen Autobiographie anzutreffen.
9
Vgl. Jörg Roche: Interkulturelle Sprachdidaktik.Gunter Narr Verlag, Tübingen 2001, S. 3f.
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Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
Am Übersetzen ist nur interessant, was verloren geht; um dieses zu finden, sollte man manchmal
10
übersetzen.
Den Autor reizt das, was beim “Hinübersetzen” eines literarischenTextes in eine andere
Sprache und Kultur verloren geht, und leidet buchstäblich unter dem, was der Übersetzer bei
seinem Tanz in Ketten einbüßt oder einbüßen muß. Hierher gehört auch eine viel zitierte Goethe-Metapher bezüglich der Übersetzungen aus seinen “Maximen und Reflexionen”:
Übersetzer sind als geschäftige Kuppler anzusehen, die uns eine halbverschleierte Schöne als höchst
11
liebenswürdig anpreisen: sie erregen eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original.
Der von einer schöpferischen Unruhe erfaßte Übersetzer, der zugleich als Koautor eines literarischen Werkes fungiert, da er es neu schreiben bzw. schaffen muß, sehnt sich immer wieder in Goethes wie Canettis Auffassung nach dem Original, vor allem nach dem durch Übersetzen Verlorenen, denn er weiß am besten darum Bescheid.In der Auffassung des rumänischen
Dichter-Philosophen, Lucian Blaga, Zeitgenosse Canettis,wirkt beim literarischen Übersetzen
ein Prinzip der “Kompensationen”, nach dem, Verluste an einer Stelle in der Zielsprache sich
durch Gewinn an anderen ausgleichen lassen können. Als der Übersetzer von Goethes Faust ins
Rumänische berichtet Blaga von solchen glücklichen Momenten, wo die Zielsprache ihm For12
mulierungen bot, die das Original zu übertreffen schienen.
An einer anderen Stelle spricht Canetti über die “Nicht-Einsamkeit” des sich ständig in Begleitung des Autors befindenden Übersetzers, aber auch über dessen Grenzen beim Umgang mit
dem ausgangssprachlichen Text:
Der Übersetzer dringt in eine bekannte Sphäre ein. Alles um ihn ist wohlangebaut und er ist nie einsam. Er bewegt sich wie in einer Parklandschaft oder unter klar abgegrenzten Feldern. Worte
wenden sich wie Leute an ihn und wünschen ihm einen guten Tag. Der Weg wird ihm gewiesen und
er kann sich kaum verlieren. Er muß für wahr nehmen, was man ihm sagt und darf es nicht bezweifeln. Die Kraft des Durchschauens ist dem Übersetzer versagt. Er wäre ein Narr, wenn er hier
13
sein Vertrauen verlöre. Alles Gelände ist von jeher wohlbezeichnet.
Infolgedessen soll der Übersetzer seine Phantasie im Zaum halten, seine Flügel verhelfen
ihm nicht zum Fliegen, er steht vor einem vorgegebenen, vorgefaßten Text, den er dem Leser
der Zielsprache erschließen und vermitteln soll und bei ihm, im Idealfall, den Anschein erwecken, als wäre dieser Text in seiner Sprache entstanden; in einem gewissen Sinne schwört er
dem Autor Treue und muß sich dabei wie Ärzte, Psychologen oder Juristen der “Schweigepflicht” unterziehen. Dabei sollte er kulturelle Differenzen nicht glätten, sondern ruhig durchsickern lassen. Das Wetteifern mit dem Original ist ihm nur im Rahmen des Vorgegebenen
gegönnt. Trotzdem setzt der Übersetzungsakt eine schöpferische Arbeit voraus, die von den
oben zitierten Aussagen keinesfalls geleugnet wird. Jeder Übersetzungsakt setzt bekanntlich
nicht nur eine Übertragung aus einer Sprache in die andere voraus, sondern auch aus der Kultur
der Ausgangssprache (AS) in die der Zielsprache (ZS). Daher ist die literarische Übersetzung
zugleich als “sprachlicher und kultureller Transfer” eines Textes aus der AS in die ZS anzusehen:
In der Übersetzungstheorie spielen nicht nur die Sprachen, die an diesem Prozeß teilnehmen (AS,
ZS), sondern auch der kulturelle Hintergrund bzw. die Ausgangs- und Zielkultur (AK, ZK), und damit
10
Vgl. Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942- 1972, S. 114.
Goethes Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 18, S. 518.
12
Lucian Blaga: Cum am tradus pe “Faust. In: “Steaua”, 5/1957, S. 89.
13
Die Provinz des Menschen, S. 216.
11
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Elena Viorel
verbunden auch die Denkweisen, die mit der jeweiligen Kultur in Zusammenhang stehen, eine
14
wichtige Rolle.
Nicht immer läßt sich eine Verbindung zwischen der Ausgangs- und der Zielkultur (AK, ZK)
herstellen, vor allem dann, wenn diese weit auseinander liegen. Aber da, wo sie existiert, sollte
der Übersetzer sie fruchtbar machen und sie durch Anpassung transparent werden lassen. Deshalb sollte der Übersetzer auch in seiner Muttersprache (Zielsprache der Übersetzung) literarisch und kulturgeschichtlich überhaupt gebildet sein. Denn eine literarische Übersetzung hat
am meisten mit dem kulturellen Hintergund zu tun, “so daß die Tätigkeit des Übersetzers nicht
15
nur intertextuell, sondern auch stark interkulturell bedingt ist.” Dieser
kulturelle Hintergrund erweist sich bei Canetti per se als ein interkultureller, so daß man bei
ihm von einer auf unterschiedliche Kultureinflüsse zurückzuführende inneren Interkulturalität
sprechen kann.
Der rumänische Übersetzer kann in seiner Kultur auf eine lange Tradition der MemoirenLiteratur zurückblicken. Erwähnen wir hier nur einige der wichtigsten Vertreter dieses Genres
Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Ion Creang` mit seinen Amintiri din copil`rie
(Kindheitserinnerungen): Ion Slavici mit Lumea prin care am trecut und \nchisorile mele (Die
Welt, die ich erlebte / Meine Gefängnisse); Nicolae Iorga: O via]` de om, a[a cum a fost (Ein
Menschenleben, so wie es war) oder Das Journal von Liviu Rebreanu in drei Bänden.
4. Interlinguales und intratextuelles inneres Übersetzen in
Canettis Autobiographie
Unter interlingualem inneren Übersetzen verstehen wir die unbewußte Übertragung von in
einer anderen Sprache ersonnenen Gedanken in eine andere, während unter intratextuellem ein
von Canetti selbst verwendetes Verfahren, besonders wichtige Ereignisse in der Originalsprache
und zugleich in deutscher Übersetzung festzuhalten, zu verstehen ist. Über ein interlinguales,
zugleich interkulturelles inneres Übersetzen ist z. B. im Zusammenhang mit den bulgarischen
Märchen die Rede, die der Autor als Kleinkind Bulgarisch gehört hat und als Erwachsener auf
Deutsch auf der Stelle erkennt. Diese geheimnisvolle Übertragung, dieses wundersame Übersetzen ins Deutsche, erscheint dem Erwachsenen als etwas Einmaliges, worauf er mit
kindlichem Erstaunen zurückblickt:
Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir
später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dramatische Vorgänge, Mord und
Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken, sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben,
aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bul16
garische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf.
Die Motivation dafür gibt uns der Autor selbst, indem er seine Betrachtungen darüber fortsetzt:
Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig - mehr als sechszig Jahre habe ich mich von ihnen genährt - , aber sie sind zum
allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt
niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, daß ich dabei etwas verändere oder entstelle. Es ist
14
Vgl dazu Mihai Draganovici: Die literarische Übersetzung als sprachlicher und kultureller Transfer. Einige Überlegungen. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, Heft 1-2 (13-14), 7. Jg., Paideia-Verlag, Bukarest 1998, S. 284.
Ebd., S. 285. Der Autor zitiert a.a.O. in diesem Zusammenhang Peter Zima, für den die literarische Übersetzung “der
fremde Text der AS, der im Rahmen einer besonderen kulturellen und sozio-linguistischen Situation durch den Übersetzer in der ZS rekonstruiert wird” ist.
16
Die gerettete Zunge, S. 15.
15
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
nicht wie die literarische Übersetzung eines Buches von einer Sprache in die andere, es ist eine
17
Übersetzung, die sich von selbst im Unbewußten vollzogen hat…
Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie Fremdkulturelles war Canetti von klein auf gewohnt
und er will es auch seinen Lesern nicht vorenthalten, als ob er es geahnt hätte, daß im Zuge der
Globalisierung und der Europäischen Integration kulturell Wertvolles verlorenginge. Deshalb
macht er auch von einem intratextuellen inneren Übersetzen Gebrauch. Hier handelt es sich um
ein von Canetti bewußt eingesetztes sprachlich- stilistisches Mittel, das die Lebendigkeit und
Anschaulichkeit seiner Kindheitserinnerungen hervorheben soll. Er legt großen Wert auf das
altspanische Idiom, das in seiner Familie und unter Spaniolen verwendet wurde und will den
Leser auch mit dem Lautlichen vertraut machen, damit der interkulturelle Reiz, bei der Beschreibung der Kindheitserinnerungen in einer anderen Sprache als der in der sie größtenteils
erlebt wurden nicht verlorengeht.Dieses Canettische Verfahren trägt auch zur Wiedergabe des
Lokalkolorits jener Periode bei.
Dem deutschen, aber auch dem fremdkulturellen Leser kommt Canetti auf diese Weise bewußt entgegen, vor allem im ersten Band seiner Autobiographie, Teil 1 Rustschuk (1905-1911),
wo er am Anfang, wenn von der Rustschuker Zeit die Rede ist, spanische Syntagmen in ihrem
Wortlaut und in der deutschen Übersetzung in den Text einstreut: “Ein eifriges und zugleich
zärtliches Wort, das ich oft hörte, war la butica. So nannte man den Laden, das Geschäft, in
dem der Großvater und seine Söhne den Tag zubrachten.“ (S. 11); “Kako la gallinica!” “Kako das
Hühnchen!” (S. 13) nannte man “den zerschlagenen Idioten des Reviers”; Onkel Bucco, der
älteste Bruder seines Vaters, pflegte die Hand auf den Kopf seines kleinen Neffen zu legen, und
sagte jedes Mal: “Yo ti bendigo, Eliachicu, Amen!” - “Ich segne dich, kleiner Elias, Amen!” (S. 21);
Die Großmutter Canettis “war immer zu Hause, sie ging nie aus, ich kann mich nicht erinnern,
sie damals je außerhalb des Hauses gesehen zu haben. Sie hieß Laura und kam wie der Großvater aus Adrianopel. Er nannte sie Oro, was eigentlich Gold bedeutete, ich verstand nie ihren
Namen.” (S. 23); Das erste Kinderliedchen, das der kleine Elias lernte, hieß: “Manzanicas
coloradas, las que vienen de Stambol”- “Äpfelchen rote, die kommen von Stambol” (S. 24) ; Mit
der Formel: “Li beso las manos, Senor Padre!”- “Ich küsse ihre Hände, Herr Vater!” (S. 25) mußte
der Enkelsohn wider seinen Willen den kränklichen Großvater Arditti begrüßen.
Vom Großvater Arditti wird auch berichtet, daß er das ihn betreffende unehrliche Urteil seiner Enkel auf der Stelle erkannte: “Da hob er drohend den Finger und rief, es war das einzige
Laute, was ich je von ihm hörte: Falsu-Falscher!, wobei er den starken Ton auf dem a lange
hinauszog, das Wort klang drohend und klagend zugleich, ich habe es im Ohr, als wäre ich
gestern bei ihm zu Besuch gewesen.” (S. 26) Ebd.: “Zu Hause erfuhr ich von der Cousine Laurica, daß der Großvater eifersüchtig sei, alle seine Enkel hätten den anderen Großvater lieber als
ihn, und als größtes Geheimnis vertraute sie mir den Grund dafür an: er sei mizquin, geizig,
aber das dürfe ich meiner Mutter nicht sagen. Großvater Canetti nannte Großvater Arditti
einen Lügner: “Es mentiroso”- “Er ist ein Lügner”(S. 32).
Im Originalton hält Canetti auch seinen Gang in den Gartenhof mit einem Mordgesang auf
den Lippen, als er in seiner frühen Kindheit kriminell an seiner Cousine handeln wollte: “Agora
17
Ebd., S. 16. Derselbe Sachverhalt kommt auch in einer Aufzeichnung zum Ausdruck: “Übertragung von Gedanken, mit
denen man sich mehr als zwanzig Jahre befaßt hat, in eine andere Sprache. Ihre Unzufriedenheit, weil sie nicht in
dieser Sprache entstanden sind. Ihre Kühnheit erlischt, sie weigern sich auszustrahlen. Sie schleppen Nichtzugehöriges
hinter sich her und lassen Wichtiges auf dem Wege fallen. Sie erbleichen, sie ändern ihre Farbe. Sie kommen sich feig
und vorsichtig vor, der Winkel, unter dem sie ursprünglich einfielen, ist ihnen verloren. Sie hatten den Flug von Raubvögeln, nun flattern sie wie Fledermäuse. Ihr Lauf war der von Geparden, nun kriechen sie daher wie Blindschleichen.
Demütigend zu denken, daß sie in eben dieser Reduktion, dieser Mäßigung und Entmannung eher Verständnis finden
werden!” Vgl. Die Provinz des Menschen, S. 216 .
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189
Elena Viorel
vo matar a Laurica! Agora vo matar a Laurica!” - “Jetzt werde ich Laurica töten! Jetzt werde ich
Laurica töten!” (S. 39) Die Sehnsucht nach seinem Vater, der sich damals für eine Zeitlang in
England aufhielt, um den Umzug vorzubereiten, wurde noch größer nach jenem Verbrennungsunfall. “Statt vor Schmerzen zu stöhnen, schrie ich nach ihm, ” Cuando viene ? Cuando viene?” “Wann kommt er? Wann kommt er?” (S. 42)
An den Tonfall des Spanischen, jener Umgangssprache seiner Kindheit in Rustschuk, erinnert sich Canetti gelegentlich auch im 2. Band seiner Autobiographie, als er nach langer Zeit
seine Verwandten in Sofia besuchte. Von einem Onkel schreibt er: “ Immer erwartete ich von
ihm ein Ya basta! Es ist genug! zu hören” (Die Fackel im Ohr, S. 104). Andere Male gibt er eine
erläuternde, interpretierende Übersetzung, wenn er im Deutschen keine interkulturell adäquate
Entsprechung findet: “Man sprach mit Respekt von ihm, weil er der Bucco war, das war der
Ehrentitel des erstgeborenen Sohnes in jeder Familie"”(Die gerettete Zunge, S. 21)
Von manchen spanischen Wörtern oder Syntagmen nimmt der Autor an, daß sie auch dem
fremdkulturellen Leser verständlich sein dürften, und er läßt sie unübersetzt, etwa in der Episode mit den Zigeunern, die jeden Freitag an den jüdischen Häusern vorbeikamen: “Ich pflegte
auf den Augenblick zu warten, da sie am Hoftor vorn zuerst erschienen, und lief, kaum hatte
ich den blinden Alten erblickt, unter gellenden Rufen Zinganas! Zinganas! durch das lange
Wohnzimmer und den noch längeren Korridor, der es mit der Küche verband, nach hinten.” (Die
gerettete Zunge, S. 19). Oder wenn er das Jammern der Mutter bei der Geburt seines mittleren
Bruders beschreibt: “Das Jammern wurde lauter, ich hörte madre mia querida! madre mia querida!…” ( Die gerettete Zunge, S. 22).
In Manchester kam Canetti in die Schule von der er von Anfang an begeistert war und nicht
weniger von seiner Banknachbarin Little Mary mit ihren roten Backen, in die er sich so verliebte, daß er zu Hause vor der Gouvernate laut sang: “Little Mary is my sweetheart! Little Mary
is my sweetheart! Little Mary is my sweetheart!” (Gerettete Zunge, S. 55) Diese Stelle wird aber
nicht wort- wörtlich übersetzt, sondern dem Kontextverständnis überlassen. Im Zusammenhang
mit dem Untergang der Titanic bemerkt Canetti weiter: “Aber das häufigste Wort, das ich hörte,
war iceberg. Es prägte sich mir ein wie meadow und island, obwohl ich es nicht vom Vater
hatte, das dritte engliche Wort, das mir in Erinnerung blieb, das vierte war captain” (Ebd., S. 59)
Im Originalton und in der deutschen Übersetzung stehen auch ein paar Brocken des Hebräischen, in
deutscher Orthographie transkribiert, als sich der Autor an das Pessach-Ritual erinnert:
Als der Jüngste hatte ich meine eigene, nicht unwichtige Funktion, ich mußte das Manitschtanah
sagen. Die Erzählung vom Ausgang aus Ägypten ist eingekleidet in die Frage nach dem Anlaß des
Festes. Der jüngste der Anwesenden fragt gleich zu Beginn, was diese Vorrichtungen alle bedeuten…
[…] Denn da kam das Schönste: die Männer standen alle plötzlich auf und tanzten ein wenig umher und
sangen tanzend zusammen Had gadja, had gadja - ein Lämmlein, ein Lämmlein. (Ebd., S. 31)
So erfahren wir auch die Geschichte des Schimpfwortes Haman: “Haman war das letzte
Wort, ein Stoßseufzer, aber auch eine Beschimpfung. Ich war sehr erstaunt, als man mir ein
wenig später erklärte, daß Haman ein böser Mann gewesen sei, der alle Juden töten wollte.
Aber dank Mordechai und der Königin Esther war es ihm mißlungen und aus Freude darüber
feierten die Juden Purim." (Ebd., S. 27).
Diese im Spanischen, Englischen oder Hebräischen belassenen Syntagmen oder Zitate bilden
aus interkultureller Sicht eine Bereicherung für den Leser, dem diese Zeit und diese Kulturen
näher gebracht werden. Die Situation wird sich ändern durch die Auswanderung nach Manchester, wo der Vater seine Mühe hatte, Englisch zu lernen und es auch mit seinen Kindern zu
praktizieren. Das Spanische, das bis dahin seine Sprache gewesen war, trat in den Hintergrund
und er hörte es nur noch von anderen, besonders älteren Verwandten.
190
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Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
5. Sprachlicher und kultureller Transfer beim TitelÜbersetzen
Des weiteren wähle ich ein paar Passagen aus der Canettischen Autobiographie und weise
auf einen sprachlichen bzw. kulturellen Transfer beim Übersetzen hin. Spätestens
seit Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-1833) weiß man, daß Autobiographien besonderen Entstehungsbedingungen unterliegen und bestimmten Zwecken dienen.
Diese können zwar sehr differieren, einen Anspruch aber erheben sie mit Sicherheit nicht: den der
historiographischen Genauigkeit. Allerdings sind sie auch nicht nur private Selbstverständigung, denn
sie wollen auch individuelle Welterfahrung für die Nachfolgenden verfügbar machen.
In unserem Zusammenhang ist interessant zu wissen, daß Canetti selbst seine Autobio18
graphie nicht etwa für eine periphere, halbliterarische Arbeit hielt, sondern für die ihm einzig
19
mögliche Weise, künstlerisch mit der Welt umzugehen.
Canettis Lebenserinnerungen umfassen die Bücher Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977; 1984 erschien die rumänische Übersetzung), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte
1921-1931 (1980; 1986 rumänisch) und Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937 (1985;
20
1989 rumänisch).
Charakteristisch für alle drei Bände ist der weite Abbildbereich der Titel. Sie widerspiegeln
sowohl ein jeweils konkretes und einschneidendes Erlebnis, charakterisieren außerdem eine
ganze Entwicklungsphase im Leben Elias Canettis und markieren symbolisch einen wichtigen
Wesenszug unterschiedlicher kulturell- historischer Situationen. So gesehen, ist es wichtig, also
in einem Werk, das Authentisches und Fiktives miteinander verbindet, das in seiner Dichtung
Wahrheit sein will und in seiner Wahrheit Dichtung, daß der Übersetzer auf diese Strategie
eingeht und daß er in der Zielsprache nach adäquaten Mitteln sucht, um die interkulturelle
Dimension des Originals transparent zu machen.
Erinnern wir uns an die ersten Sätze der Geretteten Zunge:
Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer
Tür heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist.
Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Tür und ein lächelnder Mann tritt heraus, der
freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: Zeig die Zunge!
Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die
21
Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab.
Diese frühe Kindheitserfahrung, die offenbar zu einem Trauma wurde, geht auf einen Karlsbader Aufenthalt der Eltern im Sommer 1907 zurück.. Für den erst zweijährigen Elias war ein
Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen worden, die nun ungewollt zur Mit-Agentin einer
Episode wurde, die in ihrer makabren Symbolik namensgebend für das Buch “Die gerettete
Zunge” wurde. Sie spielt auf den Brauch an, der im Balkanraum verwurzelt ist, die Kinder einzuschüchtern, um sie zum Gehorsam zu bringen, und bei den beiden Völkern, den Bulgaren und
18
Zu grundsätzlichen Aspekten der Biographie bei Canetti siehe auch: George Gu u: Autobiographisches im Werk von
Manés Sperber und Elias Canetti. In: Wehn vom Schwarzen Meer… Literaturwissenschaftliche Aufsätze. Hrsg. v. George
Gu u. Bucure ti, Paideia 1998, S. 106-118, und: Zu Aspekten der Autobiographie unter Berücksichtigung von Manés
Sperbers und Elias Canettis Werk. In: Die Massen und die Geschichte. Internationales Symposium. Russe, Oktober 1995,
hrsg. v. Penka Angelova, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1998, S. 181-200.
19
Vgl. hierfür auch das Vorwort von Wolfgang Gabler zum dritten Band der Autobiographie: Jocul privirilor, DaciaVerlag 1989, S. 7f. (Übersetzung von Elena Viorel.)
20
Die drei Memoiren-Bände sind im Dacia-Verlag Cluj-Napoca in der Übersetzung von Elena Viorel erschienen.
21
Die gerettete Zunge, S. 7.
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191
Elena Viorel
Rumänen, anzutreffen war (ist). Einem unartigen Kind, das etwa lügt oder lästert, wird im Rumänischen mit dem Syntagma “Der Pfarrer schneidet dir die Zunge ab” gedroht. Bei den Bulgaren fehlt
anscheinend die Vogelscheuchenfigur, der Pfarrer, der angebliche Vollstrecker dieser barbarischen
Drohung. Der Übersetzerin war es sofort klar, daß der Leser in der Zielsprache diese Drohung der Erwachsenen den Kindern gegenüber aus seiner Kultur bereits kennt und daß sie durch Kulturtransfer auf
den rumänischen Leser nicht so schockierend wirkt wie etwa auf den deutschen.
Außer in diesem Sinn rettet Canetti seine Zunge in seiner Kindheits- und Jugendzeit, die
von einer geradezu “Babylonischen Sprachverwirrung” gekennzeichnet ist, folgendermaßen:
Aufgewachsen ist er in einer Enklave spaniolischer Juden in Bulgarien, und in kurzen Abständen
führten ihn Wohnsitzwechsel nach England, Österreich und in die Schweiz. Daher ist es leicht
verständlich, daß unter dieser Voraussetzung die Bewahrung des Sprechenkönnens für Canetti
von existentieller Bedeutung war.
Dadurch, daß im Rumänischen für Zunge und Sprache ein einziges Lexem limba existiert,
ist der Titel durch die Übersetzung ins Rumänische nicht eindeutig: Limba salvata. Diese
Ambiguität ist aber auch im Original enthalten, wo Zunge auch stellvertretend für Sprache
steht Es war das Schweigen, das dem kleinen Elias die Zunge rettete - ein Schweigen, das de
facto den Übergang von tiefster Verängstigung zu Komplizenschaft besser als jede soziopsychologische Abhandlung sinnfällig zu machen in der Lage ist. Die Geschichte dieser einmalig
erlebten kindlichen Gefahrensituation symbolisiert natürlich in erster Linie auch die latente
22
Gefährdung der menschlichsten aller menschlichen Fähigkeiten, der Sprache.
Darüber hinaus symbolisiert die gerettete Zunge die fortgesetzte Benutzung der deutschen
Sprache durch ihn als Juden trotz der Erfahrung des Faschismus in Deutschland, denn “Die
gerettete Zunge” repräsentiert sowohl ein Kindheitstrauma als auch die Rettung in die “Arche”
der deutschen Sprache, der durch die Mutter vermittelte Existenzform seines Denkens und
Schreibens. In allen drei Bänden der Autobiographie fühlt sich Canetti veranlaßt zu beschreiben, wie er diese Sprache unter Schmerzen erwarb und sie bewahrte als seine, im
wörtlichen Sinne, Mutter- Sprache.
Dieser komplexen Problematik des “Zungen- und Sprachenrettens” wird die Übersetzung
trotz des Fehlens einer genauen lexikalischen Entsprechung im Rumänischen durchaus gerecht.
Der Titel Die Fackel im Ohr bezeichnet, analog zur eben gekennzeichneten Struktur, zunächst Canettis wichtigen Lehrer, den Herausgeber und später alleinigen Autor der Zeitschrift
Die Fackel, Karl Kraus. Der Titel ist aber ebenso Sinnbild sowohl der Jahre intensiven Lernens
(also Zuhörens) als auch des Zuhörens als einer Voraussetzung humanistischer Toleranz gegenüber fremder Kultur und Lebensweise. Für das Lexem lateinischer Herkunft Fackel gibt es im
Rumänischen zwei form- und semantischverwandte ebenfalls aus dem Lateinischen
stammenden Lexeme: faclie und facla. In der Übersetzung habe ich facla gewählt, natürlich
nicht zufällig, sondern bewußt, weil mir hier die Kultur der Zielsprache Analoges geboten hat,
nämlich die von N. D. Cocea herausgegebene Zeitschrift Facla. Es handelt sich um eine demokratisch und fortschrittlich orientierte Wochenzeitschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft, die mit
wenigen Unterbrechungen in Bukarest zwischen 1910 und 1940 erschienen ist. Hier haben
bekannte rumänische Schriftsteller und Literaturkritiker veröffentlicht: N.D. Cocea, Ion Vinea,
Tudor Arghezi, aber auch Emil Isac, Camil Petrescu, Mihail Sadoveanu oder Miron- Radu
Praschivescu. Das Verdienst dieser Zeitschrift war u.a., dass sie das Pamphlet zu einer
22
Vgl. auch Elena Viorel: Stationen eines Lebens zwischen Orient und Okzident. Die Sprache als Lebensform bei Elias
Canetti. In: Fassel, H.. und Waack, Ch. (Hrsg.): Regionen im östlichen Europa - Kontinuitäten, Zäsuren und Perspektiven
(Tübinger Geographische Hefte), Heft 128, 2000, S. 238 f.
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Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie
literarischen Gattung erhob und während drei Jahrzehnte für Demokratie, soziale und nationale
Freiheit und gegen den Faschismus und die rechstorientierte Ideologie angekämpft hat. Noch
ein Beweis dafür, dass der Übersetzer guter Kenner beider Kulturen sein muss, um seiner VerVer23
mittlerrolle entsprechen zu können.
Der Titel des dritten Bandes Das Augenspiel bezieht sich zum einen vorerst wieder auf eine
konkrete Begebenheit aus Canettis Leben, nämlich auf die Faszination, die die Augen der Bildhauerin Anna Mahler, der Tochter des Komponisten Gustav Mahler, auf ihn ausübten. Diese
Augen und ihr Spiel werden immer wieder zum Gegenstand seiner Schilderung.
Diese konkrete Erfahrung ist für den dritten Teil der Lebensgeschichte insofern symptomatisch, als nunmehr der visuellen Wahrnehmung Aufmerksamkeit gewidmet wird. Es ist, als
seien dem Autor die Augen geöffnet worden. Andererseits vermag das Augenspiel Personen zu
charakterisieren, wenn die Sprache versagt. Auch die an manchen Stellen dieses Bandes erkennbare Sprachnot des Autors macht seine Aufmerksamkeit für das stumme, vielsagende Spiel
der Augen verständlich. Die Übersetzung ins Rumänische erfolgt durch das Syntagma Jocul
privirilor, wobei das anatomische Organ, das Auge, durch seine Funktion, den Blick, ersetzt wird.
Dem synthetischen Sprachbau des Deutschen entspricht ein analytischer im Rumänischen, wobei der
Genitiv Plural auch durch eine Präpositionalfügung din privire / din priviri hätte übersetzt werden können.
Als Varianten für den Titel hatte ich Joc din privire / Joc din priviri.
6. Kulturtransfer in der Wiedergabe balkanischer Kindheitserfahrungen
Der Leser der Zielsprache erkennt im Canettischen Text manche balkanischen Sitten und
Bräuche, aber auch Aberglauben, und vor allem gemeinsame Mentalitäten.
Ein mit Lebensangst verbundener Brauch, der den zwei Kulturen, der bulgarischen und der
rumänischen, gemeinsam war, bezieht sich auf die Einschüchterung der Kleinkinder damit, daß
sie von Zigeunern gestohlen und in den Sack gesteckt werden, etwa “Wenn du nicht brav bist,
kommt der Zigeuner und steckt dich in den Sack”. Solche Formeln, gegen alle Prinzipien der
modernen Pädagogik verstoßend, sind bis heute noch nicht total ausgestorben:
Ich nehme an, es waren die Mädchen, die mir an den langen Abenden im Dunkel auf dem Sofa von
den Zigeunern erzählt hatten. Ich dachte daran, daß sie Kinder stehlen, und war überzeugt davon,
daß sie es auf mich abgesehen hatten…Ich wunderte mich, wie freundlich sie zu ihren Kindern wa24
ren, gar nicht wie böse Kinderräuber. Aber an meinem Schrecken vor ihnen änderte das nichts.
Wieder ein Trauma, das sich aber diesmal mit einem Zeremoniell verknüpft, mit dem der
wandernden Zigeuner, die am Vorabend des Sabbats, an Freitagen, an den jüdischen Häusern
vorbeikamen, um beschenkt zu werden. Unwillkürlich denken vor allem ältere Semester an die
eigene Kindheit zurück, nicht in Bulgarien, sondern im benachbarten Rumänien, wo die Zigeuner vor allem zu Feiertagen ähnlich verfuhren.
Ein anderer gemeinsamer Brauch ist die Begrüßung von Eltern, älteren Verwandten oder
hoch Angesehenen mit „Küss die Hand!“ / „Sarut mâna“. “Li beso las manos, Senor Padre! /Ich
küsse Ihnen die Hände , Herr Vater Dann schob sie mich vor, ich mochte ihn nicht und ich
25
mußte ihm die Hand küssen”. Der rumänische Leser erkennt den Brauch gleich wieder aus
seiner Sprache und Kultur, wo Anfang des 20. Jh.s der Umgang der Kinder mit ihren Eltern,
23
Vgl. I. Hangiu: Dic ionar al presei literare române ti (1790- 1982), Editura tiin ific
1987, S. 127.
24
Die gerettete Zunge, S. 19.
25
Ebd., S. 25.
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i Enciclopedic , Bucure ti,
193
Elena Viorel
Großeltern oder den Kindern überlegenen Erwachsenen ähnlich verlief, aber auch aus der benachbarten österreichisch- ungarischen Monarchie.
Eifriges Erlernen von Fremdsprachen von klein auf galt sowohl im damaligen Rustschuk als
auch in Rumänien als ein Zeichen guter Erziehung der Kinder, aber auch als eine Garantie für
deren weiteren Erfolg im Leben:
Es war oft von Sprachen die Rede, sieben oder acht verschiedene wurden allein in unserer Stadt gesprochen, etwas davon verstand jeder, nur die kleinen Mädchen, die von den Dörfern kamen,
konnten Bulgarisch allein und galten deshalb als dumm. Jeder zählte die Sprachen auf, die er
kannte, es war wichtig, viele von ihnen zu beherrschen, man konnte durch ihre Kenntnis sich selbst
26
oder anderen Menschen das Leben retten.
In der kleinen bulgarischen Stadt lebten am Anfang des 20. Jahrhunderts Bulgaren, Griechen, Türken, Albaner, Armenier, Russen, Zigeuner nicht gerade wie in Noahs Arche, im Wesentlichen
aber doch friedlich mit oder neben einander. Die “Spaniolen” (das waren die in der frühen Neuzeit aus
Spanien vertriebenen “sephardischen” Juden, zu denen auch die Familie der Canettis gehörte) hatten
ihr eigenes Viertel, welches in Rustschuk an das türkische Viertel angrenzte. Und hier in Rustschuk war
es, daß Canetti mit einer erstaunlich früh in sich aufgenommenen sprachlichen Vielfalt auch eine erste
Schule von Sprachtoleranz empfing. Es war selbstverständlich, daß man mehrere Sprachen konnte und
27
danach trachtete, sie zu verstehen und zu erlernen. Das führte dazu, daß dem zukünftigen Schriftsteller jede ethnozentrische Sichtweise fremd und verhaßt blieb. Das Leben im patriarchalischen
Rustschuk war auch dadurch gekennzeichnet, dass die Spaniolen viel davon hielten, ihren Kindern von
klein auf Fremdsprachenunterricht zu geben oder sie in fremde Sprachen einzuweisen. Fremdsprachen
spielten hier eine viel größere Rolle als später in Manchester oder Wien.Der Kampf, um den anderen zu
verstehen ist an Sprachen gebunden und repräsentierte für Canetti eine Möglichkeit “die Angst vor
dem Anderen” zu exorzisieren.
Fremdsprachen waren, und sind noch geblieben, für kleinere Nationen und Sprachgemeinschaften eine Selbstverständlichkeit, die dadurch den Anschluss an die Weltkultur suchten.
Jene polyglotte Selbstverständlichkeit der Spaniolen hatte ihre Wurzeln im Osmanisch28
Altösterreichischen und erst dann im Jüdischen. Die frühe Einweisung der Kinder in Fremdsprachen galt
und gilt auch heute noch zugleich für die Situation im damaligen bzw. heutigen Rumänien.
7. Schlußbemerkungen
Durch die Beherrschung unterschiedlicher Kulturen und Sprachen wird Canetti zum Inbegriff eines interkulturellen Schriftstellers. Aufgabe seiner Übersetzer wäre demnach nicht nur
die Wiedergabe des Textes, sondern auch seine innere Interkulturalität “herüberzuretten”.
Das teilweise unbewußte Erbe seiner Kindheit, das weiter überlebt hat und in der Autobiographie einen soliden Kulturhintergund abgibt, ist an mehreren Sprachen und Kulturen, sogar
an “Worten”, gebunden. Auch wenn manche dieser Sprachen, wie z. B. das Bulgarische, verlorengegangen sind, sind dank jenen geheimnisvollen Übersetzungsprozesses Hauptbegriffe
davon in der Sprache seines Lesens und Schreibens von Literatur, im Deutschen, erhalten und
aufbewahrt geblieben.
In Canettis autobiographischem Werk kann man von einer inneren Interkulturalität sprechen, die ihn ausmacht und die den fremdkulturellen Leser anzieht.
26
Ebd., S. 37.
Vgl. dazu auch E. Viorel a.a.O., S. 239
28
Vgl. auch Ilse Leitenberger: Elias Canettis Geschichte einer Jugend. In der Arche der Sprache für immer daheim. In:
“Die Presse”, Wien, 19.3.1977, S. 21.
27
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LITERATURWISSENSCHAFT
DIE GERMANISTEN ALS KULTURWISSENSCHAFTLER
Jaques Le Rider
Seit einigen Jahren ist von einer kulturwissenschaftlichen Wende der herkömmlichen Germanistik allgemein die Rede. Die Auflösung der traditionellen Fachgrenzen, das Verlangen nach
mehr Inter- und Transdisziplinarität, die Dekonstruktion des literarischen Kanons im Unterricht
an der Schule und an der Universität (Stichwort: Literaturwissenschaft als Teil der Medienforschung) haben eine so weitgehende Pluralisierung bewirkt, daß man am besten im Plural
von den Sprach- und Literaturwissenschaften als Teil der Kulturwissenschaften sprechen kann.
Als französischer Germanist muß ich gleich anmerken, daß man mit dem Begriff Kulturwissenschaft(en) keine volle interkulturelle Klarheit erreicht. Wie kann man diesen Begriff z.B.
ins Französische übersetzen? Am besten wohl mit «Sciences humaines et sociales» oder mit
«Sciences de l’homme et de la société». Nicht die alte, im Zeitalter des deutsch-französischen
Kulturkriegs so verbreitete Unterscheidung zwischen culture und civilisation ist das Problem.
Sondern vielmehr die zwischen culture und société. Bei Bourdieu ist die «culture» ein Feld
(champ) innerhalb der société, bzw. des système social. Dann wird es schwer, sich unter
1
Kulturwissenschaft etwas anderes als eine Kultursoziologie vorzustellen.
Wenn man aber die Kultur als das Medium der «Übersetzung» definiert, die das Handeln mit
Bedeutung ausstattet, die das Vergangene und das Geschehen in Erinnerung und Geschichte
2
überträgt, dann ist Kulturwissenschaft vornehmlich als Kulturgeschichte zu definieren.
Im Kontext der englischen und amerikanischen Cultural Studies ist der deutsche Begriff der
«Kulturwissenschaften» vermutlich nicht weniger mißverständlich als im französischen Kontext.
– Eine gemeinsame Tendenz ist immerhin hervorzuheben. Die kulturwissenschaftlich orientierte
«Germanistik» setzt wie die Cultural studies die philologische Betrachtung der Texte nicht mehr
ins Zentrum ihrer Bemühungen, sondern betrachtet die literarischen Texte – wenn überhaupt! –
eher als «Texte der Kultur». Eine germanistische Kulturwissenschaft versucht, die «Ausdifferenzierung von schöner Literatur aus dem Ensemble kultureller Praxis», eine Vorstellung,
die mehr oder weniger die gleichen Wurzeln hat wie die Idee von der Autonomie der Kunst, zu
3
überwinden, um Prozesse der «Verschriftlichung von Kultur» zu erforschen.
1
Vgl. Heidemarie Uhl, in Lutz Musner und Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis - Positionen, Wien: Wiener Universitätsverlag, 2002, S. 227.
2
Diese Definition wird ebd., S. 20, vorgeschlagen.
3
Aleida Assmann, «Was sind kulturelle Texte?», in: Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Hg. von Andreas Poltermann, Berlin: Erich Schmidt, 1995, S. 232-244.
Jaques Le Rider
Diese Veränderung der Perspektive bringt die hergebrachte Literaturwissenschaft weg von
dem Dialog zwischen zwei vereinzelten Individualitäten (dem Autor und dem Leser, bzw. dem
«professionellen» Leser als Literaturwissenschaftler), hin zu einem neuen kulturellen Kollektiv.
Den Akt des Lesens als gesellschaftliches Phänomen zu studieren, ist keine wirklich befremdende wissenschaftliche Einstellung. Diese Forschungsrichtung trifft z.B. die histoire de la
lecture und die histoire du livre. Etwas ungewohnter ist die Aufforderung von der idealistischen
Konstruktion des Autors Abstand zu nehmen. Aber war das nicht ein credo der écritureTheorien der 60er Jahre (Roland Barthes wäre hier an erster Stelle zu nennen)? In seinem
Vortrag von Warwick im Jahre 1967 sagte Georges Perec:
L’écriture n’est pas naturelle. L’écriture est un acte culturel et uniquement culturel. Pour parler,
4
pour écrire, il faut passer par quelque chose de culturel.
Die kulturwissenschaftliche Ausrichtung hat in den Literaturwissenschaften nicht nur «eine
manchmal verwirrende Pluralisierung bewirkt.» Sie hat angesichts «der längst vollzogenen
Auflösung des Konzepts einer ‘Nationalliteratur’» bestimmte «Rückbindungen der Literaturgeschichte an das kulturelle Kollektiv» gesucht: an Riten, Mythen, Gedächtnisformen, Mentali5
täten, Generationen, Geschlechterdifferenz. Mit der Kategorie des kulturellen Textes verwandelt sich die «germanistische Literaturwissenschaft» in eine allgemeine Anthropologie der
europäischen Kulturen, indem sie die Möglichkeiten und Methoden der «Lesbarkeit» von Kultur
6
untersucht. Ritual, Inszenierung, Körper (Körpersprache, Geschichte der Körpers ), Schrift, Bild,
7
8
Codes, Symbolbildungen, Medien, Diskursanalyse , Kulturtransfers als Forschungsgegenstände
erlauben es dem Kulturwissenschaftler, aus den Grenzen seines Faches «Deutsche Literaturwissenschaft» herauszubrechen und neue transdisziplinäre Ansätze zu verfolgen.
Diese Umwandlung der Literaturwissenschaftler in Kulturwissenschaftler wird manchmal
von den anderen Sozialwissenschaftlen mit Kopfschütteln rezipiert. Viele «neue» Fachrichtungen wie die Soziologie und die Anthropologie behaupteten sich im Fin de siècle und um
die Jahrundertwende im Wettstreit mit und durch scharfe Abgrenzung von der Philosophie und
9
der Literatur. Das Verdikt: «Das ist literarisch» ist heute im Mund eines Soziologen, eines
Ethnologen oder eines Historikers kein Kompliment. Vielleicht fällt es den Altertumsforschern,
den Mediävisten, den Neuzeitspezialisten leichter, als «Kulturwissenschaftler» aufzutreten,
insofern die Unterscheidung zwischen literarischen und kultur-, bzw. sozialwissenschaftlich
10
relevanten Dokumenten im Archiv jener Epochen weniger scharf ist. Seit dem 19. und 20.
4
Diese «conférence de Warwick» wurde in Georges Perec, Entretiens et conférences, Bd. 1, Paris: Editions Joseph K,
2003, wieder zugänglich gemacht.
5
Gerhard Neumann und Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und
Ethnographie, München: Wilhelm Fink, 2000.
6
Im Sinne z.B. von Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/Main:
Suhrkamp (stw 1524).
7
Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp (stw 1639), 2003.
8
Vgl. Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris, Presses Universitaires de France, 1999; meine
Position in der Kulturtransferforschung habe ich in: Kulturelle Nachbarschaft. Zur Konjunktur eines Begriffs, Hg. von
Gerhard Kofler, Jacques Le Rider und Johann Strutz Klagenfurt, Wieser, 2002 («Deutsch-französischer Kulturtransfer:
Zur Übertragbarkeit dieses Modells auf Ostmitteleuropa», S. 197-236) ausgeführt.
9
Es ist das Thema von Wolf Lepenies, Die drei Kulturen, München-Wien: C. Hanser, 1985.
10
Vgl. den Band 5, 2001, der Revue des sciences humaines (Lille) mit dem Titel: «La littérature, laboratoire des sciences
humaines».
196
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Germanisten als Kulturwissenschaftler
Jahrhundert sind aber die europäischen «sciences de l’homme et de la société» im Zuge des
Prozesses der Spezialisierung immer hermetischer gegeneinander abgekapselt. Heute erscheinen die Literaturwissenschaftler mit ihren kulturwissenschaftlichen Ambitionen ab und zu
als die letzten «Generalisten» der Philosophischen Fakultät, um nicht zu sagen, als touche à
tout und Dilettanten…
Schwer zu bestreiten ist der Befund, daß die neuen theoretischen und methodologischen
Impulse kaum noch innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft(en) ihren Ausgangspunkt
haben. Die Auslandsgermanisten machen häufig sogar die bittere Erfahrung durch, daß man
ihnen die Kompetenz zur Vermittlung eines relevanten Wissens über die deutschsprachigen
Länder abstreitet. Die seien doch «nur» Sprachlehrer und Literaturwissenschaftler, also nicht im
Stande, de l’Allemagne oder de l’Autriche oder de la Suisse alémanique zu sprechen. Dies ist
nicht nur das Symptom der geschwächten Position des Fachs «Germanistik» an den Universitäten, sondern das Anzeichen der geschrumpften Auffassung von Literatur, die heutzutage
vorherrschend geworden ist: Literatur wird im engeren Sinn als schöne Literatur, als Kunst, oder
als Unterhaltungsliteratur verstanden. Die Einsicht, daß es einen literarischen Erkenntnisgewinn, eine literarische Wissenschaft vom Menschen geben kann, findet heute keine breite
Akzeptanz mehr.
Zwei Grazer Soziologen schreiben in einem jüngst veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel:
«Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie»:
Die unseren Ausführungen zugrunde liegende These lautet: Die Erkenntnismöglichkeiten der
Soziologie lassen sich durch die analytische Auswertung von Literatur (im Sinne von Belletristik
oder ‘fiction’) erweitern und verbessern. [...] Als wir auf dem 15. Österreichischen Kongress für
Soziologie 1997 in Graz das Schwerpunktthema ‘Literatur als Soziologie – Soziologie als Text’ zur
Diskussion stellten, stellte sich heraus, wie exotisch dies auf die meisten Teilnehmerinnen und
Teilnehmer wirkte. Schon damals vertraten wir die These, die Soziologie solle in systematischer
Weise auf Belletristik zurückgreifen. Die Reaktionen darauf schwankten zwischen erheblicher
11
Skepsis und blankem Unverständnis.
Dies resümiert den unbefriedigenden Zustand des angeblichen Dialogs der deutschen
Literaturwissenschaft mit den Kulturwissenschaften: Dieser Dialog erfolgt à sens unique, das
Interesse der Literaturwissenschaftler an den Sozialwissenschaften wird selten erwidert. Die
Relevanz der Beiträge von Literaturwissenschaftlern zur kulturwissenschaftlichen Diskussion
wird außerhalb des «Neuphilologikums» öfters bezweifelt. Eine menschlich verständliche und
institutionssoziologisch erklärbare Reaktion ist der Rückzug der Literaturwissenschaftler auf
«esoterische» Positionen der Texthermeneutik oder Textästhetik, die im Endergebnis die
disziplinäre Isolation des eigenen Fachs nur verschärfen.
Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, daß gerade ein Literaturwissenschaftler den
Vorwurf der literarischen Unverbindlichkeit gegen Freuds kulturwissenschaftlichen Ansatz
erhebt, den er als nicht wissenschaflich genug einschätzt:
Von Hause aus geht der Psychoanalyse die kulturwissenschaftliche Frage nach dem Wissen und
Handeln ganzer Gruppen schon darum ab, weil sie die Intersubjektivität bereits methodisch oder
12
experimentell auf die Zweierbeziehung reduziert hat.
11
Helmut Kuzmics / Gerald Mozetic, «Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie», in: Österreichische Zeitschrift für
Soziologie, 28. Jg., Heft 2, 2003 (S. 67-87), S. 67.
12
Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München, Wilhelm Fink, 2000, S. 182.
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Jaques Le Rider
Dieser Vorwurf an die Freudsche Anthropologie ist nicht neu: Schon immer wurde die Psychoanalyse wegen ihres methodologisch kühnen Übergangs von der Analyse der individuellen
Psyche zur Theorie des Kollektivs kritisiert. In unserem Kontext bekommt aber der Vorwurf der
kulturwissenschaftlich orientierten Germanisten und Literaturwissenschaftler gegen Freud eine
paradoxe Pointe. Denn gerade dies wurde den Literaturspezialisten von den Sozialwissenschaftlern immer vorgeworfen: daß jene aus den fiktiven (oder: imaginären; oder: poetischen)
Weltbildern von Einzelnen – den Autoren – kulturwissenschaftliche Ansätze schöpfen wollen.
Was kann man in den Texten «beobachten»? Welchen Realitätsbezug hat die Literatur?
Beobachtet man im (literarischen) Text nur literarische Textvorgänge oder sonst noch etwas
kulturwissenschaftlich Relevantes (abgesehen von einer «kulturwissenschaftlichen
Literaturtheorie», die den Literaturwissenschaftler in den selbstreferentiellen espace littéraire
zurückverweist)? Welcher Art ist die «Zweierbeziehung» Autor-Text / Leser-Interpret? Spricht
und schreibt nicht in jedem Autor ein Kollektiv mit? Rezipiert nicht in jedem Leser – Interpreten
eine «ganze Gruppe» mit? Das sind Fragen, die in der Kürze dieses Beitrags kaum beantwortet
werden können.
Ich interpretiere Friedrich Kittlers Freud-Schelte als den bewußt-unbewußten Vorwurf des
Literaturwissenschaftlers gegen sich selbst. Denn die Freudsche Psychoanalyse ist keineswegs
13
nur Neurologie und Psychiatrie ; man kann ebenso gut behaupten, daß Freuds Methode der
Interpretation des Unbewußten nach dem Modell der philologischen Methode konzipiert wurde:
Das Unbewußte wurde von Freud als Sprache («L’inconscient est structuré comme un langage»,
Jacques Lacan) und als Text konstruiert. Nach der archäologischen Metapher ist das Unbewußte
jene unentzifferte Schrift, die der analytische Interpret als Archäologe in eine verständliche
Sprache zu übertragen hat. Deshalb gibt es jenseits der anekdotischen Bemerkungen über den
Dichter als Doppelgänger Freuds eine so tiefe Affinität zwischen der Literatur und der Psycho14
analyse. Man kann Freud als einen Philologen des Unbewußten bezeichnen.
Mein Verdacht, daß Friedrich Kittlers Vorwurf gegen die Psychoanalyse als «blödsinnige»
Kulturwissenschaft nichts anderes ist als eine unausgesprochene Kritik an den Philologen, wird
durch Kittlers Seitenhieb auf Nietzsche verstärkt: À propos Totem und Tabu meint er
Das sei zwar blühender Blödsinn, aber leider kein folgenloser. Seit Nietzsches Kulturpolitik und
Freuds Psychoanalyse hat die Kulturwissenschaft aufgehört, eine Wissenschaft unter anderen zu
sein; sie steckt vielmehr – wie die Geburt der Tragödie es programmiert hat – ihre Leser und Leserin15
nen an.
Denn Nietzsche war, noch eindeutiger als Freud, primär Philologe und verstand sich ab der
Geburt der Tragödie als Kulturhistoriker, Kulturkritiker, ja als «Arzt der Kultur». Folgt man
meiner Lektüre dieses Kapitels in Friedrich Kittlers Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft,
dann kann man sagen, daß dort Nietzsches Geburt als die tragische Mißgeburt des Philologen
als (möchte gern-) Kulturwissenschaftlers intrerpretiert wird. Übrigens enthält F. Kittlers rüde
13
F. Kittler schreibt: «Bei Freud ist die Kulturwissenschaft derart ins Neurologische und Psychiatrische, ins Empirische
und Alltägliche umgeschlagen, daß sie nur auf den Krücken einer von Freud selbst so genannten Spekulation wieder
Anschluß zur allgemeinen Geschichte findet.» (Ebd., S. 189).
14
Diese Thesen habe ich in: Freud, de l’Acropole au Sinaï. Le retour à l’antique des modernes viennois, Paris, Presses
Universitaires de France, 2002, entwickelt.
15
Friedrich Kittler, op. cit., S. 200.
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Die Germanisten als Kulturwissenschaftler
Zurechtweisung des Dilettanten Freud unbeabsichtigte Anklänge an Ulrich von WilamowitzMoellendorffs Rezension der Geburt der Tragödie…
Ich möchte im Gegensatz zu dieser Auffassung Nietzsches Schriften aus den 1870er Jahren
als ein Beispiel mehr von der Geburt der Kulturwissenschaft aus dem Geiste der Philologie
interpretieren. Seit der Goethezeit haben die klassische Altphilologie und die Mediävistik vorgeführt, wie eine sprach- und literaturhistorisch orientierte Philologie als Ausgangspunkt einer
umfassenden Kulturwissenschaft arbeiten kann. Dies rückblickend festzustellen, ist auch eine
Ermunterung, die Perspektiven einer transdisziplinären Horizonterweiterung der Neuen Philologien mit einem vernünftigen Optimismus zu betrachten.
Die kulturwissenschaftliche Erweiterung der deutschen Literaturwissenschaft will ich nicht
als Aufruf zum allgemeinen «cultural turn» der Germanistik und zum kollektiven Übertritt zu
einer anderen Fakultät empfehlen. Es geht auch nicht darum, das erschöpfte Fach der Literaturwissenschaftler an die jungen Sozialwissenschaftlen anzulehnen, sondern eine gemeinsame
Diskussionsbasis zwischen den Philolologen und den Kulturwissenschaftlern zu festigen. Es
geht darum, Literatur als «Symbolsystem» und «Sozialsystem» zu interpretieren, die Literatur als
abhängig von den Medien, bzw. als Bestandteil einer Kultur der Kommunikation zu verstehen
und die literarische Institution als eine besonders traditionsreiche unter den Kulturinstitutionen
16
(z.B. als Bildungsinstitution) zu betrachten.
Von den zahlreichen programmatischen Angeboten, die in letzter Zeit in Umlauf gesetzt
17
worden sind, scheint mir der Beitrag von Mieke Bal mit dem glücklich gewählten Titel Kultur18
analyse besonders überzeugend. Damit kann man der unfruchtbaren Debatte über Freuds
Wissenschaftlichkeit ausweichen. Es geht uns nicht um Kulturwissenschaft mit den Maßstäben
der Naturwissenschaft; auch nicht um fröhliche Beliebigkeit. Als science de l’homme geht die
Kulturwissenschaft oder Kulturanalyse davon aus, daß die Wissenssysteme von der Kultur als
Quellen und Instrumenten der Sinngebung konstruiert werden, und daß die naturwissenschaftliche Methode und Rationalität eines dieser Wissenssysteme darstellt. Die Sciences de l’homme
et de la société, die Kulturwissenschaft oder -analyse, bilden ein anderes Wissenssystem, das
sich mit dem naturwissenschaftlichen Wissenssystem an vielen entscheidenden Stellen überschneidet, jedoch keineswegs damit identisch ist.
Die Erforschung des Blicks, des Visuellen, ist für Mieke Bal ein zentrales Gebiet der kulturanalytischen Forschung. Dieses Forschungsfeld ist für Sprach- und Literaturwissenschaftler
keinesweg ein fremdes Terrain. «Die Frage lautet nicht, ob literarische Texte eine visuelle
16
Wilhelm Vosskamp, «Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Versuch einer Bestandsaufnahme», in: Zur
Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankrfurt
am Main (1846-1996), hg. von Frank Fürbeth, Pierre Krügel, Ernst E. Metzner, Olaf Müller, Tübingen: Niemeyer, 1999,
S. 809 ff.
17
Die informative Sammelrezension von Gideon König, «Über Einführungen und Studien zur Kulturwissenschaft», in:
arbitrium, 2/2002, S. 134-145, enthält nützliche Hinweise auf einige in unserem Beitrag schon erwähnte Monographien und Sammelbände und darüber hinaus auf: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte.
Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie,
Tübingen, 2000.
18
Mieke Bal berichtet in diesem programmatischen Band von der «Amsterdam School of Cultural Analysis», einem
transdisziplinären Studiengang für Graduierte: Mieke Bal, Kulturanalyse, aus dem Englischen von Joachim Schulte,
Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2002, S. 28.
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Jaques Le Rider
Dimension haben können» (eine solche Frage würde uns auf Lessings Laokoon zurückwerfen!),
«sondern wie sich das Visuelle selbst schreibt.» Es geht natürlich nur um eine Theorie der Literaturproduktion, sondern auch um eine der Rezeption: «Sehen entspricht als Akt [...] dem Zuhören oder Lesen. [...] Das Subjekt des Sehens ist das Objekt des visuellen Akteurs, von dem es
19
zum Sehen genötigt wird.» Zur Kulturanalyse des Visuellen gehört nach Mieke Bal auch die
20
«Narrativität der Ausstellung» im Museum.
An diese stimulierende Dynamik der transdisziplinären kulturanalytischen Forschung, hier
nur stichwortartig zitiert, läßt sich mancher Forschungsansatz anschließen, jenseits der Fächergrenzen, doch ohne Ausgrenzung bestehender Forschungstraditionen. Wenn die «kulturwissenschaftliche Wende» in unserem schon genug aufgesplitterten Fach neue Einteilungen bringt,
dann ist sie unzeitgemäß. Mein Eindruck ist aber, daß viele von uns schon lange kulturwissenschaftlich arbeiten – wie Monsieur Jourdain bei Molière, qui faisait de la prose sans le savoir –,
und daß die Kulturanalyse die Sprach- und Literaturwissenschaft weder ablösen will, noch
ersetzen kann, sondern diese fortsetzen und erweitern möchte.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
19
20
Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck, 1997
Bal, Mieke, Kulturanalyse, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2002
Cassirer, Ernst, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, 1942
Chaney, David, The Cultural Turn: Scene-Setting Essays on Contemporary Cultural History, London –
New York: Routledge, 1994
Espagne, Michel, Les transferts culturels franco-allemands, Paris, Presses Universitaires de France,
1999
Geertz, Clifford, Works and Lives: The Anthropologist as Author, Stanford, 1988
Gephart, Werner, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max
Webers, Frankfurt/Main: Suhrkamp (stw 1374), 1998
Hoeschen, Andreas, und Schneider, Lothar, «Zwei klassische Konzeptionen der Kulturwissenschaft:
Hermann Paul und Heinrich Rickert», in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen
Literatur (IASL), Bd. 27, 2002, NR. 1, S. 54-72
Jameson, Fredric, The Cultural Turn: Selected Writings on the Postmodern, 1983-1998, 1998
Kittler, Friedrich, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München, Wilhelm Fink, 2000
König, Gideon, «Über Einführungen und Studien zur Kulturwissenschaft», in: arbitrium, 2/2002, S.
134-145
Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Hg.
von Rüdiger von Bruch, Friedrich Wihelm Graf und Gangolf Hübinger, Stuttgart-Wiesbaden: Franz
Steiner, 1989
Kulturelle Nachbarschaft. Zur Konjunktur eines Begriffs, Hg. von Gerhard Kofler, Jacques Le Rider
und Johann Strutz, Klagenfurt: Wieser, 2002
Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis - Positionen, Hg. von Lutz Musner und Gotthart Wunberg,
Wien: Wiener Universitätsverlag, 2002
Beide Zitate in Mieke Bal, op. cit., S. 24.
Ebd., S. 38.
200
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Germanisten als Kulturwissenschaftler
15. Kuper, Adam, Culture. The Anthropologist’s Account, Cambridge MA – London: Harvard University
Press, 1999
16. Lepenies, Wolf, Die drei Kulturen, München-Wien: C. Hanser, 1985
17. Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, Hg. von
Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München: Wilhelm Fink, 2000
18. Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und
Übersetzung, Hg. von Andreas Poltermann, Berlin: Erich Schmidt, 1995
19. Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Hg. von Martin Huber und Gerhard Lauer, Tübingen:
Niemeyer, 2000
20. Pour une histoire culturelle, Hg. von Jean-Pierre Rioux et Jean-François Sirinelli, Paris: Seuil, 1997
21. Revue des sciences humaines (Lille), Bd. 5, 2001: «La littérature, laboratoire des sciences humaines»
22. Revue germanique internationale, Bd. 10/1998: «Histoire culturelle»
23. Sarasin, Philipp, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp (stw 1639),
2003
24. Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/Main: Suhrkamp (stw 1524)
25. Vosskamp, Wilhelm, «Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Versuch einer Bestandsaufnahme», in Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846-1996), hg. von Frank Fürbeth, Pierre Krügel, Ernst
E. Metzner, Olaf Müller, Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 809 ff.
26. Weigel, Sigrid, Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
201
WIDERSPRÜCHLICHKEIT UND VERSCHMELZUNG
christlicher und kriegerischer Ideale
in der Entstehung des Rittertums
Hans Neumann
Die neutestamentarische Botschaft mit ihrer seltsamen und bisher unerhörten Aufforderung
1
zur Feindesliebe muß wohl mit verblüfftem Staunen und defizitärem Fassungsvermögen in der
kriegerischen Welt der germanischen Stämme empfangen worden sein. Christliche Vergeltungslehre und doktrinärer Pazifismus befanden sich von vornherein auf Kollisionskurs mit der
2
Tradition germanischer Blutrache und gewaltlustiger Veranlagung. Ehe die neue Religion Akzeptanz finden konnte, mußte sie irgendwie vermittelt werden und dafür fehlten einfach die
schlichtesten Verständigungsgrundlagen ganz zu schweigen von kompatiblen Denkkategorien
oder auch nur vergleichbaren Begriffen und terminologischen Konvergenzstellen. Dass dies der
Fall gewesen sein muß, zeigt nicht nur die lange und oft grausame Geschichte der mühsamen
3
Bekehrung zum Christentum , sondern auch die sprachgeschichtliche Entwicklung der verschiedenen Bezeichnungen, die für die Bennenung der “neuen” Gottheit im Deutschen gebraucht wurden. Die germanischen Götter hatten alle einen Namen, genauso die der
griechisch-römischen Antike, sie ließen sich einfacher identifizieren und waren in dieser bestimmten Identität mit ihrer jeweiligen Funktion bzw. Stellung “greifbarer”. Ganz anders der
neue Gott der fremden Religion mit ihrer Doktrin und ihren Existenzvorstellungen, die sich im
krassen Widerspruch mit den tatsächlichen Zuständen der rauhen Wirklichkeit befanden. War
es bis jetzt immerhin möglich, Odin mit Jupiter und Zeus oder Thor mit Mars und Ares auf
einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so bereitet der ursprünglich jüdische Monotheismus
mit der kaum begreifbaren hinzugekommenen Dreieinigkeitsvorstellung erhebliche Schwierigkeiten der politheistischen Germanen-Welt, die sich nicht zuletzt auf der Ebene der Sprache
widerspiegeln. Alle germanischen Sprachen besitzen das Wort Gott (ahd. got) in seiner christlichen Bedeutung. Diese Verbreitung ist freilich kein Beleg für eine so frühe Bekehrung, wohl
1
Matth. 5. 38-48; Luk. 6, 27-35.
Hunderte Jahre später sagt man dem deutschen Sproßvolk dieselbe aggressive Prädisposition nach, die Tacitus schon
an den germanischen Vorfahren zu bemerken glaubte und sie nachdrücklich zu den Charakteristika der Germanen
zählte. Daß die Deutschen in dem Ruf der Gewalttätigkeit standen, bezeugen die bissigen Bemerkungen von Jakob von
Vitry in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts über die Pariser Studenten aus verschiedenen Ländern. Die Engländer
wurden von ihm als „Trinker“ (potatores) charakterisiert, die Franzosen als „hochmütig, wollüstig und von unmännlicher Gestalt“ (superbos, molles et muliebriter compositos), die Italiener als „aufsässig“ (seditiosos), die Flamen als
„anspruchsvoll und verschwenderisch“ (superfluos, prodigos), „die Deutschen nennt man wütend und wüst bei ihren
Gelagen“ (Theutonicos furibundos, et in conuiuiis suis obscenos dicebant). Eine ähnliche Beschreibung - wiederum auf
die Deutschen und ihre Raufereien bezogen - liefert auch Roger von Hoveden (Chronica, Bd. 4, S. 120): wie er berichtet, ist in Paris im Jahr 1200 in einem Wirtshaus der Diener eines vornehmen deutschen Klerikers beleidigt und angegriffen worden. „Als dies bekannt wurde, geschah ein Auflauf der deutschen Kleriker. Sie drangen in das Wirtshaus ein
und verprügelten den Wirt“. Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter,
München 81997, S. 94-95.
3
Wenn die Zwangstaufe der besiegten Heiden prinzipiell unzulässig war, so ging doch die Praxis in dieser Hinsicht der
Theorie einigermaßen voraus. Das gilt vor allem für den theokratischen Herrschaftsanspruch Karls des Großen und für
seine Kriege gegen die Sachsen im 8. Jahrhundert, die mit gewaltsamen Massentaufen nach der Niederlage von Widukind endeten. Vgl. James A. Brundage, Medieval Canon Law and the Crusades, London 1969, S. 21
2
Widersprüchlichkeit und Verschmelzung christlicher und kriegerischer Ideale
aber ein Indiz für eine sehr frühe Auseinandersetzung mit dem fremden Glauben und mit dem
christlichen Gottheitsbegriff. Man setzt nicht etwa den Christengott (lat. deus) mit dem
eigenen obersten Gott gleich, so wie man in den Wochentagsnamen die römischen mit den
4
heimischen Göttern identifiziert hat. Das Wort Gott selbst stammt aus uraltem germanischen
Sprachgut und es muß daher ursprünglich eine andere Bedeutung gehabt haben, bevor es die
christliche übernahm. In seiner christlichen Bedeutung ist das Wort also ein Bedeutungslehnwort:
Nur aus dem etymologischen Vergleich mit anderen indogermanischen Sprachen kann man versuchen, die ursprüngliche Bedeutung zu ermitteln. (…) Das Wort, dessen germanische Grundform als
*gudam anzusetzen ist, ist neutralen Geschlechts und seiner Bildung nach ein Partizip, also eine
Verbform. Je nachdem, an welche indogermanische Wurzel es anzuknüpfen ist, kann es bedeuten
‘das Angerufene’ oder ‘das (Wesen), dem man Opfer bringt’ oder endlich – freilich weniger wahrscheinlich – ‘das (in Erz) Gegossene’. Von der erstgenannten Bedeutung her wäre die spätere Verwendung im christlichen Bereich am ehesten zu verstehen. Jedenfalls hat das Wort aber auch in
seiner heidnischen Bedeutung bereits der numinosen Sphäre angehört. Daß *gudam ein Neutrum
war, deutet an, daß es ein Unnennbares und Unfaßbares bezeichnete. Es mag, wie das Schicksal,
hinter und über den Göttern gestanden haben, die man zu kennen glaubte und mit Namen anrufen
konnte. Ist das richtig, so hätten die Germanen schon in der Bezeichnung, die sie wählten, ausgedrückt, wie unbegreiflich fern und hoch für sie der eine Gott der Christen über der vertrauten
5
Welt der eigenen Götter stand”.
Für lat. dominus gibt es im Althochdeutschen drei Bezeichnungen frô, truhtîn und hêrro,
von denen frô wohl die älteste während hêrro die jüngste ist. Im Gegensatz zu got (deus) haben
dominus und seine Übersetzungen neben der religiösen auch eine profane Bedeutung und die
Sprachentwicklung wird von dem alltäglichen Gebrauch bestimmt, dem in diesem Fall eine
ordnende, nivellierende Funktion zukommt. Frô ist schon in althochdeutscher Zeit außer Gebrauch gekommen und wir begegnen ihm heute noch in Fronleichnam mit religiöser Bedeutung
oder in Frau (frô + weibl. Suffix –wa) der Alltagssprache. Frô bedeutet “Herr, Gebieter, Machthaber” ohne Rücksicht auf die soziale Stellung des Untergebenen, der entweder frei oder unfrei
6
sein kann. Truhtîn ist jünger als frô und hat eine etwas restriktive Anwendungssphäre; das
Wort bedeutet “Herr der Gefolgschaft”, “Kriegsherr” und hier wird der Stand durchaus beachtet,
denn der Krieger und Gefolgsmann ist frei und schließt sich seinem truhtîn freiwillig an. Man
nimmt an, daß truhtîn als Übersetzung der römischen kaiserlichen Bezeichnung und Anredeform dominus von den germanischen Söldnern im römischen Heeresdienst unter dem Einfluß
heimischer Verhältnisse und Vorstellungen auf den Kaiser als ihren obersten Feldherrn angewandt wurde und so allmählich in den weiteren Bedeutungsbereich von frô einrückte, denn
der Kaiser war natürlich nicht der Herr einer Kriegerschar, sondern der imperator und verfügte
über absolutistische Macht. Als die weltliche Übersetzung von dominus konnte dann truhtîn
von dem profanen Bereich auf den sakralen übertragen werden und setzte sich als das neuere
7
“modernere” Wort durch, indem es den älteren Ausdruck frô verdrängte. Dieser Vorgang
wiederholt sich als in den romanischen Sprachen seit dem 6. Jahrhundert die ältere lateinische
Anredeform dominus weitgehend von senior (“der Ältere”) ersetzt wird. Dem senior (lat.
Komparativ zu senex “alt”) entspricht im Althochdeutschen hêrro (ahd. Komparativ zu hêr
“hehr, erhaben, durch Alter ehrwürdig”). Als Pendant zu den bedeutungsgleichen dominus und
senior die weltlichen Herrscher bezeichnend tritt hêrro zunächst parallel mit truhtîn auf, das im
4
Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I, Reinbek b. Hamburg 1963, S. 112.
Hans Eggers, ebd., S. 112.
6
Hans Eggers, ebd., S. 114.
7
Vgl. H. Eggers, ebd., S. 114-115.
5
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
203
Hans Neumann
Gebrauch dennoch der Gottheit-Bezeichnung vorbehalten wird. Im Laufe der Zeit fließen aber
die beiden Bedeutungsbereiche von lat. dominus zusammen und hêrro löst auch im geistlichen
8
Bereich den älteren truhtîn auf wie vorher frô von truhtîn ersetzt wurde.
Die oben skizzenhaft unternommene sprachgeschichtliche Ausführung vermag zwar zu keinen relevanten Erkenntnissen über die Entstehung des Rittertums im abendländischen Mittelalter weiterführen, sie läßt aber anhand eines Kernbegriffs flüchtig ahnen, wie verwickelt und
langwierig der Assimilationsprozeß christlichen Glaubens im ehemaligen heidnischen nun oberflächlich christianisierten Abendlande sich gestaltete. Durchaus schwieriger ließ sich die
fundamentale Opposition zwischen der christlichen Friedensethik und der kriegerischen Gesinnung bewältigen und die daraus resultierende Kompromißlösung hieß im Mittelalter “Rittertum”. Die Widersprüche bleiben dennoch bei aller Instrumentalisierung und Stilisierung vorhanden. Aufgrund ihrer weitgehend kirchlichen Sicht der Dinge tendierten geistliche Autoren in
der Regel dazu, das Ritterwesen im Rahmen geistlicher Prioritäten zu beschreiben und Maximen aufzustellen, die die meisten Ritter entweder nicht in vollem Umfang verstanden oder bei
9
denen sie sich berechtigt fühlten, sie zu ignorieren. Was das Christentum für den Einzelnen
unter Umständen bedeutete und was man manchmal darunter verstand, ist bei Wolfram in
karikierter Darstellung zu lesen: als dem Halbbruder Parzivals und Heidenkönig Feirefiz die
Heirat mit der Gralsträgerin und Gralskönigsschwester Repanse de Schoye von der Taufe abhängig gemacht wird, springt dieser, lauter Heiterkeit erregend, sofort ins Wasser und meint
dann, sein Ziel erlangt zu haben. Dies wäre aber nicht das Heil, sondern die Frau. So einfach
lassen sich gegensätzliche Vorstellungen jedoch nicht aus dem Weg räumen. Die evangelische
Aufforderung, den Feind zu lieben und auch die andere Backe für einen zweiten Schlag darzubieten, bleibt bei aller frommen Propaganda und kirchlichen Bemühungen ein unrealistisches
Desiderat. Sie mag unter Umständen einem Laien genauso befremdlich vorkommen, wie die
christliche Vorstellung von der göttlichen Dreieinigkeit dem Heidenkönig Terramer in Wolframs
Willehalm vorkam, als er im Gespräch mit seiner getauften Tochter und Gemahlin Willehalms
Gyburc, ehemaliger Heidin Arabel, von der Kreuzigung Jesus erfuhr und man darf fast dieselbe
Reaktion erwarten:
der sich einen selbe dritten hât,
Der Einer ist und dabei Drei,
ebengelîch unt ebenhêr,
ganz gleich und gleichermaßen heilig,
sich: der entstirbet nimmer mêr
sieh: der stirbt nie wieder
durh man noch wîbes schulde.
für die Schuld der Menschen.
nû wirp umb sîne hulde!«
Bemüh dich drum um seine Huld!«
dô sprach der von Tenabrî:
Da sagte der von Tenabri:
»den einen möhten doch die drî
»Den Einen hätten doch die Drei
*von dem tôde haben bewart.
vor dem Tod bewahren können.
(Wh. 218, 26 ff.)
*
Maurice Keen schlägt für den Begriff “Rittertum” eine Definition vor, derzufolge das Rittertum als ein Ethos zu erfassen wäre, bei dem kriegerische, aristokratische und christliche
10
Elemente miteinander verschmolzen waren. Verschmolzen deswegen, weil diese Verbindung
etwas Neues und Umfassendes zu sein scheint, das nach eigenen Gesetzen funktioniert, zum
anderen, weil es kaum gelingen wird, die Einzelelemente vollständig voneinander zu trennen. Je
nach Kontext kann ein Aspekt stärker hervortreten, Einwirkungen von anderer Seite werden
8
Vgl. H. Eggers, ebd., S. 115-117.
Maurice Keen, Das Rittertum, Reinbek b. Hamburg 1991, S. 13.
10
M. Keen, Das Rittertum, S. 31.
9
204
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Widersprüchlichkeit und Verschmelzung christlicher und kriegerischer Ideale
sich aber kaum ausschließen lassen. Hinzu kommt noch, daß jeder von den drei erwähnten
Aspekten auf ein weiteres Strukturnetz im Hintergrund hinweist. So weist z. B. der militärische
Aspekt des Rittertums Verbindungen mit der Reitkunst, mit der Waffentechnik, mit den zunehmenden Kosten für die Ausrüstung, die freilich ein ausreichendes Vermögen voraussetzen,
auf. Der aristokratische Aspekt ist nicht nur eine Sache der Geburt, er ist verbunden mit
Konzeptionen über die Funktion des Ritterwesens und mit einem Tugenkodex, der die Aristokratie nicht bloß als eine Frage der Abstammung, sondern auch als eine Frage der Würde betrachtet. Der christliche Aspekt zeigt sich überraschenderweise frei von kirchlichen Dogmen
11
und Prioritäten.
Das Ritterwesen entstand in Frankreich, erhielt aber seine endgültige Gestalt erst in einem
europäischen Umfeld. Es gewann Verbreitung als fundamentales Ethos einer Kriegerschaft, die
auf der einen Seite durch ihr kriegerisches Können als berittene Kämpfer legitimiert waren, auf
der anderen Seite durch eine Kombination von Standesstolz und Diensttradition. Vom alten
germanischen Kriegerethos unterschieden sie sich zum Teil durch ein neuartiges Elitedenken
aufgrund ihrer Reiterkampftechnik, zum Teil durch eine neugewonnene weltlich-kulturelle
Freiheit, dokumentiert vom weltlichen Konzept der höfischen Liebe bei den Troubadours. Das
Leben bei Hofe bedeutet für den einzelnen, daß er sich einem Regelsystem unterwerfen muß,
wenn er an der Herrschaft partizipieren will, die mit und in diesem System ausgeübt wird. Der
Einzelne kann und darf seine Interessen nicht mehr einfach mit Gewalt durchsetzen, er lernt,
seine Affekte zu beherrschen, Distanz zu wahren: sowohl im Kampf oder im Turnier als auch im
Umgang mit den Damen. Norbert Elias hat diese Verwandlung des Kriegers zum Hofmann, die
“Verhofung” des Kriegeradels als den entscheidenden Schritt im “Prozeß der Zivilisation” interpretiert. Irgendwann um die Mitte des 12. Jahrhunderts schufen veränderte soziale und kulturelle Faktoren (neue Kampftechniken, ein neues Standesvokabular, neue Literaturthemen) eine
neuartige soziale Erscheinung d.h. den “Ritter”, und eine neuartige Existenzform d.h. das “Rittertum”:
Im höfischen Ritterideal sind verschiedene Wertvorstellungen zusammengekommen: traditionelle
Herrenethik mit den zentralen Begriffen Gerechtigkeit und Freigebigkeit, spezifisch christliche Forderungen an den Adel (Schutz für Witwen und Waisen, Mitleid mit Besiegten usw.), allgemeine Tugendwerte, die sich für den Gebildeten dem System der Kardinaltugenden zuordnen ließen (Weisheit, Beständigkeit, Tapferkeit usw.). Alles zusammen wurde auf den neuen Wertbegriff der höfischen Liebe bezogen, der dem ganzen Entwurf den höfischen Charakter im eigentlichen Sinne ver12
lieh.
Die Disziplinierung kriegerischer Dispositionen und Mentalitäten in der christlichen Gesellschaft des Abendlandes geht auf die finstere Zeit der feudalen Anarchie im 9. und 10. Jahr13
hundert zurück. Das Evangelium wird gepredigt als Botschaft des Friedens , doch die Bibel
insgesamt entbehrt nicht der Bilder, die vom Kriege genommen sind. Die Stellung der Kirche
zum Kriege war begreiflicherweise delikat, hieß es doch, ein unvermeidliches Übel mit der
friedlichen und gewaltlosen Lehre Christi in Einklang zu bringen. Maßgebend für das ganze
lateinische Mittelalter wurde Augustin, der die Lehre vom “gerechten Krieg” (bellum iustum)
14
entwickelte. Allein diese Art von Krieg war zulässig. Er durfte nur der Verteidigung oder der
11
M. Keen, ebd., S. 32.
Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 21977, S. 181 f.
13
Vgl. Matth. 26, 52: “[...] einer aus denen, die mit Jesu waren, reckte die Hand aus und zog sein Schwert aus und
schlug des Hohepriesters Knecht und hieb ihm ein Ohr ab. Das sprach Jesus zu ihm: ‘Stecke dein Schwert an seinen
Ort. Alle nämlich, die das Schwert nehmen, sollen durchs Schwert umkommen’”.
14
Vgl. Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Darmstadt 1974, S. 5.
12
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15
Wiedererlangung geraubten Gutes dienen. Mit der zweiten Möglichkeit war bereits der Interpretation politischer Situationen ein freizügiger Spielraum gegeben, denn eine Kriegsschuld
oder einen Kriegsgrund konnte man immerhin ad-hoc erfinden bzw. argumentieren. Die Idee
16
des Verteidigungskrieges gewann vor allem im 9. und 10. Jahrhundert an Bedeutung , als das
ganze christliche Europa sich ständig mit den Invasionen heidnischer Völker konfrontierte.
Normannen, Ungarn und Araber stürmten in kleineren und größeren Gruppen in die christlichen
Gebiete und unterdrückten die Bevölkerung, die damals nach dem Zusammenbruch des karolingischen Reiches wohl die schwierigsten Zeiten des Mittelalters erleben mußte. Da Kirchen und
Klöster aufgrund ihres Vermögens spezielle Anziehungspunkte für die plündernden Scharen
waren, war es nur umso verständlicher, daß die Kirche gerade hier vom Krieg nicht abriet, sondern ihn gar unterstützte. Es ging in diesem Fall ja um einen tatsächlich gerechten Verteidigungskrieg. Nicht minder von Bedeutung ist die Tatsache, daß die Invasoren heidnisch
waren und so trat die Idee des bellum iustum in Assoziation mit der des Heidenkrieges ein.
Papst Leo IV. und Papst Johann VIII. versprachen im 9. Jahrhundert allen das ewige Leben, die
17
im Kampf für die Verteidigung der Kirche gegen die Normannen oder die Araber fielen. Die
Bedeutung der Versprechen der beiden Päpste liegt in der entschiedenen Befürwortung der
Heidenabwehr, die darin zum Ausdruck kommt.
Man schritt in der Abwehr der Invasionen mit der Zeit durchaus von der Defensive zur Aggression fort, aber auch bei dieser Umwandlung operierte man fast immer im Sinne Augustins
mit dem Begriff des gerechten Krieges. Neben der Abwehr der heidnischen Einfälle bildete auch
die Gottesfriedensbewegung einen ausschlaggebenden Faktor, der die Haltung der Kirche zum
Kriege beeinflußte. Die Bewegung war ursprünglich im wesentlichen eine Selbsthilfeaktion der
Kirche. Der Zerfall des Karolingerreiches hatte eine allgemeine Auflösung der Sitten und der
zentralen Autorität nach sich gezogen. Der Kriegerstand, der sich allmählich zum Rittertum
18
umformte, war im 10. Jahrhundert sichtbar verroht und plünderte oft kirchlichen und privaten
Besitz genauso grausam und gewalttätig wie die heidnischen Normannen und Ungarn. Da die
Zentralgewalt nur ungenügend diesen Überfällen Stand halten konnte, verschlechterte sich die
Lage allmählich bis es von öffentlicher Ordnung, Ruhe und Sicherheit keine Rede mehr sein
konnte. Wenn es auch in erster Linie die Sorge um den eigenen Besitz gewesen sein mag, die
die Kirche zum Eingreifen veranlaßte, so dürfen jedoch die wohltätigen Wirkungen für die
ganze Gesellschaft nicht übersehen werden, die sich als Folge einer solchen Intervention zeigten.
In regionalen Friedenseinigungen, die seit dem Ende des 10. Jahrhunderts häufig bezeugt
sind, ließ man zuerst vom Adel der Gegend die Sicherheit des Klerus, der Witwen, der Waisen,
der sogenannten pauperes und des kirchlichen Besitzes beschwören, dann ab Mitte des 11.
Jahrhunderts legte man Bestimmungen fest, die die Fehde an bestimmten Tagen untersagten
und schließlich gab es Bestrebungen, die Fehde völlig abzuschaffen und sie durch Schiedssprüche zu ersetzen. Andererseits hätte sich die Gottesfriedensbewegung nicht behaupten
können, hätte sie nicht Verbündete gewonnen. Aber es gelang ihr, Krieger dafür zu mobilisieren,
die sich der cluniazensischen Reform verbunden fühlten. Die von Cluny ausgehende Reform15
Vgl. C. Erdmann, ebd., S. 5.
Vgl. C. Erdmann, ebd., S. 22.
17
Vgl. C. Erdmann, ebd., S. 23. So lautet z. B. das Versprechen Leos IV. von 853: “Wer in diesem Kampf fällt, dem wird
das Himmelreich nicht versagt bleiben, denn der Allmächtige weiß, daß er für die Wahrheit unseres Glaubens starb,
für die Rettung der patria und die Verteidigung des Christentums”. Zit. nach M. Keen, Das Rittertum, S. 75.
18
Ein durchaus lebhaftes und lesenswertes Bild, das den damaligen Zuständen wohl nicht sehr fern sein kann, schildert
Arno Borst in seinem Buch Barbaren, Ketzer und Artisten, S. 313-315.
16
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Widersprüchlichkeit und Verschmelzung christlicher und kriegerischer Ideale
bewegung erstrebte in erster Linie die stärkere Beachtung und Vertiefung der benediktinischen
Mönchsregel sowie die Befreiung der Klöster von aüßeren Einflüssen des Adels. Daneben war
die Reform durchaus auch auf die Laien ausgerichtet. Man bemühte sich um eine gewisse
Spiritualisierung und Verinnerlichung des Laientums, das man in stärkerem Maße an die sittlich
ordnenden Kräfte der Kirche, wie sie von den Reformträgern verstanden wurden, zu knüpfen
beabsichtigte. Diese Bemühungen galten insbesondere dem vielfach rohen Kriegerstande, und
der Gottesfriede erwies sich als eines der Mittel, mit deren Hilfe man gerade bei dieser Schicht
ansetzen konnte. Das bedeutete aber eine entschiedene Hinwendung der Kirche zum Krieg, ja
es forderte geradezu eine aktive Beteiligung heraus. Mit der Eidesleistung des Adels war jedoch
noch nichts erreicht worden. Man mußte Zwangsmaßnahmen gegen die Friedensbrecher
19
planen und gegebenfalls sie auch durchführen können. Da die ganze Bewegung unter der
Führung der Kirche stand, konnte es sich dabei nur um Strafexpeditionen handeln, die von der
Kirche ausdrücklich gefordert wurden und solche “Befriedungsaktionen” fanden tatsächlich
20
statt.
Auch wenn die Scharen der an der Gottesfriedensbewegung beteiligten Krieger bereits eine
Ethik kannten, die auf den bewährten germanischen Tugenden (dem Mut, der Treue dem Anführer gegenüber und der Kameradschaft mit dem Waffenbruder) beruhte, so entstand die im
eigentlichen Sinne “ritterliche” Ethik erst in Zusammenhang mit den kirchlichen Vorschriften
der Friedenskonzile: Diese Ethik steht ganz im Dienst der Kirche, hat die Verteidigung der
21
Schwachen zum Ziel und geht bis zur eigenen Aufopferung. Eine erste Etappe in der “Zähmung” des Kriegerstandes wäre somit abgeschlossen. Ein derartiger kirchlicher Krieg wurde von
der Kirche gebilligt und in ihrem Dienst als “heiliger Krieg” geführt. Es waren vor allem die
Träger der Klosterreform, die sich für den “heiligen” Krieg einsetzten, nicht zuletzt deshalb, weil
sie in ihm ein wirksames politisches Instrument für die Kirche sahen.
Dieselben Kreise, die an der allgemeinen Umformung des Kriegerstandes zum Rittertum einen so entscheidenden Anteil hatten, übertrugen auch die Idee des heiligen Krieges langsam
vom König auf die breite ritterliche Schicht. Auch das Reformpapsttum stand dem heiligen
Krieg freundlich gegenüber: dies umso mehr als Gregor VII. in seinem Bestreben den Hegemonie-Anspruch des Papstes durchzusetzen, der ritterlichen Laienschicht viel Aufmerksamkeit
zuwandte und in besonderem Maße versuchte, das Rittertum für den heiligen Krieg im Dienste
der Kirche zu gewinnen. Er bediente sich dabei des alten Begriffs der Ritterschaft Christi
(militia Christi), worunter man aber früher den mit friedlichen Mitteln streitenden Kleriker
22
verstanden hatte. Unter Gregor wurde dieser Begriff zur Ritterschaft des heiligen Petrus
(militia sancti Petri) umgewandelt und diesem neuen Begriff lag nun durchaus keine friedfertige Vorstellung mehr zugrunde: dabei handelte es sich um bewaffnete Kämpfer der Kirche,
die für den Papst als den Vertreter des hl. Petrus sogar in Kampf gegen den Kaiser eingesetzt
23
werden konnten. Die Wendung der Kirche zum Kriege und implizit zu dem zum waffentragenden weltlichen Diener der Kirche gewordenen Krieger schien nun endgültig im positiven
19
Vgl. C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 56.
Vgl. C. Erdmann, ebd., S. 56.
21
Franco Cardini, Der Krieger und der Ritter, S. 91.
22
Die Idee und die Praxis der Weltflucht betonten unausweichlich den Gegensatz zwischen der militia Christi, dem
wahren klösterlichen Dienst für Gott, und der militia saecularis, den Unternehmungen weltlicher Kriegsherren. Vgl. H.
Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, S. 175-176: “Im frühen Christentum stehen Apostel, Missionare, Priester und Asketen, die im geistlich-übertragenen Sinne gegen die ‘Mächte der Finsternis’ kämpfen, zunächst
in schroffem Gegensatz zur militia saecularis”. Vgl. auch F. Cardini, Der Krieger und der Ritter, S. 91-92 und M. Keen,
Das Rittertum, S. 77-78, 79.
23
M. Keen, Das Rittertum, S. 78.
20
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Sinne vollzogen zu sein. Die vom Bischof Bonizo von Sutri, einem Anhänger der gregorianischen
Reform, verfaßte Abhandlung “Über das christliche Leben” (De vita christiana) legte in überzeugender Weise ein Zeugnis davon ab: darin wurden zum erstenmal in einer Art Sitten- und
24
Pflichtenkodex die Aufgaben des christlichen Ritters zusammengefaßt.
Die Bedeutung dieser Schrift kann kaum übersehen werden: Das Rittertum als Stand hatte
ein eigenes, ins kirchliche Weltbild eingebettetes Berufsethos erhalten, dessen sichtbarer liturgischer Ausdruck die Ritterweihe war. Darauf werde ich aber noch zu sprechen kommen. Die
25
Untersuchungen Joachim Bumkes zur Geschichte des Wortes Ritter (mhd. ritter, rîter) stellen
anhand des Wortgebrauchs und in Analogie mit den gleichbedeutenden Bezeichnungen lat.
miles und frz. chevalier fest, daß diese Wörter schon ab dem 11. Jahrhundert, wenn auf Mitglieder der militärischen Aristokratie angewandt, zunehmend einen moralischen und ideologischen Akzent erhielten. Dies wird vor allem von den Adjektiven bezeugt, die die jeweilige
Bezeichnung für gewöhnlich in den Quellen begleiten: gut, tapfer, vornehm. Dieser Wortgebrauch läßt erkennen, daß das adlige Rittertum primär nicht ein sozialgeschichtliches,
sondern ein ideologisches Phänomen war. Erst als man begann, den Gebrauch der weltlichen
Waffen moralisch zu rechtfertigen, wurde aus dem adligen “Krieger” ein “Ritter”. Die Entwicklung dieses Prozesses erlebte einen entscheidenden Wendepunkt mit dem ersten Kreuz26
zug und das würde auch den oben erwähnten ideologischen Aspekt erklären: denn die Rehabilitierung des Kriegerstandes und der Prestigezuwachs verbunden mit der gehörigen
Symbolik und der literarischen Verherrlichung wären ohne die Beteiligung der Kirche kaum
denkbar. Allein die Kirche verfügte damals über einen wirksamen Propaganda-Apparat, besaß
auch das Schriftmonopol und die notwendigen Verbreitungsmittel, um das neue Bild des
Kriegers europaweit durchsetzen zu können. Wollte die Kirche eine breite Basis für ihr
militärisches Unternehmen gewinnen, so war sie auch auf die mittlere und untere Schicht der
Waffenträger angewiesen und die neue “Ritterethik” mußte dementsprechend von der
herkömmlichen Herrenethik abweichen:
Was machte den Namen [ritter] so anziehend, daß ein Herr das Dienstwort als eine Auszeichnung
empfand? (…) Wir können sicher sein - auch wenn es keine Zeugnisse darüber gibt -, daß immer
schon der feierliche Eintritt ins Herrenleben Anlaß geboten hatte zu Ermahnungen an den jungen
Mann, sich in den neu verliehenen Waffen zu bewähren und sie als ein gerechter und milder Herr zu
führen. Aber eine solche Moral war ihrem Wesen nach immer Herrenethik und bedeutete schwerlich
eine Einladung, sich ‘Ritter’ zu nennen. Das änderte sich erst in dem Moment, als christlichkirchliche Vorstellungen und Begriffe in das ursprünglich ganz profane Institut der adligen Waffenreichung eindrangen. Die Einführung von christlichen Gedanken hat die alte Wehrhaftmachung zur
hochmittelalterlichen Schwertleite, zur ‘Ritterweihe’ gemacht. (…) Zum ersten Mal wurde der Laien24
Vgl. M. Keen, Das Rittertum, S. 77 und besonders C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 229-237.
Auch E. R. Curtius, Literatura european i Evul Mediu latin, S. 617.
25
J. Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 21977. Musterhaft in Methode und
Ausführung wird in dieser bahnbrechenden Arbeit anhand der Wortgeschichte und des Bedeutungswandels untersucht
wie dieses Wort, das anfänglich den bewaffneten Reiter zu Pferde bezeichnete und dem der Gedanke des Dienstes
zugrunde lag also meist in bezug auf den einfachen Soldaten verwendet wurde (ähnlich wie lat. miles), im hohen
Mittelalter zum Adelsprädikat wurde und zum Zentralbegriff einer ganzen Kultur.
26
Die verschiedenen Berichte über die 1095 von Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont vor einer großen Versammlung gehaltene Predigt stimmen in der Sache überein: der Papst erweckte den Anwesenden die Erwartung, als
Gottesstreiter in einem gerechten Krieg gegen die Feinde des Glaubens den Ablaß der zeitlichen Sündenstrafen und
ewigen Lohn gewinnen zu können. Auch bediente er sich reichlich der Gegenüberstellung von verdammungswürdigem
weltlichem Raubrittertum und verdienstvollem Gottesstreitertum: “Die sollen jetzt Christi Ritter werden, die solange
Räuber waren”, “Wendet die Waffen, die ihr in gegenseitigem Morden auf sträfliche Weise blutig gemacht habt, gegen die Feinde des Glaubens und des Christentums”. Wichtig ist, daß Urbans Kreuzzugsaufruf nicht nur an den höheren Adel gerichtet wurde, sondern auch an die kleineren Herren.
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Widersprüchlichkeit und Verschmelzung christlicher und kriegerischer Ideale
adel einbezogen in den großen Verteilungsplan christlicher Aufgaben in dieser Welt. Anknüpfend an
das alte Herrenamt, Frieden und Recht zu bewahren, wurden ihm nun die spezifisch christlichen
Pflichten auferlegt: für Witwen und Waisen einzutreten, für alle Armen und Unterdrückten, die Kirchen zu schützen und ihre Diener zu achten, und die Ketzer mit Feuer und Schwert zu bekämpfen.
Die höchste Erfüllung des weltlichen Adels sollte es aber sein, als Gottesstreiter unmittelbar in den
Dienst Christi zu treten und auf der reise über sê für die Befreiung der heiligen Stätte und für die
Ausbreitung des christlichen Glaubens zu kämpfen. (…) Es geht hier nicht darum, ob die adligen
Herren um 1200 dem religiösen Auftrag des Ritternamens nachgelebt haben. Wichtig ist für uns
nur, daß der adlige Rittername seinem Ursprung und seinem Wesen nach ein Bildungsgedanke ist,
ein Erziehungsprogramm von großer geistesgeschichtlicher Bedeutung: zum ersten Mal wird dem
Adel vorgehalten, daß die höchste Verwirklichung adligen Lebens nicht im Herrschen, sondern im
Dienen liegt, daß es keine Minderung, sondern im Gegenteil eine Steigerung des Herrenlebens ist,
wenn es in den Dienst eines Höheren gestellt wird. Dieser Dienstgedanke liegt in dem Wort Ritter.
27
Den Anstoß dazu gab die Neufassung des geistlichen militia-Begriffs.
Der Ritterbegriff ließ sich nicht auf einen standesrechtlichen Sachverhalt reduzieren und
auch der Dienstgedanke, der ursprünglich dem Wort innewohnte und als Grundbegriff des
Lehnwesens für einen allen vertrauten Ansatzpunkt besonders geeignet schien, wurde geschickt
als Waffendienst für die Kirche, für die christliche Religion und im Endeffekt für Gott positiv
28
konnotiert. Als “Soldaten Gottes” (milites Dei) und als “Diener Christi” (milites Christi) zogen
alle ohne Standesunterschied, ob König oder Mitglied des niederen Adels, ob frei oder unfrei, in
den von der Kirche aufgerufenen Krieg. Der Ritterbegriff wurde so zu einem Sammelbegriff, mit
dem man die heterogene Masse der berufsmäßigen Waffenträger ideologisch nivellierte, ohne
dabei die empfindliche standesrechtliche Hierarchie zu verletzen. Als solcher findet der Begriff
29
eine allgemeine Anwendung , spricht fast jeden an, wird als sozial neutraler dennoch prestigereicher Terminus nicht nur akzeptiert, sondern sogar verlangt. In diesem Sinne wird die Bezeichnung Ritter als ehrenvollen Titelzusatz empfunden, von den mächtigen Herrschern wie den
30
einfachen Adligen oder Ministerialen gleichermaßen begehrt. Man kann mit dem Ritternamen
fast überall operieren und ihn für die Bezeichnung unterschiedlichster Zustände einsetzen.
Joachim Bumke faßt aus dem deutschsprachigen Quellenmaterial folgende Merkmale des Ritterbegriffs zusammen:
Im militärischen Sinn hieß jeder schwergepanzerte Reiter so, gleich ob er ein Fürst oder ein Söldner
war. Ritter waren zweitens alle, die zum Gefolge der Könige und der großen Herren gehörten; hier
war der Dienst das einzige allen gemeinsame Element: je höher der Herr stand, um so mehr waren
diejenigen ausgezeichnet, die sich in seinem Gefolge befanden. Drittens wurde dann der gesamte
Adel zu den Rittern gezählt; in diesem Sinn bezeichnete das Wort eine Gesellschaft gleicher Lebensformen und gleicher Ideale. Schließlich stand das Wort auch noch für die unterste Schicht des
27
J. Bumke, Der adlige Ritter, S. 283, 285 f., 288.
Es wäre hier anzumerken, daß die Minneideologie einen ebenso wichtigen Anteil an der Ausbildung des Rittertums
hatte und selbst wenn die Marienverehrung sich chronologisch eher mühsam mit der Entstehung der trobadoresken
Liebe in Verbindung bringen läßt, so kann man die Nachwirkung des Marienkultes auf die spätere Entwicklung der
höfischen Liebe nur bedingt bestreiten. Es gehört aber nicht zu den Zielsetzungen dieser Arbeit auch die MinneThematik zur Betrachtung des Rittertums heranzuziehen. Der feudale Dienstgedanke wurde in der Minneideologie als
Minnedienst aufgewertet sowie er in der Kreuzzugsbewegung religiös als Gottesdienst formuliert wurde. Beide Momente scheinen sich ihrer Sozialfunktion und ihrer Wirkungsebene nach widersprüchlich zu artikulieren: wird in einem
Fall gerade die Pazifierung, die Versittlichung im Rahmen der höfischen Gesellschaft angestrebt, so wird in dem anderen Fall umgekehrt die Aktivierung, die Motivierung zum Kampf anvisiert. Genauer betrachtet fallen aber beide Momente als Akte der Disziplinierung des krigerischen Adels im Sinne der weltlichen und der geistlichen Feudalgewalten
zusammen.
29
Vgl. Josef Fleckenstein, Friedrich Barbarossa und das Rittertum, S. 402.
30
Vgl. F. Cardini, Der Krieger und der Ritter, S. 108 und J. Bumke, Studien zum Ritterbegriff, S. 88. Vgl. auch J. Fleckenstein, Friedrich Barbarossa und das Rittertum, S. 400-401.
28
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Adels, die sich seit dem 13. Jahrhundert in den Territorien als Ritterstand nach unten abzugrenzen
begann. Mindestens mit diesen vier Bedeutungen – dazu kommt fünftens der religiöse Sinn des
31
‘miles Christianus’ – hat man es in den Quellen zu tun.
So kann z. B. Hartmann von Aue im Prolog zu seinem Armen Heinrich sich selbst als Ritter
und Dienstmann bezeichnen:
Ein ritter sô gelêret was,
Ein Ritter besaß solche Schulbildung,
daz er an den buochen las,
daß er in den Büchern lesen konnte,
swaz er dar an geschriben vant;
alles was er darin geschrieben fand.
der was Hartman genant.
Er war Hartmann genannt
dienstman was er ze Ouwe.
und war Lehnsmann zu Aue.
(Der arme Heinrich, 1-5)
Der selbe Hartmann stellt aber Erec, den Protagonisten in Hartmanns gleichnamigem Roman, als König und wieder als Ritter vor. Lehnsherr und Lehnsmann scheinen also an der neuen
Titulatur gleichberechtigt zu sein. Was in der sozialen und rechtsgeschichtlichen Realität streng
unterschieden wird, kann nun unter diesem Begriff in der Fiktion zu einer neuen Einheit integriert werden und diese Einheit ist vorwiegend ideologischer Natur.
Das Ideal des christlichen Rittertums erfuhr seine bezeichnendste Verwirklichung in den
geistlichen Ritterorden. Die Geburtsstunde der Ritterorden fiel mit der Gründung des Tempelordens im Jahre 1118/19 zusammen: der Orden entstand im Heiligen Land als eine Laienbruderschaft, die sich ganz dem Schutz der Pilger auf ihrem Weg nach Jerusalem widmete. Sie
bekannten sich zu einer religiösen Lebensform und nahmen die Regel der Augustiner32
Chorherren vom Heiligen Grabe an. Für die Zeitgenossen muß es – trotz der Vorbereitung
durch die militia Christi-Propaganda – ein neuer und zunächst ganz fremder Gedanke gewesen
sein, daß Mönchtum und Rittertum, geistlicher und weltlicher Kriegsdienst sich so miteinander
33
verbinden ließen. Neben den drei für den Mönch charakteristischen Grundtugenden (Armut,
Keuschheit, Gehorsamkeit) verlangten die Ritterorden von ihren Mitglieder, ein Gelübde zum
Kampf abzulegen. Nach Bernhard von Clairvaux war die “neue Ritterschaft” der Templer
dadurch ausgezeichnet, daß sie nicht nur einen körperlichen, sondern auch einen geistigen
34
Krieg führte, daß sie die Aufgaben des Ritters mit denen des Mönchs verband. Sowohl von der
Ordensregel als auch von Bernhard in seiner Schrift Liber ad milites Templi de laude novae
militiae wurde mit besonderem Nachdruck der Verzicht auf weltlichen Luxus gefordert. Solche
Vorschriften lassen erkennen, daß die kirchlichen Bemühungen um die Vergeistlichung der
Waffenträger nicht nur gegen die adlige Herrschaftspraxis, gegen die Gewalttätigkeit und
Willkür des Adels gerichtet waren, sondern gleichermaßen als geistliche Kritik im Namen der
militia Christi gegen den materiellen Luxus und die Unterhaltungsformen der höfischen
Gesellschaft
zu verstehen
Abschließend
läßt sichwaren.
noch sagen, daß die Idee der religiösen Ritterschaft anfänglich wohl
nur wenige von denen, für die die neue Theorie bestimmt war, erreicht haben konnte, denn die
meisten geistlichen Verfasser bedienten sich ausschließlich der lateinischen Sprache, die vom
Laienadel nicht verstanden wurde. Es ist damit zu rechnen, daß der geistliche Ritterbegriff eine
breitere Wirkung in der Laiengesellschaft erst erlangte, als er von den Autoren aufgenommen
31
J. Bumke, Studien zum Ritterbegriff, S. 181.
Josef Fleckenstein, Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden, S. 20.
33
Vgl. vor allem den Aufsatz von J. Fleckenstein, Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift “De
laude novae militiae” Bernhards von Clairvaux. In: J. Fleckenstein (Hg.): Die geistlichen Ritterorden Europas, Sigmaringen 1980, S. 9-22.
34
Josef Fleckenstein, Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden, S. 13 f.
32
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Widersprüchlichkeit und Verschmelzung christlicher und kriegerischer Ideale
wurde, die in der Volkssprache für ein höfisches Publikum dichteten. Die Idee des religiösen
Rittertums ist in der höfischen Dichtung überall dort zu finden, wo die Kreuzzugsthematik
berührt wurde. Die volkssprachliche Kreuzzugsdichtung vereinigt die Vielfalt des ganzen Gedankenarsenals kirchlicher Propaganda und das “Rolandslied” bietet dazu ein äußerst ergiebiges Material. Eine andere Gelegenheit, die religiösen Aspekte des Rittertums zu betonen,
bot sich bei der Schilderung der Schwertleite in der höfischen Epik. Das bekannteste Beispiel
35
dafür ist wahrscheinlich die Schwertleite Lancelots im französischen Lancelot-Graal-Zyklus
aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, aber auch die deutsche Literatur kennt einige beweiskräftige Stellen (Gottfried v. Straßburg, Tristan, 5020-5050; Wolfram v. Eschenbach,
Parzival, 170, 23-171, 4). Die meisten höfischen Dichter haben die religiösen Ritterpflichten mit
den höfisch-weltlichen Motiven des Rittertums, die am deutlichsten im Frauendienst zum
Ausdruck kommen, in harmonische Übereinstimmung zu bringen versucht. Eine Kostprobe
davon liefert die Ansprache Willehalms vor der entscheidenden Schlacht gegen die Heiden bei
Wolfram (Wh. 299, 13-27):
ein ieslich riter siner ere
Jeder Ritter aber sei seiner Ehre
gedenke, als in nu lere,
eingedenk, wie ihn auch jetzt
do er dez swert enphienc, ein segen:
der einst empfangene Schwertsegen zu tun/
verpflichtet:
swer riterschefte wil rehte phlegen,
Wer ein wahrer Ritter sein will,
der sol witwen und weisen
muß Witwen und Waisen
beschirmen von ir vreisen:
vor aller Not beschützen.
daz wirt sin endelos gewin.
Dafür erwartet ihn ewiger Lohn.
er mac sin herze doch keren hin
Er kann seinen Sinn auch
uf dienst nach der wibe lon,
auf den Dienst um den Lohn der Frauen richten,
da man lernet sölhen don
in dem man lernt, wie es klingt,
wie sper durh schilde krachen,
wenn Lanzen durch Schilde dringen,
wie diu wip dar umbe lachen,
wie die Frauen sich darüber freuen
wie vriundin vriundes unsemftekeit
und die Geliebte des Geliebten Schmerzen
semftet. zwei lon uns sint bereit,
lindert. Zweifacher Lohn erwartet uns:
der himel und werder wibe gruoz.
das Himmelreich und die Gunst edler Frauen.
Literatur:
A. Primärliteratur
1.
2.
Hartmann von Aue, Der arme Heinrich. Mhd. Text und Übertragung. Hrsg. und übs. von Helmut de Boor, Frankfurt
a.M. 1967.
Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Text d. Ausg. von Werner Schröder. Völlig neubearb. Übers., Vorw. und Reg.
von Dieter Kartschoke, Berlin 1989.
B. Sekundärliteratur
1.
2.
3.
4.
5.
6.
35
Barber, Richard: The Knight and Chivalry, Woodbridge 1995.
Bertau, Karl: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972/73.
Bloch, Marc: Societatea feudal , vol. 1-2, Cluj-Napoca 1996, 1998.
Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988.
Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter, Neuausg. Berlin 1997.
Brundage, James: Medieval Canon Law and the Crusades, London 1969.
Vgl. G. Duby, Cele trei ordine, S. 418-420.
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7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
212
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Bumke, J.: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 81997.
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Curtius, Ernst Robert: Literatura european i Evul Mediu latin, Bucure ti 1970. Aus dem Deutschen von Adolf
Armbruster.
Duby, Georges: Cele trei ordine sau imaginarul feudalismului, Bucure ti 1998. Aus dem Französischen von ElenaNatalia Ionescu und Constan a T n sescu.
Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte I. Das Althochdeutsche, Reinbek b. Hamburg 1963.
Eifler, Günther (Hg.): Ritterliches Tugendsystem, Darmstadt 1970.
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Köhler, Erich: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung,
Tübingen 21970.
Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 31997.
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DIE AUSGEGRABENEN NIBELUNGEN
Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
Enikö Dácz
Das Problem der Nibelungen ist, dass sie seit Ewigkeiten nicht mehr in Freiheit leben. Sie sind in der
Gefangenschaft von Phrasen, erst die Nazi-Phrasen, dann die Wagner-Phrasen, und übrigens Tausende von germanistischen Phrasen, die ja alle wie Grabplatten über den Figuren liegen.
Da ist kaum jemand, der „Das Nibelungenlied“ nicht kennen würde, da sind aber sehr wenige, die es auch mögen - klagen viele Germanisten. Die obigen Zeilen bezeichnen einen möglichen Grund für diese Erscheinung. Dieses Zitat ist ein Fragment aus dem Interview, das am
Ende des Buches „Die Nibelungen“ von Moritz Rinke, steht. Der Autor hat den Nibelungenstoff
in dramatischer Form neu verarbeitet. Nachdem schon so viele Phrasen auf dem Werk „liegen“,
möchte es Rinke ausgraben und dem heutigen Leser „zeigen“. Man kann sich die Frage stellen,
ob er dabei nicht selbst neue Phrasen schafft. Man denke nur daran, dass jeder Verfasser von
seiner Zeit geprägt ist, und jedes Zeitalter seine Phrasen hat. Die „postmoderne Moderne“ hat
keine Ideologie im klassischen Sinne und schenkt keiner Utopie Glauben, trotzdem wurde Rinkes Drama in mancher Hinsicht seinem Zeitalter angepasst. Die Frage nach der Problematik der
Phrasen hängt meiner Meinung nach davon ab, wie man den Begriff definiert.
Das Interview geht mit den folgenden Sätzen weiter:
Als ich hörte, ich soll die Nibelungen neu schreiben, habe ich mir dann vorgestellt: Okay, du bist
jetzt eine Art Schliemann, und nun grabe mal schön mit deinen Geräten Troja aus.
Troja ist ausgegraben worden und es interessierte viele, wie das neue Stück aussehen würde. Die Meinungen der Kritiker waren sehr unterschiedlich. Man könne mit einem literarischen
Kanon nicht so umgehen, meinten einige, andere aber fanden die Arbeit sehr gelungen. Rinkes
Begriff, das Werk „neu zu schreiben“, bedarf einer näheren Betrachtung. Was man darunter
versteht, ist eine Frage der Interpretation. Davon hängt es ab, wie man sich dem Drama nähert.
Es kann als ein selbständiges Werk oder, wie es manchmal genannt wird, als eine Interpretation
angesehen werden. Man kann das Stück von Rinke nicht in seiner Komplexität erfassen, wenn
man nicht die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes kennt. Rinkes Werk ist eine Etappe
einer langen Entwicklungsgeschichte. Die verschiedenen Stufen dieses Prozesses habe ich versucht durch ein paar Beispiele zu illustrieren.
Aus den Verarbeitungen des Nibelungenstoffes habe ich drei Werke ausgesucht: „Das Nibelungenlied“, „Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel und „Den Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. In der vorliegenden Arbeit werden zwei Schwerpunkte betrachtet, die nur zwei
Annäherungsmöglichkeiten einer ganzen Reihe sind. Da die Ironie die Grundstimmung des
Dramas bestimmt wird sie zuerst analysiert, sie ist aber eng mit der Rezeptionsgeschichte des
„Nibelungenliedes“ verknüpft, deren Erläuterung danach folgt.
Ironie und Gewürze
...die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum
1
Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld.
1
Umberto Eco: Der Name der Rose, Nachwort. (Siehe bibliographische Angaben zum Schluß dieses Aufsatzes.)
Enikö Dácz
Wenn man über Ironie in der postmodernen Zeit oder allgemein in der Literatur spricht, ist
das obige Zitat als einführender Gedanke geeignet. Die ironische Schreibweise, die oft getadelt
wird und leicht missverstanden werden kann, hat tiefe Wurzeln, die nur nach langem Suchen
entdeckt werden können.
„Das Nibelungenlied“ selbst kann als Element der Vergangenheit angesehen werden, da es
nicht mehr gelesen wird und auch chronologisch gesehen alt ist. Seine Rezeptionsgeschichte ist
selbst ein Grund dafür, dass man das Thema gerne vermeidet oder es nur oberflächlich betrachtet. Rinke, der den Stoff neu beleben wollte, blieb also im Sinne von Ecos Zitat nichts
anderes übrig als ironisch zu verfahren. Der Stoff, der in der Vergangenheit oft im pathetischen
Ton verarbeitet wurde, musste einem Leser näher gebracht werden, der Pathetisches nicht mehr
verstehen und rezipieren kann:
Ironie ist ein Mantel, unter dem ich das Messer habe, es ist eine Distanzierung um mich nicht völlig
2
in Pathos zu verlieren.
Unironisches Denken ist unter den heutigen Umständen fast nicht mehr möglich, die Ironie
wurde zu einer nötigen Brechung, die weit verbreitet ist, aber trotzdem schwer zu verstehen ist.
Die Frage, die hier gestellt werden muss, ist, ob das Drama witzig ist oder verwitzelt worden ist.
„Wit“ ist ein Begriff, der schon von Klassikern benutzt wurde. „Wit“, Geist, impliziert einen
hohen Grad von Ernsthaftigkeit hinter dem Schein der Einfachheit. Meiner Meinung nach sind
die ironischen Brechungen die Stärke des Stückes, sie sind Erträglichkeitsbrechungen, die das
Stück zugänglich machen und es zugleich verrätseln. Auf diese Weise wird die Spannung aufgelöst, und es wird auf Konflikte hingedeutet, die nicht immer zum alten Stoff des Epos gehören, sondern durch die ideologischen Rezeptionen ausgelöst oder durch das heutige
Bewusstsein hineinprojiziert wurden.
Althoff tadelt dieses Hineinprojizieren. Manchen Kritikern zufolge kann man sich einem
Stoff nur im Licht der zeitgenössischen Erfahrungen nähern. Meiner Meinung nach ist das
zeitgenössische Bewusstsein eine selbstverständliche Komponente eines Werkes, auch wenn es
alte Stoffe verarbeitet. Es wird Rinke vorgeworfen, dass sein Stück modern sei und nicht eine
germanistische Lesart bilde. Das Wort „modern“ soll hier als „postmodern“ oder „gegenwärtig“
3
verstanden werden. Jessen nennt das Drama „triviale Nibelungen“, damit deutet er auf die
Ironie und die „Slapstick-Effekte“ hin. Die anwesende Ironie betrachtet er nicht als „wit“, sondern als eine Form des Trivialisierens. Jessen und Althoff versuchen jede Szene auf das Epos
zurückzuführen. Rinke hat aber ein authentisches Werk geschaffen, das sich auf mehrere Werke
bezieht und nicht auf ein einziges zurückgeführt werden kann.
Der Verfasser beklagt sich:
Es ist schwierig etwas ironisch zu erzählen, weil man in der Ernsthaftigkeit konstatiert wird.
4
Es soll zwischen der Ironie und dem komischen Ton unterschieden werden, auch wenn diese
ineinander verschmolzen erscheinen. Rinkes obiger Satz bestätigt, dass die ironische Schreibweise spielerisch zu verstehen ist. Dass sie nicht in der Ernsthaftigkeit konstatiert werden
möchte, das bedeutet, dass sie nicht in ihrer Scheinhaftigkeit ernst genommen sein sollte. Das
Drama, das als ein Spiel (es entsteht für einen Spielprozess auf der Bühne) angesehen werden
kann, hat eine verdoppelte Natur. Beim ersten Lesen erscheint es einfach komisch-unter2
Rinke, im Fernsehinterview.
“Postmodern“ und „gegenwärtig“ sind streng genommen keine Synonyme. Hier werden sie in ihren erweiterten Bedeutungen benutzt.
4
Rinke, Fernsehinterview.
3
214
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
haltend, aber im Hintergrund sind ernsthafte Regeln impliziert, wie sie auch der Untergang der
mittelalterlichen Nibelungen hat. Diese tiefere Schicht soll ernst genommen werden, nicht der
5
Schein. Die postmodernen Nibelungen sind, wie die alten, bloß ein Teil eines Mechanismus.
Diese Maschine kann wegen ihrer Absurdität nur ironisch dargestellt werden. Die Problematik
der Dichotomie von Sein und Schein ist von Rinke in dem obigen Zitat miteinbezogen, und
gerade diese wurde von Jessen anders rezipiert.
Der Bote: Hat er keine Ahnung? Weiß er denn gar nichts von den Geschäften? Der Krieg, der war in
Sachsen! Die Dänen und die Sachsen kämpften in Sachsen gegen die Burgunder und die zwölf Niederländer! Ist denn das so schwierig?
Der Burgwächter: Nee, aber die Sachsen sind ja wohl auch Deutsche, Bote! Da kämpfen die ja gegen
sich selber!
Der Bote: Nein! Die Sachsen war`n doch anders! Die gehörten zu den Russen, aber jetzt, jetzt gehören die Sachsen zu den Burgundern!
Der Burgwächter: Das versteht ja kein Mensch mehr! Die Völkerwanderung hat alles durcheinander
6
gebracht! Wenn jeder da bleibt, wo er hingehört, dann wär Ordnung!
Das Benehmen des Burgwächters mag beim ersten Lesen absurd und dadurch lustig erscheinen. Die Komik, die hier einen ironischen Beiklang hat, funktioniert wie „eine Schere mit
zwei Klingen“ Auf den ersten Blick erscheint es als ein Scherz, doch empfindet man auch einen
gewissen Schmerz. Die Irrationalität des Krieges wird von einem Menschen betont, der unwissend erscheint. Statt sie zu vereinfachen erschwert diese Tatsache die Lage noch mehr.
Solche satirischen Momente funktionieren, auch wenn der Stoff nicht in den Köpfen lebt. Die
Beziehung der Russen und Sachsen ist ein neues Erlebnis, das eine Trennung hervorrief, die
7
wenigstens so absurd war wie die Frage des Burgwächters. Als „Dramatiker der Spaßkultur“ ,
bricht der Autor Dinge, um sie dann wieder auf eine andere Ebene zu stellen. Die hier geschilderte Verbindung von einer möglichen, aktuellen politischen Übertragung und Komik ist
eine der Qualitäten des Dramas:
Wer hier gewinnt, dem gehört dies deutsche Land und Xanten! Alles oder nichts. Wer ist der Erste?
Gunther: - Also, wir wollen Xanten, glaub ich, gar nicht haben. Uns geht´s gut.
8
Siegfried: (zu seinen Mannen) Jungs, sind wir hier in der Schweiz, oder was?
Am burgundischen Hof angekommen, erscheint Siegried als ein Kämpfer, der das Land erobern möchte. Im Falle des Epos sprach man davon, dass er das Prinzip der Kraft, der individuellen Leistung verkörpert. Im Gegensatz zu ihm stand Gunther für die Tradition. Der König der
Burgunder verteidigte seinen Rang durch das Recht und die Abstammung. Heute haben diese
Werte ihre Geltung (in dem alten Sinne) verloren, Siegfried war als die Subjektivierung des
Heroischen interpretiert worden. Bei Rinke ist er in eine Art „Star“ verwandelt. Die Entdämonisierung der Nibelungen ist mehr als ein Kommentar der Interpretationen, Verarbeitungen und Missdeutungen des Epos. Das neue Drama scheint sich auch zur Illustration
5
Ich denke hier an den Mechanismus, der im Falle des Epos von Jan Dirk Müller gedeutet wurde. Sein Konzept impliziert auch einen Mechanismus, den er mit einem anderen Begriff benennt: Sog. Dieser Sog entzieht sich jeder Kontrolle und verschlingt alles unbeeinträchtigt von allen Ablenkungsversuchen. Er wird nicht mythisiert und kann auch
nicht erklärt werden. Deleuze nennt diese Erscheinung die Realität des Tier-Werdens des Menschen, es geht um eine
Möglichkeit, die unter der Oberfläche jeder Ordnung liegt, sie ist überzeitlich. Wenn in dem Epos durch die Jagdszene
ein Prozess des Tier-Werdens miteinbezogen ist, ist diese Deutungsmöglichkeit im Rinkes Drama ausgeschlossen, da er
die ganze Jagdszene herauslässt.
6
Rinke, S. 26.
7
Rinke benutzt selbst diese Bezeichnung.
8
Rinke, S. 23.
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Enikö Dácz
globaler Phänomene anzubieten. Dieses kann am obigen Zitat erläutert werden. In dem Beispiel
der Schweiz wird mit einem ironischen Beiklang auf ihre traditionelle Neutralität hingewiesen.
Die Globalisierung wurde zum Schlüsselbegriff der Gegenwart. Was aber aus der Entfernung
anziehend wirkt, kann als persönliche Erfahrung im anderen Licht erscheinen. Diese Problematik ist in der Szene des Empfangs am hunnischen Hof thematisiert, dabei kann man aber auch
einen anderen Aspekt des Dramas erkennen. Die Sprache, die von Rinke benutzt wird, ist die
Alltagssprache, die sogenannten Tabus werden auch nicht vermieden. Durch die Benutzung der
Umgangssprache wird das Stück auch dem Laien näher gebracht, da er seine eigene Sprache
9
darin entdecken kann . Es werden auch andere Fragen dadurch berührt, die im Folgenden erläutert werden.
Rüdiger von Bechelaren: Wie bitte? Was? Bist du der Bote?!
Hunnischer Bote: Jönnek a vendégek! Jönnek a vendégek!
Rüdiger von Bechelaren: Übersetzer! Jönnek was?
Hunnischer Bote: A vendégek!
10
Rüdiger von Bechelaren: Kenn ich nicht! Übersetzer! Scheißeuropa!
Das hier berührte Problem der „Europäisierung“ ist ein anderes Thema, das die Gegenwart
lösen muss und das niemandem fremd ist. Die Begriffe der Multikulturalität und Sprachvielfalt
sind viel gepriesen, können aber in der Praxis schwer durchgesetzt werden. Die Reaktion auf
solche Phänomene ist oft die oben geschilderte. Es wird trotzdem selten gewagt, so offen darüber zu sprechen. Die zuletzt geschilderten Beispiele zeigen, wie sich der alte Stoff zum Ausdruck der gegenwärtigen Probleme eignet, wenn ein gewisser Grad von Ironie und Komik mitspielt.
Rinke versuchte sich aber an einem Spagat zwischen der gehaltvollen Sprache der alten Verse und
einem heutigen Tonfall. So schillert das Stück zwischen munteren Plauderszenen, die eher in eine
Salonkomödie passen könnten, und blutigen, frierenden Horrorszenen. Zumindest beim ersten Lesen
11
will dies etwa so gut zusammenpassen wie Wildschwein mit Pfefferminzsoße denken.
Das obige Zitat formuliert das schon berührte Problem der Sprache. Das Gemisch, das im
Drama entsteht, ist wieder nur für den störend, der nur nach dem Epos und seinem Gehalt im
Stück sucht. Die Gegensätze, die verschmolzen werden, passen, wie das auch Thomsen feststellt, beim ersten Lesen vielleicht nicht zusammen. Wenn man sich aber die Einheit der Trauer
und des Witzes vor Augen hält, erscheint das anders. Diese Dichotomie ist oft anzutreffen. Am
besten drückt sich das in einer der letzten Szenen aus, als Kriemhild Hagen töten will, dabei
aber nicht einmal weiß, wie sie das Schwert halten soll. An einer anderen, früheren Stelle
drückt sich diese Ambiguität auch aus. In der Hochzeitsnacht, als Gunther an die Fahnenstange
gehängt wird, spricht Hagen zu ihm über Staatsprobleme. Er schildert auch das, was ja Gunther
selbst erlebt: die „Einzigartigkeit“ seiner Frau. „Man kann sich das Lächeln nicht verkneifen,
wenn Gunther sich folgendermaßen äußert:
Hagen, dem Staat geht’s gar nicht gut.
Die Komik der ganzen Lage wird im weiteren nur gesteigert. Man kann nur mit ironischem
Lächeln das Gespräch von Hagen und Rüdiger von Bechelaren lesen, das vom Stöhnen des
Königs manchmal unterbrochen wird, der während dieser Diskussion noch immer auf der Fahnenstange hängt. In der Komik der ganzen Lage besteht zugleich ihre Tragik. Es kann einem das
9
Die hier berührte Erscheinung knüpft sich auch an den Begriff der Spaßkultur.
Rinke, S. 82.
11
Thomsen, Henrike: Kammerspiel vor mythischer Kulisse. In: Neue Zürcher Zeitung, 19. August 2002.
10
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
Lachen schnell vergehen, wenn man daran denkt, dass es in der Wirklichkeit „dem Staat“ auch
manchmal „schlecht geht“, und der Grund dafür die Privatprobleme eines Politikers sind. Ernst
und Witz können im Leben auch nicht getrennt werden, warum sollten sie dann in einem Werk
so erscheinen? Vielleicht, weil das Schwarz-Weiß-Denken gemütlicher und einfacher ist? Der
berühmte Königinstreit ist zu einem „Zickenzoff“ reduziert worden, ohne dass die Ironie die
Schwere des Geschehens reduzieren würde, sie hebt bloß ihre Absurdität hervor.
Jens Jessen stellt die Frage, warum diese Sachen bei Rinke so groß angelegt sind. Sie kommen eigentlich aus dem Stoff, aus der Handlung heraus. Man könnte vielleicht eine Begründung geben, indem man wiederholt, dass sie umgewandelt wurden. Ironie mit der Bedeutung, die wir ihr verleihen, ist im Nibelungenlied nicht anwesend. Aber wir können im Epos
komische Szenen lesen. Der Verfasser entfaltet ein paar köstliche Bilder, die bei Rinke dann
noch stärker betont sind. Das erwähnte Bild des hängenden Königs ist auch im Nibelungenlied
detailliert geschildert. Da besteht der besondere Reiz der Schilderung in der Kommentierung.
Die Gewaltszenen, die sich in Brünhilds Zimmer in der Hochzeitsnacht und danach abspielen,
entbehren auch nicht einer gewissen Komik. Brünhild fesselt den Burgunderkönig und hängt
ihn wie ein verschnürtes Bündel an einem Nagel an die Wand und lässt ihn dort die ganze
Nacht über baumeln. Der Erzähler bemerkt dazu, Gunther habe bei anderen Frauen schon bequemer gelegen. Als dann Siegfried in der folgenden Nacht die Widerspenstige zähmen soll,
geht es äußerst gewaltsam zu. Siegfried siegt zwar am Ende, aber zwischendurch spielt er keine
allzu rühmliche Rolle. Brünhild wirft Siegfried aus dem Bett und schlägt ihn auf eine Bank, dass
sein Kopf laut an einem Schemel erdröhnt, sie drückt ihn zwischen die Wand und einen
Schrank, und sie presst ihm die Hände, dass ihm das Blut aus den Nägeln springt. Die Spuren
der Komik beschränken sich im Epos nur auf den ersten Teil. Komisch wirkt auch, wie Siegfried
den starken Bären durch die tafelnde Gesellschaft treibt und wie es der jungen Markgräfin vor
dem Begrüßungskuss für Hagen graut. Komik erwächst aus der Disparität von Erzählwelten
dort, wo diese zu groß ist. Hagen erscheint auf Isenstein jämmerlich und reizt zum Lachen, weil
Brünhild auf ihrem Gebiet monströs ist. Im zweiten Teil kann man nur die Spuren einer
schwarzen Komik entdecken. Die Komik verschiebt sich auf höfische Objekte. Dieser menschenverachtende Typus von Komik erscheint zum Beispiel, als Hagen seinen Trinkspruch auf den
jungen Prinzen sagt, bevor er ihn tötet. Der Grund dieser Komik liegt in der Faszination der
Barbarei.
Gerd Althoffs Warnung ist also gerechtfertigt, im Epos ist nicht „unsere Ironie“ anwesend.
Hinter Rinkes Ironie und der nibelungischen Komik steht die gleiche Einheit. Dieses Ganze
bezieht sich auf die Komik und Tragik, Schein-Sein, Trauer-Witz. Rinke konnte also schon im
Epos die Möglichkeiten zur Entfaltung der Ironie finden. Der witzige Ton, der noch als Zugabe
erfolgt, entsteht durch die kleinen Scherze. Diese Würze ist nicht von außen hereingegeben.
Rinke erzählt den Nibelungenstoff in einer modernen, oft witzigen und selten „flapsigen“
Sprache nach. Das Wort „flapsig“ wurde von Wolfgang Pregler benutzt, und es dürften damit
Stellen wie das schon zitierte „Scheißeuropa“ gemeint sein.
Wie ihr redet hier! Schaut Euch mal an! Da! (Läuft an den Hofleuten und Bewerbern vorbei.) Mein
Herr, Sie sehen aus wie eine kalte Säule. Entschuldigung, aber soll ich so leben? Muss ich denn so
12
leben? So viel Eisen brauchen wir doch gar nicht.
Das obige Zitat ist ein Sprachspiel, das nicht nur witzig, sondern auch vieldeutig ist. Es wird
darin in Form eines Scherzes die ganze Lage Kriemhilds zusammengefasst. Sie sollte jemanden
heiraten, unabhängig davon, ob der „einer kalten Säule“ ähnlich ist oder nicht. Gefühle werden
also nicht verlangt, die Verdinglichung des Menschen ist in diesem Vergleich mit einer Säule
sehr suggestiv ausgedrückt. Das Mächtige wird auf billige Weise lächerlich gemacht. Kriemhild
12
Rinke, S. 18.
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Enikö Dácz
muss für ihre Familie handeln, die erste Person Singular wird mit der ersten Person Plural vertauscht. Kriemhild ist unfähig, sich aus ihrer narzisstisch-naiven Weltsicht zu lösen und sich
ein Minimum an Reflexionsniveau zuzulegen, so liefern sich die Kindfrau und der Sportheld
dem rhetorisch gewandten Hagen erschreckend hilflos aus.
Es kann eine weitere Art der Ironie und Scherze hervorgehoben werden. Es wurden bis jetzt
solche erwähnt, die aus der Handlung heraus gebaut sind, und andere, die von außen hinzukommen und deren Referenzen in der Gegenwart liegen. Es gibt auch welche, die sich auf die
Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes beziehen. Diese Art der ironischen Hinweise ist
durch ihre Subtilität scharf. Die romantische Rezeption des Epos wurde in der Zeit des Nationalsozialismus missgedeutet. Auf diese Missdeutungen und deren lächerliche Absurdität deuten
13
manche Stellen des Dramas hin. Es ist Hagen, der den Burgundern erklärt, dass sie überhaupt
deutsch sind und was das eigentlich heißt:
Siegfried: [...] Was sind das für Deutsche?
Gunther: Hagen, was sagt er? Wer sind wir?
Hagen: Manche nennen uns die Deutschen, König. The germans. Die Engländer haben uns kürzlich
mit der Germanapflanze verglichen, the German flower, wächst in England. Eine spitze, zackige
Malvenpflanze
14
Gunther: Was für eine Malvenpflanze?
Diese Tatsache steht (nach Rinkes Aussage) in einem Buch über die ersten Deutschen. Er
hat es verwendet, „um zu zeigen, dass die Nazis dann eigentlich nach einer groben Malven15
pflanze benannt sind, wenn sie schon darauf bestehen, dass das ein deutscher Urstoff ist.“
Eine andere Anspielung auf diesen Missbrauch findet sich in der von Gunther gehaltenen Rede
nach der Schlacht. Er erklärt, dass sich die Burgunder (also die Nibelungen) nie wieder missbrauchen lassen werden. Die Nibelungen sollen nicht mehr Opfer der Instrumentalisierung
werden, die Verfahrensweise des Nationalsozialismus wird nicht mehr angewendet werden
können. Die Ironisierung dient also auch hier als Mantel für eine tiefere Schicht der Aussage.
Zu den kleineren Scherzen gehört der Hinweis, den Sindold macht, als er eine Weinsorte anbietet:
Gunther: Ja, seid willkommen in Worms am Rhein und trinkt mit uns. Sindold! Schenkt ein!
16
Sindold: Bacchus Spätlese, Abeneheimer Jahrgang 33! (Lässt Pokale verteilen) Edelrebe!
Wahrscheinlich denken die meisten der Leser an das Jahr 1933, und da stellen sich die Konnotationen automatisch ein...
Becker nennt das Drama eine „Comedié Humaine“. Darin tritt das Wesen hinter der Erscheinung hervor, und kognitive, ethische und psychische Zweideutigkeiten können aufgelöst
werden. So treten die Tragik und die Lächerlichkeit des Lebens und der Begebenheiten hinter
der Ironie hervor. Man sieht die Verdinglichung und nicht den Heiratsantrag, die Erscheinungen
und Handlungen werden in Frage gestellt.
13
Rinkes Stellungnahme in dieser Frage wird im Interview geschildert ( Nachwort, Seite 110). Er unterstreicht, dass das
Wort „deutsch“ im Epos nur einmal, in einem Nebensatz, vorkommt und der sogenannte germanische Held eigentlich
ein Holländer ist. Das Stück spielt zur Zeit der Völkerwanderung. So erklärt es sich, dass Rinkes Burgunder einfach auf
ihrer Burg stehen und gar nicht wissen, dass sie deutsch sind.
14
Rinke, S. 23.
15
Rinke, Interview, S. 111.
16
Rinke, S. 22.
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
Rinke, der gar nichts verlangt, weder vom Publikum noch von sich, hat eine Schulfunkfassung hergestellt, aus der man die wirre Handlung lernen kann, nicht aber, was sie uns sagen könnte. Das ist
17
gewiss auch nicht einfach.
Jessen bemerkte hinter der Erscheinung nicht das Wesen. Die Wiedergabe der Handlung ist
meiner Meinung nach nicht das Wichtigste. Die Vermittlung einer heutigen Auffassung des
Nibelungenstoffes ist Rinkes deklariertes Ziel, und das Gelingen des Dramas hängt nicht davon
ab, inwieweit die ursprüngliche Handlung eingehalten wird.
Ich stellte mir vor, wie sie bei aller Grausamkeit ihres Endes trotzdem ihren Humor, ihren Zauber
18
und ihr altes Wissen dort unten ausspielen würden.
Dieses Phantasiebild ist der Ursprung der Ironie, und nur der kann es verstehen, der sich die
Nibelungen dort unten vorstellen kann.
Mosaik und Transformation
Im Folgenden thematisiere ich eine Problematik, die sich auf die Vielschichtigkeit des behandelten Textes bezieht. Es geht um den intertextuellen Charakter des Dramas. Es baut sich
als Mosaik von Zitaten auf, und es ist zugleich die Absorption und die Transformation anderer
19
Texte. Wenn diese Eigenschaft beobachtet wird, werden die einzelnen Stellen und Motive, die
sonst nicht zum Vorschein kommen, Bedeutungen erlangen. Schon die erste Berührung mit
dem Stück zeugt von dem intertextuellen Charakter. Der Titel „Die Nibelungen“ konnotiert
erstens das Drama von Friedrich Hebbel, das denselben Namen trägt. Man kommt auch gleich
zum „Nibelungenlied“, und schon denkt jeder auch an Wagner und seinen „Ring“. Wenn diese
20
Texte dem Leser unbekannt sind, kann er das Stück bloß in seinen groben Zügen erfassen. Die
tiefere Schicht kommt erst zum Vorschein, wenn man eine allgemeine Kenntnis dieser Texte
hat. Rinkes Drama ist ein Glied einer intertextuellen Verkettung, in der die einzelnen Glieder
21
eine syntaktisch-semantisch-pragmatische Struktur haben.
Auf der semantischen Ebene kann man über zwei Arten der Integration sprechen. Im Falle
der bestätigenden Integration durch die Bezugnahme zwischen dem referierten und dem referierenden Text kommt eine Verstärkung, eine zustimmende Annahme oder ein „Weiterschreiben“ zustande. Bei der abweichenden Integration kann man von einer deformierten
Integration sprechen, es geht um ein Um- und Widerschreiben. Hierhin gehören Formen wie
Paraphrase, Umkehrung, Ironie, Travestie. Allen liegt eine „Deformation“ zugrunde. Das Verschmelzen der Intertextualität und der Ironie in Rinkes Drama erscheint vor diesem Hintergrund
anders. Durch den Gebrauch der Ironie kommt es eigentlich zu einer Akzentverlagerung, sie
22
wird später detaillierter problematisiert.
17
Jens Jessen in: Die Zeit 35/2002.
Rinke, Nachwort, S. 111.
19
Dieser Gedanke wurde von Kristeva entwickelt.
20
Die Unkenntnis der anderen Texte schließt meiner Meinung nach ein Textverständnis nicht völlig aus, verhindert aber
das Erkennen einer tieferen Schicht.
21
Orosz, Magdolna: und Zalán, Péter (Hrsg.): Grundlagen der Literaturwissenschaft, Reader I., Allgemeine Fragen und
Richtungen, Budapest, 1995 Seite 20. Sie schildert die verschiedenen intertextuellen Beziehungen, ich benutze ihre
Termini. Diese Verkettung impliziert auch den Begriff des Mythenwechsels, dieser letzte bezieht sich aber eher auf die
Geschichtlichkeit des Textes, auf seinen rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund. Sie wurde von Bernhard Martin ausgearbeitet und betont, dass ein Grundmythos immer dem neuen Zeitalter angepasst werden muss, da sich die Werte
ständig ändern und die neue Generation die alten Prinzipien nicht verstehen kann. Meiner Meinung nach bietet diese
Theorie eine Erklärung für die verschiedenen Verarbeitungen des Nibelungenstoffes.
22
Eine solche Umwertung kann auch bei den früheren Verarbeitungen des Stoffes ausgemacht werden.
18
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Rinkes Gattungswechsel vom Epos zum Drama ist sehr auffällig und verlangt deswegen
23
auch keine ausführlichen Beweise. Dabei geht es wie bei dem Medienwechsel um eine Ver24
setzungsform, die nach Broich , als Transponierung eines (in der Regel) ganzen Textes in ein
anderes Zeichensystem beziehungsweise einen anderen Code verstanden werden kann. Mit
Code kann man auch verschiedene Sprachen meinen, oder die verschiedenen Entwicklungsphasen einer Sprache. In diesem Sinne ist die Übersetzung des Epos aus der mittelalterlichen
Sprache, schon an sich, eine Spielform der Intertextualität. Im Falle der oben erwähnten Transponierungen spricht Broich über obligatorische und fakultative Änderungen. Die Verarbeitung
des Nibelungenstoffes in Form eines Dramas machte die Psychologisierung der Figuren
obligatorisch, diese Verwandlung der Personen kann schon bei Hebbel gemerkt werden. Er
versucht den Stoff von der Bindung an einen alten Grundmythos zu lösen und ihn vor einem
neuen wirksam zu machen, er baut diese Ablösung mit in die Handlung hinein. Er versteht den
Untergang nicht mehr als einen zyklischen Prozess, sondern betrachtet ihn als eine historischlineare Entwicklung. Der Untergang der Götter ist endgültig. Hebbel lässt sein Drama mit der
Idee eines weltumspannenden Reiches christlicher Religion enden:
Trotz seiner historisierenden Darstellung des Untergangs der germanischen Welt und ihrer Ablösung
durch eine neue, in seiner Sichtweise dauerhafte Weltordnung, gelingt es Hebbel jedoch nicht, die
Arbeit am Mythos, die im 19. Jahrhundert geleistet wurde, vollständig zu negieren. [...] Ohne diese
Elemente wäre es durchaus gerechtfertigt, Hebbels Nibelungen als einen Versuch zu werten, einen
Mythos zu Ende zu bringen, d.h. die Arbeit des Mythos auf eine bestimmte historische Epoche zu
25
begrenzen und sie somit ihrer Wirksamkeit auf die Gegenwart zu berauben.
Wagners Oper kann als ein Versuch gesehen werden, mythische Denkstrukturen erneut zu
aktualisieren. Im Gegensatz zu Hebbel baut Wagner sein Werk auf den Nibelungenstoff der
Edda und der Völsungasaga. Die Götterwelt befindet sich in einem Zustand des Untergangs. Aus
einer mythentheorethischen Perspektive gesehen thematisiert Wagner nicht nur inhaltlich,
sondern auch in der Form den Zyklus der ewigen Wiederkehr. Er thematisiert nicht wie Hebbel
„die geschichtlich-lineare Abfolge zweier durch unterschiedliche Grundmythen dominierten
Epochen, sondern entwirft auf der Basis des Nibelungenstoffes erneut ein mythisches Weltver26
ständnis“. Die Verwandtschaft mit Nietzsches Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Mythos
in „Die Geburt der Tragödie“, deren Erstausgabe er im Jahre 1872 Richard Wagner widmete, ist
schon auf den ersten Blick auffallend:
Glaube niemand, daß der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er
noch so deutlich die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich
wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheueren Schlafes: dann wird er Drachen töten, die
tückischen Zwerge vernichten und Brünhilde erwecken- und Wotans Speer selbst wird seinen Weg
27
nicht hemmen können!
Im Lichte dieses Zitats wird Wagners Titel auf einer weiteren Ebene bedeutungsvoll: Die
Welt wird aus ihrer Geschichtlichkeit hervorgehoben und dem Mythos zurückgegeben. Der Ring
wird zum Symbol für die in dem Mythos anwesende, ewige Wiederkehr. Das Festhalten an den
Strukturen des Mythos der ewigen Wiederkehr ist die Schönheit und zugleich die Gefahr der
28
Oper.
23
Dieser Wechsel wurde ursprünglich von Hebbel vollzogen.
Seine Auffassung wird von Orosz zusammengefasst. Orosz, S. 23.
25
Bernhard, S. 178.
26
Ebd.
27
Bernhard, S. 179.
28
Dieses Motiv wird noch im Folgenden erwähnt und betrachtet.
24
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
Rinkes postmoderne Verarbeitung unterscheidet sich von ihren Vorgängern in ihrer wichtigsten Tendenz. Sie ist nicht mehr mythosschaffend (Wagner) oder mythosabschließend (Hebbel) im klassischen (oben geschilderten) Sinne. Es wird kein Glauben aufgebaut. Das Drama
bezieht sich auf die alten Verarbeitungen, und es spiegelt ihre Auffassung aus der heutigen
Perspektive wider. Das mythisch Entfernte wird dadurch amplifiziert, dass es eigentlich umgewichtet wird. Dieses Relativieren erfolgt im Geiste der postmodernen Relativität und Pluralität. Es geht um eine spielerische Variation und Transformation der bekannten Motive.
Der Schauplatz der großen Komödie, die zustande kommt, ist der zeitgenössische Mensch
selbst. Seine Bühne, die Welt, wird als Kulisse empfunden, die Choreographie dieser Bühne
kann als Konstellation intertextueller Hinweise verstanden werden. Rinkes Drama selbst ist ein
Theater im Theater: „[...] Ich gebe bekannt: Ab jetzt werden hier jedes Jahr Festspiele stattfinden! Festspiele, sage ich, die unsere Schlacht in Sachsen zum Ergötzen in Szene setzen.
29
Immer am Dritten! Der Kulturleiter wird es richten. Zum Wohl, Burgunder!“ In diesem Theater
wird nochmals Theater gespielt, als Hagen die Inszenierung einer neuen Schlacht vorschlägt um
den unverletzlichen Siegfried zu töten:
Hagen: [...] König, wir brauchen eine neue Sachsenschlacht.
Gunther: Wie? Was?! Viel zu teuer!
30
Hagen: Theater. König, Theater!
Theater wird selbst von Siegfried gespielt, als er unter dem Schutz seiner Tarnkappe die
schöne Brünhild für Gunther gewinnt. In all diesen Beispielen wird Sein und Schein verwechselt. Der ewig Kriegslüsterne macht den Fehler, den er als List angewendet hat (er verwechselt Sein und Schein und wird zum geblendeten Blender). Die mehrfache Verschachtelung
schafft eine Differenzierung der alten Werten und Gehalte, obwohl die Objekte dieselben
bleiben. Die Intertextualität kann auch nach einem mehr formalen Aspekt aufgeteilt werden.
Auf dieser Ebene geht es um die Quantität (den Umfang) und die Kategorien der in die intertextuelle Bezugnahme einbezogenen Texte/Elemente. Es soll dazu untersucht werden, welche
und wie viele Elemente/Texte davon betroffen sind. Theoretisch sind folgende Fälle möglich:
1. ein Text nimmt Bezug auf einen Text
2. ein Text nimmt Bezug auf mehrere Texte
3. mehrere Texte nehmen Bezug auf einen Text
31
4. mehrere Texte nehmen Bezug auf mehrere Texte
Die ersten zwei Fälle sind oft zu treffen, bei dem Drama von Rinke jedoch geht es meiner
Meinung nach um den vierten Fall. Dieses Stück wird durch die vorherigen Werke intensiviert,
da es seine Existenz den anderen Texten, auf die es Bezug nimmt, verdankt. Kristevas Gedanken
unterstreichen diese Eigenschaft:
Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten.
32
Die Betrachtung der pragmatischen Ebene der Intertextualität eröffnet eine neue Perspektive. Der Erkennbarkeitsgrad der intertextuellen Bezugnahme ist die Grundlage dieser Klassifikation. Es sind in dieser Hinsicht zwei große Gruppen von Referenzrelationen zu unterscheiden. Man kann über markierte Bezugnahme, (z.B. Figur- und Ortsnamen, Titel, Untertitel,
Vorwort, Nachwort) und unmarkierte Bezugnahme - diese ist verborgen - sprechen. Die Misch29
Rinke, S. 30.
Rinke, S. 67.
31
Diese theoretischen Angaben stammen von Orosz.
32
Orosz, S. 25.
30
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221
Enikö Dácz
formen kommen öfter vor als die anderen. Die Frage, ob die strukturelle Einteilung bestimmte
Reminiszenzen weckt, gehört auch zu diesem Teil der Problematik. Im in Betracht gezogenen
Werk gibt es verschiedene Arten der Intertextualität, sie werden im Folgenden einzeln hervorgehoben und erläutert. Um eine Struktur zu haben werde ich mit den vielschichtigen Teilen der
33
Handlung anfangen. Diese Problematik wurde von Jens Jessen berührt . Die Bezeichnung der
„wirren Handlung“, auch wenn sie negative Konnotationen hat, deutet auf eine andere Schicht
hin. Die Handlung ist „wirr“, weil sie nicht immer dem ursprünglichen Gang folgt und den Eindruck hinterlässt, als wolle sie ihn trotzdem bewahren. Das Drama wird mit einem Bild eröffnet,
das ein anderes konnotiert. In einem Feuerkreis schläft eine Frau, und ein Mann tritt in den
Kreis hinein. Der hier angeschlagene Ton wird bis zum Ende bewahrt und nähert sich nicht dem
Pathos, obwohl dieses immer mit dem Nibelungenstoff assoziiert wurde.
Ein Feuerkreis. Darin eine schlafende Frau auf blauem Tuch. Von außen nähert sich ein Mann. Bleibt
34
vor den Flammen stehen und schaut. Dann tritt er in den Kreis. Er küsst die Frau und geht. [...]
Das Motiv des Feuers erscheint in allen Quellen, aber der Feuerkreis in einem solchen Kontext wie hier erscheint nur in Wagners Oper. Wagner lässt die beiden durch Liebe verbunden
sein, Rinke übernimmt von ihm aber nicht die Tiefe des Gefühls. Es ist nicht die Liebe, die Siegfried bei Brünhild gehalten hat, es ist einfach die menschliche Neugier. Wo bei Wagner übernatürliche Kräfte impliziert waren, da erscheint bei Rinke das einfachste menschliche Gefühl.
Diese Anfangszene spiegelt die Konzeption des Stückes. Es werden kein göttlicher Wille oder
die Hand des Schicksals die Menschen und ihre Lage bestimmen. Es ist der Mensch selbst, der
handelt. Nur der mythische Rahmen, der Feuerkreis, wird bewahrt. In diesem Schema handelt
der Mensch nicht mehr nach alten Prinzipien, er will „nur mal sehen“. Rinke spielt mit dem
Vorwissen des Lesers: „Du willst gar nicht um mich werben?“ Man kennt das Motiv des Werbens für Brünhild, es wird also niemand durch die Frage überrascht.
Diese erste Szene erfasst in ihrer Kürze das Prinzip des Dramas: Es ist ein Spiel mit der Bekanntheit des Stoffes. Der Text besteht aus Mosaiken und alten Gedanken, die transformiert
werden. Diese Transformation kann in ihrer Komplexität erst in der zweiten Szene gesehen
werden. Wir befinden uns am burgundischen Hof und sehen ihn von oben. Diese Distanz wird
durch die Perspektive, die uns von den zwei ungeborenen Söhnen Kriemhilds und Brünhilds
angeboten wird, erhöht. Die zwei sind eigentlich noch nicht geboren, sie sind aber unsere Leiter. Das wirkt sowohl verfremdend als auch annähernd. Annähernd in dem Sinne, dass die zwei
Jungen die Rolle der Erzähler übernehmen und dadurch eine Nähe zu den Ereignissen schaffen.
Es ist ein Schwebezustand geschaffen, man sieht da unten die Nibelungen, die ihr Spiel treiben,
Nähe und Distanz sind gemischt. Diese Oszillation drückt sich auch in der Sprache aus, wir
schweben irgendwo zwischen Mittelalter und Neuzeit, zwischen Moderne und Postmoderne, so
35
als spielte die Geschichte „gestern morgen“ . Die Überzeitlichkeit wird zusätzlich durch die
Mosaiken verschiedener Zitate suggeriert. Die intertextuelle Bezugnahme ist explizit, die Referenzrelation ist sehr deutlich, da die Zitate wörtlich aus dem Epos übernommen werden. Kriemhilds Sohn trägt die erste Strophe des „Nibelungenliedes“ vor:
Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
von helden lobebaeren, von grozer arebeit,
von freuden, hochgeziten, von weinen und von klagen,
33
Im Fernsehinterview. Seiner Meinung nach ist die „wirre Handlung“ wiedergegeben, nicht das, „was sie uns sagen
könnte“.
34
Rinke, S. 134.
35
Der Ausdruck wird von Becker benutzt in dem Nachwort zum Drama, S. 126.
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
von küener recken striten, murget ir nu wunder..
36
Nach dem mittelalterlichen Textabschnitt folgen Zeilen aus der zweiten Strophe des Liedes,
diese sind schon aus der alten Sprache übersetzt:
Im Land der Burgunden wuchs nämlich ein Mädchen heran, das war
37
so schön, dass in keinem Land der Welt ein schöneres hätte sein können.
Die zwei Söhne antworten einander mit alten Zitaten und deren Übersetzungen (Form der
Intertextualität). Nachdem Kriemhilds Sohn auch die dritte mittelalterliche Strophe rezitiert
hat, wird in dem Ton kindlicher Naivität der burgundische Hof vorgestellt. Die Ironie, die die
Zeilen durchdringt, ruft eine parodistische Stimmung hervor.
Brünhilds Sohn: Sieh! Sie kommen zur Tür herein, und ich wette, gleich sind sie wieder draußen. Du,
38
wenn das so weitergeht, werden wir nie geboren. Hör mal! Hörst Du sie sprechen? Sie spricht.
Der Gang der Handlung wird in groben Zügen bewahrt, alles geschieht wie im Epos, dabei
ist uns die Stimmung bei weitem nicht mehr so fremd wie im „Nibelungenlied“. Das Gefühl der
Überzeitlichkeit wird amplifiziert durch Gernots lateinische Zitate. Er benutzt Caesars Worte,
mit denen dieser eine seiner Reden angefangen hat:
Die Römer sagen: Quosque tandem? Wie lange noch? Wie lange noch?
39
Dieser Gernot, der eigentlich aus bloßen Zitaten besteht und gar keine Persönlichkeit hat,
formuliert einen zentralen Gedanken:
Die Schönheit einer Frau muss nutzen tragen. Der Römer sagt: Cui bono? Wem zum Nutzen?
40
Die Frau ist ein bloßes Objekt, das jemandem dienen soll. In der Oper werden bei der Betrachtung dieser Problematik die Töne der Dekadenz gefühlt. Wagners Liebeskonzeption bot
einen Ausweg, Nietzsche verstand diese Liebesauffassung folgendermaßen:
Auch Wagner hat sie missverstanden. Sie glauben in ihr selbstlos zu sein, weil sie den Vorteil eines
anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vorteil. Aber dafür wollen sie jenes andre Wesen
41
besitzen...
Nietzsche sieht in Wagner den modernen Künstler par excellence. In seiner Musik sind die
drei größten Stimulantia gemischt: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische). Wagner war nach dieser Meinung ein Vollkommener, ein typischer décadent. Die erste
Variante des Endes der Oper drückt durch den sentenziösen Ton den Glauben aus, dass die Liebe
eine von Macht- und Besitzdenken korrumpierte Welt aus ihren alten Angeln heben sollte:
Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk;
nicht trüber Verträge
trögender Bund,
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
36
Rinke, S. 13.
Rinke, S. 14.
38
Rinke, S. 14-15.
39
Rinke, S. 16.
40
Rinke, S. 17.
41
Nietzsche, S. 16.
37
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läßt - die Liebe nur sein. -
42
Diese Zeilen wurden bei der Vertonung nicht in der Endposition behalten, sie sind aber doch
in dem Ende enthalten.
Bei Rinke wird am Anfang auch der schöpferische Charakter der Liebe hervorgehoben. Der
wagnerische Glauben überlebt aber in der postmodernen Welt nicht mehr. Er kann nur am
Anfang als Teil eines Werkes erscheinen, das niemals zustande kommen wird. Die Utopistin
Kriemhild formuliert in dem ersten Satz des neuen Buches den Gedanken der produktiven,
erlösenden Liebe:
Menschen, die sich lieben, müssen ein Werk erschaffen oder jeder drei Leute retten!
43
In einem solch idealistischen Satz spiegelt sich ein Glauben wider, der bei den anderen Teilnehmern der Szene überhaupt nicht existiert. Die postmodernen Nibelungen zeigen die typische
Indifferenz, die von jedem Leser gefühlt und erfahren wird. Kriemhilds Familie erweist sich als
„der rationale Kopf“, der ein Staat leiten „kann“. Kriemhild und Giselher sind diejenigen, die
Widerstandskonzepte entwickeln möchten, dieses Vorhaben scheitert aber. Das Verhalten
Gunthers ist sehr überraschend. Als sie die Sachsen erwarten, die sie bekämpfen sollten, mustert er die Bewerber seiner Schwester. Rinkes Ironie deutet hier nur auf die Komik der Wirklichkeit hin, dadurch werden die Grenzen des Humors überschritten. Die Gleichgültigkeit, mit
der auf Utes Befürchtungen und Fragen reagiert wird, ist schockierend: Es hat sowieso keinen
Sinn sich vorzubereiten, wir sind zu schwach. Also versuchen wir ja überhaupt nicht unsere
Kräfte zu sammeln, benehmen wir uns, als wüssten wir nichts von der Gefahr!
Die Indifferenz in der Zeit des Super-Konsens wird hier veranschaulicht. Man kann es bemerken, wenn man Lust dazu hat, wenn nicht, dann lacht man sich selbst auf der Bühne aus.
Die gleiche Indifferenz drückt sich in dem Moment aus, wenn Siegfried eintritt und alle provoziert. Giselher ist derjenige, der eine Reaktion zeigt, er möchte kämpfen. Sein Versuch eines
Widerstands erscheint lächerlich, er stellt die Frage, die eigentlich ganz logisch wäre:
Wer ist denn dieses Großmaul?
44
Die Handlung verläuft wie bekannt, nur der Rhythmus ist beschleunigt. Nach der Schlacht
mit den Sachsen erscheint der Bote in einer absurden Szene, in der er von dem Burgwächter
nicht verstanden wird. Die Lächerlichkeit dieses Treffens steht im Gegensatz zu dem Originalzitat aus dem Epos, die Strophe 203 wird eingefügt:
Der Bote: König! Komm grad aus Sachsen! Hört! (Stellt sich feierlich auf.)
Do die von Burgonden drungen in den strit
Von in wart erhouwen vil manec wunde wit!
Do sach man über sätele fliezen daz bluot
Sus wurben nach den eren die ritter küene unde guot!
Sic! Sic! Sic! Ich übersetze: Sieg! Sieg...
Das Spiel mit dem alten Zitat suggeriert die bekannte Haltung des Menschen, der bei feierlichen Momenten auf die Tradition zurückgreift. Gunthers Rede weist die Klischees einer politischen Rede auf. Im weiteren folgt die mythische Geschichte dem wohlbekannten Pfad. In der
Hochzeitsnacht geschieht aber ein unerwartetes Ereignis. Da kommt Rüdiger zu früh an, man
hat das Gefühl, er habe seine Rolle vergessen, und man kann über seine voreiligen Fragen, die
die ganze Geschichte vorprojizieren, nur lächeln. Diese überraschende Wendung ist kein Trivia42
Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen, Piper Mainz – Schott München, 1994, S. 346.
Rinke, S. 18.
44
Rinke, S. 21.
43
224
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
lisieren, wie von Jessen behauptet wurde. Es ist ein Spiel mit dem Material, das der Dramatiker
durch die Filter seiner schöpferischen Phantasie gehen lässt. Diese Transformierung des Stoffes
zeugt von Kreativität, die von konventionellen Kreisen nicht immer verstanden wird, die aber
sehr oft anzutreffen ist.
Im Zusammenhang der Ereignisse um die Hochzeit Gunthers mit Brünhild weichen bei der
szenischen Bearbeitung sowohl Rinke wie auch Hebbel vom Epostext ab. Die beiden drastischsten Vorgangsschilderungen des Erzählers erscheinen nicht auf der Bühne, nämlich die Überwältigung Gunthers in der Hochzeitsnacht durch Brünhild und die Entmachtung Brünhilds in
45
der folgenden Nacht durch Siegfried . Rinke lässt eine detaillierte Beschreibung aus, aber er
schildert mehr Einzelheiten als Hebbel, er bezieht sich auf die Folgen der vom Eposdichter
beschriebenen Ereignisse. Siegfried gibt Kriemhild den Gürtel mit Absicht. Bei Hebbel geschah
das durch einen unglücklichen Zufall. Die Reaktion Kriemhilds ist vieldeutig, sie achtet gar
nicht auf das Geschenk, statt dessen entfaltet sie große Pläne:
Siegfried: Ich wollte ihn dir schenken in der Nacht. Ein schöner Gürtel. Bitte.
Kriemhild: Danke. Siegfried, nimm sie! Reiß sie an dich! Das Land ist krank. Hier brauchen wir eine
46
neue Kraft! Schau dich um. Hier ist nichts!
Der Kontrast zwischen den lächerlichen Szenen, in denen eine Frau beseitigt werden soll
und ein König von seiner Frau an die Fahnenstange gehängt wird, und den obigen Gedanken
Kriemhilds ist sehr stark. Es geht um einen Konflikt zwischen den persönlichen und den staatlichen Interessen. Kriemhild ist die, die für den Staat etwas tun möchte, sie hat aber nicht die
Kraft dazu. Sie und Brünhild sind die einzigen, die wirklich handelnde Personen sein könnten.
Ihre Energien sind aber in die falsche Richtung gelenkt. Hagen ist noch derjenige, der auch
initiativ ist, er ist aber der „Untertan“ des Königs. Kriemhild wird menschenverachtend und
wirkt starr und wahnsinnig. Kann man sie aber verurteilen nach allem, was ihr angetan wurde?
Rinke vereinfacht anscheinend die Handlung, als er die Ermordung Siegfrieds durch das
schon angedeutete Motiv des Theaters im Theater löst. Die Jagdszene, die sowohl im Epos als
auch bei Hebbel und Wagner anwesend ist, ist hier herausgelassen.Diese Szene wurde oft gedeutet und wurde meistens symbolisch betrachtet. Siegfried ist gleichzeitig Jäger und Gejagter.
Er übertrifft die gejagten Tiere an Stärke und Schnelligkeit, und er soll durch sein Tier-Werden
47
die Überstürzung der höfischen Ordnung andeuten. Die Parallelität zwischen seinem Tod und
dem der Burgunder ist auffallend. Rinke lässt das Motiv des Tier-Werdens heraus, er lässt keine
Jagd veranstalten. Es wird gar keine Naturlandschaft zur Ermordung benötigt. Alles geschieht
vor den Augen des ganzen Hofes. Es wird bloß Theater gespielt. Bei dieser Transformation der
Handlung geschieht eine Akzentverlagerung, die implizierte Problematik wird verändert. Es geht
nicht mehr um ein Tier-Werden, die Menschen sind bloß Teil eines Systems, das seine Regel
schafft, und alles geschieht in diesem Rahmen. Es entsteht ein Mechanismus, der die Menschen
verdinglicht und sie als bloße Puppen spielen lässt. Siegfried wird zur Puppe (das Motiv des
Star-Werdens ist auch miteinbezogen), die am Ende doch richtiges Blut vergießt.
Durch die Veränderung der Frauengestalten und durch ihre Psychologisierung, die schon bei
den Vorgängern gesehen werden konnte, wurden die Taten relativiert. Man kann die starken
Persönlichkeiten nicht mehr so einfach verurteilen, da ihre Taten aus mehreren Perspektiven
beleuchtet werden. Die Frage nach den Helden könnte hier widerspruchsvolle Antworten be45
Darauf wurde schon hingewiesen.
Rinke, S. 53.
47
Der Gedanke ist von Jan Dirk Müller gedeutet worden, S. 449.
46
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Enikö Dácz
kommen. Das letzte Bild der Frauen, die über einem Haufen von Leichen stehen, ist Rinkes eigene Kreation. Bei Hebbel musste Kriemhild von Dietrich getötet werden, damit der christliche
Mythos siegen konnte. Bei Wagner reitet Brünhild ins Feuer, der Gedanke der Liebe wird hervorgehoben. Rinke lässt die zwei Frauen neben dem toten Siegfried erscheinen.
Die Handlung wurde also wieder geändert. Die Endszene ähnelt nicht der vom Epos oder der
Wagners oder Hebbels. Sie enthält aber ein ähnliches Motiv, das bei Wagner durch die Symbo48
lik des Rings anwesend ist: das der ewigen Wiederkehr.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die konnotative Dimension des Textes das
49
intertextuelle Wissen des Lesers impliziert. Im Sinne Barthes ist ein Text desto weniger „geschrieben“, bevor er gelesen wird, je pluraler er erscheint. Rinkes Drama ist in diesem Sinne also
nicht „geschrieben“, und es wird erst durch den Beitrag eines Lesers ein abgeschlossenes Gan50
zes . Das Ich, das sich dem Text nähert, ist selbst eine Pluralität anderer Texte, deswegen ist
die Skala der möglichen Interpretationen sehr weit. Die Polysemie, prinzipielle Offenheit des
51
Textes, ist charakteristisch für die postmodernen Werke .
Die Postmodernität des Dramas kann zur Antwort auf die negative Kritik von Jessen werden.
Das Stück soll nicht nur in seinem alten, intertextuellen Zusammenhang betrachtet werden,
sondern auch in dem heutigen gesellschaftlichen Kontext. Auf diese Weise kommt man zu den
Schwerpunkten und erkennt nicht bloß die „wirre Handlung“.
So erscheint Moritz Rinkes Drama in erster Linie ein Stück über Träume, Enttäuschungen
und Vernichtung zu sein, und das sind keine unbedingt historischen Themen, sie sind bloß anhand eines kanonisierten Werkes vorgestellt, um die Möglichkeit der Wiederbelebung ausgestorbener Personen zu beweisen. Diese Personen sind fiktiv, aber die Postmoderne glaubt nur
in einer Fiktion der Wirklichkeit, so kann man sich selbst im Stück erkennen. Damit die
Konfrontation nicht zu auffallend wird, sind Erträglichkeitsbrechungen eingefügt, so wird der
Leser vor seiner eigenen fiktiven Wirklichkeit „gehütet“.
Literatur:
A. Primärliteratur:
1.
2.
3.
4.
5.
Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen. Vollständige Ausgabe in der
Übertragung von Felix Genzmer. Diederichs, 2000
Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung; I. und II. Band. Hrsg., übersetzt und mit Anhang versehen von Helmut Brackert, Fischer Taschenbuch Verlag, 2001
Hebbel, Friedrich: Die Nibelungen. Reclam, Stuttgart, 1998
Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner; Nietzsche contra Wagner. In: kritische Studienausgabe, Hrsg. Von Giorgio
Colli und Mazzino Montinari. Dünndruck-Ausgabe, dtv/ de Gruyter
Rinke, Moritz: Die Nibelungen. Rowohlt, Hamburg,2002
48
Es geht um das Bild der zwei Frauen, die den Trümmerfrauen ähneln und dadurch die Möglichkeit für einen neuen
Beginn eröffnen.
Dieser Gedanke von Barthes wird von Orosz mehrmals erwähnt.
50
„Das Ganze“ heißt in diesem Zusammenhang nicht „etwas in sich Abgeschlossenes“.
51
Das heißt natürlich nicht, dass die Intertextualität und Offenheit eines Werkes in der Moderne nicht zu finden
waren, denke man nur an Thomas Mann. Es wird hier nur darauf hingewiesen, dass die Intertextualität ein entscheidendes Signum der Postmoderne ist. Ein Werk wird bloß wegen der intertextuellen Elementen natürlich nicht
postmodern. Es wirkt nur dann so, wenn mehrere Faktoren gleichzeitig präsent sind.
49
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Die ausgegrabenen Nibelungen. Versuch einer Deutung von Moritz Rinkes Die Nibelungen
6.
Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Piper Mainz – Schott München, 1994
B. Sekundärliteratur:
7.
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9.
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12.
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15.
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18.
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Verlag, München, 2001
Bermbach, Udo (Hrsg): „Alles ist nach seiner Art“ Figuren in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, J. B.
Metzler Musik, 2001
Bernhard R. Martin: Nibelungen-Metamorphosen, Die Geschichte eines Mythos. München, Iudicum-Verlag, 1992.
Zugl.: Montreal, McGill, Univ., Diss,1991
Borchmeyer, Dieter: Die Götter tanzen Cancan. Richard Wagners Liebesrevolten. Manutius Verlag, Heidelberg,
1992Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner – Ahasvers Wandlungen Insel Verlag, 2002
Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle Rowohlts
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Gerth, Dieter: Die reduzierte Individuation als Moment des Tragischen bei Friedrich Hebbel, Freiburg, 1970
Henrich, Dieter und Iser, Wolfgang (Hrsg.): Funktionen des Fiktiven, Wilhelm Fink Verlag, München, 1993
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http://www.theaterheute.de/galerie/08-02/stueck.html
http://www.theatergemeinden.de/Aktuell/TheaRund/tr-text1.htm
Jessen, Jens: Hier spricht Hagen im Schulfunk zum Volk. Die "Nibelungen" in Worms, von Moritz Rinke zeitgemäß
zurechtgeschminkt und von Dieter Wedel inszeniert. In: Die Zeit 35/2002
Kaiser, Joachim: Leben mit Wagner. 2. Auflage,Der Albert Kanus Verlag, München, 1990
Loos, Paul Arthur: Richard Wagner. Vollendung und Tragik in der deutschen Romantik. Francke Verlag, Bern 1952
Müller, Jan Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Max Niemeyer Verlag, Tübingen,
1998
Orosz, Magdolna:Intertextualität in der Textanalyse. ÖGS/ISS.- Wien: ISS, 1997
Orosz, Magdolna und Zalán, Péter (Hrsg.): Grundlagen der Literaturwissenschaft. Reader I., Allgemeine Fragen und
Richtungen. Budapest, 1995
Seiter, Walter: Das politische Wissen im Nibelungenlied. Vorlesungen. Merve Verlag, Berlin, ???
Thomsen, Henrike: Kammerspiel vor mythischer Kulisse. In: Neue Zürcher Zeitung, 19. August 2002
Wapnewski, Peter: Weisst du wie das wird? Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. 2. Auflage, Piper MainzSchott München, 1996
Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik. 2. Auflage, C.H. Beck, München, 1992
Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 4. Auflage, Akademie Verlag
Berlin, 1993
Zdf-Sendung am 29. September 2002 (auf Videokasette): Volk ohne Traum. Die Nibelungen heute. Ein Gespräch
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Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Uni Taschenbücher1967. A Francke
Verlag Tübingen und Basel, 1997
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
227
JULIUS HEBING UND GOETHES FARBENLEHRE
Mihaela Zaharia
"Goethes Farbenkreis schließt
das Wunder der
1
ganzen Schöpfung in sich."
Für Julius Hebing ist Goethes Farbenlehre zu einem wichtigen Kapitel seines Lebens, ja zu
einer ständigen Begleiterin, wenn nicht sogar zu etwas Organischem geworden:
Die Goethesche Farbenlehre weist ihm /Julius Hebing/ einen neuen Erkenntnisweg zur Kunst, und
ihre Fortsetzung durch Rudolf Steiner wird ihm als sicherer Pol in einer sich chaotisierenden Kunst2
welt deutlich .
Wie ist das zu erklären? Julius Hebing kommt aus einer (nicht wohlhabenden) Familie von
Dekorationsmalern, so daß er und seine Eltern ständig unterwegs waren und ihr Leben von einer ruhelosen Wanderschaft geprägt war. Die Folgen davon waren unter anderem ein tieferes
Einfühlungsvermögen und eine Art, die Welt zu verstehen und zu erklären, die die Enge der
damaligen Lebenseinstellung von weitem überschritt:
Der Begriff Heimat
wurde für mein Empfinden ausgeweitet, so daß er nicht mehr auf die Enge der
3
Landschaft paßte.
Hebing war ein sehr gebildeter Maler, und sein Interesse betraf auch Themen der Religions4
geschichte, so wie es aus seinen Tagebüchern hervorgeht : “Heute habe ich zwei Bilder be5
6
arbeitet, 'Adam Kadmon' und die 'Druidensteine'.”
Wer und was prägte den Maler Julius Hebing?
Julius Hebing war ein überzeugter Anhänger von Rudolf Steiner. Seinerseits war sich Steiner dessen sicher, in Goethe einen ihm Gleichgesinnten entdeckt zu haben, und nahm sich
demzufolge Goethe zum Vorbild. Wie Goethe interessierte sich Steiner für die schöpferische
1
Siehe: Julius Hebing: Lebenskreise – Farbenkreise. Aus den Tagebüchern des Malers JULIUS HEBING, Stuttgart: Verlag
Freies Geistesleben o.J., S. 115.
2
Siehe Klappentext 1 zum Band: Lebenskreise – Farbenkreise. Aus den Tagebüchern des Malers JULIUS HEBING.
3
Julius Hebing: a.a.O., S. 20.
4
Ebd., S. 227.
5
Adam Kadmon ist eine Art Ur-Adam für die christlichen Exegeten und ein tieferes Symbol (der erste Mensch, der nach
dem Gebilde Gottes geschaffen wurde) für die Kabbalisten: “L′ homme originel dans sa forme la plus pure est nommé
Adam Kadmon (SCHK, 122). Cet Adam Kadmon est le symbole du Dieu vivant en l′ homme. C′ est le monde de l′
homme intérieur, qui ne se découvre que dans la contemplation, le premier homme par antonomase, celui qui est par
excellence à l′ image de Dieu. Mais cette interprétation de la Kabbale n′ est pas celle des exégètes chrétiens qui voient
en ce terme uniquement le premier homme historique” – siehe Jean Chevalier/ Alain Gheerbrant: Dictionnaire des
symboles, Paris: Robert Laffont/ Jupiter 1993, S. 9.
6
Der Name der Druiden ist, etymologisch gesehen, derjenige der Wissenschaft. Die Druiden sind fürs Abenland die
Korrespondenten der indischen Brachmanen gewesen. Sie waren Priester, und ihre Lehren waren metaphysisch geprägt. Sie bildeten eine strikt hierarchisierte Priesterklasse und erfüllten dann die Aufgabe, während der großen alljährlichen Feierlichkeiten, die Verhältnisse zwischen Menschen und Jenseits zu regeln – vgl. Jean Chevalier/ Alain
Gheerbrant: a.a.O., S. 272-273.
Julius Hebing und Goethes Farbenlehre
Kunst und die Naturwissenschaften unter ihren verschiedensten Aspekten, angefangen mit dem
Regenbogen, über die Urpflanze und bis zu einer eigenen Maltheorie und zum spirituellen Tanz,
der als Eurhythmie bekannt ist.
Als er an den Farbenkreisen zu arbeiten angefangen hat, wurde Hebing sowohl von Goethe
als auch von Rudolf Steiner beeinflußt. Paradoxerweise bedeutete die Farbe für einen NichtKünstler wie Rudolf Steiner eines der wenigen Medien der Vermittlung zwischen der physischen
und der geistigen Welt. Jede Farbe hatte für den Anthroposophen eine besondere geistige Bedeutung und, was sehr wichtig ist, eine umfassende, tiefe praktische Anwendbarkeit. An den
späten Hebingschen Farbenkreisen erkennt man zwei der Grundgedanken der Steinerschen
Maltheorie: 1. die Farbe, nicht die Form läßt Bilder entstehen; 2. die scharfen Konturen seien
nicht notwendig, so Steiner. Damit beabsichtigte Steiner eine freiere und ausdrucksstärkere
Gestaltung der Künste. So sind — nicht nur die letzten – Hebingschen Versuche, Goethes Farbenkreise zu bearbeiten (dort fließen die Farben ineinander und ergänzen einander), der klare
Beweis dafür, daß dieser unter dem starken Einfluß Rudolf Steiners gestanden hat.
Andererseits strebt Julius Hebing dasselbe Ideal wie Goethe an, wenn er über den Maler(beruf) spricht:
Das Werk eines Malers, soll es Kunst im höchsten Sinne bieten, muß zwei Wahrheiten enthalten: die
des arbeitenden Künstlers als Subjekt und die des dargestellten Motives als Objekt. Es muß der restlose Ausdruck beider sein, vollkommen in sich selbst und allein seinen Teilen, um so zur Einheit,
7
reinen und unteilbaren Wahrheit zu werden, die über allem steht.
und:
Die Natur ist eine Lehrmeisterin, ein Vorbild, um sich daran zu schulen.
8
Nicht nur diesem europäischen Ideal scheint Hebing nahe zu stehen, sondern gleichzeitig
einem (Autoren)kreis anzugehören, für den das asiatische Gedankengut die überwiegende westliche Komponente der persönlichen Formel glücklicherweise ergänzt. So wie für Hermann Hesse
fast zu derselben Zeit die polare Dualität und die Einheitsschau das große Thema seines
literarischen Schaffens wurden, sind für Julius Hebing die fortwährende “Pendelbewegung
9
10
zwischen den Polen 'Ja' und 'Nein'” und das “Bild vom Ganzen” das Entscheidendste auf Erden (gewesen):
Es handelt sich also um die Zusammenhänge beider Pole zu erkennen, nur darum, sich von dieser
Pendelbewegung frei zu machen, einen Standpunkt zu suchen, der ein Bild vom Ganzen gibt. Man
muß, um beim Gleichnis zu bleiben, an der Schnur, an der wir hängen, hinaufzuklettern versuchen
und im Weltenraume baumeln. Da werden dann die Schwingungen immer kürzer und das Sehfeld
immer weiter, bis im Mittelpunkt aller Bewegung die absolute Ruhe, das Wesen alles Seins erreicht
11
ist.
Damit behauptete der Maler Julius Hebing sein Menschenkredo und seinen tiefen Glauben
an die Ideen der Einheit und des (be)herrschenden Mittelpunktes, auf denen sein (Werte)system
beruht und die ihn dazu gebracht haben, Goethes Farbenlehre wie kein anderer zu verstehen.
Deshalb konnte Hebing zum schwärmenden Anhänger von Goethes Farbenlehre werden und
derjenige sein, bei dem die Wirkungsgeschichte dieses Goetheschen Werkes exemplarisch dargestellt war.
7
Julius Hebing: a.a.O., S. 85.
Ebd., S. 100.
9
Ebd., S. 85.
10
Ebd.
11
Ebd., S. 86.
8
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Mihaela Zaharia
12
Für Julius Hebing ist die Malerei “immer gebunden an das Physische (Plastische)” . Deswegen spricht der Maler wie ein Bildhauer, der der Konkretheit aller Dinge, sogar der Form völlig
bewußt war:
1. Form ist sichtbar gewordener Geist, am meisten, wenn sie aus der Farbe herausgeboren wird. Sonst ist sie nur Intellekt, Abstraktion, anstatt Geist, und übt Gewalt an
13
Dingen und Beschauer.
2. Der Umstand, daß Goethes Farbenkreis wahrhaft ein lebendiger Organismus ist, gestaltet ihn zum Meditationsobjekt. Von immer neuen Seiten mit ihm zu verbinden, er14
öffnet unerschöpflichen Reichtum.
Für Hebing ist die Einseitigkeit, die Enge der Einstellung der Newtonschen Farbenlehre zu
bedauern. Was Hebing bei Goethe im Vergleich zu Newton schätzt ist Folgendes:
Die Wissenschaft auf Newtons Grundlage kommt nicht zum Purpur. Sie beschäftigt sich einseitig
nur mit dem Äußeren der Natur, nur mit dem Licht, dem Lichtspalt. Sie kennt nicht das Dunkelheitsspektrum Goethes, bezeichnet die Finsternis als reine Negation, welche beim Entstehen der Farbe
unbeteiligt sei. Diese Enge der Einstellung rächt sich in verhängnisvollster Weise durch das Fehlen
des Purpurs. Newton hat nur ein Farbenband: rot, gelb, grün, blau, violett: es verläuft nur
quantitativ gegliedert – rechts und links in den finsteren Nichts-Abgrund. Goethe aber führt die
15
Farben in qualitativer Steigerung bis zum Purpur.
Diese qualitative Steigerung haben bis jetzt alle Künstler hoch geschätzt, die sich mit Goethes Farbenlehre auseinandergesetzt haben. Was diese den an die Farbenlehre(n) interessierten
Physikern vorwerfen kann wie folgt resümiert werden:
Das ganze Problem allgemeiner bezeichnet: Die Totalität, die innere Kontinuität der Weltbetrachtung ist verlorengegangen. Man rechnet nur mit dem Tagesbewußtsein, verkennt, ja leugnet
das Wirken der Nacht. Die Nacht ist ebenso nur Abwesenheit von Bewußtsein, wie Finsternis
Abwesenheit von Licht, weiter nichts. Das Leben ist atomistisch aus lauter Bewußtseinsstücken
zusammengesetzt, und es ist wirklich kein Symbol, sondern der Ausdruck einer Geistrealität, daß das
16
Farbenband des Physikers von heute nicht die Möglickeit hat, sich zum Purpur zu schließen.
Was verbindet und was trennt die Goetheschen und die Hebingschen Farbenkreise?
Von Goethe stammt der sechsteilige Farbenkreis, der in strengen Gegensätzen aufgebaut
ist: Gelb – Violett, Grün – Purpur, Blau – Orange. Im Kreisinnern steht der weiße Grund, um den
Kreis herum der schwarze. Für Hebing ist aber die Beziehung der Farben zu Grau am wichtig17
sten . Und so glaubt dieser, Goethe habe darauf bewußt verzichtet “und es 18
der Zukunft überlassen, die Beziehung der Farben zu Grau in besonderer Weise aufzuzeigen” . Was ist daraus
entstanden?
Laut Hebing, habe er den Goetheschen Farbenkreis “in mancher Weise modi19
fiziert” , denn als Maler habe er “das Bedürfnis” gehabt,
malend die weiteren Möglichkeiten des Farbenkreises auszugestalten. Die reinen Farben wurden im
Kreis herum kontinuierlich ineinander übergeführt. Ebenso aber wurden die reinen Farben nach
12
Ebd., S. 150.
Ebd., S. 241.
14
Ebd., S. 119.
15
Ebd., S. 118-119.
16
Ebd., S. 119.
17
“Grau ist die Summe, die Einheit, in die alle Vielfalt einmündet” – siehe Julius Hebing: Welt, Farbe und Mensch. Studien und Übungen zur Farbenlehre und Einführung in das Malen, Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 1983, S. 36.
18
Julius Hebing: Lebenskreise…, S. 132. Eine Grauskala zwischen Schwarz und Weiß ist für Hebing immerhin nicht im
Kreise anzuordnen – siehe Ebd., S. 156.
19
Ebd., S. 132.
13
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Julius Hebing und Goethes Farbenlehre
Weiß und Schwarz hin aufgehellt beziehungsweise abgedunkelt, so daß ein vollkommen kontinuierliches Ineinanderklingen von Farben und Helldunkel zustande kam. Auf diese Weise ergaben sich die
verschiedensten Farbkreisverwandlungen, die Farben einerseits auf weißem, andererseits auf
schwarzem Grund, ebenso aber auch auf mittlerem Grau usw. Dabei zeigte sich, daß Farbenkreise
auf schwarzem Grund immer einstrahlenden, — solche auf weißem Grund jedoch ausstrahlenden
Charakter haben. In jeder Variation tritt dasselbe Prinzip auf: Ballen und Spreizen, und so forderte
20
ein Bild das andere, und meinem Farbenkreis-Malen waren sozusagen keine Grenzen gesetzt .
21
Daraus entstehen im Laufe der Zeit was Hebing “Farbsinfonien” nennt , und die Bilderfolgen, die den Sätzen in der Musik entsprechen, “kann man schon in den Farbenkreisen vor22
fühlen” .
Für Hebing sind Licht und Finsternis Bilder. Er zitiert Rudolf Steiner mit dessen Definitionen
23
für Weiß als “das seelische Bild des Geistes” und Schwarz als “das geistige Bild des Toten”
und nennt ebenda Geist und Tod “die ersten Bilder”. So gelang es Rudolf Steiner, die imaginative Welt als “zweidimensional” zu schildern, u.zw. “schillernd, schwebend und sprühend im far24
bigen Licht” .
Hebing erwähnt den Impressionismus als die Strömung der Malerei, die dazu am geeignetetsten (gewesen) wäre, seine Farbenkreise zu exemplifizieren:
Daß die Farben in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander einerseits positive Mischungsresultate
ergeben (Gelb und Blau = Grün usw.), andererseits aber sich auch aufheben, zum Grau zurückbilden,
wurde vom Impressionismus stark benützt, um “Licht”eindrücke im Bilde zu erzielen; das heißt ein
lebendiges Grau, das jede Farbe so weit noch zur Erscheinung kommen ließ, wie das den Raum erfüllende einheitliche Licht es zuließ. Deshalb kann man beim Impressionismus nicht von eigentlicher
“Farbe” sprechen. Diese suchte im Gegensatz hierzu der Expressionismus, der dafür auf das “Licht”
25
verzichtete.
26
Auch Otto Philipp Runge stoß auf das Interesse des Malers Julius Hebing . Uns dürfte vor
allem die Art und Weise auffallen, in der er Interferenzen zwischen Goethe und Runge aufstellt:
Es handelte sich für Runge wie für Goethe darum, ein dem wirklichen Leben entsprechendes, ein
27
wahres, umfassendes, modernes Verhältnis zur Welt der Farbe zu gewinnen.
Beide verband – so Hebing — die Suche nach dem Vollmenschlichen, dem Ganzen von Welt
28
und Mensch . Der dritte Vergleichsfaktor bleibt aber im Hintergrund Isaac Newton, obwohl
Hebing Folgendes meint:
Man wird keinem von beiden irgendwie wesentlich nahe kommen können, wenn man dies tun will
mit den Fühlens- und Denk-Gewohnheiten unserer Zeit, am allerwenigsten aber, wenn man die auf
29
Newton sich gründenden Farbtheorien als Kriterium anlegen will.
20
Ebd., S. 132-133.
Ebd., S. 150.
22
Ebd.
23
Ebd., S. 156.
24
Ebd., S. 339.
25
Ebd., S. 157.
26
Ebd., S. 329. Runge gilt für Hebing als eine besonders helle Malerfigur: “Philipp Otto Runge, im Herzen heiße Sehnsucht nach dem Himmel tragend, ging nur wie schwebend über diese Erde, berührte sie flüchtig und verließ sie
früh.”
27
Ebd., S. 323.
28
Ebd.
29
Ebd.
21
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und sich in Bezug auf Newton so ausdrückt: “Newton kennt keinen Farbenkreis, er hat nur ein
30
siebenstufiges Farbenband; er kennt kein Purpur.”
Hebing wirft aber Goethe vor, daß dessen Kreis “nichts vom Lebendigen der Farbe” habe
31
und — “auf alles Bewegliche” verzichte. Seine eigenen Verdienste sieht der Maler Julius Hebing darin, Goethes Farbenkreis aus der Abstraktion herausgeführt zu haben, “ohne dabei das
32
von Goethe gegebene Gesetz außer acht zu lassen” .
Bei Hebing
gehen die Farben kontinuierlich ineinander, sowohl untereinander, wie auch im Verhältnis zum Untergrund, sei er weiß, schwarz, grau oder farbig. Das Ganze beginnt zu atmen, zu fluten, zu schweben. Es ist, als ob sich irdische Fesseln lösten und Geistwesen die Tore öffnen. Man ahnt einen
33
Schritt an das Imaginative heran.
Gerade die imaginativen Aspekte sind für einen jeden Maler von höchstem Interesse. Auf
diesem Gebiete liegen auch Goethes und — teilweise zumindest — auch Rudolf Steiners Beiträge zur Farbenlehre. Dies könnte ohne Zweifel Julius Hebing bestätigen — die Schlußzeilen
seines Tagebuches könne durchaus in diesem Sinne gedeutet werden:
So führen die Stufen dieses Lebensweges zu einer bewußten Handhabung der malerischen Elemente, der Farben. Die Schwelle zur Imagination kann nicht einen Rückschritt ins Unbewußte bedeuten.
34
Sie führt, im Gegenteil, in immer höhere Regionen des Daseins.
Der Maler Julius Hebing setzte sich sein ganzes Leben hindurch systematisch mit Goethes
Farbenlehre auseinander und bearbeitete sie im Einklang mit seiner eigenen Maltheorie. Obwohl sich auch andere Einflüsse auf ihn geltend machten, wirkte der Goethesche am nachhaltigsten und gilt als einer der wichtigsten, ja als ein schicksalshafter.
30
Ebd., S. 325.
Siehe für beide Zitate: Ebd., S. 339.
32
Ebd.
33
Ebd., S. 340.
34
Ebd., S. 340.
31
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FRIEDRICH HÖLDERLIN
Limbajul Con[tiin]ei [i Con[tiin]a Limbajului
Mihai Stroe
Dup` faimoasele cercet`ri întreprinse de Heidegger în marginea operei lui Hölderlin este
bine cunoscut faptul c` pentru celebrul poet german dialogul constituie una din temeliile metafizicii sale a deschiderilor ontice. În esen]` pentru c` prin tr`irea fenomenului integral al
vie]ii romanticul german ajunge s` în]eleag` c` dialogul este una cu spiritul [i c` doar prin
dialog este posibil` dep`[irea disper`rii de a fi. La Hölderlin, îns`, solu]ia ontologic` se afl`
tocmai în aceast` disperare de a fi, fiindc` în aceasta coexist` toate paradoxurile crea]ionale.
Vom încerca s` discernem în cele ce urmeaz` c`ile acestui a fi care se define[te [i prin a te afla
în [i întru dialog, dialogul fiind fenomenul ontic de cea mai mare profunzime [i importan]`,
prin care în fapt se fundamenteaz` realitatea [i devenirea întru fenomenul vie]ii, a[adar prin
care devine posibil` na[terea con[tiin]ei.
În celebrul poem intitulat Rousseau Hölderlin spune: “semne sînt/Din str`vechime graiul
1
zeilor” . Se pune, prin urmare, un semn de egal între limbaj [i semioz`. Limbajul verbal, prin
îns`[i natura sa, este o deschidere de semnifica]ii între cel pu]in dou` con[tiin]e; semnele în
acest context sînt mi[c`ri con[tiin]iale ale entit`]ilor vii suprafire[ti, sînt gesturi dialogale prin
care se aduce în fiin]` fiin]a (Heidegger a observat c` aici se afirm` leg`tura dintre fundamen2
tarea fiin]ei [i semnele zeilor . Se pune îns` întrebarea cine este “partenerul” de dialog din
moment ce acest dialog este ontogenerator. Ne afl`m, desigur, în fa]a paradoxului, întîlnit la
Hölderlin, potrivit c`ruia toate con[tiin]ele create pre-exist` în ra]iunile divine (aceea[i idee
pare s` fi fost îmbr`]i[at` [i de William Blake în scrierile profetice, precum [i de al]i filosofi ai
'fiin]ei'), ceea ce înseamn` c` geneza este o chemare, deci deja un dialog chiar de la început,
din momentul “auroral”, ca s` folosim un termen eliadesc, al con[tiin]ei create. Aceasta nu
înseamn` c` se neag` crea]ia biblic` ex-nihilo, cea luat` din nimic, ci se afirm` c` toate
con[tiin]ele sînt generate dup` un tipar divin, iar nu altfel. Cu alte cuvinte, fiecare con[tiin]`
este un grai viu, în esen]`, o prezen]` “mirio-dialogal`”, adic` o persoan` înzestrat` ontic cu
infinite posibilit`]i latente de a deschide “cîmpuri” de dialog.
Dup` cum arat` Vasile Lovinescu, fiecare fiin]` este un morfism al Verbului (Logosul3
Hristos), dar numai omul este cel care poate pronun]a marele Nume . A[adar, omul ca morfism
se afl` într-un spa]iu de logos infinit, populat de morfisme ale Cuvîntului atoate-generator; el
are îns` ceva unic, [i anume putin]a de a rosti, precum zeii lui Hölderlin, [i de a aduce astfel, la
rîndu-i, fiin]e în fiin]`. De aceea spun pe bun` dreptate unii filosofi hindu[i c` este un fenomen
rar s` fii om. Hölderlin pare s` fi sim]it acest privilegiu ontologic d`ruit omului, care în orice
moment poate deschide dialoguri cu orice morfisme, cu condi]ia s` fi “luminat” în prealabil
1
“Winke sind / Von Alters her die Sprache der Götter”; cf. Exzentrische Bahnen, Ein Hölderlin-Brevier, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1993, pag. 87-88.
2
Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, în Alfred Kelletat, Hölderlin-Beiträge zu seinem Verständnis
in unserem Jahrhundert, vol. 3, Thübingen, 1961, pag. 141.
3
Vasile Lovinescu, Jurnal Alchimic, Institutul European, Ia[i, 1999.
Mihai Stroe
“codurile” ontice ale fiec`rui limbaj fiin]ial (limba p`s`rilor, bun`oar`, care pentru un poet precum John Clare este chiar mediul artei poetice, fundamentînd de fapt trecerea c`tre limbajele
extazului, acele graiuri care dep`[esc natura graiului omenesc, dec`zut dup` fenomenul încurc`rii limbilor din turnul Babel – faimoasa heteroglosia -, [i care induc prin prezen]a lor st`ri
4
angelice-paradisiace . Tocmai aceast` luminare a infinitelor graiuri-morfisme-con[tiin]e înseamn` deschiderea l`untric` a omului c`tre nesfîr[itele poten]ialit`]i ale dialogului cu întreaga realitate: spre aceast` perfec]iune a comunic`rii la toate nivelurile ontice a n`zuit Hölderlin.
5
Dup` cum arat` Herbert Read, poetul german dorea s` transforme lumea în Verb , în Logosul
Suprem, voia a[adar un dialog atotplin, o lume resacralizat` prin puterea cuvîntului rostit [i
rostindu-se pe sine (c`ci poezia, bun`oar`, odat` creat`, devenea templu, hierofanie mîntuitoare care con]inea în sine în chip imuabil logosuri vii), o lume în care fiin]a “mirioform`” a
dialogului s` cuprind`, s` con]in`, s` lege întru libertate ontic`, într-un cuvînt, s` îmbr`]i[eze
absolut toate fiin]ele, realitatea integral` pe care o sim]ea profund fisurat` de drama c`derii
din sferele zeit`]ilor.
6
“A sim]i ideile”, cum a numit critica darul coleridgean al lui Hölderlin , pare s` fie una din
cheile de bolt` ale în]elegerii gîndirii marelui poet. C`ci în acest caz este vorba de premisele
rostirii poetice tipic hölderliniene: a rosti esen]a poeziei înseamn` a sim]i-tr`i arhetipurile ontice, înseamn` a p`trunde în spa]iile matriceale, pure, ale con[tiin]ei unde se na[te neîncetat
spa]iul-r`d`cin` simbolic al dialogului întru creatur`; cu alte cuvinte, cînd Hölderlin creeaz`
poetic, el trece în fiin]a dialogului universal care poate fi v`zut` ca o poten]ialitate arhetipic`
proprie oric`rei con[tiin]e, un arhetip ontologic care îns` dep`[e[te prin natura sa no]iunea de
primordium con[tiin]ial creat (adic` începutul con[tiin]ei create) deoarece acesta (arhetipul
dialogului universal) este un arhetip de grad treimic, deci necreat, ve[nic, [i existînd dintotdeauna în ra]iunile divine, ca poten]`-poten]ialitate absolut`, înn`scut` (este deci vorba de un
paradoxal necreat-înn`scut); raportat la con[tiin]a creat`, aceast` poten]` putem spune c`
este ante- [i post-fiin]ial`, în sensul c` acest arhetip-for]` dep`[e[te prin esen]a sa atît anterioritatea genezei, cît [i posterioritatea genezei de orice fel, adic` “îmbr`]i[eaz`” toate realit`]ile posibile.
Ne afl`m aici în fa]a unei probleme fundamentale prin care se explic` natura operei lui
Hölderlin, aceea de a fi poezie a poeziei, reflexivitatea fenomenului în acest caz fiind dat` de
îns`[i natura universal` a arhetipului care pune în mi[care opera poetic` ([i anume arhetipul
dialogului universal), la poetul german profund ontic dialogal`. În]elegem atunci de ce spune
4
Vezi mai ales John Clare, The Midsummer Cushion, The Progress of Rhyme.
Herbert Read, Imagine [i Idee – Func]ia Artei în Dezvoltarea Con[tiin]ei Umane, Univers, Bucure[ti, 1970, pag.9. “La
Hölderlin g`sim ideea c` menirea poetului este de a preface lumea în verb. Poezia este luare în posesie a realului, o
prim` a[ezare a hotarelor realit`]ii în în]elegerea noastr`. În zilele noastre, Martin Heidegger a reluat ideea lui Hölderlin: <Poezia, spune el, const` în a întemeia existen]a cu ajutorul verbului… Poezia este în]elesul cel dintîi dat existen]ei… nu orice grai, dar acel grai deosebit care, pentru prima oar`, aduce la lumin` (adic` în con[tiin]`) esen]a tuturor lucrurilor – tot ceea ce putem apoi discuta [i trata în limbajul de toate zilele>”. (citat de H. Read conform edi]iei
Existence and Being, ed. Werner Brock, London: Vision Press, 1949, pp. 293 – 315: Hölderlin and the Essence of Poetry,
trad. în limba englez` de Douglas Scott).
6
Cf. Tom Payne, Encyclopedia of Great Writers, Barnes & Noble Books, New York, 1997. Aceast` perspectiv` reiese [i
din lucrarea clasic` despre Hölderlin a lui Wilhelm Dilthey, Tr`ire [i Poezie – Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Univers, Bucure[ti, 1977, pag. 352; Dilthey este de p`rere c` forma imnurilor lui Hölderlin este influen]at` de poezia de
idei a lui Schiller, dar crede c` forma liric` descoperit` de el este complet diferit` de cea creat` de Pindar, Klopstock [i
Goethe. Acest fapt este, de altminteri, confirmat chiar de Hölderlin cînd afirm` c` s-a l`sat înv`]at în primul rînd de
inima sa, [i abia apoi de c`r]i, regretînd ca a trebuit totu[i s` treac` prin [coala omeneasc` (cf. Mihai A. Stroe, Limbaj
[i Con[tiin]` în Metafizica [i Poetica lui Hölderlin, în Friedrich Hölderlin, Hyperion – Un fragment, Institutul European,
Ia[i, 1998, pag. 9), ceea ce a condus la ideea general acceptat` a criticii moderne c` originalitatea gîndirii [i a stilului
lui Hölderlin nu poate fi contestat`.
5
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Friedrich Hölderlin: Limbajul Con[tiin]ei [i Con[tiin]a Limbajului
Diotima în Tinere]ea lui Hyperion (Hyperions Jugend): “eu port un chip al spiritului cel universal
în suflet…a fi-mpreun` dup` chipu-acesta este cu mult mai minunat decît a fi singur … [[i]
dac` Sacrul, ce se afl`-n to]i, s-ar d`rui pe sine prin vorb` [i imagine [i cîntec, dac`-ntr-Un
Adev`r spiritele toate s-ar uni, [atuncea] într-O Frumuse]e s-ar recunoa[te toate, ah! de ne-am
7
gr`bi acestfel ]inîndu-ne de mîn` în bra]ele Nem`rginirii –“ . A fi împreun`, a te d`rui prin dialog, a fi întru adev`r [i frumuse]e, într-un cuvînt a fi universal, iat` esen]a operei lui Hölderlin.
Putem vorbi de o mitosfericitate a acestei gîndiri profund ontic dialogale a poetului german
în sensul c` ea este o perpetu` deschidere de mitosfer` integral`: Hölderlin nu este un simplu
creator de mit închis, ci dimpotriv` mitul s`u cu accente adînc personale, dar influen]at de
mitologia [i atmosfera greac`, de accentele lui Alceu [i Pindar, de impetuoasele efuziuni mistice ale lui Klopstock, acest mit, a[adar, este o perpetu` punere în rela]ie ontic` a fiin]ei cu
fiin]a [i a fiin]ei cu suprafiin]a divin`. Aceast` punere în rela]ie ontic` nu se sfîr[e[te odat` cu
sfîr[irea actului lecturii, dimpotriv`, cel intrat în “paradigma” hölderlinian` este “prins” într-un
dialog ascensional prin care par s` se limpezeasc` tot mai mult esen]a logosului, a rostirii poetice (de aici [i senza]ia criticii de referin]` c` Hölderlin este “poetul poetului”), precum [i a
mithosului ca dinamic`-“istorie” transcendental` vie dialogal` a logosurilor posibile. În aceast`
“istorie” deschis` limbajul este cel ontostructurator, c`ci el este baza arhetipal-con[tiin]ial` a
fiin]ei.
Limbajul este “receptacolul” acestei istorii-mit, dar tot el este ontodinamizatorul, prin el se
pune fiin]a în fiin]`; cum bine observ` Miguel de Unamuno, rostirea este cea care face posibil`
8
înf`ptuirea , iar la Hölderlin aceast` înf`ptuire este mereu întru dialog. Acest dialog este la
poetul german în permanen]` bîntuit de durerea de a fi, cum am ar`tat mai sus. O oscilare per9
petu` între “plin`tatea lumii atotvii” (Fülle der allebendigen Welt) , care este domeniul fiin]ei
universale a dialogului, [i lipsa metafizic` de sprijin l`untric, acel faimos Mangel care a f`cut
carier` în toate gîndirile duale, dar care la Hölderlin este asociat în permanen]` con[tiin]ei
dec`zute care întîlne[te sferele spirituale cu luminile lor negr`ite (vezi imaginea Eterului
P`rinte, Vater Ether) [i care cu atît mai mult face experien]a suferin]ei, a unei suferin]e cumva
deopotriv` ascensionale, ca [i natura ascendent` a dialogului ontic men]ionat, în sensul c`
suferin]a hölderlinian` este în perpetu` sublimare, în etern` dep`[ire de sine întru o suferin]`
tot mai alchimizat`, mai “înalt`”, o suferin]` care pare s` se împ`rt`[easc` din atotfiin]a dialogului pur: punerea unei fiin]e în fa]a fiin]ei este un act de o suprem` durere tocmai pentru c`
v`de[te starea de neunire fiin]ial` a lui doi, tocmai lucrul pe care Hölderlin-Hyperion, în ceea
ce prive[te rela]ia sa cu Diotoma, dar [i cu lumea prietenilor, n`zuie[te s` îl dep`[easc` prin
împlinirea unirii sufletelor.
7
“[I]ch trage ein Bild der Geselligkeit in der Seele … wie viel schöner ists nach diesem Bilde, zusammen zu seyn, als
einsam! … wenn das Heilige, das in allen ist, sich mittheilte durch Rede und Bild und Gesang, wenn in Einer Wahrheit
sich alle Gemüther vereinigten, in Einer Schönheit sich alle wiedererkennten, ach! wenn man so Hand in Hand hinaneilte in die Arme des Unendlichen –“; Friedrich Hölderlin, Hyperion – Un fragment, Institutul European, Ia[i, 1998,
pag. 208-209.
8
Miguel de Unamuno, Sentimentul Tragic al Vie]ii, Institutul European, 1995, pag. 225. “Limbajul este cel care ne d`
realitatea, [i nu ca un simplu vehicul al ei, ci ca adev`rata ei carne, în timp ce tot restul, reprezentarea mut` sau
nearticulat`, nu este decît schelet … Iubirea nu se dezv`luie pe sine, pîn` nu vorbe[te, pîn` nu zice: 'Eu te iubesc'” “'…
întîmplarea poate s` aduc` o vorb`, care s` dea nume la ceea ce simt unul pentru cel`lalt [i apoi, într-o clip`, toate
consecin]ele'.
A[a este: tot ce a fost f`cut s-a f`cut prin cuvînt, c`ci la început a fost cuvîntul.”
9
Hyperion oder der Eremit in Griechenland, în Hölderlin, Ein Lesebuch för unsere Zeit, Thöringer Volksverlag, Weimar,
1954, pag. 158.
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Ne afl`m desigur în fa]a unui paradox romantic: pe de o parte, groaza de neunire, dorul
nem`rginit de unire cu totul, [i, pe de alta, iubirea nesfîr[it` de fiin]a atotliber`, de fiin]a atotcreatoare a fiin]elor libere. Acest paradox rezid` în aceea c` experien]a con[tiin]ei este de
tripl` natur`: monistic`, dual` [i treimic`. Monistic` pentru c` îns`[i con[tiin]a este una; dual`
pentru c` ea nu poate exista în spirit decît în dialog; treimic` pentru c` al treilea este întotdeauna “vîrful neatins [i intangibil” al dialogului intercon[tiin]ial: Fiul. Natura lui Doi se
dep`[e[te pe sine în fiu, al treilea, Doi î[i prelunge[te paradoxul de sine în paradoxul fiului. Se
poate spune c` natura con[tiin]ei este un monism treimic, a[adar con[tiin]a este o monad`
treimic`: aceasta înseamn` c` dialogul ca poten]` este veriga de mijloc din chiar structura
l`untric` a con[tiin]ei; fiin]a dialogului ontic este, deci, un dat universal, prin dialog se
fiin]ializeaz` îns`[i con[tiin]a întru spirit, limbaj [i rela]ie cu totul. Laten]a lui al treilea (fiul) în
con[tiin]a treimic monadic` este evident`, altminteri unu nu ar putea crea nimic, dar, poate [i
mai grav, nu ar putea intra în dialogul cu altul (al doilea), în dialogul ontic care poate fi [i cosmogenerator (na[terea lui al treilea -fiul).
La Hölderlin tocmai aceast` laten]` al lui al treilea (fiul) pare s` fie aproape absent` (de[i el
vorbe[te despre copil ca fiind o 'fiin]` dumnezeiasc`', des`vîr[it`: “El este pe deplin ceea ce
10
este, [i de aceea este atît de frumos” , de unde [i disperarea c` în fiin]a lui Hyperion nu se
g`se[te o solu]ie ontologic` final`; în Hyperion suferin]a neunirii cu Diotoma este suprem`, [i
absen]a lui al treilea (fiul) face ca aceast` suferin]` s` se distileze / sublimeze în ceea ce am
putea numi o t`cere tot mai pur` a logosului creator creat care î[i amîn` din pietate actul
creator-strig`tul de durere (c`ci orice crea]ie este durere-jertf`) pentru a nu r`ni con[tiin]a lui
al doilea cu care deja se afl` în dialog. Nu în]elegem prin aceasta nicidecum o sterilitate spiritual`, ci o l`sare de c`tre Hölderlin a suferin]ei lui a fi împreun` (Hyperion-Diotima) întru ascensionalitatea rostirii dialogice, a rostirii întru spirit. Cu alte cuvinte, iubirea lui doi (Hyperion
11
împreun` cu Diotima) alege s` tac` împreun` într-un dialog inefabil , alege s` nu z`misleasc`
iubire (fiul) tocmai spre a urca prin t`cere spre Logosul ultim, spre a fi înc` mai intim uni]i
(cum î[i exprim` Hyperion dorin]a în ceea ce o prive[te pe Diotima) cu fiul cel nen`scut pe
p`mînt, dar deja paradoxal existînd în spirit prin dialogul iubirii; el (fiul) este încununarea
ve[nic ascensional` a marii opere: aici este o deosebire esen]ial` între Hölderlin [i alchimie,
unde exist` o încununare final`, anume elixirul; pentru Hölderlin marea oper` este eterna ascensiune în graiul Verbului, în Logos.
Moartea Diotimei este din acest punct de vedere o suferin]` peste trupul suferin]ei, este o
nou` [i tragic` lipsire care las` de ast` dat` un gol ce va fi umplut cu negr`it mai mult` suferin]` în fiin]a lui Hyperion. Paradoxal, noua suferin]` poten]eaz` toate rostirile latente dialogale ale sufletului, într-un fenomen redat foarte bine de cuvintele lui Unamuno: “o etern` lips`
de ceva [i o durere etern`. O durere, o suferin]`, gra]ie c`reia cre[tem f`r` încetare în
con[tiin]` [i în aspira]ie… Un Purgatoriu etern, a[adar, mai mult decît o Glorie; o ascensiune
etern`.” “[T]ragedia culmineaz` aici… sufletul… se apropie etern, f`r` a ajunge vreodat`: interminabila aspira]ie, eterna speran]` care etern se înnoie[te, f`r` a se termina cu totul nicio12
13
dat`” . “R`ul durerii se vindec` prin [i mai mult` durere, prin [i mai înalt` durere” . Se ob10
Ibid. pag. 160.
Vezi [i Mihai A. Stroe, loc. cit., pag. 30: “Transmuta]ia-resacralizarea limbajelor dec`zute are loc prin îmb`iere în
t`cere transcendent`; în acest sens, în episodul cînd Diotima [i Hyperion doar se privesc unul pe altul, într-o reculegere plin` de accente metafizice, fiecare se reg`se[te în cel`lalt, ajungînd în cele din urm`, totu[i, s` vorbeasc` despre
via]a p`mîntului ca imn ceresc, ca floare a cerului. Tot Hyperion spune c` 'exist` o uitare a întregii fiin]e, o amu]ire a
f`pturii noastre, cînd ni se pare c` am fi g`sit totul', fenomen care pare s` exprime o dep`[ire de sine ca pas spre Absolut”. (cf. Hyperion oder der Eremit in Griechenland, pag. 198 [i, respectiv, 188)
12
Miguel de Unamuno, Sentimentul Tragic al Vie]ii, Institutul European, pag. 185-186.
11
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Friedrich Hölderlin: Limbajul Con[tiin]ei [i Con[tiin]a Limbajului
serv`, astfel, c` lipsa metafizic`-mistic` este valorizat` la toate nivelurile ontice, ea este termenul dramei omene[ti, ea d` tragedia [i nefericirea, suprema suferin]` a omului, dar, paradoxal tot ea este cea care îi red` spiritul întru puritatea ve[nicei aspira]ii c`tre graiurile necreate, c`tre Logosul divin [i logosurile create. Nu întîmpl`tor spune Chateaubriand, referinduse la graiul p`s`rilor [i la 'Homerul' p`s`rilor, privighetoarea, c` “în nefericire exist` f`r` în14
doial` o armonie ascuns`, pentru c` to]i n`p`stui]ii au o înclina]ie spre cînt” , [i am ad`uga
noi, spre puritate.
Puritatea fiin]ial` este astfel o condi]ie pentru dep`[irea prin cuvînt-dialog a lumii
dec`zute, [i, în consecin]`, pentru redobîndirea-restaurarea dialogului cu entit`]ile celeste.
Aceast` stare de fapt este men]ionat` de Dilthey înc` din primele rînduri ale celebrului s`u
studiu asupra lui Hölderlin: “Exist` o credin]` str`veche, dup` care zeii se dest`inuie sufletelor
neîntinate, dezv`luindu-le viitorul lucrurilor. Hölderlin a tr`it într-o asemenea puritate, p`zit`
15
cu pietate, [i într-o imaculat` frumuse]e a fiin]ei” . Aceast` cur`]ie a fiin]ei se reflect` [i în
concep]ia lui Hölderlin, pe care o putem numi ritualic`, despre actul con[tiin]ial al vorbiriidialogului cu sine sau cu cel`lalt: cuvintele trebuie anume “s` r`sar` ca florile” (wie Blumen
16
17
entstehen) . Cerul, pe de alt` parte, este “nesfîr[ita gr`din` a vie]ii” . La Hölderlin avem, prin
urmare, într-adev`r de a face cu sistem metafizic prin care se încearc` s` se g`seasc` logosul
arhetipurilor; cu alte cuvinte, pornind de la o lume profund dual`, Hölderlin caut` ceea ce Jung
18
a numit solul matriceal al ideii (care pentru acesta din urm` înseamn` imaginea primordial` –
arhetipul), substan]a absolut` prin care este în]eleas` realitatea [i este f`cut inteligibil dialogul
fiin]ei cu realitatea fiin]elor. În aceast` substan]` matriceal`, care nu poate fi decît spa]iul pur
al con[tiin]ei divine (spa]iul ra]iunilor divine) în dialog perpetuu cu sine [i cu z`mislitul, Cuvîntul însu[i [i semin]ele Cuvîntului (Logosul [i logosurile create de Logosul necreat) germineaz` [i
prin aceasta (prin ousia matriceal`) ele se ridic` în manifestare, întocmai cum Hölderlin vede
cuvintele ie[ind la lumin` precum florile, dintr-un sol mental inefabil, eteric. La fel, murind,
Diotima prezice, ca o vizionar`, cum Hyperion va rena[te din pr`bu[irea visurilor sale: “ceasu19
rile poeziei germineaz` de pe acum în tine” .
A[adar, logosul arhetipurilor poate fi în]eles ca o sfer` ontic` matriceal` în care exist`
toate legile z`mislirii-crea]iei-vie]ii; acest logos fiind o sfer` universal` cuprinde în increat
toate posibilit`]ile de trecere la creat. Aceast` sfer` a “omni[tiutului”, pentru a folosi terminologia lui Jung, (sfera legilor care exist` pretutindeni în hotarele realit`]ii, [i care exist` dintotdeauna pentru c` sînt ra]iuni ale Con[tiin]ei divine), se afl` într-o rela]ie paradoxal` de transcenden]`-imanen]` cu lumea fizic`, pe care Jung o imagineaz` ca pe un sistem de coordonate.
Imaginea acestui sistem al lumii fizice în sfera noologic` (sfera legilor pure universale ale vie]ii)
a transcendentului îi apare lui Jung ca “imagine originar` cu multe aspecte, poate ca un 'nor de
20
cunoa[tere' difuz în jurul unui arhetip” . Cu alte cuvinte, realitatea fizic` exist` prin [i este
13
Ibid. pag. 205.
René de Chateaubriand, Geniul Cre[tinismului, Anastasia, Bucure[ti, 1998, pag. 79.
15
Wilhelm Dilthey, Tr`ire [i Poezie – Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Univers, Bucure[ti, 1977, pag. 336.
16
René Wellek, Conceptele Criticii, Univers, Bucure[ti, 1970, pag. 229.
17
Hyperion oder der Eremit in Griechenland, pag.198. “[D]en Himmel nannten wir den unendlichen Garten des Lebens”.
18
C. G. Jung, Tipuri psihologice, Humanitas, Bucure[ti, 1997, pag. 479.
19
Cf. Wilhelm Dilthey, op. cit., pag. 385.
20
C. G. Jung, Amintiri, Vise, Reflec]ii, Humanitas, Bucure[ti, 1996, pag. 310. Vizavi de aceast` percepere l`untric` a
unor realit`]i (noologice-arhetipale) care în fapt întrec fizicalul (dar îl [i instituie în mod paradoxal) este interesant de
remarcat ceea ce observ` cunoscutul filosof francez de origine român` Stéphane Lupasco: “O percep]ie este înconjurat` de un halo, de un nor de imagini, adic` de semiactualiz`ri [i semipoten]ializ`ri. E de ajuns s` mi[c capul … s`
privesc atent un obiect, un lucru, ceea ce atrage dup` sine tocmai golirea dorit` a con[tiin]ei – [i tot ce r`mîne în
14
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Mihai Stroe
sus]inut` de un spa]iu de con[tiin]` sub- [i supraliminal inefabil în care se afl` toate substan]ele [i paradoxurile ontice. Hölderlin a c`utat astfel nu doar imaginea originar` despre care
vorbe[te Jung, ci “norul de cunoa[tere” suprafiin]ial, luminos, limpede, dinl`untrul arhetipului,
ceea ce poate însemna c` a c`utat verbul din imaginea primordial` sau c` a c`utat suprafiin]a
fiin]ei. Iat` ce spune Hyperion despre limbaj: “Graiul este un mare bel[ug. Miezul s`u cel mai
21
bun r`mîne… [i odihne[te în adîncurile sale, a[a precum m`rg`ritarul în str`fundurile m`rii” .
Imaginea m`rg`ritarului este o viziune clar` a biblicei Împ`r`]ii a lui Dumnezeu; a[adar esen]a
graiului deschide posibilitatea dialogului cu Împ`r`]ia, cu “lumea ce va s` vie” (die kommende
22
Welt) pe care Hölderlin o a[teapt` cu înfrigurare [i cu care dore[te s` se uneasc`. De aceea
intrarea în esen]a graiului este pentru Hölderlin prima [i cea mai important` cale metafizic`
prin care încearc` restaurarea omului în dialogul cu realitatea.
Accesul la verbul imaginii primordiale sau la suprafiin]a fiin]ei poate fi dobîndit de om în
virtutea naturii sale libere numai prin “scufundarea” în extrema sa cereasc` prin dialog interfiin]ial, potrivit cuvintelor lui Hölderlin: “O, omul e zeu dac` viseaz`, [i-un cer[etor de st` pe
23
24
gînduri” , [i “f`r` libertate totul este mort” . Dar Suprafiin]ialul-Sacrul se afl` ca prezenteitate (prezen]a fiin]ial` a persoanei în dinamica sa transcendent` vie) în omul care este însu[i
semnul spiritului (un semn 'semiogenerator', deci la rîndu-i creator de semne-graiuri-imagini):
“dac` Sacrul, ce se afl`-n to]i, s-ar d`rui pe sine prin vorb` [i imagine [i cîntec, dac`-ntr-Un
Adev`r spiritele toate s-ar uni, [atuncea] într-O Frumuse]e s-ar recunoa[te toate, ah! de ne-am
25
gr`bi acestfel ]inîndu-ne de mîn` în bra]ele Nem`rginirii –“ Esen]ial` pentru Hölderlin este,
a[adar, metafizica d`ruirii: a fi cu adev`rat viu, cu adev`rat con[tiin]`, înseamn` a te afla în
fiin]a universal` a d`ruirii: aceasta este un arhetip supraordonat, ce st` la baza oric`rei crea]ii,
[i care cuprinde [i este cuprins de primul gest crea]ional al Logosului prin care se aduce din
nefiin]` fiin]a, gest dup` care ia na[tere un nou arhetip, cel al dialogului perpetuu dintre Increat [i creat, dialog care pîn` în acest moment nu se manifesta decît în via]a l`untric` a divinit`]ii, ca dialog în sînul Con[tiin]ei Treimice Necreate. A fi în fiin]a universal` a d`ruirii înseamn` a te afla în dialogul d`ruirii: aceasta înseamn` a fi universal pentru Hölderlin, a te afla
în ascensionalitatea dialogului în mod paradoxal prin ontologia descensional` a d`ruirii (sacrificiale, în cazul ritului sacru, restaurator). Esen]ialmente pentru c` prin d`ruire nu se ajunge la
lips` metafizic` (Dürftigkeit), ci la ascensiune transcendental`. De acest fapt pare s` fi fost
con[tient Hölderlin-Hyperion pîn` la ultimele consecin]e, c`ci la poetul german totul este construit printr-o inefabil` d`ruire con[tiin]ial`, întru fiin]a unui dialog expansional în care sînt
umbr`, în afara [i împrejurul cîmpului meu vizual se va popula cu imagini … operînd aceast` percep]ie, voi l`sa toate
celelalte percep]ii, oricît de numeroase, în umbr`.” (cf. Stéphane Lupasco, Logica Dinamic` a Contradictoriului, ed.
Politic`, Bucure[ti, 1982, partea a V-a, Energia [i Materia Psihic`, Imaginea, pag. 307). Prin aceasta se afirm` flexibilitatea ontic` a nucleului con[tiin]ial, care poate astfel s` accead` la o cunoa[tere l`untric`, a propriilor sfere noologice. Perceperea-tr`irea acestor realit`]i se face prin prezen]a unor “nori” de imagini [i cunoa[teri care particip` dinamic la procesul con[tiin]ial al cunoa[terii. Se observ` astfel de ce este de importan]` capital` cunoa[terea cît mai
deplin` a realit`]ii infracon[tiin]iale [infracon[tiin]` nu în sensul de vag` incon[tien]`, cum este cazul la Lupasco
(ibid., pag. 304), ci în sensul unei percep]ii intra- [i/sau inter-con[tiin]iale ce se desf`[oar` spre un infinitezimal
con[tiin]ial “progresiv”, ascendent sau descendent din punct de vedere ontic, în func]ie de natura cunoa[terii-tr`irii:
cunoa[tere-tr`ire sacral`-dialogal`, sau non-sacral` – non-dialogal`)], realitate infracon[tiin]ial` care se afl` în conexiune fiin]ial` cu realitatea suprafiin]ei.
21
Hyperion oder der Eremit in Griechenland, pag. 253. Aceast` imagine credem c` justific` p`rerea noastr` c` Hölderlin
are o gîndire abisal` care are elemente comune cu psihologia analitic`, abisal` a lui Jung.
22
Ibid., pag. 250.
23
Ibid., pag. 159.
24
Ibid., pag. 273.
25
Cf. nota 7.
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Friedrich Hölderlin: Limbajul Con[tiin]ei [i Con[tiin]a Limbajului
c`uta]i cu o rar` înc`p`]înare Prietenii Spirituali, printre care Diotima este cea mai important`,
dat` fiind natura sa m`rturisit celest`, [i pentru c` ea este cea care îl înva]` dialogul reîntoarcerii la inocen]`, f`r` de care nu se poate vorbi de un dialog cu transcendentul, acesta avînd
loc în inim`. Aceasta în virtutea unui fenomen de cea mai mare importan]`, anume fenomenul
semiotic con[tiin]ial prin care o imagine-arhetip-for]` se insereaz` în codurile fiin]iale ale persoanei care se împ`rt`[e[te din aceste imagini: “Ceea ce vedeam, aceea deveneam, [i era Dum26
nezeiesc ceea ce vedeam” .
Devenirea întru imagine este astfel ontologic structuratoare, omul tr`ie[te fiin]a imaginii
care astfel îi devine organic`, [i deschide un dialog l`untric permanent, un dialog ce nu se
sfîr[e[te cu întreruperea leg`turii cu imaginea-arhetip (ceea ce ar`tam anterior despre calitatea lectur`rii scrierilor lui Hölderlin), ci se prelunge[te în substan]a ontic`, în spa]iul con[tiin]ei
omului în care ea (imaginea-arhetip) este într-un sens eternizat` la nivelul dialogului viu
con[tiin]ial. Desigur c` aceast` imagine-arhetip poate deveni reziduu, în sensul ar`tat de Jung,
dar la Hölderlin intensitatea cu care este tr`it arhetipul fiin]ei celeste (Diotima-Lumina Cuvîntului) nu las` 'vreme' altor imagini 'secunde' s` se suprapun` [i s` îi estompeze energia ontic` ,
ci, dimpotriv`, intensitatea con[tiin]ial` a particip`rii la esen]a vie]ii fiin]ei iubite îl face pe
bard s` devin` el însu[i lumin` dup` chipul Luminii Cuvîntului din care s-a împ`rt`[it, astfel c`
27
el devine con[tient de un adev`r profund tulbur`tor, anume c` “în noi este totul” , aici
v`dindu-se în mod limpede c` Hölderlin a acces prin iubire [i poezie la o tr`ire cre[tin` a realit`]ii, la o tr`ire a cuvintelor biblice rostite de Iisus Hristos: “Împ`r`]ia lui Dumnezeu este
înl`untru vostru” (Luca, 17, 21), ceea ce înseamn` c` în con[tiin]a omului sînt cuprinse toate
limbajele vie]ii, c` omul nu tr`ie[te cu adev`rat decît atunci cînd l`untric se deschide întru
dialogul cu toat` realitatea [i c` întreaga realitate st` întotdeauna gata de a redeschide dialogul închis prin c`dere, omul netrebuind s` fac` nimic altceva decît s` treac` pragul deschiderii
întru fiin]a universal` a dialogului.
26
Hyperion oder der Eremit in Griechenland, pag. 163. “Was ich sah, ward ich, und es war Göttliches, was ich sah”. Vezi
[i Mihai A. Stroe, loc. cit., pag. 21.
27
Ibid. pag. 165. “In uns ist alles”.
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UNGLEICHZEITIGE VERSTEHENSMUSTER
am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
Gabriel Jarnea
„Wo krancke Fantasie, da ist auch krancke Empfindung und krancker Verstand. (...)
Durch treue Anschauung wahrer Darstellungen andrer Seelen kann nur sein Beobachtungsgeist geweckt, seine Aufmercksamkeit geschärft und seine Thatkraft rege
gemacht werden. Noch bin ich auch selbst zu unausgebildet, zu unbestimmt, zu verwirrt in der Wahl der Begriffe und Ideen, als daß ich in der Darstellung deutlicher und
1
glücklicher seyn sollte.“
Es gibt kaum einen anderen Text in der Frühromantik, der so vereinseitigend gedeutet wurde wie Novalis’ Europa-Rede. Die zweihundertjährige Rezeptionsgeschichte dieser Rede vermittelt eher den Eindruck, daß sie von der Germanistik sukzessive verkannt wurde. Werfen wir
kurz einen Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Textes, um die hermeneutische Desynchronisation um 1800 genauer zu erfassen. Das enthusiastische Studieren der „Reden über die
Religion“ Schleiermachers im September 1799 gab Novalis die Anregung zu seinem „Aufsatz
über Katholizismus“, den er zwei Monate später im Jenaer Kreis vorlas. Das breite Spektrum der
2
Reaktionen reichte von Verspottung bis zum ironischen Wohlwollen oder bis zur radikalen
Ablehnung. Als evident unzeitgemäß pro-katholische Begeisterung erweckend, wurde die „Rede“ von den meisten Jenaer Freunden von Novalis abgelehnt. Schleiermacher drückte vorsichtig
in einem Brief an Friedrich Schlegel vom 16. November 1799 seine Enttäuschung aus:
Hardenberg ... hat uns einen Aufsatz über Christenthum vorgelesen und fürs Athenäum gegeben. Du
erhältst ihn mit nächstem selbst, und darum sage ich nichts weiter darüber; ich denke Du wirst Dich
doch dann und wann fast sehr über seine Bewunderung verwundern.(...) Unsere Philironie ist sehr
dafür es auch im Athenäum zu drucken, wenn die Deinige nichts dagegen hat. Doch müssen wirs
3
noch mehr überlegen. Einige ernsthafte Stellen gefallen mir sehr außer den witzigen ...
Dorothea Schlegel bezog allerdings eine deutlichere Position gegen den Druck der Rede:
Ich war von vorne herein sehr dagegen, aber das war eine Stimme in der Wüste. Endlich wollte es
Wilhelm nicht ohne eine Note, die wollte Schelling nicht, Goethe ward zum Schiedsrichter ge4
nommen und der hat es ganz und gar verwor fen! Vivat Goethe!
1
Brief Novalis’ an den Bruder Erasmus, 16. März 1793, KA IV, 117 (Novalis, Kritische Ausgabe, Hrsg. Richard Samuel /
Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz 1975. Die kritische Ausgabe von Novalis’ Werken wird im Folgenden als KA
abgekürzt.)
2
Schellings „Glaubensbekenntnis“ (Heinz Widerporst) sollte ursprünglich mit der Rede Novalis’ gedruckt werden:
„Reden von Religion als einer Frauen, / Die man nur dürft‘ durch Schleier schauen, / Um nicht zu empfinden sinnlich
Brunst, / Machen darum viel Wörterdunst.“
Oder ebenfalls Schellings Spottgedicht: „Drum sollt’s eine Religion noch geben / (ob ich gleich kann ohne solche leben) / Könnte mir von andern allen / Nur die Katholische gefallen.“
3
Brief Friedrich Schlegels an Friedrich Schleiermacher vom 15. Nov. 1799, KA IV, 646.
4
Brief Dorothea Schlegels an F. Schleiermacher vom 9. Dez.1799, KA IV, 648.
Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
Trotz seiner fälschlichen Erinnerung an „die einstimmige Verwerfung“ des Aufsatzes war die
Begründung Ludwig Tiecks aufschlußreicher:
Wir erwarteten daher etwas Bedeutendes zu hören ... Da wir uns, als vertrauten Freunden gegenseitig ein offenes Urtheil zugestanden, wie man es vielleicht selten unter Autoren findet, so ward,
nach geendigter Lesung, dieser Aufsatz einstimmig verworfen, und beschlossen, daß er nicht durch
den Druck bekannt gemacht werden sollte. Wir fanden die historische Ansicht zu schwach und ungenügend (u. Hervorh.: G.J.), die Folgerungen zu willkührlich, und die ganze Abhandlung schwach,
5
so daß sehr leicht die Blößen von jedem Kundigen entdeckt werden konnten.
Als Herausgeber des „Athenäum“ ließ sich August Wilhelm Schlegel von Goethe beraten.
Ich war schon früher dieser Meynung, wurde aber überstimmt und provocierte auf Goethe. Dieser
ist dann sehr in die Sache eingegangen, und hat mit umständlicher und gründlicher Entwicklung
gegen die Aufnahme und für mich entschieden.(...) Überhaupt hat sich Goethe bei diesem ganzen
Handel so herzlich und wahrhaft väterlich gegen uns genommen, daß sein Rath alle Rücksicht verdient, besonders da er eine große Erfahrung in diesem Fache hat, indem er, wie er sagt, sich nun,
6
Gott sey gepriesen! an die dreißig Jahre in der Opposition befindet.
Entscheidend also für die hermeneutische Attitüde des „Athenäum“ für die „Nicht7
Einrückung des Aufsatzes“ waren die „Schwäche der historischen Ansicht“ und die autoritätsbezogene Beratung einer väterlichen Instanz. Diese historisch zentrierte hermeneutische Position war in der vor-schleiermacherschen Hermeneutik dominant und wurde von den Auf8
klärungstheorien Johann Martin Chladenius‘ und Georg F. Meiers beeinflußt. Bezeichnend für
die anti-objektivierende Sehe-Punkt-Theorie Chladenius’ war sowohl die neue Wechselbeziehung zwischen der intentionalen Auslegung und den Textsorten als auch die Scheidung
der hermeneutica sacra von der hermeneutica profana, wobei man die Auslegung als Übersetzung des Unverständlichen (Dunkelheit einer Stelle) ins Verständliche (in den vollkommenen
Verstande) mittels eines angemessenen Instrumentariums definierte. Trotz der inneren Anti9
nomie seiner Theorie gründete Chladenius’ innovativ auf die im hermeneutischen Prozeß miteinbezogene Zweideutigkeit der Wörter eine Vernunftlehre des Poetischen, des Wahrscheinlichen, die zum ersten mal im 18. Jahrhundert die Eigenexistenz des Wortes und das nicht mehr
auf die Autorinstanz rekurrierende Verstehen behauptete. Durch die Sehe-Punkt-Theorie gelang
es Chladenius jedoch nicht, die in der Reformation etablierte historisch-philologische
Hermeneutik zu überwinden, deren Spaltung zwischen dem sensus litteralis und sensus
spiritualis auch der Krise der Aufklärungshermeneutik zugrunde lag. Das Spannungsverhältnis
zwischen dem unmittelbaren Verstand (durch die Aufmerksamkeit des Hermeneuten entspringt
der sensus litteralis dem Text) und der nicht historisch gefaßten Standortgebundenheit des
Subjekts wird schließlich zugunsten des sensus litteralis entschieden. Als nächste Stufe in der
Sehe-Punkt-Theorie erfolgte die relativierende Historisierung der Standortgebundenheit nicht
mehr. Denn die „lebendige Erkenntnis“ wurde nur über dem wirkungspsychologischen Gesichtspunkt und der Unterscheidung der Textsorten erworben. Die nicht gelungene Historisierung des
5
zit. nach. R. Samuel in der Texteinleitung, KA III, 500, nach L. Tieck, Schriften, 1837, S. XXXV.
Brief A.W. Schlegels an F. Schleiermacher vom 16. Dez. 1799, KA IV, 649.
7
Ebd.
8
Johann Martin Chladenius (1710-1759), Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, 1742,
und Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, 1757. Dazu noch Peter Szondi, Einführung in
die literarische Hermeneutik, 1975.
9
Szondi erkannte die Antinomie zwischen dem Allgemeingültigkeitsanspruch und der Unfähigkeit der Auslegung, die
Spezifizität des Auszulegenden zu transzendieren. Sie wurde erst 15 Jahre später in dem Entwurf der generellen Zeichenlehre von G. F. Meier aufgelöst.
6
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241
Gabriel Jarnea
Sehe-Punktes in der Aufklärungshermeneutik veranlaßte nach Ansicht Peter Szondis folgenden
10
chiastischen Schematismus in der vor- und nach-schleiermacherschen Hermeneutik. Die
Aufklärungshermeneutik beruhte auf nur wirkungspsychologisch relativierten aber nicht
historisch relativierten Auslegungsprinzipien und bewirkte daher eine unvermeidliche
Geschichtlichkeit der Erkenntnis. Die post-schleiermachersche Hermeneutik ging von der
11
Historizität der Auslegungsprizipien aus und strebte die überhistorische Erkenntnis an. Weil
die Wahrscheinlichkeitstheorie der Aufklärung theologisch restriktiv bestimmt wurde, verfestigte sich die historisch-philologische Hermeneutik. Allerdings — schrieb Novalis 1798 — sei
die Schwierigkeit des Historikers die, daß er nur „dasjenige deutlich und vollkommen be12
schreiben kann, was er genau kennt.“
Im Jenaer- und „Athenäum“-Kreis überschneiden sich die Geltungsansprüche der Aufklärungshermeneutik und ästhetischen Hermeneutik, so wie dies ansatzweise schon bei
13
Lessing vorhanden war und von Friedrich Schlegel und Novalis in den „Fragmenten“ entworfen wurde. Die Innovation Novalis‘ setzte zuerst auf der Ebene der Textgattung ein, indem
sie die Rede als Gattung neu definierte. Damit knüpfte sie an die Aufklärungstradition der als
14
Reden verfaßten Friedensschriften des 18. Jahrhunderts an, wo eine gewisse Kontinuität und
organische Transformation von Textsorten innerhalb der Aufklärungshermeneutik möglich
gewesen war. In seinem Umdeuten sollte die Gattung Rede nicht mehr der lineare Ausdruck
eines zeithistorisch „vernünftelnden“ Plädoyers sein, sondern der oszillierend dialogische Ausdruck des „inneren Plurals“ des Redners. In seinen „Fragmenten und Studien 1799-1800“
kündigte Novalis seine Rede folgendermaßen an:
In einer wahren Rede spielt man alle Rollen — geht durch alle Charactere durch — durch alle Zustände — nur um zu überraschen — um den Gegenstand von einer neuen Seite zu betrachten, um
den Zuhörer plötzlich zu illudiren, oder auch zu überzeugen. Eine Rede ist ein äußerst lebhaftes, und
geistreiches, abwechselndes Tableau der inneren Betrachtung eines Gegenstandes. Bald frägt der
Redner, bald antwortet er, dann spricht er und dialogirt, dann erzählt er, dann scheint er den Gegenstand zu vergessen, um plötzlich zu ihm zurückzukommen, dann stellt er sich überzeugt, um
desto hinterlistiger zu schaden, dann einfältig, gerührt, muthig — er wendet sich zu seinen Kindern
— Er thut, als ob alles vorbey und beschlossen wäre — bald spricht er mit Bauern, bald mit diesen,
bald mit jenen, selbst mit leblosen Gegenständen. Kurz eine Rede ist ein monologes Drama. (...) Die
ächte Rede ist im Styl des hohen Lustspiels, nur einzeln mit großer Poesie verwebt — Sonst recht
10
Szondi ( Anm.8), S. 14.
Szondi verkennt den ästhetisch-hermeneutischen Ansatz der Frühromantik bei Fr. Schlegel und Novalis. Die Historisierung des Sehe-Punktes erfolgte zuerst bei Fr. Schlegel. Mehr dazu in Willy Michel, Ästhetische Hermeneutik und
frühromantische Kritik: Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken
1795-1801, Göttingen 1982, derselb., Die Aktualität des Interpretierens, Heidelberg 1978, bes. S. 20-22, und Kap. 3.
‚Besserverstehen’, ‚innerer Plural’ und die Ungleichzeitigkeit des Verstehens. Friedrich Schlegels hermeneutische Fragmente., S. 58-71.
12
KA I, 259.
13
Siehe Willy Michel, Die Aktualität des Interpretierens, Kap. 1, Antidogmatische Fiktionsbildung im geschichtsphilosophischen Verstehen. Lessings 'Erziehung des Menschengeschlechts', S. 20-33.
14
Die Rede als Textgattung zwecks unmittelbar politischen Aktualität des späteren 18. Jahrhunderts war schon etabliert. Kant, Zum ewigen Freiden (1795), Friedrich Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796),
Fichte, Zum ewigen Frieden (1796), Görres, Der allgemeine Friede, ein Ideal (1798). In allen diesen Abhandlungen
wurde das Kriegs- und Friedensthema in konkret zeithistorischen Kathegorien gemäß der Aufklärungshermeneutik
diskutiert.
11
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Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
klare, einfache Prosa des gemeinen Lebens — Dialogen Styl. Der Redner muß jeden Ton annehmen
15
können.
Bahnbrechend an der neuen Rededefinition des Novalis war der rollenhafte Charakter der
Rede, die plurale Perspektive in der Betrachtung des Gegenstandes, der „oszillierende Blickpunkt“ des Subjektes. Die Totalität des zu beschreibenden Gegenstandes wird nicht mehr durch
die Objektivierung des vom Autor angelegten Sinnes, sondern durch die dynamische Verwirklichung des Rollenhaushalts des Redners geleistet, wobei sich der Rollenbegriff bei Novalis
16
von der Theatermetaphorik des Barock (Schein-Sein) noch nicht vollständig auflöste. Die
fragmentarische Wahrnehmung des Erkenntnisobjekts wird durch die partielle und oszillierende
17
Rollenübernahme vom Subjekt ersetzt. Der Rollenplural des Subjektes wurzelt gerade in der
Phantasie des Autors. Schließlich war der neue Ansatz nicht mehr objekt-, sondern subjektbezogen. Noch deutlicher kam dieser hermeneutische Bruch in einen polemischen Brief Novalis‘
an den Kreisamtmann Just zum Ausdruck:
Ihre Theologie ist die Theologie des historisch-kritischen Verstandes; dieser sucht eine feste Grundlage, einen unumstößlichen Beweißgrund, und findet ihn in einer Sammlung von Urkunden, deren
Erhaltung allein schon ein bestätigendes Wunder zu seyn scheint und für deren Glaubwürdigkeit
alle historische Beweißmittel und Herz und Vernunft zugleich sprechen — Wenn ich weniger auf urkundliche Gewißheit, weniger auf den Buchstaben, weniger auf die Wahrheit und Umständlichkeit
der Geschichte fuße; wenn ich geneigter bin, in mir selbst höhern Einflüssen nachzuspüren, und mir
einen eignen Weg in die Urwelt zu bahnen; wenn ich in der Geschichte und den Lehren der christlichen Religion die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion
— das reinste Muster der Religion, als historischen Erscheinung überhaupt — und wahrhaftig also
auch die vollkommenste Offenbarung zu sehen glaube; wenn mir aber eben aus diesem Standpunkt
alle Theologien auf mehr und minder glücklich begriffenen Offenbarungen zu ruhen, alle zusammen
jedoch in dem sonderbarsten Parallelism mit der Bildungsgeschichte der Menschheit zu stehn und
in einer aufsteigenden Reihe sich friedlich zu ordnen dünken, so werden Sie das vorzüglichste Ele18
ment meiner Existenz, die Phantasie, in der Bildung dieser Religionsansicht, nicht verkennen.
Für das ästhetische Verstehen Novalis wird der traditionelle Konflikt Religion — Kultur
(auch in der Unterscheidung von hermeneutica sacra — hermeneutica profana zu erkennen) auf
eine innovative Art aufgehoben, indem man das Christentum als symbolisches Vorzeichen einer
Weltreligion und die Bildungsgeschichte der Menschheit als transhistorische Offenbarung
deutet. Das ästhetische Bewußtsein bildet sich schließlich nicht antihistorisch, sondern transhistorisch, indem es sich transitorisch und antidogmatisch einer „sekundären Fiktionsbildung“
19
bedienen kann. Infolgedessen darf die Geschichte als „Reservoir von Hyeroglyphen, die eine
metaphorische Deutung haben“ oder — mit einem anderen Begriff Novalis‘ ausgedrückt — als
„Crystallisation verschiedener Zustände“ verstanden werden. Das Konfliktpotential zwischen
den beiden Deutungsmustern verlagerte sich auf das Verständnis vom ästhetischen Bewußtsein
als antihistorisches (Hegel) oder transhistorisches (Schlegel und Novalis) Phänomen. Durchgesetzt hat sich die Hegelsche Deutung des ästhetischen Bewußtseins als antihistorische Zeitaufhebung und sie wirkte normativ in der Rezeptionsgeschichte der Europa-Rede. Selbst der spä15
KA,III 649, Fragm. 547.
Mehr zu Rollenbegriff und gleichzeitig als Einleitung in die Rollentheorie siehe Ralf Dahrendorf, Hommo sociologicus, 1957.
17
KA IV, 122, Brief Novalis an den Bruder Erasmus im August 1793 („Mein Wesen besteht aus Augenblicken. Will ich
diese nicht ergreifen mit männlicher Hand, so bleibt mir nichts übrig als eine unerträgliche Vegetation.“)
18
KA IV, 271/72, Brief von Novalis an den Kreisamtmann Just in Tennstedt vom 26. Dec. 1798.
19
Willy Michel hat die regulative Funktion der sekundär Fiktionsbildung für das ästhetische Verstehen am Beispiel
Lessings, Erziehung des Menschengeschlechts verdeutlicht. (siehe Anm. 13)
16
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Gabriel Jarnea
tere Friedrich Schlegel warf nach seiner Bekehrung (1808) Novalis vor: „ein halbes Jahrhundert
20
haben sich die Geister der Deutschen in eine bloß ästhetische Ansicht der Dinge verloren.“
Zwanzig Jahre später, zur Restaurationszeit, wiederholte F. Grillparzer (1828) denselben Vorwurf: „Romantiker haben ihre bild- und begrifflose Ahnungsfähigkeit zur Vergötterung des
21
Dilettantismus gemacht“, und erklärte es zum „Unglück der Nation“.
Wilfried Malsch erkannte die wichtigsten Rezeptionsphasen der Europa-Rede im 19. und
20. Jahrhundert. Die erste Phase gehört seiner Auffassung nach der katholisch-religiösen Deutung. Die Stellungnahme August Wilhelm Schlegels war repräsentativ für die Generation um
1800. Rudolf Haym sah in der Europa-Rede eine „Verherrlichung des mittelalterlichen Katholi22
zismus mit seiner Hierarchie und seinem Glaubenszwang“. Er verglich die Christenheitsvorstellung des französischen Ancien régime mit dem philosophischen Christentum der deutschen
Idealisten, deren emblematische Vertreter er in Joseph de Maistre und Novalis sah. In der politisch-restaurativen Rezeptionsphase wurde die Rede eher als „Gegenentwurf gegen die franzö23
sische Revolution und gegen den Machiavellismus neuzeitlicher Realpolitik“ gedeutet. Diese
Position bestand bis in die 1960er Jahre, als die Europa-Rede noch für eine „eminent politische
24
Schrift — ja geradezu für die politische Schrift der deutschen Romantik!“ gehalten wurde. Im
Zuge der Romantik-Renaissance in den 1960er Jahren betrachtete Wilfried Malsch die EuropaRede als mimetische Anwendung der Kierkegaard’schen Denkfigur Entweder-Oder im wechsel25
wirkenden sozialen und existentiellen Eschaton. Dilthey bemerkte, vielleicht als erster im
20.Jahrhundert, die Europa-Rede sei das erste Dokument des Überganges von der historischen
Anschauung eines vorübergehenden Zustands mit regulativer Funktion. In der unhistorischen
26
Anschauung spiegelt sich die Religion einer pantheistischen Verklärung der Welt wieder.
Hans-Joachim Mähl erkannte, die Europa–Rede ließe sich nur durch kreatives Lesen, Re27
interpretieren und Selbstdistanz des Interpreten von der eigenen Interpretation verstehen.
Nicolas Saul sah in der Rede eher den Versuch Novalis‘, zwischen dem Geschichtsbild von Kant
28
und Schiller zu vermitteln. Während für Kant und alle Aufklärer das teleologische Geschichtsmuster eine normative Funktion hatte, lehnte Schiller jedes einheitliche Geschichts29
muster ab, denn die reale und ideale Wirklichkeitsebene seien unversöhnlich. Novalis, der
Auffassung Saul nach, suchte ebenfalls eine idealistische Lösung in der Geschichte, indem er
von der „lectia historica“ zwecks einer Synthese zwischen den historischen Fakten und dem
postulierten Ideal sprach. Die Rezeptionsgeschichte Novalis‘ im 19. und 20. Jahrhundert ist eher
durch die Wirkungsgeschichte ungleichzeitiger hermeneutischer Ansätze der Aufklärung, Frühromantik bzw. Romantik zu verstehen. Angelangt an diesem Punkt der mißlungenen „Horizont20
Heidelbergisches Jahrbuch für Literatur, Philosophie, Historie und Kunst, Jg. 1 (1808), S. 206-241, hier S. 207.
zit. nach Erich Heller, Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Merkur 35II (1981), 1034-1044, hier S. 1036.
22
Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, 1870, S. 466
23
H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte,
Teil III: Frühromantik, 1959, S. 330.
24
Claus Träger, Novalis und die ideologische Restauration. Über den romantischen Ursprung einer methodischen
Apologetik. In: Sinn und Form, 13 (1961), S. 618-660.
25
Wilfried Malsch, Europa Poetische Rede des Novalis, 1965, S. 28-30.
26
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1988, S. 245-247.
27
Hans-Joachim Mähl, Novalis und Plotin: Untersuchungen zu einer neuen Edition u. Interpretation des Allgemeinen
Brouillons. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 1968, S. 139-250.
28
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; Friedrich Schiller, Was heißt und
zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte.
29
Fr. Schiller, Über das Erhabene, Sämtliche Werke V, S. 803-808.
21
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Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
verschmelzung“ wende ich mich den wichtigsten denkfiguralistischen Musternund deren
Funktionin der Europa-Rede.
*
Die Ausgangsfrage könnte folgendermaßen formuliert werden: Warum bediente sich Novalis einer Vergangenheitsprojektion für eine Zukunftsvision? Die Rede Novalis fiel in eine Zeit,
wo sich zwei ideographisch — utopische Schematismen überschnitten, der vergangenheitsorientierte einerseits, und der zukunftsorientierte Schematismus der Fortschrittsideologie der
Aufklärung andererseits.
Der rückwärts orientierte Schematismus bildete sich schon in der Antike (Hesiod, Ovid)
heraus und beruhte im wesentlichen auf einer geschichtsentelechischen Weltanschauung.
Diesem Muster gemäß reduziert sich jeder geschichtliche Prozeß auf zwei Grundbewegungen
(incrementa et decrementa). Alle Reformbewegungen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert
rekurrierten auf dieses duale Geschichtsschema, indem sie ein restauratives Urchristentum
anstrebten. In der Zeit der Aufklärung faßte man immer nochdie Geschichte nach diesem vereinfachten Dualismus auf. Einige Buchtitel waren ja symptomatisch für diese Denkrichtung: E.
Gibbons, Decline and Fall of the Roman Empire (1776-1788) oder Demetrius Cantemir, Incrementa atque decrementa aulae othomanicae (1714-1716). Entscheidend für dieses Geschichtsmuster war die zyklische Zeitvorstellung, die referenzial und oft restaurativ auf ein mythisches
in illo tempore rekurriert. Die Zeitaufhebung erfolgte durch die rituale Regression in die mythische Zeit, die absolute Zeit. Entsprechend diesem entelechischen Geschichtsverständnis folgte
auch die hermeneutische Praxis. Die auf die Autorabsicht zirkularorientierte Hermeneutik besteht im Grunde aus der Objektivierung des vom Autor angelegten Sinnes und strebte die Abschaffung der Distanz Autor — Leser durch historisch-philologische Vermittlung des Ur30
gedankens des Autors an. Die Wahrheit des Textes reduziert sich schließlich auf die durch
philologisch-historisch hergestellte Korrespondenz zwischen der Autorabsicht und dem Leser.
Dabei ist die Zeitaufhebung in der Form der Abkoppelung der Wirkungsgeschichte eines Textes
nicht zu verkennen.
Der linear zukunftsorientierte Schematismus, der schon im althebräischen und christlichen
Messianismus vorhanden war, wurde durch die Fortschrittsideologie der Aufklärung wieder
aufgegriffen. Seine säkularisierte und antidogmatische Formulierung war die Schrift Lessings
„Erziehung des Menschengeschlechts“ (1777), die von Novalis minutiös einstudiert wurde.
Lessing übertrug das organologische Denken von der Pädagogik auf die Geschichtsentwicklung,
und überbrückte dadurch auch das chiliastische Denken mit dem triadischen Geschichtsschema
der Romantik analog zu den Zeitaltern der Elementarbücher. Neu dabei war allerdings die Dynamisierung der Zukunft, und, dass jedes Zeitalter schon „im Keim“ im vorhergehenden Zeitalter sich voraus andeutet. Das Goldene Zeitalter war nicht mehr eine Vergangenheits-, sondern
eine Zukunftsprojektion.
Zwei Muster standen auf diese Weise in einer auffälligen Ungleichzeitigkeit. Dem Rousseauschen rückwärts orientierten Kulturprogramm wurde durch Lessing eine zukunftsorientierte
Geschichtsauffassung entgegengestellt. Beide Muster bauten sich allerdings auf die regulative
Idee des goldenen Zeitalters, in welcher sich die Suche nach einem einheitlichen Prinzip in der
Weltgeschichte verbarg. Die Jenaer Freunde Novalis‘ erlebten die akuteste Phase der Ungleichzeitigkeit der beiden Muster. Sie waren Fortschrittsdenker, nahmen an den aufblühenden Wissenschaften aktiv teil, viele von ihnen waren begeisterte Revolutionäre und standen in Verbindung mit den modernsten Strömungen Europas, ihr ästhetisches Verstehen aber unterlag
30
vgl. Szondi, (Anm. 8), S. 18-19.
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einer historisch-philologisch bestimmten Hermeneutik. Der Gegensatz der beiden Modelle
wurde oft von Schlegel und Novalis mit theologischen Kategorien in ihrem Briefwechsel
thematisiert, indem sie eine synthetische Lösung anstrebten. F. Schlegel schrieb:
Ich stimme Dir bei, daß das Christenthum eine Religion der Zukunft ist, wie die griechische eine der
Vergangenheit, schon bei den Alten selbst. Aber ist sie nicht noch mehr eine Religion des Todes, wie
die classische eine Religion des Lebens?(...) Vielleicht bist Du der erste Mensch in unserm Zeitalter,
der Kunstsinn für den Tod hat. Ich glaube, daß das Christenthum sich eben deßwegen, und weil Tod
31
und Leben eins sind, sich mit dem äußersten Realismus behandeln ließe.
Die Ungleichzeitigkeit der beiden Modelle zu überwinden, schien die Absicht der Rede Novalis zu sein, indem er eine Synthese von Denkfiguren des rückwärts orientierten und Lessings
teleologischen Geschichtsmustern anstrebte. Die Aufgabe dieser Synthese schrieb er dem neuen
Christentum zu:
Deine Meynung von der Negativität der Christlichen Religion ist vortrefflich — das Christenthum
wird dadurch zum Rang der Grundlage — der projectierenden Kraft eines neuen Weltgebäudes und
Menschenthums erhoben. (...) Annihilation des Jetzigen — Apotheose der Zukunft — dieser eigentlichen bessern Welt, dies ist der Kern der Geheiße des Christenthums — und hiermit schließt es sich
an die Religion der Antiquare — die Göttlichkeit der Antike — die Herstellung des Alterthums, als der
2te Hauptflügel an — Beyde halten das Universum, als den Körper des Engels, in ewigen Schweben
32
— in ewigen Genuß von Raum und Zeit.
Im ästhetischen Verstehen des Novalis kann man die Geschichte als Ganzes betrachten,
dessen Periodisieren nicht mehr möglich ist. Die Zukunft kann aus der Vergangenheitsperspektive, und die Vergangenheit aus der Zukunftsperspektive betrachtet werden:
33
... die Antiken sind zugleich Produkte der Zukunft und der Vorzeit.
Der imaginäre Vermittler zwischen den verschiedenen Zeitstufen ist eine individualisierte
34
und messianische Figur, bald auf einen Monarchen , wie in „Glauben und Liebe“ (1798), bald
auf den Papst, wie in der Europa-Rede, projiziert. Die Funktion dieser ästhetischen Übertragung
war nicht die Vermittlung historischer Wirklichkeit, sondern die Bildung eines „allgemeinen
DivinationsSinns“ in einem geschichtsphilosophischen Diskurs.
Die Philosophie ist von Grund aus anthihistorisch. Sie geht vom Zukünftigen, und Nothwendigen
nach dem Wircklichen — Sie ist die Wissenschaft des allgemeinen DivinationsSinns. Sie erklärt die
35
Vergangenheit aus der Zukunft, welches bey der Geschichte umgekehrt der Fall ist.
Der Divinationssinn ermöglicht dem Einzelnen eine neue Zeitauffassung, dessen mathematischer Ausdruck lautet: „Die Gegenwart ist das Differenzial der Funktion der Zukunft und Ver36
gangenheit.“ Die „Zeitaufhebung“ bedeutet also nicht die Aufhebung der Gegenwart, sondern
31
KA IV, 525, Brief Fr. Schlegels an Novalis, März 1799.
KA IV,273/74, Brief Novalis' an Friedrich Schlegel vom 20. Jänner 1799.
33
KA III, 248, Fragm. 52.
34
KA IV, 493, Brief Friedrich Schlegels an Novalis vom 28. Mai 1789 („ Mit Deinen Ideen über Monarchie bin ich im
Wesentlichen im Ganzen vollkommen Eins. Du hast dadurch eigentlich etwas neues in mir angeregt, nämlich schon
durch die Idee des Repraesentanten im Blüthenstaub.(...) Es kann Dir vielleicht interessant seyn zu wissen, daß ich
jetzt auch mit Deiner Mittlertheorie im Prinzip einig bin...“).
Eine Projektionsfigur war Friedrich Wilhelm III., Novalis bei dessen Thronbesteigung am 16. Nov. 1797 eine Ode und
die Schrift „Glauben und Liebe“ widmete.
35
KA III, 464, Fragm. 1061.
36
KA III, 475, Fragm. 1132.
32
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Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
„das Verstehen der Geheimnisse der Zeit“, ein Attribut des Messias. Den Messias-Gedanken griff
Novalis in verschiedenen Zusammenhängen wiederkehrend auf.
Wenn irgend jemand zum Apostel in unserer Zeitsich schickt, und geboren ist, so bist du es. Du
wirst der Paulus der neuen Religion seyn... Du verstehst die Geheimnisse der Zeit. Auf Dich hat die
Revolution gewirckt, wie sie wircken sollte. Oder du bist vielmehr ein unsichtbares Glied der heili37
gen Revolution, die ein Messias im Pluralis, auf Erden erschienen ist.
Halten wir die doppelte Bedeutung der Messiasfigur fest: der Vermittler eines zeitgemäß
ästhetischen Verständnisses verschiedener historischer Zeitstufen einerseits und das Symbol
des „inneren Plurals“ des Individuums andererseits. Der Übergang von der geschichtlichen zur
ästhetischen Betrachtung und schließlich zur psychologischen Vermöglichung des Individuums
wird in der „Messias im Pluralis“ -Figur dargestellt. Dasselbe Motiv „des Messias im Pluralis“
wird in der Europa-Rede erneut aufgegriffen:
Noch sind alles nur Andeutungen, unzusammenhängend und roh, aber sie verrathen dem historischen Auge eine universelle Individualität, eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste
Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gottes, und das innige Empfäng38
niß eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich.
Indem man die Zeitstufen in der geschichtlichen Entwicklung auf der Ebene des ästhetischen Bewußtseins oszillierend betrachtet, entwickelt sich der „innere Plural“ des Betrachters.
Durch Ästhetisierung des Geschichtlichen und historische Verwirklichung des Psychologischen
wird der „innere Plural“ des Subjekts vermöglicht. Aus dieser Perspektive legitimiert sich der
Entwurf einer transzendentalen Topologie des goldenen Zeitalters durch anamnetische und
39
prospektive Geschichtsbetrachtung in der „geistigen Gegenwart“.
Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung, oder Vorstellung der Zukunft. Die gewöhnliche
Gegenwart verknüpft beyde durch Beschränckung — Es entsteht Contiguitaet, durch Erstarrung —
Crystallisation. Es giebt aber eine geistige Gegenwart (Hervorhebung durch G.J.) — die beyde durch
Auflösung identificiert — und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters. Nicht
Geist ist Stoff.(124) Die Vorstellung der Vorzeit ziehn uns zum Sterben — zum Verfliegen an — die
Vorstellung der Zukunft — treiben uns zum Beleben — zum Verkörpern, zur assimilirenden Wirck40
samkeit. Daher ist alle Erinnerung, wehmüthig — alle Ahndung, freudig.
Die Geschichte erzeugt sich selbst. Erst durch Verknüpfung der Vergangenheit und Zukunft entsteht
sie. Solange jene nicht festgehalten wird durch Schrift und Satzung, kann diese nicht nutzbar und
41
bedeutend werden. Die Menschen gehen viel zu nachlässig mit ihren Erinnerungen um.
Das Konzept der „geistigen Gegenwart“ wurde zum ersten Mal in der Ästhetik des Empirismus von Henry Home of Kames (ideal presence) benutzt, dessen Werk Novalis kannte. Das Werk
Henry Home of Kames wurde erst nach 1780 von den deutschen Aufklärern, besonders in der
Göttinger Schule, groß rezipiert. Der englische Empirist erkannte die Bedeutung der „emotions
37
KA III, 493.
KA III, 519.
39
Nicolas Saul, Novalis 'Geistige Gegenwart' and his Essay 'Die Christenheit oder Europa'. In: The Modern Language
Review 77 (1982), S. 361-377. Der englische Germanist weist die Überlieferungslinie von Novalis' Begriff „geistige
Gegenwart“ (KA II, 468/69, Fragm. 123-124) von Henry Home of Kames, Elements of Criticism, (1762), dt. „Grundzüge
der Kritik“ (1763-66), übers. von Johann Nikolaus Meinhard, nach.
Zum Einfluß Henry Home of Kames auf die deutsche Romantik siehe Leroy D. Shaw, Henry Home of Kames: Precursor
of Herders. In: Germanic Review 35 (1960), S. 16-27.
40
KA II, 469/70, Fragm. 123-124.
41
KA IIII, 648, Fragm. 541.
38
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caused by fiction“, indem er als „our recall of a complete idea of memory ; there is no past or
future more“ erklärte. („idea“ bedeutete „a state of mind“). Für Kames „Works of art create a
42
state of mind analogous to the recall of a complete idea of memory.“ Kames stellte schließlich „the ideal presence“ als „waking dream“ dar. Das Konzept Kames‘ der „geistigen Gegenwart“ beschleunigte die Entdogmatisierung bei gleichzeitiger Psychologisierung der Theorie des
Wahrscheinlichen in der deutschen Frühromantik. In der Theorie des Chladenius in den 1740er
Jahren lag schon der erste Ansatz zur Psychologisierung der Theorie des Wahrscheinlichen,
allerdings ohne einen bedeutsamen antidogmatischen Charakter vor. Das Wahrscheinliche war
für Chladenius weiterhin dem theologisch Möglichen unterlegt. Die Wirkung Kames auf Novalis
war eine fortschreitende Entdogmatisierung des Wahrscheinlichen und gleichzeitig dessen
Dynamisierung. Bei Kames fand Novalis Anklänge für sein Konzept der „intellectualen An43
schauung“.
Der Zukunftsentwurf Novalis in der Europa-Rede realisiert sich durch die Übernahme von
Denkfiguren aus dem rückwärts orientierten Schematismus des utopischen Repertoire. Er war
erst nach der Säkularisierung und Entdogmatisierung des Wahrscheinlichen und nach der Entstehung eines ästhetischen Konzeptes der „geistigen Gegenwart“ möglich. Während die durch
Henry Home of Kames beschleunigte Entdogmatisierung des Wahrscheinlichen, die ansatzweise
schon bei Lessing zu erkennen war, sehr anregend auf Novalis wirkte, wurde das ästhetische
Konzept der „geistigen Gegenwart“ im Athenäum-Kreis verkannt. Zwei hermeneutische Positionen bestimmten das Verstehen der Europa-Rede sowohl im Jenaer Kreis als auch in der Rezeptionsgeschichte bis ins 20.Jahrhundert:die philologisch-historische Position, die der Tradition
gemäß auf ein sensus litteralis rekurrierte, und die Position eines geschichtsphilosophisch bestimmten ästhetischen Verstehens, das sich im Sinne der frühromantischen progressiven Poetik
antidogmatisch verwirklichte. Die beiden Positionen waren unvereinbar.
Die Zukunftsvision der Rede baut auf einer Vergangenheitsprojektion auf, die transhistorisch reflektiert wird. Im Unterschied zum Hegel‘schen antihistorischen Begriff von
Zeitaufhebung im ästhetischen Bewußtsein wird die Zeitaufhebung bei Novalis durch das
tiefere Verstehen des Geschichtlichen, durch die innere Teilnahme des Subjekts an das
Geschichtliche erreicht. Nicht die antihistorische Stimme bestimmt die Reflexion Novalis über
die geschichtlichen Prozesse, sondern eine Stimme, die zum Teil das Historische ästhetisch
umdeutet und es auf der Ebene des geschichtsphilosophischen Diskurses umfunktionalisiert.
Der geschichtsphilosophische Charakter der Rede wurde selten beachtet. Obwohl sich Novalis
des Repertoire von Figuralismen des utopischen Denkens bediente, kann die Rede nicht als
utopischer Text gelesen werden. Die Figuralismen des utopischen Repertoire wurden im
geschichtsphilosophischen Diskurs instrumentalisiert. Betrachten wir nun genauer, wie die
Zukunftsvision im Text konstruiert wird.
Der Zukunftsentwurf Novalis' entspringt einer einheitlichen Geschichtsauffassung, die auf
die Vergangenheit projiziert wird. Sie unterscheidet sich radikal von dem der französischen
Aufklärung, die auf streng-rationalistischer Einteilung („das dunkle Mittelalter“) und Periodisieren der Geschichte beruhte. Polemisiert wird also nicht gegen die französische Deutung des
Mittelalters, sondern gegen ein mechanistisches Kulturmuster.
Das einheitliche Geschichtsmuster bei Novalis wird projektiv als soziale Kohäsion, institutionelle Effizienz und organologisches Verständnis der Geschichte und des Individuumskonstruiert. Ein eher antikatholisches Programm der Rede setzt schon im ersten Abschnitt ein,
42
43
zit. nach Nicolas Saul ( Anm. 39), S. 34.
KA II, 561, Fragm. 173 („In der intellectualen Anschuung ist der Schlüssel des Lebens.“)
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Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
indem sie die drei wichtigsten Funktionen der Kirche säkularisierend darstellt, nämlich die
soziale, die politische und ethisch-moralische Funktion. Der sozialen Universalität (Katholizität)
der Kirche wird die Zunft-Vision entgegengestellt, („Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den
Zutritt hatte...“). Der politischen Universalität der Kirche wird die Vision des säkularen Aufklärungskosmopolitismus des 18. Jahrhunderts, „der eigentlichen vaterländischen Welt“, entgegengestellt. Hinzu kommt noch ein drittes Relativieren, nämlich das moralische, indem man
das ethisch-moralische Vokabular säkularisiert. Die „Sünde“ verliert ihre theologischmetaphysische Bedeutung und wird zum „Fehltritt“ und als „mißfarbige Stelle des Lebens ausgelöscht“. Dieses soziale, politische und moralische Relativieren der Kirche auf der Diskursebene
löst das monolitische und monozentrische Europakonzept des 18. Jahrhunderts aus, wo „Europa
ein christliches Land war“, zur pluralen Europa-Gestalt. Die institutionelle Hierarchie, die auf
der „wohlthätigen Macht“ des Papstes beruhte, stellt nur den Ausgangspunkt einer
dynamischen Entwicklung zur pluralen Machtauffassung dar, die sich in der Zukunft Europas
(„Messias in Pluralis“) verwirklichen kann. Es handelt sich dabei um eine Doppelbewegung in
der Zukunftsvision Novalis‘: eine eksoterische und eine esoterische Bewegung. Die eksoterische
Bewegung realisiert sich durch das Relativieren und die Ausdehnung der drei Funktionen des
monolitischen Machtzentrums und die Bildung einer plurizentrischen Welt. Die Bildung einer
plurizentrischen Welt wird allerdings im zweiten Teil der Rede thematisiert. Im ersten Abschnitt
wird dieser Prozeß nur angedeutet; denn sie steckt schon, gemäß dem organologischen Denken,
im Keim und schlummert in der geschichtlichen Entwicklung. Der erste Abschnitt handelt anfangs von „der Einen Christenheit“, von „Europa als christliches Land“ und dehnt sich, nach
„mannigfaltigen Bedürfnissen“ und „mannifachen Segen“ des Individuums, zu einer universellen
Welt, nach dem Kosmopolitismusvorbild der französischen Aufklärung aus. Das zweite Abschnitt der Rede handelt von der esoterischen Bewegung. Man erreicht das Universelle nicht
durch die Abkoppelung des Individuellen, sondernindem man das Individuelle innerlich überholt
und erlebt.
Man kann an dieser Doppelbewegung wichtige psychohistorische und ethnohistorische
Kulturentwicklungen festhalten. Während die französische Aufklärung auf eine eksoterische
Entwicklung beruhte (die Lichtmetaphorik war das wichtigste Figuralismus-Repertoire der
Aufklärung!), die ihre höchste Erfüllung in der Politik (die Französische Revolution) fand, entwarf Novalis eine Zukunftsvision auf esoterischer Basis, in der Tradition des organologischen
Denkens, dessen Erfüllung im deutschen Bereich in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts angesiedelt war. „Friede“ und Erhaltung „des heiligen Sinns“ — das aktuellste Thema in der
Europa-Debatte um 1800 — wurden in der französischen Aufklärungstradition politisch,
während im deutschen organologischen Denken pädagogisch ausgelegt. Das organologische
Denken, das die deutsche Geistesgeschichte in den letzten 200 Jahren tiefgreifend bestimmte,
führte zu einer neuen Bewertung des Ganzheitsanspruchs des Erlebnisses und des
existenzphilosophischen Figuralismus. Der Totalitätsanspruch des Erlebnisses wird in der Rede
auf die synästhesische Darstellung von mittelalterlichen Kirchen übertragen:
Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönsten Versammlungen in den geheimnißvollen Kirchen,
die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt, und von heiliger erhebender
44
Musik belebt waren.
Der sakralen Erlebnis Poetik, als individuell-innerliche Erleuchtung und Pendant zum französischen politischen Aufklärung der Gemeinschaft, wurde eine beachtliche Rolle in den mei-
44
KA III,507, Christenheit oder Europa. Ein Fragment ( weiterhin abgekürzt als Ch.o.E.)
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45
sten deutschen Literaturgeschichten des 18. bis 20. Jahrhunderts zugeschrieben. Ihr wird bei
Novalis eine neue Funktion, nämlich eine kulturanamnetische Funktion zugewiesen. Der synchronen synästhesisch aufgefaßten Totalität des Kirchenerlebnisses wird die diachrone Totalität
des Sakralen durch die Verehrung von heiligen Reliquien entgegengesetzt.
In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen
Behältnissen aufbewahrt. Und an ihnen offenbahrte sich die göttliche Güte und Allmacht, die
mächtige Wohlthätigkeit dieser glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. (...)
Man sammelte mit inniger Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder
46
pries sich glücklich der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte.
Indem man dem Sakralen die totale kulturanamnetische Funktion zuspricht, entdeckt man
einen einheitlichen Raum für das Selbstverständnis des Individuellen in seinem geschichtlichen
Werden. Das Sakrale ist nicht nur das Mittel für die ganzheitliche Kulturanamnese, sondern es
wird ihmauch eine existenzphilosophische Funktion zugeschrieben, indem es das „Frieden der
Seele“ und „die Gesundheit des Leibes“ hervorruft und das Individuum „bis an den wiedervereinigenden Tod“ begleitet. Sowohl die synchrone als auch die diachrone Totalitätsauffassung
haben an dem künftigen Europa Anteil. Das künftige Europa allerdings ist ein Europa des inneren Menschen. Sein Gedeihen in der unmittelbaren Gegenwart aus dem historischen Stoff kehrt
leitmotivisch nicht nur in der Europa-Rede, sondern auch in den „Fragmenten“ wieder.
Sonderbar, daß das Innre des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt
worden ist. (...) Wer weiß welche wunderbare Vereinigungen, welche wunderbare Generationen uns
47
noch im Innern bevorstehen.
Wenden wir uns kurz dem Innerlichkeits-Figuralismus und dessen Funktion in der EuropaRede zu. Die Eingangspartie der Rede behandelt eine projizierte „harmonische Entwicklung“
vom Innen- und Außenmenschen aus.
Wie wohlthätig, wie angemessen, der inneren Natur der Menschen diese Regierung, diese Ein48
richtung war, ...
Aufgebaut nach dem Mechanismusmuster ist die Innen- und Außenwelt in der Anfangsphase der kulturellen Entwicklung in einer der statisch-monozentrischen und entelechischen
Weltanschauung entsprechenden Harmonie verbunden. Die ersten zwei Abschnitte der Rede
stellen diese Phase der Einheit ausführlich dar. Sie kennt „diese innere große Spaltung, die
zerstörende Kriege begleiten“ und schließlich die Trennung zwischen der ontologischen und
gnosseologischen Reflexionsebene nicht. Der Innen- und Außenmensch werden durch ein
„Band“ verbunden, das von den Europäern „als Trug und Wahn ausgeschrien und später zerrissen wurde“. Ab dem dritten Abschnitt wird die gegenwärtige Entfremdungsphase der
europäischen Kultur dargestellt. Sie beruht im wesentlichen auf die Beschädigung des Sinnes
des Unsichtbaren durch die Schädlichkeit der Kultur, so daß „keine Zeit zum stillen Sammeln
49
des Gemüths, zur aufmerksamen Betrachtung der inneren Welt übrig bleibt.“ In der
eksoterischen Bewegung der traditionellen Kultur entstand die Zwiespältigkeit zwischen
Glauben und Liebe einerseits, und Wissen und Haben andererseits. Die Entfremdung ist
45
Siehe dazu die unübetroffene Arbeit von Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland
(1961).
46
Ch.o.E., 508.
47
Fragmente und Studien 1799/00, Fragm. 138., KA III, 574.
48
Ebd., S. 509.
49
Ebd., S. 509/510.
250
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
allerdings nur eine transitorische Phase, denn „wir haben mit Zeiten und Perioden zu thun, und
50
ist diesen eine Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen nicht wesentlich?“
In den oszillierenden Entwicklungsprozessen, durch Wachstum und Abnehmen, die ihrerseits eine Auferstehung und Verjüngung hervorrufen, zeichnet sich die durch unzählige Ver51
wandlungen tüchtige Gestalt des künftigen Menschen ab. Das ist vielleicht der Kerngedanke
der Pädagogik Novalis, der auch in seinem Journal leitmotivisch immer wieder aufgegriffen
wird:
Ich muß schlechterdings suchen Mein bessres Selbst im Wechsel der Lebensszenen, in den Veränderungen des Gemüths behaupten zu lernen. Unaufhörliches Denken an mich selbst, und das, was
52
ich erfahre und thue.
Das oszillierende Betrachten verbindet die Innen- und Außenwelt und wird auf die Reflexionsebene über Religion und Politik übertragen. Die Politik als Feld der eksoterischen Prozesse
ist die Außenbühne, auf welcher sich die Spaltungsprozesse in der Geschichte abspielen. Auf sie
wird die Vereinzelung der Europäer zurückgeführt. Sie begründete in der französischen Aufklärungstradition eine horizontale Metaphysik und bewirkte schließlich sogar die Atomisierung
des „heilligen Sinns“ sogar. Sie verwandelte die religiöse Geographie in eine politische Geographie Europas. Die vertikale Machtauffassung im einheitlich entelechischen
Geschichtsmuster wird auf der Reflexionsebene der Politik durch eine horizontale Metaphysik
des Pluralen ersetzt, die aber nicht tragfähig für den „heiligen Sinn“ ist. Ihr und ihrer
„Revolutions-Regierung“ entsprang das individualisierende Prinzip der Christenheit. Sie
verwandelte den Universalstuhl in einen Thron. Auf der anderen Seite aber gibt es auch eine
Bühne des Innenmenschen, die sich auf derEbene des religiösen Erlebens verwirklicht. Der
Religion liegt, gemäß dem organologischen Denken, die „organische Sehnsucht nach
53
unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer“ zugrunde. Sie ist die Gestalt der Ganzheit des
Geschlechtes und hat eine integrative Funktion auf das Individuelle auszuüben.
Alles Einzelne für sich hat ein eigenes Maaß von Fähigkeit, nur die Capacität des Geschlechts ist
54
unermeßlich.
In der Religion liegt ebenfalls ein Individuationsprinzip, welches allerdingsverschiedener
Natur im Vergleich zur politischen Individuation der Außenwelt ist. Sie bedient sich der Außenwelt und deren transitorischen Anarchie, um ihre Fähigkeit zur Irritabilität des Individuellen
zu fördern. Sie kann bei vereinseitigenden und reduktionistischen Abläufen auf der Außenbühne der Geschichte ihre transitorische Funktion verlieren. Dem religiösen Sinn war diese
55
Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet, wie der Buchstabe. In
seinen Reflexionen über das Brownische System deutete Novalis die „Irritabilität“, gemäß seiner
oszillierenden Betrachtungsweise und chiastischen Verbindungen auf der ontologischen
Reflexionsebene folgendermaßen:
50
Ebd., S. 510.
Ebd., S. 510.
52
Novalis, Journal vom 18. April bis 6. Juli 1797, KA IV, 40.
53
Ebd., S. 513.
54
Ebd., S. 514.
55
Ebd., S. 512.
51
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
251
Gabriel Jarnea
Sthenie ist Entzündung. Asthenie — Paralyse. Aller Entzündung folgt indirecte Asthenie sowie aller
Asthenie indirecte Sthenie. Reiz ist vermehrtes Daseyn — Erhöhung und Vermehrung der sinnlich
56
unterscheidbaren Wircksamkeit.
Alle Abläufe in der Außenwelt finden einen Rückbezug in der ontologisierend aufgefaßten
Innenwelt, denn „der Kunstsinn leidet sympathetisch mit“. Die Entfremdung in der Geschichte
erklärt sich bei Novalis durch das Vereinseitigen und die Reduktion von makrohistorischen
Entwicklungen auf der Außen- oder Innenperspektive. Auf der psychologischen Ebene wird sie
allerdings als eine „Selbstfremdmachung“ umgedeutet. Sie hat einen transitorischen Charakter
und übt eine anagogische Funktion für die Ich-Bildung und Vermöglichung des Individuellen
aus, die der neuen Schöpfung des künftigen Europäers vorausgeht.
Wir verstehen natürlich alles Fremde nur durch Selbstfremdmachung — Selbstveränderung —
Selbstbeobachtung. Jetzt sehen wir die wahren Bande der Verknüpfung von Subjekt und Objekt —
sehn, daß es auch eine Außenwelt in uns giebt, die mit unserm Innern in einer analogen Verbindung, wie die Außenwelt außer und mit unserm Äußern und jene und diese so verbunden sind,
57
wie unser Innres und Äußeres.
58
Im Ichbildungsprozeß liegt offensichtlich eine duale Bewegung von Systole und Diastole ,
„Zueignung“ und „Selbstfremdmachung“, ein dialektisches Verhältnis zwischen Innen- und
Außenperspektive.
Selbstentäußerung ist die Quelle aller Erniedrigung, so wie im Gegentheil der Grund aller ächten Erhebung. Der erste Schritt wird Blick nach Innen, absondernde Beschauung unsers Selbst. Wer hier
stehn bleibt, geräth nur halb. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach Außen, selbstthätige,
59
gehaltene Beobachtung der Außenwelt seyn.
*
Während sich auf der Außenbühne die Vereinzelung der Welt und die Entfremdung des Individuums abspielt, vollzieht sich auf der Innenbühne durch die Selbstfremdmachung und
Selbstbeobachtung eine höhere Synthese des Ganzen. Die Geschichte spielt sich auf zwei Ebenen ab, der Innen- und der Außenbühne, aus deren Synthese sich das Individuelle ernährt, denn
„der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durch60
dringen — ist er in jedem Punkte der Durchdringung“. Ein Modell der Durchdringung bietet
gerade die Europa-Rede, indem Novalis gemäß der oszillierenden Beobachtung die gegenseitige
Befruchtung Deutschland — Frankreich zum künftigen Kulturmuster Europas macht. Frankreich
als Muster der politischen Kultur, der Außenwelt, durch auseinanderklaffende ontologische und
gnosseologische Reflexion, durch aditives und „lauter zusammengeklebtes Wissen“ des Enzyklopädismus ins Ungleichgewicht geraten, läßt sich von der Innerlichkeitskultur Deutschland
befruchten.
In Frankreich hat man viel für die Religion gethan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen, und
ihr bloß das Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat, und zwar nicht in einer Person, sondern in
allen ihren unzähligen individuellen Gestalten.(...) Sie muß erst die Herzen wiedergewinnen und
schon überall geliebt seyn, ehe sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freund61
schaftlichen Berathung und Stimmung der Gemüther gemischt wird.
56
Fragmente und Studien 1799-1800, KA III, 656, Fragm. 587.
Ebd., Fragm. 820, S. 429.
58
Das Allgemeine Brouillon 1798/99, Fragm. 387, KA III, 311.
59
Blüthenstaub, Fragm. 24, KA II, 423.
60
Ebd., Fragm. 19, KA II, 419.
61
Ch.o.E., S. 518.
57
252
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
Auf der anderen Seite braucht Deutschland eine von Bildungseliten gestaltete politische
Kultur. Der Blick nach außen wird in der deutschen Kultur im 17. und 18. Jahrhundert unterernährt. Im Inneren der deutschen Kultur keimt allerdings der Geist einer „höhern Epoche der
Cultur“ die auf Interdisziplinarität neuer philosophischer Basis fußt.
Jeder Forscher mußte sich gestehn, daß Eine Wissenschaft nichts ohne die Andere sey, und so entstanden Mystifikationsversuche der Wissenschaften, und das wunderliche Wesen der Philosophie
flog jetzt als rein dargestelltes wissenschaftliches Element zu einer symmetrischen Grundfigur der
62
Wissenschaften an.
Die Idee der Vermöglichung des Innenmenschen durch das dialektische Verhältnis zwischen
Innen- und Außenwelt durchzieht das ganze Werk Novalis. Im Roman „Die Lehrlinge zu Sais“
werden dem künftigen Menschen wiederum messianische Merkmale zugesprochen. Der prophetisch-entworfener Bildungsprozeß kann als emblematisch für die gesamte deutsche Innerlichkeitskultur der letzten 200 Jahre bezeichnet werden.
Durch Übung werden Entwicklungen befördert, und in allen Entwickelungen gehen Teilungen, Zergliederungen vor, die man bequem mit den Brechungen des Lichtstrahls vergleichen kann. So hat
sich auch nur allmählich unser Innres in so mannigfaltige Kräfte zerspaltet, und mit fortdauernder
Übung wird auch diese Zerspaltung zunehmen. Vielleicht ist es nur krankhafte Anlage der späteren
Menschen, wenn sie das Vermögen verlieren, diese zerstreuten Farben ihres Geistes wieder zu mischen und nach Belieben den alten einfachen Naturzustand herzustellen, oder neue, mannigfaltige
63
Verbindungen unter ihnen zu bewirken.
In den Teilungen, Zergliederungen und der Zerspaltung der Innenwelt wird das Individuelle
vermöglicht. Gegen die aditive Vermehrung des Individuellen auf der politisch-geschichtlichen
Bühne tritt die Vermöglichung des Individuellen durch Zerspaltung in der Innenwelt ein. Nur so
kann „die Außenwelt durchsichtig, und die Innenwelt mannigfaltig und bedeutungsvoll werden.
Und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten in
64
der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgefühl.“
Das statisch-einheitliche Bild Europas in der Eingangspartie der Rede kennt die Dynamik
zwischen Innen- und Außenwelt nicht. Das als Wunschbild Novalis zuzuschreiben, beruht auf
einem Mißverstehen des gesamten humanistischen Projekts Novalis‘. Denn „das wunderbarste,
das ewige Phenomen, ist das eigene Daseyn. Das grösseste Geheimniß ist der Mensch sich
65
selbst. — Die Auflösung dieser unendlichen Aufgabe, in der That, ist die Weltgeschichte.“
Auf der Diskursebene vermittelt die Analogie von Geschichte und Psychologiezwischen der
Außen- und Innenwelt. „An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden
Zusammenhang, nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie ge66
brauchen.“ Die Analogie fand ihre Anwendung in der Europa-Rede auf zwei Bereiche im IchBildungsprozeß: in der organologischen Betrachtung und in der Bergwerkmetaphorik.
Aus neuen, frischen Fundgruben wird gefördert.(...) Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel
auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die höhern Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleich-
62
Ch.o.E., S. 521.
Lehrlinge zu Sais, KA I,82-83.
64
Ebd. S. 97.
65
Philosophische Studien des Jahres 1797 (Hemsterhuis- und Kant-Studien) Fragm. 21., KA II, 362.
66
Ch.o. E., S. 518 .
63
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
253
Gabriel Jarnea
förmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte, als der Ur67
kern der irdischen Gestaltung zuerst heraus.
In einem Brief an Novalis griff auch F. Schlegel auf die Bergwerkmetapher zurück. „Wir besitzen gleichsam nur ein Stück unsres tiefrem Selbst; ein starker Schlag muß erst die verborg68
nen Kräfte ans Licht reißen.“ Das Ergebnis der komplexen „Durchdringung“ von Innen- und
Außenperspektive des künftigen Europäers drückt sich oxymoromisch als „eine neue Urversammlung“ aus. Durch die oszillierende Betrachtung verschiedener Gegensatzpaare (Kant versus Schleiermacher, französische Aufklärung versus deutsches Organismusdenken, geschichtlicher Diskurs versus geschichtsphilosophischer Diskurs, Politik versus Religion) entsteht eine
Synthese, welcher Novalis prophetische Merkmale zuspricht. Es ist das neue goldene Zeitalter,
das als Neugeburt betrachtet wird, als Versöhnungszeit, als ein Heiland, dessen wichtigste
Funktion darin besteht, das Individuelle zu vermöglichen, und auf diese Art die Geschichte zu
verändern. Wichtig für meine Untersuchung ist, genauer zu erfassen, woraus die Innovation
Novalis in der Europavision besteht. Dafür werde ich die logische Struktur der Rede genauer
analysieren.
Für Novalis baut das künftige Europa auf ein neues Konzept vom Innen- und Außenmenschen, auf ein dialektisches Verhältnis zweier entgegengestellter Elemente, aus deren
Synthese das Wesen des künftigen Europas entsteht. Man hat oft hegelsche Spuren dieser
Dialektik bei Novalis festgestellt. Nach meiner Ansicht besteht die Innovation Novalis gerade
darin, dass er seine Vision nicht nach dem hegelschen Triade-Muster aufbaut, sondern nach
einem intuitiven Logikmodell, das erst im 20. Jahrhundert seinen matematischen Ausdruck in
69
der Logik des eingeschlossenen Tertium fand.
Ausgangspunkt für die Entstehung der Logik des eingeschlossenen Tertium war der Zusammenbruch der linearen Zeitauffassung in der Quantenphysik des 20.Jahrhunderts Die Zeit
als discontinuum machte die klassische Logik in der neuen Physik kaum mehr anwendbar. Die
drei klassischen Axiomen der Logik (das Prinzip der Identität, das Prinzip des Nichtwiderspruchs, das Prinzip des ausgeschlossenen Tertium) wurden gründlich hinterfragt. Es wurden in
den 1930er Jahren zahlreiche Versuche unternommen, eine „quantische Logik“ zu gründen, die
70
alle drei klassischen Axiome gleichzeitig beachten können. Die meisten quantischen Logiksysteme veränderten das zweite Prinzip der klassischen Logik, indem sie das Konzept von
Nichtwiderspruch durch das Konzept von gleichzeitigen mehreren Wahrheitswerten ersetzte.
Diese quantischen Logiksysteme haben das Problem der partiellen prädiktiven Aussagekraft
noch nicht gelöst. Die vorgebrachte Lösung Stéphane Lupascos, der in seiner Logik des eingeschlossenen Tertium ebenfalls mit drei Werten arbeitet (A, non-A, und T, wobei T als eingeschlossenes Tertium definiert wird), fand weniger Zustimmung in der Physik und Philosophie
67
Ebd., S. 517.
Brief F. Schlegels an Novalis vom 7. April 1793, KA IV, 351.
69
Für einen systematischen Überblick auf die Logik des eingeschlossenen Tertium siehe die drei grundlegenden Bücher
von Stéphane Lupasco, Du devenir logique et de l'affectivité, Vol. I -"Le dualisme antagoniste et les exigences historiques de l'esprit", Vol. II -"Essai d'une nouvelle théorie de la connaissance", Vrin, Paris 1935; L'expérience microphysique et la pensée humaine, P.U.F., Paris 1941, 2e édition: Le Rocher, Coll. "L'esprit et la matière", Monaco 1989; Le
principe d'antagonisme et la logique de l'énergie — Prolégomènes à une science de la contradiction, Coll. "Actualités
scientifiques et industrielles", n° 1133, Paris 1951; 2e édition: Le Rocher, Coll. "L'esprit et la matière", Monaco 1987.
Zur Einleitung in die Logik des eingeschlossenen Tertium und seine epistemologische Bedeutung siehe die zwei einleitenden Arbeiten von Basarab Nicolescu, Nous, la particule et le monde, Kap. "La genèse trialectique de la Réalité",
Le Mail, Paris 1985; La transdisciplinarité, manifeste, Le Rocher, Coll. "Transdisciplinarité", Monaco 1996.
70
Siehe vor allem die Arbeit von Georges O. Birkhoff, Dynamical Systems, 1927.
68
254
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
des 20.Jhs, sie befruchtete jedoch die Geisteswissenschaften, vor allem die Psychologie, Soziologie und Religionsgeschichte. Im Lupascos System wurde das T oft als Verletzung des Prinzips
des Nichtwiderspruches (A ist nicht non-A) gedeutet. Die Axiom des eingeschlossenen Tertium
läßt sich erst erklären, wenn man auch ein ausdifferenziertes Konzept von Realitätsebenen
berücksichtigt. Nur im Horizont der gleichzeitigen Gültigkeit mehrerer Realitätsebenen kann
das Prinzip des eingeschlossenen Tertium wirksam werden. Demgemäß gibt es ein drittes
Element (T), das gleichzeitig A und non-A ist. Die dynamischen Folgen dieses Prinzips werden
71
von Basarab Nicolescu durch die Dreieck-Figur bildlich erklärt, deren drei Punkte (A, non-A,
und T) jeweils zu zweit in einem offensichtlichen Widerspruch stehen und auf einer Realitätsebene umfaßt werden können. Die „Versöhnung“ der zwei sich widersprechenden Elemente
vollzieht sich durch ein drittes Element (T), das sich allerdings auf einer anderen Realitätsebene
befindet. Jede Interaktion zwischen A und non-A ruft antagonische Prozesse hervor, wenn sie
nur auf ihrer eigenen Realitätsebene betrachtet werden. Erst in der Berücksichtigung der
Dynamik des dritten Elementes (T) kann man eine höhere Einheit des Systems erreichen. Die
reduktionistische Projektion des T auf dieselbe Realitätsebene wie A und non-A bewirktnur
unproduktive ausschließende Paare. Die Funktion des dritten Elementes ist nicht primär die
Synthese zwischen A und non-A zu sichern, sondern die wechselseitige Annihilation von A und
non-A. In der wechselseitigen Annihilation entsteht ein Dynamismus, eine schöpferische Explosion, die mit dem Zusammenprall von Materie und Antimaterie in jüngsten Physiktheorien
vergleichbar ist.
Wir können die Unterschiede zwischen der auf ebenfalls drei Elementen aufgebauten Logik
des ausgeschlossenen Tertium Hegels und der Logik des eingeschlossenen Tertium genauer
sehen. Das unauflösbare und nicht konzeptualisierbare Problem der Zeit und des gegenwärtigen
Momentes spielt wieder eine entscheidende Rolle. Für Hegel sindThese — Antithese — Synthese
sukzessiv und sie lösen sich sukzessiv ab. Es gibt also keine Gleichzeitigkeit in der Hegelschen
Triade. Aus diesem Grund kann die Hegelsche Triade die Spannung zwischen A und non-A nicht
auflösen. In der Logik des eingeschlossenen Tertium sind die widersprechenden Elemente ebenfalls nicht vereinbar, aber sie partizipieren gerade durch ihre Widersprüchlichkeit an einer
höheren Einheit, welche auf einer neuen Realitätsebene realisierbar istund diese beiden Elemente einschließt. Diese Logik setzt Gleichzeitigkeit aller drei Elemente voraus. Sie koexistieren
als eine sich ständig befruchtende Triade, solange das Konzept Wahrheit offen bleibt. Sie ist
eine Logik der Komplexität selbst und vielleicht ihre privilegierte Logik überhaupt, denn sie läßt
die kohärente Erfahrung verschiedener Realitätsebenen zu, trotz widersprüchlicher Elemente.
Die Logik des eingeschlossenen Tertium schließt die Logik des ausgeschlossenen Tertium nicht
aus, sondern sie grenzt ihren Geltungsbereich ein. Die Logik des ausgeschlossenen Tertium ist
anwendbar in den einfachen Alltagssituationen (z.B. Verkehrswesen), in den komplexen Erfahrungen auf der sozial-politischen Ebene führt ihre Anwendung indes zur Intoleranz und zu
ideologischen Reduktionen. Eine Analyse der politischen Diskurse der letzten 200 Jahren unter
dieser Perspektive könnte uns zeigen, wie wenig produktiv die Logik des ausgeschlossenen
Tertium in der europäischen Kultur war. Fremdenhaß, Nationalismus, Rassismus sind Erfahrungen, die auf die Verwechslung des Geltungsbereichs der Logik des aus- und
eingeschlossenen Tertium zurückzuführen sind.
Die Europa-Rede von Novalis wurde lange Zeit nach der Logik des ausgeschlossenen Tertium analysiert. Die entstandene Spannung durch die Anwendung des zweiten Prinzipsdes
Nichtwiderspruches wurde dadurch aufgelöst, dass die Rede als utopisches Projekt Novalis‘
angesehen wurde. In den 1940er Jahren gab es immer noch eine ganze Reihe von trivialen
71
Basarab Nicolescu, La transdisciplinarité, Kap. 5, ( Anm. 69).
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
255
Gabriel Jarnea
Interpretationen nach diesem Muster. Weil der utopische Diskurs traditiongemäß leicht auf
politische und religiöse Denkfiguren zurückzuführen ist, wurden konsequenterweise zahlreiche
Argumente in der Rede gefunden, die auf einer vereinfachten Deutungsebene kohärent für die
Utopie-These sprachen. Für eine Interpretation der Rede gemäß der Logik des eingeschlossenen
Tertium brauchen wir ein umfassenderes Wahrheitskonzept und ausdifferenziertes Konzept von
Realitätsebenen und Deutungsebenen. Die duale Struktur des Diskurses bei Novalis (Innen- und
Außenmensch, Politik — Religion, Frankreich — Deutschland) sichert die regulierende Funktion
der oszillierenden Betrachtung für die Ich-Bildung, für die Offenbarung des dritten Elementes(T). Die entgegengestellte Darstellung des antagonischen Kulturmusters Frankreich —
Deutschland wird gemäß der Logik des eingeschlossenen Tertium folgendermaßen gelöst: der
Philosophie wird die Funktion des dritten Elementes zugeschrieben. Zwischen Deismus einerseits und Philantropinismus andererseits vermittelt die Philosophie, die eine zweite Reformation ankündigt.
Eine zweite Reformation, eine umfassendere und eingenthümlichere war unvermeidlich, und mußte
das Land zuerst treffen, das am meisten modernisiert war, und am längsten aus Mangel an Freiheit
in asthenischem Zustande gelegen hatte. (...) In dem Augenblick aber, wo ein Zwiespalt unter den
Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion und ihrer ganzen Genossenschaft entstand, mußte sie wieder als drittes tonangebendes vermittelndes Glied hervortreten, und diesen
Hervortritt muß nun jeder Freund derselben anerkennen und verkündigen, wenn er noch nicht
72
merklich genug seyn sollte.
Nach diesem Versöhnungsmuster wird die Rede Novalis‘ aufgebaut. Eine dynamische contradictio zweier Elemente findet ihre Lösung auf einem höheren Deutungsniveau (z. B. die Gegenreformation) durch die Anerkennung eines dritten Elementes, das durch seine Natur mit den
beiden antagonischen Elementen verwandt ist.
Ein zweites Beispiel kann dieses Logikmuster bei Novalis genauer verdeutlichen. Der Europadiskurs um 1800 unterlag der Logik des ausgeschlossenen Tertium. Selbst die Lösung Kant‘s
beruhend auf der republikanischen Verfassung, repräsentativen Regierungsform und Förderung
des Weltbürgertums, war nicht effizient. Sie war schon von Anfang an ideologisch nach der
Logik des ausgeschlossenen Tertium vorbestimmt. Sie konnte dem traditionellen Streit des 17.
und 18. Jahrhunderts in Europa über den Naturzustand (status naturalis) keine effektive Lösung
anbieten, die sich über die Logik des ausgeschlossenen Tertium erheben konnte. Im ersten Abschnitt seiner Rede (Zum ewigen Frieden, 1795) ergriff Kant Partei für die Position des Hobbes
(„Der Friedenszustand unter den Menschen ist kein Naturzustand.(...) Er muß also gestiftet
73
werden.“ ). Ganz anders die Lösung Novalis‘. In der Schlußpartie der Rede Novalis‘ wird der
Blick auf das politische Schauspiel der Zeit gerichtet. Als Antwort auf das Dilemma der Aufklärung im Blick auf die Europapolitik schrieb Novalis: „Sollte etwa die Hierarchie diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins als intellektuale Anschauung
des politischen Ichs seyn? Es ist unmöglich daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht
setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe
74
lösen.“
Das dritte eingeschlossene Element, das uns immer wieder in der Rede begegnet, wird,bald
als „heiliges Organ“, bald als „heiliger Sinn“, nur päripherisch genannt, aber nicht explizit ausgeführt. Das Muster des eingeschlossenen Tertium gipfelt in der Schlußpartie, in einer pluralen
72
Ch.o.E., S. 517.
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werke VI, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, S. 203.
74
Ch.o.E., S. 522.
73
256
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Ungleichzeitige Verstehensmuster am Beispiel von Novalis‘ Christenheit oder Europa
Gestaltung des neuen Christentums. Der Geist der Zukunft wird zum „allesumarmenden Geist
der Christenheit“ erklärt. Diachrone Entwicklungen werden zu synchronen Entfaltungen. Ungleichzeitigkeit des Verstehensund der geschichtlichen Prozesse kann durch die Annahme des
eingeschlossenen Tertium überwunden werden. Die Logik des eingeschlossenen Tertium wird
zum Grundgesetz des inneren Plurals des Individuellen. „Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlerthum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Le75
bens zu seyn. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen.“
Das Eine Europa in der Eingangspartie der Rede erlebt auf der Diskursebene von Novalis
eine Entfaltung zur pluralen Gestalt in der Schlußpartie. Die Logik des eingeschlossenen
Tertium ermöglicht trotz widersprüchlicher Prozesse in der Geschichte eine einheitliche Vision.
Der Ich-Bildungsprozeß des künftigen Europäers ist aus der Sicht vonNovalis um 1800 ein
Prozeß der bescheidenen Einschließung des unbekannten Tertium. Dadurch läßt sich vielleicht
ein erstes Vermöglichungsmuster Europas verstehen, dessen Aktualität noch nicht ausgeschöpft
ist.
Literatur:
1.
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3.
4.
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1975, Bd. I-V
Kaiser, Gerhard, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, 1961
Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, Werke VI Bde., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
1998
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exigences historiques de l'esprit", Vol. II — "Essai d'une nouvelle théorie de la connaissance", Vrin,
Paris 1935
Lupasco, Stéphane, L'expérience microphysique et la pensée humaine, P.U.F., Paris 1941, 2e édition:
Le Rocher, Coll. "L'esprit et la matière", Monaco 1989
Lupasco, Stéphane, Le principe d'antagonisme et la logique de l'énergie — Prolégo-mènes à une
science de la contradiction, Coll. "Actualités scientifiques et industrielles", n° 1133, Paris 1951; 2e
édition: Le Rocher, Coll. "L'esprit et la matière", Monaco 1987
Michel, Willy, Die Aktualität des Interpretierens, Heidelberg 1978
Michel, Willy, Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik: Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken 1795-1801, Göttingen 1982
Nicolesco, Basarab, Nous, la particule et le monde, Le Mail, Paris 1985
Nicolesco, Basarab, La transdisciplinarité, manifeste, Le Rocher, Coll. "Transdisciplinarité", Monaco
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Modern Language Review 77 (1982), S. 361-377
Shaw, Leroy D., Henry Home of Kames: Precursor of Herders, in: Germanic Review 35 (1960), S. 1627
Szondi, Peter, Einführung in die literarische Hermeneutik, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1975
Ch.o.E., S. 523.
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
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NOVALIS UND GASTON BACHELARD
Eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
Roxana Ghi]`
1. Einführende Bemerkungen
Wenn der Herausgeber Hans-Joachim Mähl in seinem Nachwort zu “Novalis. Dichter über
1
ihre Dichtungen” auf den erstaunlichen Einfluss hinweist, den Hardenbergs Werke auf moderne Poetologien verschiedenster Orientierungen ausgeübt hat, ist ihm sicherlich zuzustimmen.
Keats und Poe, Nerval und Maeterlinck, Hofmannsthal und Benn, Thomas Mann und Musil oder
Broch sind die wichtigsten Namen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Mit diesen
in der Forschung schon längst behandelten Verwandschaftserscheinungen ist allerdings die
Wirkungsgeschichte Novalis’ in allen ihren überraschenden, vielfachen Prägungen längst nicht
erkannt worden.
Meine aus komparatistischer Sicht durchgeführte Untersuchung zielt auf die Erhellung eines bis jetzt in der einschlägigen deutschen Forschungstradition völlig ignorierten Beziehungszusammenhangs, aufgrund dessen das Werk von Novalis eine neue Belebung und Potenzierung
durch die Arbeiten des französischen Philosophen Gaston Bachelard erfährt. Auch in der französischen Sekundärliteratur zu Bachelard ist diese poetologisch und philosophisch fundierte
2
Verwandtschaft unzulänglich beleuchtet worden.
Ich befasse mich weniger mit der Erforschung des direkten Kontakts, der expliziten Bezüge
auf Novalis (die nicht gerade selten im Bachelardschen Text präsent sind), als vielmehr mit der
Untersuchung von Analogien, ohne dass in den meisten Fällen von einem direkten, genetischen
‘Einfluss’ (in der Terminologie der traditionellen vergleichenden Literaturwissenschaft) die Rede
sein kann. Ein solcher Einfluss würde z.B. den Titel eines letzten Werks des französischen Philosophen – “La flamme d’une chandelle” – erklären, der aus einer Überlegung Novalis’ im Roman
“Die Lehrlinge zu Sais” stammt: “In der Flamme eines Lichtes sind alle Naturkräfte tätig”
(Bachelard, 1961:63). Bachelard selbst bezeugt die grosse Rolle, die Novalis bei der Artikulierung seiner eigenen, dialektisch strukturierten Poetik gespielt hat: “Nous avons lu et relu
l’oeuvre d’un Novalis. Nous en avons reçu de grandes leçons” (1961:63). Dass die vorliegende
Untersuchung den analogischen Verwandschaftsbeziehungen, der ‘Quellenforschung’ gegenüber (die oft einem gewissen Schematismus, dem mechanischen Charakter eines genetischen
Determinismus verfällt) mehr Platz einräumt, bringt meine Überzeugung zum Ausdruck, dass
Affinitäten poetischer und philosophischer Natur eher zu belegen vermögen, inwieweit Novalis
1
2
In: Novalis. Dichter über Dichtungen. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl, Heimeran 1976.
Gaston Bachelards vielfache Berufung auf Novalis wird von mehreren Literaturwissenschaftlern registriert, eine detaillierte Untersuchung, die die Affinität der Welt- und Dichtungsauffassung beider Denker und Theoretiker (im offenen, nicht-konventionellen, von der Romantik geprägten Sinne des Wortes), so wie das Ausmaß der Berührungspunkte, ja sogar Überschneidungen, aber auch der notwendigen Differenzierungen dokumentiert, bleibt allerdings bis
heute ein Desiderat. Higonnet (1981) und Guyard (1997) erhellen den gesamten Reflexionszusammenhang, der Bachelard mit den romantischen Schulen, besonders den deutschen, verbindet, ohne sich jedoch spezifisch auf Novalis zu
konzentrieren.
Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
als der wichtigste ‘Vorläufer’ Bachelardscher Thesen zur Einbildungskraft und zum onto3
logischen Status der Poesie betrachtet werden kann.
2. Philosophische Grundlagen. Dichtung vs./und Wissenschaft
Die Werke von Novalis und von Gaston Bachelard stellen ein System mit zwei Koordinaten
dar, das wissenschaftliches und poetisches Denken gegen- und ineinander spielen lässt – eine
erste auffallende Ähnlichkeit, deren Auswirkungen für die gesamte Reflexion beider Autoren
relevant sind. Mit dem erst 1929 edierten “Allgemeinen Brouillon. Materialien zur Enzyklopä4
distik 1798/99” ist eine neue, überraschende Seite des “ätherischen Romantikers” zum Vorschein gekommen: seine ausdauernde Beschäftigung mit der Wissenschaft, die sich in seinem
Projekt, eine “scientifische Bibel” zu verfassen, widerspiegelt. Seine Enzyklopädistik repräsentiert, so Barck (1993:95), “den einzigartigen Versuch, die kosmologischen Ganzheitsvorstellungen romantischer Naturphilosophie in eine neue Ordnung aller Wissenschaften und
Künste umzusetzen”. Gaston Bachelards doppelte Ausbildung (er war Physik- und Chemielehrer,
zugleich aber auch Philosoph) erklärt den ersten Teil seines Werkes, der sich mit dem Wesen,
den Möglichkeiten und den Funktionen des wissenschaftlichen Erkennens beschäftigt. Diese
epistemologischen Untersuchungen (bedauerlicherweise die einzigen, die in Deutschland ein
gewisses Echo gefunden haben) werden durch eine Reihe von Arbeiten ergänzt, die die
poetische Einbildungskraft und die Dichtung in den Blickpunkt rücken. Im Gegensatz zu
Novalis, der die Synthese von Wissenschaft und Poesie als höchstes Erkenntnismittel anstrebt,
hält Bachelard von Anfang an die Pole der durch Vernunft (Animus) und poetische
Einbildungskraft, ‘rêverie’ (Anima) vermittelten Weltbilder für unabdingbar entgegengesetzt,
unversöhnlich: “Deux vocabulaires devraient être organisés pour étudier, l’un le savoir, l’autre la
poésie. Mais ces vocabulaires ne se correspondent pas” (Bachelard, 1960:13). Dementsprechend
besteht die Aufgabe der Philosophie im Versuch, die beiden Seins- und Ausdrucksmöglichkeiten
des Geistes komplementär zu erfassen, während ihre dialektische, nie reduzierbare Antinomie in
einer Synthese Hegelscher Art aufgehoben wird:
Les axes de la science et de la poésie sond d’abord inverses. Tout ce que peut espérer la philosophie,
c’est de rendre la poésie et la science complémentaires, de les unir comme deux contraires bien
faits. (Bachelard, 1938:10).
Einerseits wird die imaginative Tätigkeit als “epistemologisches Hindernis” aus dem Prozess
des wissenschaftlichen Denkens vertrieben, andererseits wird sie aber aus poetischer Perspektive zum singulären Instrument der Weltverklärung, ja der Weltproduktion verabsolutiert. Dieser
Auffassung stellt sich Novalis’ Idee einer “Poetisierung der Wissenschaften” entgegen, die von
einem zugleich wissenschaftlich, dichterisch und philosophisch tätigen Subjekt durchgeführt
werden soll:
Die Mannichfaltigkeit der Methoden nimmt zu — am Ende weiß der Denker aus Jedem Alles zu machen — der Phil[osoph] wird zum Dichter. Dichter ist nur der höchste Grad des Denkers, oder Empfinders etc. (Grade d[es] Dichters.)
Die Trennung von Poët und Denker ist nur scheinbar — und zum Nachtheil beyder”. (Novalis,
5
1976:128 [717])
3
S. Higonnet (1981:37): “Beneath Bachelard’s wide-ranging, apparently ecclectic sampling of European and American
literature lies a consistently Romantic poetics for which Novalis provides the main model.”
4
Diesem tradierten Novalis-Bild liegt bekanntlich ein Konstrukt der den romantischen, von Hardenbergs Zeitgenossen
(den Brüdern Schlegel, Schleiermacher) ernährten Vorstellungen verpflichteten Literaturwissenschaft zugrunde, das
bis in die 60er Jahren die einschlägige Forschung ausschliesslich geprägt hat.
5
Die Ziffern in eckigen Klammern weisen auf die Nummern der Fragmente hin, so wie sie im von Hans-Joachim Mähl
herausgegebenen Band „Novalis. Dichter über ihre Dichtungen“ angeordnet sind.
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‘Logik’ und ‘Fantasie’ erscheinen nicht mehr als antinomische Prinzipien unterschiedlicher
Modalitäten der Weltaneignung, sondern sollen, laut der Forderungen des magischen Idealismus, vereinigt werden: “Magismus. Vereinigung beyder der Fantasie und Denkkraft” (Novalis,
1976:128 [765]).
Sowohl bei Bachelard als auch bei Novalis wird jedoch der Dichtung eine Erkenntnisfunktion zuteil, deren Spezifizität dem nur auf Erfahrung basierenden, vernunftgeleiteten Ansatz gegenüber, Objekt zahlreicher Reflexionen wird. Diese andere Zugangsart des Menschen
6
zur Erfassung der Wirklichkeit, die entweder komplementär zur Wissenschaft (Bachelard) oder
als höchste Kategorie Wissenschaft und Philosophie einschliessend (Novalis) verstanden wird,
setzt einen direkteren, unvermittelten und augenblicklich stattfindenden Erkenntnisakt voraus:
Le cogito qui pense peut errer, attendre, choisir – le cogito de la rêverie est tout de suite attaché à
son objet, à son image. Le trajet est le plus court de tous entre le sujet qui imagine et l’image imaginée. (Bachelard, 1960:131)
Dieselbe Überzeugung verteidigt der junge Heinrich im Gespräch mit den Kaufleuten, wenn
er argumentiert, dass der “Weg der inneren Betrachtung” sicherer und schneller als die “geblendete Klugheit” zur Erhellung der Welt führt:
Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unansehnlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg
der Erfahrung; der andere, fast Ein Sprung nur, der Weg der inneren Betrachtung. Der Wanderer des
ersten muss eins aus dem andern in einer langwierigen Rechnung finden, wenn der andere die Natur jeder Begebenheit und jeder Sache gleich unmittelbar anschaut, und sie in ihrem lebendigen,
mannigfaltigen Zusammenhange betrachten […]. (Novalis, 1991:24)
3. Das allmächtige Subjekt
Die epistemologische Funktion der Kunst kann aber nur im breiteren und umstrittenen Reflexionszusammenhang der Subjekt-Problematik gedacht werden, die wie ein roter Faden durch
das Moderne-Postmoderne-Spannungsfeld zieht. Das erkenntnisorientierte Moment findet sich
zugleich im demiurgischen Gestus eines durch seine Schöpfungskraft ausgezeichneten Subjekts
mit einbezogen, das sich “en état de Créateur absolu”, so Novalis, befindet: „Zweyfache Thätigkeit des Schaffens und Begreifens, vereinigt in Einen Moment” (Novalis:1976:139 [107]). Die
nicht nur semantische, sondern sogar lexikalische Überdeckung mit den Behauptungen eines
anderen, von Bachelard mit Begeisterung zitierten Dichters (Jean-Pierre Jouve) ist erstaunlich:
“Il n’y a pas poésie s’il n’y a pas absolue création” (apud Bachelard, 1957:13), und noch: “Dès
lors, une nouvelle définition du poète est en vue. Cest celui qui connaît, c’est-à-dire qui
transcende, et qui nomme ce qu’il connaît” (1970:13).
Diese ausschlaggebende Funktion, die dem Dichter und seiner künstlerischen Tätigkeit zuteil
wird, ist bei Novalis nur im weiteren Begründungsrahmen des “magischen Idealismus”, dem
7
Fichtes und Kants Reflexionen zugrunde liegen, zu verstehen. Voraussetzung für Novalis’
theoretische Auffassung ist bekanntlich Fichtes Vorstellung von der Natur als eines notwendigen Produktes des Geistes, der nur durch die Setzung eines Nicht-Ich, an dem er sich
6
Zur Vertiefung dieser Problematik, die sich von je her als anthropologische, in der Polarität Denken/Rationalität –
Inspiration/Intuition/ reflektierte Konstante ausgeprägt hat, wobei im Laufe der Geschichte “die eine oder andere Seite
ein Erkenntnismonopol” hatte, vgl. Pfaff, Matthias (1998): "Das Prinzip der Komplementarität als Versöhnung von
Wissenschaft und poetischer Vernunft", Dissertation im Bereich Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Theologie an der Universität Dortmund, 1988.
7
Ich beziehe mich im Folgenden auf die Studie “Novalis’ magischer Idealismus” von Karl Heinz Volkmann-Schluck
(1989), die die Entstehung des “magischen Idealismus” aus dem transzendentalen Idealismus Fichtes und der Ästhetik
Kants dokumentiert.
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
begrenzt, sein wahres Wesen zu erkennen und auf diese Weise zum Sebstbewusstsein zu gelangen vermag. Das Nicht-Ich stellt also eine dingliche Welt dar, in der der Geist im latenten
Zustand gegenwärtig ist und seine Befreiung erwartet, die – so versteht Novalis Fichtes
transzendentale Grundlage zu erweitern – nur durch und im erlösenden Akt des Dichters geschehen kann. So wie nur die Kunst in Anlehnung an Kants Bestimmung des ästhetischen
Gegenstandes Anspruch auf diese erlösende Kraft erheben kann, so ist der Dichter unter allen
Künstlern der Inbegriff des demiurgisch wirkenden Subjekts, da die ganze Tätigkeit des Geistes
nur im Medium der Sprache stattfinden kann:
Heinrich war von Natur zum Dichter geboren. […] Er sah die Welt in ihren grossen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm, und ihre Seele, das Gespräch,
noch nicht erwacht. Schon nahte sich ein Dichter, ein liebliches Mädchen an der Hand, um durch
Laute der Muttersprache und durch Berührung eines süssen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen
aufzuschliessen, und den einfachen Akkord in unendliche Melodien zu entfalten. (Novalis, 1991:95)
Wenn Bachelard der Dichtung den Vorrang einräumt, und von “imagination poétique” als
höchster Form der Einbildungskraft spricht, dann ist diese Übereinstimmung alles andere als
zufällig. Seine Auffassung von der ontologischen Funktion des dichterischen Wortes, das die
Materie erweckt und die Welt erst entstehen lässt, ist eine Wiederbelebung der von Novalis
meisterhaft vertretenen Vorstellung der Neuzeit, die die Genialität des magisch dichtenden
Subjekts in den Blickpunkt rückt: “Le poète parle au seuil de l’être” (Bachelard, 1957:2). Nur
durch das Handeln eines solchen Subjekts kann die Natur verwandelt werden und sich als
selbsterkennenden Geist offenbaren. Bachelard beruft sich ausdrücklich auf Novalis, wenn er
Abschnitte aus dessen Fragmenten zitiert: “L’univers est en quelque sorte un précipité de la
nature humaine” (1943:126) oder ihn kommentiert: “Ainsi, pour l’idéalisme magique de Novalis,
c’est l’être humain qui éveille la matière” (1948a:24).
Was Novalis und Bachelard gleichmäßig stark betonen, ist die Aufhebung der Scheidung
von Subjekt und Objekt durch den dichterischen Akt. Durch die Poesie werden Ich und Welt,
Geist und Natur wieder in einen harmonischen, einheitlichen Zustand gebracht (s. VolkmannSchluck, 1989:48), oder, wie Bachelard es sagt, das dichterische Wort eröffnet wie ein magischer Schlüssel den Weg zur Wiedervereinigung des Universums mit der menschlichen Seele:
“Tous les grands mots, tous les mots appelés à la grandeur par un poète sont des clefs
d’univers, du double univers du Cosmos et des profondeus de l’âme humaine” (1957:181). An
anderer Stelle ist er noch expliziter: “Soudain un tel rêveur est rêveur de monde. Il s’ouvre au
monde et le monde s’ouvre à lui” (1960:148), was möglich ist, weil das Ich und die Welt grundsätzlich die gleiche Natur teilen, eine ursprüngliche Einheit bilden, die nur durch die Kraft des
Wortes wiederherzustellen ist: “La Tranquillité est l’être même et du Monde et de son Rêveur.
[…] Les mots du Rêveur deviennent des noms du Monde” (1960:149). Die Tatsache, dass dem
‘cogito’ des Dichters die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt erspart bleibt – “il n’est pas
8
divisé dans la dialectique du sujet et de l’objet” (Bachelard, 1960:136), ermöglicht die “Darstellung des Gemüths” (Novalis, 1976:132 [553]) durch die Poesie, was nichts anderes als die
Verwandlung der dinglichen Welt in Subjektivität voraussetzt. In der französischen Über9
tragung der berühmten (und oft missverstandenen) Definition Novalis’ “Poésie = Gemütherregungskunst” (1976:131 [507]), der sich Bachelard voll Begeisterung anschliesst, bleiben die
8
Vgl. Novalis (1976:134 [671]): “Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt – dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im
eigentlichsten Sinn Subj[ect] Obj[ect] vor – Gemüth und Welt.” Diese Notiz verdeutlicht, dass die ausserordentliche
Eigenschaft des Dichters auf die Besonderheit seiner Einbildungskraft, die ihm über die Sinneswahrnehmungen hinweg
zu kommen erlaubt, zurückzuführen ist (s. 3.1.).
9
„L’art du dynamisme psychique“ (Bachelard, 1943:218)
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zwei wichtigen Aspekte dieser Formel erhalten: einerseits ist ‘Gemüth’ als ‘Psyche’ aufgefasst,
was die ältere, zu Novalis’ Zeit übliche Wortbedeutung ‘Einheit/Harmonie aller Geisteskräfte’ zu
vermitteln vermag, andererseits ist die ganze semantische Ladung der deutschen ‘Erregung’ im
französischen ‘dynamisme’ gegenwärtig. Es ist folglich nur verständlich, dass Bachelard, der seit
“L’air et les songes” mit konstanter Prägnanz auf den dynamischen Charakter der poetischen
Einbildungskraft abhebt, eine besondere Affinität zum romantischen Dichter bezeugt, von dessen ‘grossen poetischen Lektionen’ er bewundernd spricht. Die Vorstellung eines nicht bloß
imaginierten, sondern reellen, von innen auf die Welt hinaus wirkenden Handelns, eines weltinstaurativen Vorgangs, der ständig in actu gedacht wird, bleibt ein Bezugspunkt der theoretischen Reflexionen von Novalis und wird als solcher von Bachelard erkannt und gewürdigt.
Diese neu entstandene Welt ist die verwandelte Natur, die sich als Geist erkennt und zur Poesie
wird, d.h. durch die Kraft des magisch handelnden Dichters, dessen Werkzeug die Imagination
ist, als Selbstbewusstsein des Universums fungiert.
4. Der Vorrang der Einbildungskraft
Dass die Einbildungskraft die wichtigste Rolle im literarischen, philosophischen und ästhetischen Denken um 1800 spielt, wobei sie sich als eine Konstante im aufklärerischen und romantischen Reflexionszusammenhang erweist, ist schon längst und ausführlich belegt wor10
den. Stützt sich Novalis’ Romantisierungsprogramm weitgehend auf die Einzigartigkeit einer
ontologisch verfahrenden Imagination, so ist doch seine “Bedeutung für eine Theorie der Imagination noch kaum untersucht”, wie Barck (1993:80) es ausdrücklich formuliert. Bachelard, der
sich durch eine Reihe von Wesen, Grundbestimmungen und Funktionen der Einbildungskraft
erforschenden Studien als der ‘Philosoph der Imagination’ durchgesetzt hat, kommt das Verdienst zu, diesen wichtigen Aspekt im Denken Novalis’ hervorgehoben und sein Werk für einen
singulären Beitrag zu einer noch zu entwickelnden Ontologie der Imagination gehalten zu haben. Ich werde im Folgenden versuchen, die Grundzüge von Novalis’ Reflexionen, die die Imagination betreffen, zu skizzieren. Was sich beim deutschen Dichter noch im Keim befindet, wird
später bei Bachelard zur vollen Entfaltung gelangen.
4.1 Die Triade: Wahrnehmung – Gedächtnis – Imagination
Novalis und Bachelard decken die Voraussetzungen einer Theorie der Imagination auf, indem sie die Spezifizität der Imagination im Vergleich zu Wahrnehmung und Gedächtnis sichtbar machen. Insofern verfährt die Imagination völlig anders als die anderen zwei Modalitäten
der Welterkenntnis und -anordnung, da ihr allein das Attribut der Kreativität zugeschrieben
wird. Dass der Dichter nur durch die Kraft seines Geistes zu schaffen vermag, indem er seine
innere Welt ausdrückt, wird nur durch die Wirkung der frei handelnden, von den mechanischen
Gesetzen der Sinne befreiten Einbildungskraft möglich:
Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann – und der so sehr
schon in unsrer Willkür steht. Wenn die äußern Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehn
scheinen – so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußrer Reitze
gebunden. (Novalis, 1976:123 [431]).
Seine Bestimmung der Imagination als ‘Erfindungskunst’ weist zudem auf die Trennung der
Einbildungskraft vom Gedächtnis hin, das als eine mechanische Fähigkeit verstanden wird, Sin10
Angesichts der unüberhörbaren Menge literaturkritischer und philosophischer Arbeiten, die zu diesem Thema erschienen sind, darf ich hier nur auf die inzwischen kanonisch gewordene Untersuchung von James Engell (1981), "The
Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism", Cambridge/Massachusetts, London, verweisen, die mit akribischem Quellenstudium die Geschichte der Entstehung und der Entwicklung des Imagination-Gedankens im 18. und 19.
Jahrhundert analysiert.
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
neswahrnehmungen zu speichern, so dass sie beim geeigneten Anlass wieder zurückgerufen
11
werden können. Bachelard betrachtet die Imagination ebenfalls als eine souverän handelnde,
von der Erfahrung oder Wahrnehmung unabhängige Kraft, die keinesfalls mit den kausal wirkenden Operationen der Vergegenwärtigung von sinnlichen Objekten, wie im Falle des Gedächtnisses, zu tun hat: “Percevoir et imaginer sont aussi antithétiques que présence et absence” (1943:10). Er übernimmt mithin die alte, schon bei Kant vorkommende Unterscheidung
zwischen der ‘reproduktiven Imagination’ (die aufgrund der von Wahrnehmung und Gedächtnis
gelieferten Daten operiert) und der ‘produktiven’ oder ‘kreativen Imagination’, die neue Bewusstseins- und Weltinhalte instauriert, und als totalisierendes, integratives Prinzip in der Psyche tätig ist:
Tout ce qu’on dit dans les manuels sur l’imagination reproductrice doit être mis au compte de la
perception et de la mémoire. L’imagination créatrice a de tout autres fonctions que celles de
l’imagination reproductrice. (1948a:3)
Viele Kritiker haben demzufolge sowohl Novalis als auch Bachelard für Vertreter eines radikalen Idealismus gehalten, welcher die materielle, sinnesvermittelte Seite jeder ästhetischen
Anschauung und Produktion zugunsten der entmaterialisierenden Vision, des souverän schaffenden Geistes, verabschieden. Dass Novalis die Imagination nicht ausserhalb einer für das
harmonische Zusammenspiel aller Kräfte im Subjekt und für die Entschlüsselung der Welt unentbehrlichen Sinnlichkeit auffasst, belegen jedoch mehrere Feststellungen, wie z.B. folgende
Erklärung, die seiner Bestimmung der Imagination als “wunderbares, alle Sinne ersetzenden
Sinnes” vorangeht:
Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – Das Hörbare am Unhörbaren – Das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren. Das Fernrohr ist ein künstliches, unsichtbares Organ./Gefäß. (Novalis, 1976:183 [481])
Auf eine völlige Entkoppelung der Imagination von den Sinnen hat es Novalis nicht abgesehen; wenn der Dichter als ‘sinnberaubt’ erscheint, heisst es vielmehr, dass die gewöhnliche
Funktionalität der Sinne bei dem Künstler aufgehoben wird zugunsten eines neuen, geistig fundierten (weil nicht mehr von äusseren Reizen abhängigen) Gebrauchs, der es dem frei schaffenden Subjekt ermöglicht, seine innere Welt und nicht die Wirklichkeit abzubilden (s. 3.2.):
Der Musiker hört eigentlich auch active – Er hört heraus. […] Er sieht in der That heraus und nicht
herein – Er fühlt heraus und nicht herein. […] der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens
in seinen Organen belebt – die Reitzbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist mithin im Stande,
Ideen nach Belieben – ohne äußre Sollicitation – durch sie heraus zu strömen – Sie, als Werckzeuge, zu beliebigen Modificationen der wircklichen Welt zu gebrauchen [...] (Novalis, 1976:119 [226])
Die Imagination erscheint also vielmehr als das höhere Organ der Poesie, die die Sinne
tranzendiert, Äusseres und Inneres ineinander verschmelzen und zu einer höheren Wirklichkeit
werden lässt. Im Oktober 1798 hebt Novalis noch deutlicher hervor, dass die Imagination nur
deshalb imstande ist, als “poetischer Sinne überhaupt” zu fungieren, weil sie alle Geisteskräfte
(Gedächtnis und Wahnehmung mit einbezogen) in eine lebendige Synthese integriert:
Die Einbildungskraft ist das würckende Princip – Sie heisst Fantasie indem sie auf das Gedächtnis
wirckt – und Denkkraft indem sie auf den Verstand wirckt. Die Einbildungskraft soll (äußerer) director und (innrer) indirecter Sinn zugleich werden […] (Directe, indirecte, und substantielle Welt
sollen harmonisch werden). (Novalis zitiert. bei Barck,1993:110)
11
Für eine detailliertere Diskussion dieser Problematik, die auch die Beziehungen zwischen Novalis und den französischen Enzyklopädisten aufdeckt, s. Barck (1993:106-109).
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Bachelards Idealismus ist auch nicht so unproblematisch, wie man es auf den ersten Blick
zu glauben versucht ist, um so mehr, als das Denken des Philosophen immer eine nie aufgehobene Spannung der Gegensätze aufweist. Nicht selten eröffnet der direkte Kontakt mit der
Materialität der Welt dem imaginierenden/schaffenden Geist neue Wege zur Selbsterkenntnis.
Im Rahmen einer idealistisch fundierten Imaginationstheorie operiert Bachelard dialektisch, so
Higonnet (1983:36), mit materialistischen Ansätzen, die Immanenz und Transzendenz koexistieren lassen.
4.2 Gegen das Nachahmungsprinzip
Aus der oben angeführten Bestimmung der Imagination folgt notwendigerweise, dass sowohl Novalis als auch Bachelard gegen eine Mimesis-Poetik eintreten, indem sie den Gedanken
einer die Realität übertragenden Kunst nicht nur unterminieren, sondern völlig ausklammern.
Der Dichter ist keine die Natur nachahmende, sondern eine Realität stiftende Instanz, die ihre
12
wie mystische Offenbarungen erlebten Visionen nach aussen projiziert. In einem Fragment aus
dem Jahre 1798, in dem Novalis auf die Unterschiede verschiedener Künste hinsichtlich ihres
Wirklichkeitsbezugs aus ist, drückt sich der Dichter explizit gegen die Nachahmungsdoktrin aus,
die in seiner Formulierung als eine schon überholte, zu inkriminierende Ästhetik gilt (s. Peter13
sen, 2000:245): “Der Musiker nimmt das Wesen seiner Kunst aus sich – auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung kann ihn treffen” (Novalis, 1976:118 [226]). Auch im Falle der
Malerei, die um 1800 am stärksten von allen Künsten dem Realismus verpflichtet war, geht es
nur um einen scheinbaren Abbildungsprozess, denn der geistig-ideelle Teil des Kunstwerkes,
das, was sich dem Maler in einer Vision offenbart, der reell-materiellen, durch das Auge vermittelten Erfahrung vorangeht. Wenn Novalis schreibt, dass der Maler ‘mit dem Auge’ malen
würde, dann bezieht er sich hier auf jenen verklärten, ganz im Dienste der Einbildungskraft
stehenden Sinn, der durchaus ‘aktiv’ ist, d.h. von innen nach aussen ‘bildend’, modifizierend,
und in extremis instaurierend wirkt:
Eigentlich ist aber die Kunst des Mahlers so unabhängig, so ganz a priori entstanden, als die Kunst
des Musikers. Der Mahler bedient sich nur einer unendlich schwereren Zeichensprache, als der Musiker – der Mahler mahlt eigentlich mit dem Auge – Seine Kunst ist die Kunst regelmässig, und
Schön zu sehn. Sehn ist hier ganz activ – durchaus bildende Thätigkeit. (Novalis, 1976:118 [226]).
Bachelards theoretische Prämisse, die auch den apriorischen Charakter der Imagination voraussetzt, kann zweifelsohne zu keiner anderen poetologischen Stellung führen: die imitatio ist
nur das Ergebnis der mechanischen, ‘reproduktiven Imagination’, die sich auf Wahrnehmung
14
und Gedächtnis stützt, und wird infolgedessen ganz ausser Kraft gesetzt. Das, was der Künstler darstellt, ist nicht mehr Natur, sondern seine innere Welt, “car, dans l’ordre littéraire, tout
est rêvé avant d’être vu, fût-ce la plus simple des descriptions” (Bachelard, 1942:185). Fokus12
“Der Sinn für P[oesie] hat nahe Verwandschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn
überhaupt” (Novalis, 1976:134[671]).
13
Da bei Novalis die Kunst im Dienste einer Utopie steht, indem sie sich die Aufgabe der Gestaltung einer Idealwelt
stellt, “die aber nicht einfach erfunden ist, sondern im Rahmen der Möglichkeit der Entwicklung der Natur aus ihrem
Entfremdungszustand heraus liegt”, behauptet Haslinger (1981:126) dagegen, “dass die Ästhetik Novalis im Rahmen
der aristotelischen Mimesis bleibt”. Die ‘Poetisierung’ der Welt erfolgt meines Erachtens jedoch nicht als eine notwendige, aus dem aktuellen Zustand der Natur kausal abzuleitende Verwandlung, die Novalis’ Kunstkonzept im Rahmen
eines realistisch gedachten aristotelischen Möglichkeitsbegriffs verbleiben lässt, sondern gerade durch den demiurgischen Gestus des Subjekts.
14
Vgl. “[…] pour le philosophe réaliste comme pour le commun des psychologues, c’est la perception des images qui
détermine les processus de l’imagination. Pour eux, on voit les choses d’abord, on les imagine ensuite; on combine, par
l’imagination, des fragments du réel perçu, des souvenirs du réel vécu, mais on ne saurait atteindre le règne d’une
imagination foncièrement créatrice” (Bachelard, 1948:3).
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
siert Bachelard in der Regel seinen Diskurs auf die ‘poetische Imagination’, die sich der Sprache
als Vehikel bedient, so erweisen sich seine Betrachtungen anderer Künste als ebenfalls konstitutiv für seine intendierte ‘Phänomenologie der Imagination’. Es ist geradezu auffallend, wie
nah sein Kommentar an Novalis’ Auffassung von der Malerei kommt, wenn er z.B. über das
Vorwort spricht, das der Maler René Huyghe der Ausstellung von Georges Rouault gewidmet
hat. Mag die Ausführung eines Bildes auch ‘Entscheidungen des Geistes’ im Rahmen der notwendigen Gesetze der ‘Wahrnehmungswelt’ voraussetzen, die das innere Licht der Vision ausstrahlende Seele macht doch allein das Zentrum des Werkes aus. Und dieses innere Licht charakterisiert gerade die Unabhängigkeit des Werkes der Aussenwelt gegenüber, so dass Ba15
chelard ausdrücklich, wie Novalis, von einer Umkehrung der normalen psychologischen Verhältnisse spricht:
Et l’âme – la peinture de Rouault le prouve – possède une lumière intérieure, celle qu’une ‘vision
intérieure’ connaît et traduit dans le monde des couleurs éclatantes, dans le monde de lumière du
soleil. Ainsi, un véritable renversement des perspectives psychologiques est réclamé de celui qui
veut comprendre en aimant la peinture de Rouault. Il lui faut participer à une lumière intérieure qui
n’est pas le reflet d’une lumière du monde extérieur. (Bachelard, 1957:5)
Die Wahrnehmungsorgane werden ganz unter die Kontrolle der Einbildungskraft gesetzt,
und durch diese Metamorphose dürfen sie am Unsichtbaren teilnehmen:
L’imagination invente plus que des choses et des drames, elle invente de la vie nouvelle, elle invente
de l’esprit nouveau; elle ouvre des yeux qui ont des types nouveaux de vision. Elle verra si elle a ‘des
16
visions’. (Bachelard, 1942:24)
Es ist durchaus verständlich, dass der Nachahmungsgedanke mit einer ästhetischen Vorstellung kollidiert, die in der Kunst das sichtbare Produkt des unsichtbaren ‘Auges’ der inneren
Vision sieht, und daher im Rahmen einer solchen Imaginationstheorie als obsolet zu wirken
vermag.
4.1.3 Traum und Alchemie
In einem Brief an Caroline Schlegel (1799) schreibt Novalis, dass Fantasie und Traum sehr
ähnlich sind. Die Bedeutung, die Novalis (und mit ihm die ganze romantische Ästhetikschule)
dem Traum zukommen lässt, ist nur in diesem Zusammenhang zu verstehen, denn sie teilen
dieselben Attribute: Sie sind der prophetische Schlüssel zu einer höheren Wahrheit, zu einer
Metarealität, welche die durch das Wort des Dichters Geist gewordene Welt darstellt. Der
Traum ermöglicht die “freie Erholung der gebundenen Phantasie” und somit die Offenbarung,
weil er “ein bedeutsamer Riß in den geheimnisvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in
unser Inneres hereinfällt” (Novalis, 1991:13). Daher lässt sich die Äquivalenz Märchen (als poetischste Form überhaupt) - Traumbild-Fantasie-Natur infolge des ‘romantisierenden’ Aktes des
frei waltenden Subjekts problemlos feststellen; ein magisches Netz von scheinbar disparaten
Begebenheiten ist die Welt, so wie der Traum, und nur das poetische Wort ist imstande die
okkulte Einheit wieder herzustellen: „Ein Mährchen ist eigentlich wie ein Traumbild – ohne
Zusammenhang – Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten” (Novalis, 1976:173
[986]). In einer modifizierten Form stehen wir hier vor demselben Begriff der ‘subtilen Korre15
“Freylich ist dieser umgekehrte Gebrauch der Sinne den Meisten ein Geheimniss, aber jeder Künstler wird es sich
mehr oder minder deutlich bewusst seyn” (Novalis, 1976:226[119]).
16
Sowohl bei Novalis als auch bei Bachelard wird der Rezipient, auf den das Kunstwerk, als materielles Produkt der
Imagination wirkt, einen ähnlichen Verwandlungsprozess der gewöhnlichen Wahrnehmungsschemata durchgehen, der
ihm die Teilnahme an der Vision des Künstlers ermöglichen soll: “Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in
uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen” (Novalis,
1976:164 [63]).
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spondenzen’, der Baudelaires poetischer Auffassung zugrunde liegt. Wenn Bachelard über das
Geheimnis “des correspondances qui nous invitent à la vie multiple, à la vie métaphorique”
(Bachelard, 1948b:82) spricht, beruft er sich auf Baudelaire, aber ebenfalls auf Novalis und
17
Jung, die dieses Thema mit dem der Alchemie in Verbindung setzen. Die Einbildungskraft verwendet die “unerschöpfliche Menge von Materialien zu neuen individuellen Combinationen”
(Novalis, 1976:36 [114]), aufgrund der Assoziationen, die allerdings zwischen den traumbildenden ‘Bruchstücken’ ohne Zusammenhang bestehen, die als Muster von romantischen
18
Erzählungen fungieren. Das ist die alchemische Kraft der Imagination, deren spezifische
Funktion in der Metamorphose besteht, wie Bachelard es zum ersten Mal in “Lautréamont”
(1940:195) erörtert.
Der wichtige Unterschied, den der französischen Philosoph zwischen rêve (‘Traum’) und
rêverie (‘Träumerei’) feststellt, macht jedoch die Besonderheit seiner Imaginationstheorie aus.
Dem nächtlichen, negativ konnotierten Traum, der dem verdunkelten Geist jede Selbstbeobachtung verweigert und daher eine ständige Unausgeglichenheit in der Psyche unterhält,
stellt der Autor der berühmten “Poétique de la rêverie” den Harmonie und Wohlstand
bringenden Tagtraum entgegen, der eigentlich der Traumauffassung von Novalis entspricht. Nur
in der ‘rêverie’ kann die Imagination den höchsten Grad menschlicher Freiheit erreichen, von
19
dem aus sie die Wirklichkeit neu schaffen kann. Das ist der Zustand, in dem, wie bereits
angedeutet, die Verschmelzung von Innen- und Aussenwelt, von Subjekt und Objekt eintreten
kann. Deswegen kann für Bachelard die poetische ‘rêverie’ nur kosmisch sein, insoweit sie eine
Öffnung (vielleicht, mit Novalis’ Worten, einen ‘Riss’) im Reellen darstellt, die zu seinem
Aufgehen im Imaginären führt und somit die Einigung von Ich und Nicht-Ich ermöglicht:
La rêverie poétique est une rêverie cosmique. Elle est une ouverture à un monde beau, à des mondes
beaux. Elle donne au moi un non-moi qui est le bien du moi; le non-moi mien.” (Bachelard,
1960:12)
Damit kann Bachelard an eine andere, allen Romantikern gemeinsame Vorstellung anknüpfen, die im Spannungsfeld natura naturans – natura naturata spielt; die Natur wird sowohl
passiv als auch aktiv gesehen, ihr gehört dann die Stimme, die in den Träumen, also durch den
Dichter, zum Ausdruck kommt: „C’est pourquoi dans la rêverie c’est moins le sujet qui rêve le
monde, que le Monde qui se rêve à travers la singularité du sujet” (Wunenburger, 1998:40).
Novalis will nichts anderes sagen, als er den Traum für eine ‘Naturseelenwirckung’ hält
(1976:173 [959]).
5. Zeitmagie
Die Wirklichkeit kann nur im Zusammenhang einer gewissen Zeitlichkeit gedacht werden,
sei es einer mythischen, einer real-historischen oder einer bloß imaginierten. In Novalis’ Programm der ‘Romantisierung’ der Welt spielt dementsprechend die Zeitdimension eine wichtige
Rolle: der aktuelle, noch nicht vergeistigte Zustand der Welt wird der primitiven Harmonie und
der utopisch projizierten Nachwelt entgegen gesetzt. Obwohl Bachelard die Topoi des Goldenen
Zeitalters und seiner Wiederkehr in der Zukunft nicht ausdrücklich behandelt, kann sich die
Annäherung an Novalis für einige Charakteristika seiner Zeitreflexion als fruchtbar erweisen.
17
S. Higonnet, 1981:30.
S. Novalis, 1976: 130 [113].
19
Vgl. Novalis, 1976:173 [959]: “Er [der Traum] ist, wie die Poësie bedeutend – aber auch darum unregelmässig bedeutend – durchaus frey”.
18
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
5.1 Die goldene Vergangenheit
Novalis teilt mit allen Romantikern die Faszination für den Urzustand der Natur, jene mythische Zeit, in der noch keine Risse und Spaltungen die Einheit der Welt beeinträchtigten, „wo
jeder Keim noch für sich schlummerte, und einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die
dunkle Fülle seines unermesslichen Daseins zu entfalten” (Novalis, 1991:75). Was diese Urzeit
kennzeichnet – und Heinrichs Vater sagt es deutlich –, ist die unvermittelte Präsenz des Göttlichen auf Erden, da damals “der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel” (1991:13) stattfand. In
einer romantischen Neubelebung des Orpheus-Mythos schildern auch die Kaufleute das Gesicht
jener fabelhaften Natur, in der die Kraft des poetischen Wortes unbegrenzt war, wobei die Sage
des alten Dichters wie eine Prophetie in Bezug auf Heinrichs sonderbares Schicksal funktioniert: Es sollen
Dichter gewesen sein, die durch den seltsamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben
der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden
den toten Pflanzensamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere gezähmt, […]
und selbst die totesten Steine in regelmässige tanzende Bewegungen hingerissen haben. (Novalis
1991:28).
Für Bachelard stellt Novalis’ gesamte Dichtung, in der das Märchen immer eine Art Kosmogonie ist, “un effort pour revivre la primitivité” (1938:67-68) dar. Aus der Perspektive einer
mythologisch-psychoanalytischen Kritik zeigt Bachelard bei Novalis einen echten Feuerkomplex
auf, was ihm bei seinem Versuch, die Funktionierung der Imagination aufgrund archetypischer
Energiemuster Jungscher Provenienz zu erhellen, hilfreich sein wird. Für die Einbildungskraft ist
die zeitliche Distanz, die den heutigen ‘rêveur’ von den mythischen Zeiten trennt, überbrückbar:
“En moi rêve donc une force rêvante, une force qui a rêvé jadis, dans des temps très lointains,
et qui revient ce soir s'animer dans une imagination disponible!“ (1943:252-253).
5.2 Die Zukunft als Utopie
Die Aufgabe der Kunst besteht darin, die Wiederkehr jenes Goldenen Zeitalters in die Welt
vorzubereiten, anzukündigen und letztendlich zu bewirken. “Heinrich von Ofterdingen” ist die
Geschichte dieser verwirklichten Utopie, welche die Erlösung der Welt durch die poetische Kraft
behauptet. In den Aufzeichnungen zu “Heinrich von Ofterdingen” verweist Novalis mehrmals
auf die Modalität dieser Erfüllung. Durch die Poetisierung der Welt ist das neue Goldene Zeitalter angebrochen, das jedoch nicht einfach eine Rückkehr zur magischen Urzeit bedeutet, sondern vielmehr ihre Übernahme und Transzendierung in einer neuen, vollkommenen Existenzform darstellt. Die Bedingung dafür ist die universelle Verschmelzung, die Versöhnung aller
Antinomien:
Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poëtisch. Neue goldne Zeit. Poëtisieter Idealism.
Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben müssen hinten zusammen,
wie Eine Familie [handeln] oder Gesellsch[aft] wie Ein Geschlecht handeln und sprechen. (Novalis,
1991:205)
J.-P. Roy (1977:75-76) argumentiert, dass auch für Bachelard die kreative Imagination immer im Dienste einer besseren, frei zu schaffenden Zukunft steht. Die imaginative Tätigkeit
bewirkt “une causalité du futur”, und sie öffnet den Weg zur Neubelebung der antiken Mythen
(z.B. Platons Androgynie), die dem ‘rêveur’ nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der
Zukunft alles Möglichen zugänglich werden, in der zeitlichen ‘ouverture’ (‘Öffnung’), in welche
die Imagination ihn einführt:
Dès lors l’androgynie n’est pas derrière nous, dans une lointaine organisation d’un être biologique
qui commenterait un passé de mythes et de légendes; elle est devant nous, ouverte à tout rêveur
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qui rêve de réaliser aussi bien le sur-féminin que le sur-masculin. Les rêveries en animus et en anima sont ainsi psychologiquement prospectives. (Bachelard, 1960:73)
Da die Einbildungskraft einen gegen die Vergangenheit und die Wirklichkeit gerichteten
Vektor darstellt, verläuft ihr Pfeil notwendigerweise auf die Zukunft zu: “L’imagination, dans
ses vives actions, nous détache à la fois du passé et de la réalité. Elle ouvre sur l’avenir.” (Bachelard, 1957:16).
6. Die poetische Sprache
Bachelards wichtigster Beitrag zu einer Phänomenologie der Imagination ist seine Vorstellung von der ontologischen Funktion der poetischen Sprache. Der Mensch findet im Logos
seine ganze Spezifizität, die Schöpfung eines neuen poetischen Bildes be-wirkt zugleich eine
Mutation auf ontologischer Ebene: das Werden eines ‘être entr’ou-vert’, das kein festes
Zentrum hat (s. McAllester, 1984), und eine perpetuelle Wiedergeburt durch die Imagination
erlebt. So hebt Kearney als Schlussfolgerung zu seinem Kapitel über Bachelard die
Eigenartigkeit seiner Auffassung gegenüber Husserl und Sartre hervor:
His increasing emphasis on the working of a logos of poetical interaction between the imaginative
consciousness and the images themselves represented a decisive advance on both the eidetic phenomenology of Husserl and the existential phenomenology of Sartre. (Kearney 1991:103)
Auch wenn Novalis’ Reflexion über die poetische Rolle der Sprache nicht dieselbe zentrale
Stellung einräumt, sind seine Betrachtungen über die Lebendigkeit der Sprache und deren poetischen Gebrauch im Hinblick auf das Gesamtbild seines imaginationstheoretischen Ansatzes
unentbehrlich.
6.1 Das Lebendig-Organische
Mit der Naturphilosophie der Romantik und der Subsumption der Welt bzw. der Natur unter den
Begriff des Organismus avanciert der Organismusgedanke zur Grundkategorie der Weltdeutung. Der
Wechsel vom Verständnis des Kosmos als eines statischen Mechanismus zu einer Auffassung als dynamischer Organismus bedeutete den Sieg der Ansicht, dass das Universum nicht Gemachtes ist,
sondern etwas, das gemacht wird oder entsteht. (Best, 1998:183)
Während in Kants Auffassung vom Organismus die veralteten Konzepte des Kosmos als
Maschine, der Natur allein als ‘natura naturata’, unterlaufen werden, wird umgekehrt mit dem
deutschen Idealismus das Bild der Pflanze, der Blume oder des pflanzlichen Wachstums bei
allen Romantikern immer stärker akzentuiert, so dass ein Theoretiker wie Paul de Man in seiner
schon klassisch gewordenen Studie “The Rhetoric of Romanticism” (1984) die Besonderheit des
romantischen Bildes auf seine Vorstellung als natürlichen Gegenstand (wie Blumen, die als
Inbegriff eines transzendentalen Prinzips ‘entstehen’ und wachsen) zurück zu führen vermag.
Die Sprache ist auch bei Novalis ein solcher lebendiger Organismus – allerdings nur die poetische Sprache, die sich von den mechanischen, utilitaristischen Gesetzen des alltäglichen
Sprachgebrauchs befreit hat:
Unsre Sprache ist entweder – mechanisch – atomistisch – oder dynamisch. Die ächt poëtische Sprache soll aber organisch Lebendig seyn. (1976:113 [70])
Verschiedene Formen nimmt dieser Grundsatz in den Aufzeichnungen an: von der Sprache
lässt sich dieses Organisch-Lebendige auf die Dichtung und mithin auf den Schaffensprozess
selbst übertragen. Erörtert Novalis ausdrücklich: “Dichten ist zeugen. Alles Gedichtete muss ein
lebendiges Individuum seyn” (1976:114 [36]), so ruft er damit ein verbreitetes produktionsästhetisches Modell auf (durch - unter anderen - Wilhelm von Humboldt und Herder vertreten),
das in der geistigen Hervorbringung eines Kunstwerks einen natürlichen ‘Reifeprozess’ sieht,
und die auch die bei Kant aufgetretene Analogie zwischen Kunst und Natur weiter ausbaut. Als
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
lebendige Organismen müssen sich Sprache und Poesie frei entfalten, ohne äussere Beeinträchtigungen, da sie dem natürlichen Werden eine künstliche Entwicklung aufzwingen würden. In dieser Hinsicht sind Klingsohrs Ratschläge an den jungen Heinrich zu verstehen: Ein
Dichter soll mit dem Wesen der Sprache gut vertraut sein, denn “die Sprache überhaupt hat
ihren bestimmten Kreis” (Novalis, 1991:116). Daraus ergibt sich, dass “törichte Versuche, sie
über ihre Kräfte anzuspannen” nur dem Scheitern bestimmt sind: “Auf seltsame Sprünge richtet
sie nur ein Gaukler, kein Dichter ab.”
Die Vegetationsmetaphern prägen auch den Diskurs Bachelards, sobald es um die unerklärbare Genesis des poetischen Bildes im imaginierenden Bewusstsein geht. Immer wenn er die
Beschaffenheit des poetischen Bildes in den Vordergrund rückt, kommt seine organischlebendige Auffassung von der Sprache/Imagination zum Ausdruck: Das Bild kann, wie der ‘Samenkorn’, die Quelle eines ganzen Universums sein. Das zentrale Paradox der Phänomenologie
der Imagination besteht in der Frage: “comment une image parfois très singulière peut-elle
apparaître comme une concentration de tout le psychisme?” (Bachelard, 1957:3), und die Analogie zum germinativen Prozess macht die einzig mögliche Antwort aus:
On pourra alors se rendre compte que l’image est une plante qui a besoin de terre et de ciel, de
substance et de forme. Les images trouvées par les hommes évoluent lentement, difficilement, et
l’on comprend la profonde remarque de Jacques Bousquet: ‘Une image coûte autant de travail à
l’humanité qu’un caractère nouveau à la plante’. (1942:4)
20
Bachelard verabschiedet die veraltete These von der Sprache als einem Instrument und
schlägt die ontologische Vorstellung einer Sprach-Wirklichkeit vor, wobei die ganze Aufmerksamkeit auf die Lebendigkeit der Sprache gerichtet wird. Daher kann die einzig adäquate interpretatorische Haltung nur ein Diltheysch gefärbtes Erlebnis sein, das jedes rein intellektuelle
Verstehen ausschliesst:
A vivre les poèmes on a donc l’expérience salutaire de l’émergence. […] Un micro-bergsonisme qui
abandonnerait les thèses du langage-instrument pour adapter la thèse du langage-réalité trouverait
dans la poésie bien des documents sur la vie tout actuelle du langage. (Bachelard, 1957:10)
6.2 Poetischer vs. utilitaristischer Sprachgebrauch
Man ist versucht, so der Vorwurf mancher Wissenschaftler, welche die Annäherung Novalis’
an moderne Sprach- und Literaturtheorien als anachronistische Aktualisierungsversuche jüngster Kritik verurteilen, die überraschenden poetologischen Aufzeichnungen des Dichters für
echte Manifeste der Moderne avant la lettre zu halten, wobei es allerdings nur auf missverstandene, aus dem gesamten Denkrahmen der romantisch-idealistischen Ästhetik isolierte
Fragmente ankommt. Ohne diesem Irrtum zu verfallen und mit aller solchem Vorgehen unentbehrlicher Vorsicht räume ich jedoch aus der Sicht einer modernen, formalistisch begründeten
Dichtungsauffassung den Reflexionen von Novalis über den poetischen Charakter der Sprache
einen besonderen Stellenwert unter den wichtigsten Vorläufern der Moderne (Baudelaire, Rimbaud, usw.) ein. Die Übereinstimmungen lassen sich in diesem Fall aus einer gemeinsamen
Grundannahme im Rahmen einer gegen das Nachahmungsprinzip gerichteten Ästhetik ableiten:
Nicht die Verwendung von rhetorischen Figuren (wie die klassischen, normativen Poetiken es
gelehrt haben) macht den Unterschied zwischen der poetischen und der alltäglichen,
20
Diese Auffassung ist bei Novalis allerdings noch vorhanden: Der Dichter ‘beherrscht’ die Sprache, insofern das sprachliche Kunstwerk nur als Produkt eines sich frei setzenden, absoluten Ichs bedeutsam ist: “Sprache im eigentlichen
Sinn ist, Function eines Werckzeugs als solchen. Jedes Werckzeug drückt, prägt die Idee seines Dirigenten, aus” (Novalis,1976:121[264]). Dass jedoch nur aufmerksame Beobachtung des Sprachwesens und Kenntnis ihres durch organische Gesetze bestimmten Charakters den Dichter zu diesem höchsten Grad der Vervollkommnung gelangen lässt,
wurde bereits gezeigt.
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‘prosaischen’ Sprache aus, sondern der unterschiedliche Gebrauch desselben Stoffs in Hinblick
auf Botschaft und Zweck. Was die russischen Formalisten als poetische oder expressive
Funktion der Sprache theoretisiert haben, und Valéry zum Zentralpunkt seiner Parallele
zwischen Prosa und Dichtung gemacht hat, stellt auch ein Hauptthema der Beschäftigungen
von Novalis mit der Sprache dar. Die Sprache “im eigentlichsten Sinn” (und somit die “künstliche, didaktische Poesie”) lässt sich als ein Mittel, ein zum Erreichen einer bestimmten
Wirkung angewendetes Kommunikationswerkzeug definieren: die Vermittlung einer Botschaft
im Rahmen des klassischen dreiteiligen Schemas Sender (“Ausdruck einer Absicht”) – Botschaft
durch einen sprachlichen Code (“bestimmte Mittheilung”) – Empfänger (“Erregung eines be21
stimmten Gedanckens”). Auch wenn sich die Prosa mit ähnlichen Redefiguren wie die Poesie
schmückt, bleibt sie jedoch nur ein Mittel “auf einen bestimmten Zweck gerichtet”, im Ver22
gleich zur Poesie, die ein “organisches”, “unbeschränktes”, “allfähiges” Wesen ist. Novalis versucht damit, den romantischen Roman von der deskriptiven Poesie oder Prosa zu unterscheiden.
Ein echtes poetisches Bild ist “kein Symbol eines Fremden”, will keinen “beabsichtigen Gedanken im Hörer erwecken”, sondern ist stets nur ein “Symbol von sich selbst”. Auch wenn
diese Definition der formalistischen Selbstreferentialität der poetischen Sprache buchstäblich
nahe kommt, darf nicht die Tatsache übersehen werden, dass Novalis solche Behauptungen aus
dem Reflexionszusammenhang einer frühromantischen Ausdrucksästhetik heraus macht (vgl.
Joas, 1992), die im Kunstwerk den Ausdruck der menschlichen schöpferischen Totalität des
hervorbringenden Ich sieht. Die Poesie kann ein “Symbol von sich selbst” sein, nur insofern, als
sie als Element und Ausdruck des Geistes fungiert.
Eine ähnlich paradoxe Spannung liegt Bachelards späterer Auffassung des poetischen Bildes
zugrunde. Einerseits vertritt Bachelard dieselbe subjektzentrierte „esthétique de l’expressivité“,
die alle poetischen Äusserungen als unmittelbaren Ausdruck des dichterischen Ich versteht,
andererseits argumentiert er zugunsten einer Ontologie der Sprache, welche die absolute Freiheit des poetischen Bildes setzt und ihm jede kausale, psychologische oder möglichst andere
Determinierung verweigert:
De telles images doivent, pour le moins, être prises dans leur être de réalité d’expression. C’est de
l’expression poétique qu’elles tirent tout leur être. On diminuerait leur être si l’on voulait les référer
à une réalité, voir à une réalité psychologique. Elles dominent la psychologie. Elles ne correspondent
à aucune pulsion psychologique […]. Il est superflu que de telles images soient vraies. Elles sont.
Elles ont l’absolu de l’image. (Bachelard, 1957:163-164)
Das poetische Bild zeichnet sich auch durch ein weiteres wichtiges Attribut aus: seine Neuheit, den sprachlich und ontisch innovatorischen Wert seines Aufkommens, das auf einer anderen, vom alltäglichen Gebrauch unterschiedlichen Ebene der Sprache stattfindet. Das poetische Bewusstsein geht völlig in solch einem Bild auf, das „oberhalb der gewöhnlichen Sprache“
entsteht und sie von ihrem „rôle utilitaire“ befreit:
La conscience poétique est si totalement absorbée par l’image qui apparaît sur le langage, audessus du langage habituel, elle parle, avec l’image poétique, un langage si nouveau qu’on ne peut
plus envisager utilement des corrélations entre le passé et le présent. (1957:12)
Durch das poetische Bild wird der Gegenstand aus seinem prosaischen Umfeld gerissen und
in ein neues, verfremdendes Licht gerückt:
Créer une image, c’est vraiment donner à voir. Ce qui était mal vu, ce qui était perdu dans la
paresseuse familiarité, est désormais objet nouveau pour un regard nouveau. (1943:34)
21
22
S. Novalis, 1976:117 [214].
S. Novalis, 1976:149 [98].
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Novalis und Gaston Bachelard: eine philosophische und poetologische Verwandtschaft
23
Dieses Verfremden, das Novalis in Anlehnung an den Traum erarbeitet, wird ebenfalls zum
Zentralpunkt seiner Poetik:
Die Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poëtik. (Novalis, 1976:134 [668])
Wie sehr dieses Verfremdungskonzept an die formalistische Entautomatisierung der Sprache auch erinnern mag, seine vollen Bedeutung und Wirksamkeit sind allerdings nur im Rahmen einer romantisch fundierten ‘transzendentalen Fantastik’, so wie sie Novalis entworfen
und in seinen Romanen praktiziert hat, richtig einzuschätzen.
Indem sie über den poetischen Charakter der Sprache reflektieren, treffen sowohl Bachelard als auch Novalis – eine weitere eindeutige Gemeinsamkeit – dieselbe Unterscheidung
zwischen Allegorie als künstlicher, mechanischer Kunst, und der echten Poesie. Ein Bild, sagt
Novalis, muss nicht allegorisch sein (d.h. auf ein Fremdes verweisen), sondern sich nur auf sich
selbst beziehen. Bachelard stellt der Metapher (als allegorischem, d.h. fabriziertem Bild, ohne
tiefe Wurzeln) das poetische Bild entgegen, das allein “oeuvre pure de l’imagination absolue”,
“un phénomène d’être” (Bachelard, 1957:80) ist.
7. Schlussbetrachtungen
Es ist offensichtlich, dass idealistische Vorstellungen über Wesen und Funktion der Einbildungskraft im Mittelpunkt Bachelardscher Reflexion stehen. Meine Arbeit zeigt, ohne
exhaustiv alle Berührungspunkte zwischen Novalis und Bachelard zu analysieren, inwieweit
andere zahlreiche Haupt- und Nebenthemen Bachelard mit dem romantischen Denken im
24
allgemeinen und insbesondere mit Novalis verbinden. François Pire (1967:134) sieht die
Originalität Bachelards weniger in seiner Theorie der Imagination, in der nicht nur Novalis,
sondern auch der Surrealismus ihm vorangehen, als in seiner interpretatorischen Methode:
[…] même si les principes de sa philosophie rappellent finalement une certaine tradition, Bachelard
ne doit pas sa théorie de l’imagination à la tradition philosophique. Son point de départ est toujours
une réflexion sur des images poétiques particulières”. (Pire 1967:134)
Nichtsdestoweniger muss aber darauf verwiesen werden, dass, auch wenn sich Novalis’ und
Bachelards Überlegungen dieselbe Tiefenstruktur teilen, die Moderne eine wichtige Akzentverschiebung im Konzept des künstlerischen Schöpfertums bewirkt hat. In diesem Zusammenhang
bemerkt Pontzen:
Wo sich, wie in der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit, ein Interesse für Kreativität als Phänomen ausprägt, rückt hingegen das durch seine Schöpfungskraft ausgezeichnete Individuum, der
Künstler allein, in den Blickpunkt. (Pontzen, 2000:15)
Novalis’ Theorie der Dichtkunst ist nur in diesem historisch-kulturellen Zusammenhang auszulegen. Bachelards Auffassung kennzeichnet hingegen eine Interessenverlagerung, welche die
Aufmerksamkeit grundlegend auf die Autonomie der Sprache richtet, wie wenig der Künstler
von seiner geheimnisvollen Aura auch etwas verloren haben mag. Diesbezüglich befindet sich
Bachelard gerade an dem für die Postmoderne so wichtigen Wendepunkt, infolge dessen die
23
“Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmässigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freie Erholung der gebundenen Phantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinander wirft, und die beständige beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht” (Novalis, 1991:13-14).
24
Vgl. Higonnet (1981:37): “Comparison to Romantic poetics brings to light the interconnections among secondary
themes such as primitivism or literary autonomy, and, most important, it reveals the dialectic structure of Bachelard’s
thought. For Bachelard finds this strucure to be one which enables him to affirm paradoxes and to read expansively,
in a literary quest that resembles the Romantic ‘Sehnsucht nach dem Unendlichen’”.
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Sprache oder andere transpersonale Kräfte an die Stelle des schöpferischen Subjekts treten. In
seinem ‘dialektischen Denken’ kommt die ganze Spannung eines solchen Moments zum Ausdruck, wenn beide Tendenzen sich den Vorrang streitig machen.
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Literatur:
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“WARUM SIE AUCH SCHREIBT?”
Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten
Dramen des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts
Elin Nesje Vestli
1. Einführung
Eine der berühmtesten Aussagen im 18. Jahrhundert ist Friederike Caroline Neubers ironisch-koketter Einstieg zu dem aus dem Jahr 1734 stammenden Ein Deutsches Vorspiel:
Lieber Leser. Hier hast du was zu lesen. Nicht etwan von einem grossen gelehrten Manne; Nein! Nur
von einer Frau, deren Namen du aussen gefunden haben, und deren Stand du unter den geringsten
Leuten suchen mußt: Denn sie ist nichts, als eine Comödiantin; […] Fragst du: Warum sie auch
schreibt? So antwortet sie dir das, dem Frauenzimmer gewöhnliche, Darum! Fragt dich jemand: Wer
ihr geholfen hat? So sprich: Ich weis es nicht; oder: Es könnte doch wohl seyn, daß sie es selbst ge1
macht hätte.
Die von der Neuberin eingesetzte Strategie ist in dieser Zeit eine traditionelle weibliche
Waffe beim Schreiben: die eigenen Fähigkeiten und Talente herunterzuspielen, den angeblich
geschlechtsbedingten Dilettantismus zu betonen, in der — meistens vergeblichen — Hoffnung,
dadurch von der Häme Schrifstellerinnen gegenüber etwas weniger betroffen zu werden. Im
Jahre 1810 kommentiert der Neuberin Kollegin Johanna Franul von Weißenthurn, ebenfalls
Schauspielerin und Autorin, ihre Dreistheit, öffentlich als Verfasserin aufzutreten, auf folgende
Weise:
Oeffentlich als Verfasserin aufzutreten, — der Schritt ist gewagt; er führt auf eine Bahn, die die
sanfte Weiblichkeit scheuen sollte — es führt zum Krieg. Zwar steh’ ich dort nicht allein; weit rühmlicher ward diese Bahn schon von meinem Geschlechte betreten, als ich sie betreten kann; aber sie
liegt nun ein Mahl außer dem uns angezeigten engen Wirkungskreise, und wir scheinen uns zu ver2
irren, wenn wir ihn überschreiten.
Zwischen den Aussagen der zwei Theaterfrauen liegen mehr als siebzig Jahre, in denen
Frauen geschrieben und veröffentlicht haben, und in denen sich die teilweise sehr erfolgreichen
Autorinnen ebenfalls immer wieder für ihr Schreiben entschuldigt haben. Nicht zuletzt die
zahlreichen Vorreden, in denen die angebliche Unvereinbarkeit von Weiblichkeit und dichterischer Tätigkeit thematisiert wird, zeugen von der beharrlichen Tradition des Bescheidenheitstopos. Aber konträr zu diesen textexternen Reflexionen über Schreiben und Gender finden wir in
vielen Schauspielen, als Teil oder sogar Kern der Handlung, also textintern, die damals sehr
beliebten Literatursatiren. In diesen Literatursatiren steht ebenfalls die Tätigkeit des Schreibens
im Vordergrund, aber selten talentvolles Schreiben, eher werden dilettantische Dichterlinge
oder solche, die nur über das Schreiben reden, aber noch keine Zeile vorweisen können, angeprangert. Diese mit bissigem Humor geschilderten Schreiberlinge sind häufig männlichen
Geschlechts, wie etwa Herr Vielwitz in Luise Gottscheds Der Witzling (1745) oder Ludwig im
1781 entstandenen Drama Der Dichterling. Solche Insekten giebt es die Menge von Juliana
1
2
Neuber (1997:45).
Weissenthurn (1910:III).
Elin Nesje Vestli
Hayn. In den recht krassen Literatursatiren wird auf die die Schwächen des weiblichen
Geschlechts entschuldigende Geste verzichtet; statt dessen wird gezeigt, wie Männer ihre
Talente grotesk überschätzen und wie Frauenfiguren die Stimme der Vernunft vertreten. Hier
wird fehlendes Talent schlicht und einfach als fehlendes Talent dargestellt, ungeachtet der
Gender-Frage. Im Folgenden werden einigen Beispielen textexterner und -interner Reflexionen
dieser Art nachgegangen.
2. Weiblichkeitskodex und Schriftstellersucht
Gerade die dramatische Gattung bietet sich für eine solche Untersuchung an. Denn das
Schreiben für das Theater bedeutet einen hohen Grad an Öffentlichkeit, und das Metier wird bis
in die Nachkriegszeit hinein als eine primär männliche Domäne betrachtet. Dramatikerinnen
setzen sich nicht nur dem allgemeinen Misstrauen Schriftstellerinnen gegenüber aus, sondern
ebenfalls dem äußerst zweifelhaften Ruf, den der öffentliche Charakter des Theaters mit sich
bringt. Der Mut, für die Bretter zu schreiben, kommt einer Verletzung des Weiblichkeitskodex
gleich. Ein beschwichtigendes Vorwort um den Fauxpas zu mildern gehört zum literarischen
Diskurs der Zeit. Der eigentliche Text, in diesem Fall das Stück, wird dadurch in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Entsprechend tragen Widmungen, Danksagungen,
ausführliche Titeleien o. ä. dazu bei, das Zusammenspiel zwischen Gesellschaft und Kunst zu
umreißen. Bei von Frauen verfassten Texten kommt als weiterer Parameter die Kategorie
Gender
hinzu.
Die Botschaft
der unterschiedlichen Beschwichtigungsstrategien können unter dem Begriff
Bescheidenheitstopos zusammengefasst werden. Stereotype Redewendungen, klischeehafte
Entschuldigungen des eigenen Wagemutes sollen Vorwürfe etwa der Unbescheidenheit oder
der ganz und gar unweiblichen Ruhmsucht abschwächen. Denn als Frau zu schreiben und sogar
öffentlich wirken zu wollen harmoniert nicht mit dem zeitgenössischen Gebot der Bescheidenheit und Zurückhaltung. Carl Friedrich Pockels, Autor des fünfbändigen Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, betrachtet gerade die Schamhaftigkeit als “[…] eine der
3
schönsten und reinsten Zierden des weiblichen Herzens […]” Falls Frauen dagegen verstoßen,
etwa indem sie schreiben und auf die Weise dem “Kitzel unsterblich […] werden [zu wollen]”
4
nicht widerstehen können, sind sie zu verachten. Eine Frau, “[…] die den ganzen Tag sitzt und
5
lieset, oder mahlt, oder gar schriftstellert”, sei lächerlich und gegen die Natur. Denn die Natur
6
“[…] bestimmte es [das Weib] zur Gehülfinn […]”, nicht zur “Bücherfabricantin”. Sein Zeitgenosse Johann Heinrich Campe, Autor von Väterlicher Rath für Meine Tochter, sieht das ähnlich: schreibende Frauen leiden an der ansteckenden Krankheit “Schriftstellersucht”, eine
Krankheit, die häufig mit dem ebenfalls äußerst unpassenden Wunsch gelehrt zu sein gepaart
7
8
wird. Diese Veranlagung bei einer Frau führe zu Nervenkrankheit. Christoph Meiners betrachtet in seiner vierbändigen Geschichte des weiblichen Geschlechts (1799-1800) dies nicht
nur pathologisch, sondern ausgehend von der Wirkung auf die Zeitgenossen: “In der That sind
9
gelehrte Weiber in der schlimmen Bedeutung des Worts […] unerträglich […].”
Auch wenn Gelehrtheit bzw. eine umfassende Bildung des weiblichen Geschlechts in der
Frühaufklärung eher toleriert wird als in der Spätaufklärung, ist die Charakteristik “eine ge3
Pockels (1797-1802, Bd.1:186-187).
Pockels (1797-1802, Bd. 2:305).
5
Pockels (1797-1802, Bd. 2:331 u. 302-303).
6
Pockels (1797-1802, Bd. 2:332 u. 305).
7
Campe (1812:66).
8
Campe (1812:59).
9
Meiners (1799-1800, 4. Theil: 291).
4
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
lehrte Frau” selten unverblümt als Lob zu verstehen. Nicht zuletzt im ausgehenden 18. und am
Anfang des 19. Jahrhunderts sind die Kritiker weiblicher Bildung, wenn diese über das übliche
Maß für eine Frau des Bürgertums hinausgeht, zahlreich. Weder eine Gelehrte noch eine
Schriftstellerin kann ihrer (biologischen) Bestimmung gerecht werden, eine Behauptung, die
10
selbst Luise Gottsched verinnerlicht. Ein beschwichtigendes Vorwort, eine einleitend entschuldigende Geste kann deshalb den Bruch gegen die Bestimmung des Geschlechts versuchsweise erklären, allerdings kaum legitimieren.
3. Schreiben und sich gleichzeitig dafür entschuldigen: die doppelzüngige “Bücherfabricantin”
3. 1. Vorworte
Ein Vorwort bedeutet eine direkte Kommunikation mit der Leserschaft. Es bildet eine Gelegenheit für den Autor/die Autorin, ein wichtiges Anliegen vorzubringen. Ein traditionelles
Anliegen eines Vorworts ist, die Hintergründe für den Text zu beleuchten, etwa die
gesellschaftlichen Umstände, unter denen der Text entstanden ist, zu erklären. Vorreden
weiblicher Feder aus dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert erörtern und entschuldigen nicht
selten die Tatsache, dass eine Frau so dreist ist, nicht nur zu schreiben, sondern auch vor die
Öffentlichkeit zu treten. Dieser Einstieg ist in der Regel sozial bzw. politisch motiviert. Nur
selten wird die gesellschaftliche Wahrheit thematisiert, dass eine Frau schlicht und einfach
“fürs Brod” oder sogar aus Neigung schreibt.
Das einleitend zitierte Vorwort “Lieber Leser” von Friederike Caroline Neuber (1697-1760)
entstammt ihrem Werk Ein Deutsches Vorspiel, 1734 in Leipzig entstanden. Es ist ein Kunstmanifest, in dem der Konflikt zwischen ihr und dem konkurrierenden Prinzipal Müller einen
theatralischen Niederschlag findet. Ihre Auseinandersetzung ist nicht nur eine künstlerische
Angelegenheit, in der der aufgeklärte Anspruch der Neuberin gegen die Stegreifpossen des
Hanswursts steht, sondern entspringt ebenfalls der Konkurrenz um das begehrte Bühnenhaus
über den Leipziger Fleischbänken. Das Vorwort, das eher traditionell einsetzt, indem die Autorin
sowohl auf ihren geringen Stand als auch auf ihr minderwertiges Geschlecht aufmerksam
macht, zeichnet sich im Folgenden durch einen nüchternen Pragmatismus aus und verzichtet
auf weitere Beschwichtigungen, wahrscheinlich weil ihre berufliche Laufbahn sie schon
überdeutlich mit den gesellschaftlichen Realitäten bekannt gemacht hat: “Die übrigen
[diejenigen, die nicht zu rechter Zeit reden, Anm. ENV] werden denken, was sie wollen; reden,
11
wenn sie können; und schweigen, wenn sie müssen.”
Ihre eigenen eventuellen
Fehlentscheidungen nimmt sie gelassen hin: “Hat sie wo gefehlet; so wird sie die Fehler nicht
12
entschuldigen: Denn dadurch werden sie nicht besser.” Im aufklärerischen optimistischen
Geiste hält sie an der Möglichkeit einer Besserung der Welt fest, und zwar durch die
Schaubühne (im Sinne von ihrer eigenen Truppe). Ihr Vorwort ist propagandistisch, angedeutete
Schwächen werden zu ihrem Vorteil gewendet. So wie die Neuberin eine ganz besondere
Persönlichkeit der deutschen Kulturgeschichte ist, so ist auch ihr Vorwort erstaunlich modern
und selbstbewusst: ein Denkmal der Frauengeschichte.
Zwei Jahre später entsteht ein ebenso bekanntes Vorwort, nämlich das Vorwort zu Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736 erschienen) von Luise Adelgunde Victorie Gottsched (17131762). Das Vorwort — das fast die Funktion einer Rahmenhandlung einnimmt, indem es auf
ähnliche Haltungen anspielt wie diejenigen, die im Stück angeprangert werden — besteht aus
der kurzen Vorrede eines Herausgebers und zwei Briefen aus dem Briefwechsel zwischen Her10
Brief an die Freyfrau von K*** am 14.11.1736. Kording (1999:94-95).
Neuber (1997:46).
12
Neuber (1997:46).
11
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ausgeber und Autor. Es bildet eine gesellschaftsbezogen und gleichzeitig fast intime Einführung
zum Stück selbst. Die formal heterogen zusammengesetzte Vorrede spielt mit den gesellschaftlichen und literarischen Konventionen, schafft Unmittelbarkeit und Vertraulichkeit zwischen
Leserschaft, (fiktivem) Herausgeber und Autor. Das traditionelle und im 18. Jahrhundert überaus beliebte Motiv des ahnungslosen Autors, der nur für sich selbst und seine engsten Freunde
geschrieben hat und sich nun zu einer Veröffentlichung gedrängt sieht, wird zelebriert, wie
auch die Bestürzung und Angst des Autors, der jetzt keine andere Möglichkeit mehr hat, als
sich ohnmächtig dem Vertrauensbruch des Herausgebers zu fügen: “Doch was wird es helffen
13
[…]”. Die einzige Geste, die ihm bleibt, ist, die Schuld von sich zu weisen, und seine Tätigkeit
als die eines unschuldigen Übersetzers zu definieren: “Und ich bin eher vor einen unschuldigen
14
Übersetzer, als für den Urheber dieses Lust-Spiels anzusehen.” Nicht nur die Identität des
Autors bzw. des Übersetzers/Bearbeiters sowie die Personalunion von Herausgeber und Autor
wird verschwiegen, sondern auch das Geschlecht. Denn “der Autor” ist die 26-jährige Luise
Gottsched. Erst nach ihrem Tod erscheint die Bearbeitung von der französischen Vorlage La
Femme Docteur ou la Théologie Janseniste tombée en Quenouille von Guillaume-Hyacinthe
Bougeant in ihrem Namen. Ein fiktiver Herausgeber, ein unschuldiger Übersetzer und ein Geschlechtertausch werden ins Feld geführt, um die Anonymität der jungen Frau zu schützen.
Die zwei Vorreden veranschaulichen den gesellschaftlichen Unterschied zwischen der Intendantin und der Professorengattin. Das ungleiche soziale Umfeld führt zu verschiedenen
Spielarten des Schreibens. Nicht das selbstbewusste Auftreten der Prinzipalin, sondern die Verschleierung der Gottschedin macht, wie die folgenden Beispiele zeigen, Schule. Während aber
das Geschlecht des Übersetzers in Die Pietisterey im Fischbein-Rocke verschwiegen wird, bildet
in der Folgezeit gerade das Geschlecht die Entschuldigungs- und Beschwichtigungsgeste überhaupt.
Von Catharina Helena Dörrien (1717 -1795) stammt das 1759 herausgegebene Schauspiel
Der Besuch. Der Text ist dem pädagogischen Bereich zuzuordnen, es handelt sich um eine erzieherische Spielvorlage für Kinder. Dörrien möchte ihnen Höflichkeit und gute Sitten “[…]
mittels eines kleinen Modells [beibringen], vorzüglich diejenigen Höflichkeiten dadurch
geläufiger zu machen, welche bey Abstattung oder Annehmung eines Besuchs, brauchbar sind
15
[…].” Der Text muss in privaten Kreisen einen gewissen Erfolg gehabt haben, denn nach sieben
Jahren erscheint eine neue und überarbeitete Auflage: Der Besuch. Ein kleines Schauspiel für
junges Frauenzimmer. Aufs neue übersehen, verbessert und mit allerhand nützlichen
Anmerkungen aus den besten Englischen und Französischen Schriftstellern begleitet. Der
elaborierte Titel nennt nicht nur die Zielgruppe, sondern betont auch den pädagogischen Wert:
es handelt sich um ein lehrreiches Buch, das für geschlechtsspezifische Erziehungszwecke
eingesetzt werden kann. Die herangezogenen Schriftsteller aus Frankreich und England verleiht
der Dramatikerin männliche Autorität.
Dass überhaupt eine Neuauflage für ihr Stück in Frage kommen konnte, versetzt die Autorin
in Staunen. Sie entschuldigt ihren Wagemut, als Dramatikerin hervorzutreten, und betont beflissen die geringe Qualität ihres eigenen Textes:
Niemals hat wohl ein Schauspiel weniger Beyfall und mehr Nachsicht verdienet, als dieses. In so
ferne, als ich mich aus dem Lesen bewährter Meisterstücke erinnern kann, wie ohngefähr eine gute
Comödie beschaffen seyn muß, finde ich an der meinigen nichts, welches sie, auch nur unter die
16
Reihe der mittelmäßigen, erheben könnte.
13
Gottsched (1996:11).
Gottsched (1996:9).
15
Dörrien (1762:6).
16
Dörrien (1762:5).
14
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
Die Antwort auf die naheliegende Frage, warum sie angesichts dieser Selbstkritik überhaupt
publiziert, entnimmt sie dem pädagogischen Bereich. Das Vorwort der Neuauflage richtet sich
natürlich vornehmlich an erwachsene LeserInnen, die im Vorwort moralische und pädagogische
Anhaltspunkte für den Gebrauch des Textes für ihre Schützlinge suchen. Dörrien betont allerdings nicht nur den Nutzcharakter, sondern auch den Unterhaltungswert, indem sie den Kindern eine Möglichkeit geben möchte, “[…] die rauhe Winterszeit auf eine angenehme Art zu
17
verkürzen […]”. Abschließend betont sie beflissen ihre Bescheidenheit und den Wunsch, ganz
und gar in den Hintergrund zu treten: “Was hätte ich aber wohl mehr zu wünschen, als wann
geübtere Federn, sich durch mein geringes Exempel anreitzen liessen, dasjenige mit besserm
18
Erfolg zu unternehmen […].”
Eine andere Annäherung wählt die Wiener Hoftheaterschauspielerin Maria Antonia Teutscher (1752-1784). Teutscher kombiniert, wie viele Schriftstellerinnen dieser Zeit, das Schreiben und die Schauspielkunst. Ihr Drama Fanny, oder Die glückliche Wiedervereinigung, ein
Drama in einem Aufzuge, 1773 “aufgeführt in den K. K. privilegirten Theatern, mit römisch. kais.
allergnädigst. Freyheit”, erscheint in der Reihe Deutsche Schaubühne. Das zeitgemäße Rührstück mit Happyend zeigt den Sieg der Liebe und der Tugend.
Die kurze Vorrede — hier vollständig wiedergegeben — ist in mehrerer Hinsicht interessant:
Ist es nicht Vermessenheit von mir, eine Bahn zu betreten, auf welcher selbst der geübteste Dichter
nie ohne Furcht zu straucheln wandelt? Was ist mehr gerechten und ungerechten Tadel ausgesetzt,
als ein Drama? Und dennoch wagt sich ein junges Frauenzimmer daran? — Vielleicht eben deswegen, weil es die Gefahr zu wenig kennet. Der Schritt ist einmal geschehen, das Stück entworfen.
Welcher Autor kann über sein Herz bringen, das Werk seines Kopfes und seiner Hände zu unterdrücken? Hier noch dazu ein weiblicher! — Meine aus einem bekannten kleinen Roman gezogene
Fanny erscheinet also, mit allen den Fehlern, die dieser Gattung von Stücken unvermeidlich ankleben, und die meine Unerfahrenheit gewiß noch reichlich vermehret hat. Genug für mich, wenn
das Publikum auch hier den guten Willen für die That annimmt, und der Verfasserinn, wegen eines
19
mißlungenen Versuchs, seine bisherige Gewogenheit nicht entziehet.
Teutschers beruflicher Hintergrund spielt mit, indem sie auf das hohe Ansehen der Dramatik
als der höchsten Gattung hinweist und die wagemutige Kombination von Genre und Gender
anspricht. Sie beginnt traditionell, weist auf die Vermessenheit ihres Anliegens hin, betont die
hohen Anforderungen gerade an die Gattung des Dramas — und macht sogar ausdrücklich auf
ihre jungen Jahre aufmerksam (sie ist zu dem Zeitpunkt 21 Jahre alt). Ihr Geschlecht und ihre
Jugend — Vorzüge auf der Bühne, aber Nachteile in der Literaturbranche — sprechen gegen sie.
Daran knüpft sie auch im letzten Satz des Vorwortes an, der eine Bitte an das Wiener Publikum
ist. Der Text, insgesamt Vorrede, erscheint zuerst als Heft und ist “beim Logenmeister” zu finden; sie hat also berechtigte Hoffnung, dass das Publikum ihre Bitte rezipiert. Als Schauspielerin des Hauses ist sie sich höchstwahrscheinlich einer Sympathie — “Gewogenheit” —
gewiss. Teutscher vermag es, ihre vermeintlichen Schwächen (ihre jungen Jahre und ihr
Geschlecht) in eine Stärke umzudrehen: “Vielleicht eben deswegen, weil es die Gefahr zu wenig
kennet”. Die junge Frau zeigt Mut, indem sie nicht fortfährt, ihre Schwächen und die
Schwachstellen ihres Stückes zu betonen (allerdings unterstreicht sie, dass nicht nur ihrem
Stück diese Fehler anhaften), sondern neuberingleich getane Tatsache konstatiert: “Der Schritt
ist einmal geschehen […]”.
Die Stücke “[…] eines adelichen Frauenzimmers aus Schlesien”, die “[…] bloß die Natur gelehret […]”, nämlich Sophie Eleonore von Kortzfleisch (1749-1823), sind in der Tradition der
17
Dörrien (1762:5).
Dörrien (1762:7).
19
Teutscher (1773:1-2).
18
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empfindsamen Dramatik angesiedelt, durch exotisches Ambiente angehaucht. Die Handlung
spielt im Mittelmeerraum; im Zentrum steht eine Frau, die sich als Kriegsbeute in einem fremden Land befindet und den edlen Sohn des jeweiligen Tyrannen liebt: Lausus und Lydie, Osman
und Bella (in den gleichnamigen Dramen, beide 1776 erschienen). Die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit, und nach einer steilen Spannungskurve ergibt sich in letzter Minute ein Happy End.
Konflikt und Lösung erinnern an Lessings Nathan der Weise (das allerdings drei Jahre später
erscheint): Glaubensfragen werden durch eine schwierige Liebe thematisiert und spielend gelöst: der edle Türke Osman, den die Christin und Kriegsbeute Bella liebt, erweist sich praktischerweise als Christ.
In einer Vorrede betont Kortzfleisch ihre fehlende Bildung und bittet um Nachsicht. Die
fehlende Bildung wird mit dem Geschlecht verbunden, das durch die Bezeichnung “Mädchen”
noch verniedlicht und verharmlost wird. Die Gegenüberstelltung “gelehrte Männer” und “Mädchen, die nicht studiert hat” konstituiert das Vorwort:
Unter einer Menge von Zueignungsschriften, die aus der Feder gelehrter Männer geflossen, werden
die Gedanken eines Mädchens, die nicht studiert hat, eine eben so schlechte Rolle spielen, als das
Stück selbst; […] ich erwarte aber auch von der Gerechtigkeit des Publikums ein Urtheil über meine
Arbeite, das den Fähigkeiten eines Frauenzimmers, die bloß Natur und Genie geleitet, angemessen
21
seyn wird; […].
Auch sie betont die Herausforderung, die gerade die dramatische Gattung bedeutet: “Ich
weiß, daß ich mich einer strengen Critik aussetze, da ich es wage für das Theater zu schreiben,
und also eine Bahn betrete, auf welcher berühmte Männer nur allzuoft vergeblich Beyfall zu
22
erhalten gesucht haben.” Wie etwa Luise Gottsched und Catharina Helena Dörrien verweist
sie — falls ihr schriftstellerischer Versuch nun ganz und gar nicht gelingen sollte — auf den
möglichen Rückzug ins Private, wo sie nur für ihre Freunde, die ihre Arbeit schätzen, tätig sein
würde:
[…] wenn auch das Publikum in diesem ersten Versuch, den ich in Prosa zu schreiben gemacht,
nichts finden sollte, was Nachsicht gegen die darinnen vorkommende Fehler verdiente; so will ich
mich bloß mit dem Beyfall meiner Freunde begnügen, die meine kleine Anlage zur Schriftstellerin
23
bisher zu verbessern und aufzumuntern gesucht haben […].
Wenn eine Vorrede nicht ausreichen sollte, um auf mögliche Schwächen aufmerksam zu
machen, fügt Kortzfleisch ein Nachwort, “Nacherinnerung an die Kunstrichter”, hinzu. Hier
weist sie nochmals auf die Fehler und Unvollkommenheit ihrer Arbeit hin: “[…] da sowohl in der
Versart als in den Gedanken nicht soviel Regelmäßiges, Erhabnes und Rührendes zu finden ist,
24
als zu einem Drama erfordert wird.” Sie wiederholt den möglichen Rückzug ins Private:
“Ueberhaupt ist es nicht in der Absicht, gedruckt zu werden aufgesetzt, sondern bloß zum Vergnügen einiger Freunde, durch deren Vermittelung es eher, als ich vermuthete, unter die Presse
25
gekommen; […].” Selbst ist sie — wie Luise Gottsched — ein unschuldiges Opfer eines Verlegers.
Die Burgschauspielerin Johanna Franul von Weißenthurn (1772/73-1847) gehört zu den
produktivsten Schriftstellerinnen dieser Zeit. Ihre dramatische Produktion umfasst 10 Bände, sie
wird auch häufig übersetzt. Sie spielt eine beachtliche Rolle in der Theaterlandschaft des
deutschsprachigen Raumes dieser Epoche.
20
Kortzfleisch (1776:3b).
Kortzfleisch (1776:3a-4a).
22
Kortzfleisch (1776:3a-4a).
23
Kortzfleisch (1776:4a).
24
Kortzfleisch (1776:91-92).
25
Kortzfleisch (1776:93).
21
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
Ihre ersten Stücke erscheinen schon um 1800. Die einleitend zitierte Vorrede aus dem Jahr
1810 stammt also nicht aus der Feder einer Debütantin. Aber ihr dramatisicher Ausruf —
“Oeffentlich als Verfassering aufzutreten, — der Schritt ist gewagt; er führt auf eine Bahn, die
die sanfte Weiblichkeit scheuen sollte — es führt zum Krieg” — zeigt ohne Umschweife auf die
26
engen Grenzen des Weiblichkeitskodex. Das Schreiben befindet sich “[…] außer dem uns angezeigten engen Wirkungskreise, und wir scheinen uns zu verirren, wenn wir ihn über27
schreiten.” Die Wortwahl “wir scheinen uns zu verirren” deutet eine gewisse Distanz zu den
allgemein akzeptierten Normen an. Sie setzt damit an zu einer Kritik an der Geringschätzung
weiblicher Gelehrtheit ihrer Zeit, aber gleichzeitig beanstandet sie die vorschnelle Einstufung
jeder Autorin als einer Gelehrten. Dadurch weist sie auf die zweifache Stigmatisierung
schreibender Frauen. Den Vorwurf weiblicher Gelehrtheit weist die Schauspielerin von sich:
“Alle, die meine Stücke lesen, werden erfahren, daß sie sich nur auf Menschenkenntniß, und die
28
einer Schauspielerinn angemessene Lectüre gründen.” Hier finden wir keine Verkleinerung der
eigenen Talente, sondern eine selbstbewusste und berufsbedingte Einschätzung ihrer
Produktion:
Der Schauspiel-Dichter bedarf ein eigenes Talent; fehlt ihm dieses, so bringt er gewiß, trotz aller
Gelehrsamkeit, kein brauchbares, auf die Zuschauer wirkendes Stück zur Welt. Dieses Talent ist,
glaub’ ich, ein Gefühl des Schicklichen und Wahren; eine lebhafte Einbildung, die alles, was sie auf
das Papier wirft, in dem Augenblicke von den Geschöpfen ihrer Phantasie schon ausführen sieht,
und dann im Stande ist, richtig zu beurtheilen, ob es die gehörige Wirkung hervorbringen wird. Da
man nun dieses richtige Gefühl unserm Geschlechte im hohen Grade zugesteht, womit wir oft
schneller eine verborgene Ursache entdecken, als der tiefdenkende Mann sie durch Schlüsse bestätigt, und es eine vorzügliche, nöthige Gabe zum Dichten, wie auch zur Schauspielkunst ist;
29
warum soll nun dieß Talent sich bey uns in bloß alltäglichen Dingen äußern?
Mit Humor und Scharfzüngigkeit greift Weißenthurn die bekannten Beschwichtigungsstrategien ihrer schreibenden Schwestern auf und weigert sich, sich für das Schreiben zu entschuldigen. Indem sie eine akzeptierte weibliche Domäne aufgreift — die Kleiderordnung — und
durch das Bild der Feder als Schmuck und als Schreibutensil, entschärft sie auf humorvolle Art
ihre Kritik:
Doch — wer sich entschuldigt, bekennt gefehlt zu haben. Ich habe allerdings wider die Kleiderordnung gefehlt und — statt Strümpfe zu stricken, ein paar Federn stumpf geschrieben. Die Männer
sehen nur ein Mahl die Federn lieber auf unsern Köpfen, und wollen nicht dulden, daß wir sie in die
30
Dinte tauchen; aber ich bekenne hier öffentlich: — ich kann das Stricken nicht leiden […].
Einen letzten Abschnitt widmet sie den Kritikern, deren “[…] Dinte […] oft bey dergleichen
31
Gelegenheiten die Stelle des stärksten Gifts vertreten […].” Um tödliche Kritik zu vermeiden,
kämpft sie mit weiblichen Waffen: sie fügt ihr Bild ihrem Werk zu, “[…] damit die Herren sich
32
meines Geschlechtes erinnern, und darum artiger mit mir verfahren mögen.” Aber der abschließende Satz ist wieder ernst: “Vielleicht schützt das Unbedeutende meiner Schriften sie
33
vor allzustrengem Tadel, — der gerechte wird mich nie schmerzen.” Gegen literarische Kritik
26
Weissenthurn (1910:1).
Weissenthurn (1910:1).
28
Weissenthurn (1910:1V).
29
Weissenthurn (1910:1V-V). Gerade dieser Abschnitt zeigt eine frappante Ähnlichkeit mit Marieluise Fleißers Aufsatz
“Das dramatische Empfinden bei den Frauen” (1929); Weißenthurns Einschätzung der Talente des eigenen Geschlechts
anno 1810 ist allerdings weitaus selbstbewusster als die der Fleißer mehr als hundert Jahre später.
30
Weissenthurn (1910:V).
31
Weissenthurn (1910:V).
32
Weissenthurn (1910:VI).
33
Weissenthurn (1910:VI).
27
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hat sie nichts einzuwenden; Kritik aber, die sich gegen ihr Geschlecht richtet, greift sie schon in
ihrem Vorwort als ungerecht an.
3.2 Literatursatiren
Sowohl die Satire als eigenes Genre als auch Satirisches als Schreibart sind in der Literatur
der Aufklärung beliebt. Gelehrtensatiren und Literatursatiren, die häufig als Spiel-im-Spiel realisiert werden, entsprechen dem aufklärerischen Besserungsvorhaben bzw. der optimistischen
Fehlerkorrektur.
Das Spiel-im-Spiel ist eine traditionelle dramaturgische Strategie des Lustspiels. Durch eine
von einigen der dramatis personae inszenierte Verlachkomödie als Teil der Dramenhandlung
kann fehlerhaftes Auftreten an den Pranger gestellt und — hoffentlich — korrigiert werden.
Dadurch siegt die Stimme der Vernunft, nicht selten durch die Stimme einer jungen Frau vertreten. Der Fehler, der durch das Lachen korrigiert werden soll, ist keine unverbesserliche Eigenschaft, sondern eher eine Charakterschwäche, wie etwa Überheblichkeit, Geiz oder Prahlsucht.
In den Literatursatiren werden solche Schwächen mit dem literarischen Diskurs der Zeit
kombiniert. Ein Möchtegernautor meint sich im Besitz der Wahrheit und des großen Talents, ist
unhöflich, überheblich und überschätzt grob seine eigene Bedeutung. Ohne Talent (und häufig
auch ohne Geld) will der Dichterling nicht nur Berühmtheit, sondern auch eine — meistens finanziell gut gesicherte — junge Frau heiraten. Wenn deren Vater oder Vormund vom Selbstlob
des scheinbar gelehrten Mannes sich blenden lässt, ist die Lage für die junge Frau ernst. Da
34
bleibt nur eines: den Mann als “Gecken” zu enthüllen, und zwar durch “eine schöne Comödie”.
In Literatursatiren erfüllt die Enthüllung des Dichterlings demnach häufig einen doppelten
Zweck: nicht nur wird ein Möchtegernautor entlarvt, sondern eine junge Frau entkommt einer
unerwünschten Heirat.
1745 erscheint Luise Gottscheds Der Witzling. Ein deutsches Nachspiel in einem Aufzuge.
Wie die Gottschedsche Theaterreform es verlangt, werden die drei Einheiten eingehalten: die
Handlung spielt innerhalb von wenigen Stunden in der Stube von Jungfer Lottchen, dem Mündel von Herrn Reinhart. Im Hause Reinhart wohnt seit kurzem, zusätzlich zu Vater und Sohn
Reinhart sowie Lottchen, der junge Herr Vielwitz. Herr Vielwitz besucht die Leipziger Universität, ist aber kein lernfreudiger junger Mann, sondern dermaßen von den eigenen
vermeintlichen Talenten überzeugt, dass er seine Vorzüge lauthals preist und andere heftig
kritisiert. Seine Familie ist allerdings reich, und aus dem Grund schwebt dem alten Herrn
Reinhart, der ein Opfer von Herrn Vielwitz’ Selbstlob ist, eine Ehe zwischen Herrn Vielwitz und
seinem Mündel vor. Lottchen, eine schlagfertige und wache junge Frau, weigert sich
ausdrücklich, diese Heirat einzugehen: “Von allem Unglücke in der Welt, stelle ich mir das als
35
das größte vor, einen solchen Mann zu haben, als der junge Vielwitz ist.”
Nach dieser eher klassischen Drameneröffnung folgen — ebenso traditionell — Pläne, sowohl um einer unerwünschten Heirat zu entkommen als auch um einen Dichterling zu demaskieren. Lottchen und der junge Herr Reinhart, ein vernünftiger und gut gelaunter junger
“Advocat”, wollen eine “schöne Comödie” veranstalten, um den eitlen Bräutigam in spe zu er36
nüchtern. Dies bildet den Rahmen für die Binnenhandlung bzw. die Gelehrten- und Literatursatire. Zusammen inszenieren Lotte und Herr Reinhart das Spiel-im-Spiel, aber ihr Anteil an der
Binnenhandlung ist verschieden. Während Lottchen, das in der Rahmenhandlung Intelligenz
und Selbstbewusstsein demonstriert hat, “die schöne Comödie […] vor der Thüre anhören”
muss, darf der junge Herr Reinhart an der Binnenhandlung, der Literatursatire, aktiv teil37
nehmen.
34
Beide Ausdrücke sind Luise Gottscheds Der Witzling entnommen: Gottsched (1962:9 u. 16).
Gottsched (1962:11).
36
Gottsched (1962:16).
35
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
Der Kern des Spiel-im-Spiels ist ein Gespräch zwischen Herrn Vielwitz und zwei ebenfalls
selbstbezogenen und eitlen Männern: Herrn Sinnreich und Herrn Jambus. Ihr Gespräch ist nicht
nur sinnlos und ohne Witz, sondern noch dazu sprachlich äußerst fehlerhaft, da die Herren
weder Dativ und Akkusativ noch die Präpositionen korrekt verwenden können. In der ersten
Euphorie entscheiden sie sich, wie es in der damaligen Zeit üblich war, einen Verein zu bilden,
“die denkende Sprachschnitzer-Gesellschaft”, der allerdings nach wenigen Minuten an Kontro38
versen betreffend Personalpronomina zerbricht. Während die drei Herren wie derbe Figuren
einer Commedia dell’arte heftig streiten, setzt Lottchen durch ihren Auftritt der Posse ein Ende.
Durch das klassische Komödienmotiv der verwechselten Briefe (in diesem Fall sogar drei verwechselten Briefe) wird der junge Vielwitz überführt und verlacht. Ob er nun von seiner Selbstüberschätzung geheilt ist, ist allerdings eher zweifelhaft: “Ich will stehenden Fußes von einer
39
Akademie fort, wo mir alles so verkehrt geht.”
Lottchen erweist sich, trotz des niedlichen Namens, als eine freimütige Frau voller Initative,
die sich als eine Vertreterin der aufgeklärten und vernünftigen jungen Frau profiliert: lieber
unverheiratet als das Leben mit einem Gecken zu verbringen. Als das Spiel-im-Spiel, das immerhin in ihrer Stube stattfindet, zu Ende ist, darf sie Vielwitz unverblümt die Wahrheit sagen.
Zwar hat sie nicht das letzte Wort, dafür aber einen effektvollen und sogar aggressiven Ab40
gang: sie schmeißt Vielwitz seine Verse “[…] vor die Füße, und geht zornig ab.” Nicht nur entlarvt Lottchen Vielwitz’ Übermut und Selbstliebe, sie entkommt auch einer ungewollten Heirat.
Luise Gottscheds Komödie ist — trotz einiger possenhaften Szenen — dramaturgisch den
Reformbestrebungen ihres Mannes verpflichtet. Die Literatursatire kann mit Recht als ein Zeitstück eingestuft werden, sind doch die Parallelen zur zeitgenössischen literarischen Diskussion
offensichtlich. Die Literatursatire, in der drei Männer als Dilettanten und ungebildete Prahler
enthüllt werden, während eine junge Frau die Stimme der Vernunft vertritt, kombiniert mit
recht bissiger Kritik an den traditionellen Geschlechterrollen der Zeit, bildet die frauengeschichtliche Folie des Stückes.
Am Wiener Hoftheater ist im Jahre 1781 beim Logenmeister ein Stück zu finden mit dem
Titel Der Dichterling, oder: Solche Insekten giebts die Menge. Ein Original-Lustspiel in einem Aufzuge. Das Lustspiel stammt von der 1758 in Budapest geborenen Juliana Hayn (Sterbejahr unbekannt); es ist — so viel wir heute wissen — ihr einziges Stück. Die Protagonistin, Julie, ist eine
junge, noch unverheiratete Frau. Ihr Vormund ist der reiche Kaufmann Herr von Berthal. Sein
Sohn Ludwig, ebenfalls noch unverheiratet, frönt der Dichtkunst. Als zusätzliches Personal finden wir Doktor Kranz, Herrn von Brukner und das komödienübliche Dienstpersonal, das gleichzeitig die Funktion der Vertrauten der Hauptpersonen einnimmt.
Der Einakter hält sich an die drei Einheiten, und die kurze Handlung spielt in Ludwigs Studierstube. Als eine Art Rahmenhandlung kann die verhinderte Ehe zwischen Julie und dem Sohn
ihres Vormunds betrachtet werden. Eingebettet in die im Keim erstickte Heiratsgeschichte finden wir die Literatursatire. Herr Berthal sieht eine Ehe zwischen seinem Sohn und seinem Mündel als erstrebenswert an. Großzügig fragt er die jungen Menschen, ob sie einander lieben —
eine Frage, die Ludwig bejaht, Julie aber zögert: “Ich werde alles thun, was Pflicht und Dankbarkeit erfordert, (für sich, legt die Hand aufs Herz) was klopfst du denn so? willst du mich
41
lügen strafen?” Als aber Ludwig auf den Befehl seines Vaters nun ein Amt übernehmen soll,
um seine zukünftige Familie zu versorgen, reagiert der junge Mann mit Entsetzen. Er will wei37
Gottsched (1962:16).
Gottsched (1962:29 u. 32).
39
Gottsched (1962:37).
40
Gottsched (1962:36).
41
Hayn (1781:21).
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terhin dichten. Während der junge Mann an seinen bis jetzt erfolglosen Dichterambitionen
festhält, vertraut Julie dem Dienstmädchen an: “Es ist zum Todlachen, was der Mensch treibt;
erst hätten Sie sollen daseyn — Weib und Kinder will er nur durch sein Komödienschreiben er42
halten!” Im Gegensatz zu Ludwig zeigt sie Realitätssinn und Vernunft.
Julie wird durch die Demaskierung des Dichterlings gerettet. Als nämlich Ludwigs fehlende
Begabung offenbart wird und sogar ihr Vormund die Tatsache akzeptieren muss, dass sein Sohn
zum Schreiben ganz und gar untalentiert ist, dass er lieber “dichtet” als ernsthaft an eine geregelte Arbeit denkt — und sogar Schulden bei den Buchdruckern gemacht hat, wird die bevorstehende Heirat abgesagt: “[…] da ich dir das Mädchen gab, war ich blind, und hielte dich für
43
einen Gelehrten — itzt aber sehe ich, und sehe auch, daß du ein Taugenichts bist!”
Die Literatursatire wird schon im Eröffnungsdialog eingeleitet. Ludwigs Bedienter Wilhelm
wundert sich über die Faszination, die die Produktion von Trauerspielen auf seinen gnädigen
Herrn ausübt. Man müsste doch meinen, den Leuten würde eher etwas Lustiges auf der Bühne
gefallen? Aber Ludwigs Geist ist über das Possenspiel erhaben. Und seine Poetologie gründet
sich auf Beobachtungen eines zeitgenössischen Publikums:
Ludwig. […] In aller Frühe fragen schon viele gnädige Fräulein und unsere gelehrten Damen: ob
nicht ein Trauerspiel gegeben wird? damit sie einander recht zur Wette weinen können, und jede
hält sich zum wenigstens um ein Stück gelehrter, wenn sie uns ein paarmal öfters ihr Schnupftuch
sehen läßt — und wie klatscht nicht alles, wenn man ein Mädchen in Ohnmacht fallen sieht; und
darinn bin ich gar stark — es sind in jedem Akte zum wenigstens zwey Ohnmachten — auch drey.
Was das übrige Schauspiel betrifft, da hab’ ich auch nichts vergessen; es müssen zum wenigstens
200 Soldaten dabey seyn, Kerker — Donnerwetter — Schaffot — Zweykampf — kurz alles, was das
44
Publikum nur reizen kann.
Aber Ludwig weist auch auf seine Studien hin, in der vergeblichen Hoffnung, seinen Vater
von dessen Wunsch, dass er ein Amt annehmen soll, abzulenken:
Ludwig. Studieren? studieren? kann man mehr studiren, als ich studirt habe? ich habe Leßings Dramaturgie gelesen, Diderots, Shakespears, und Göthens Schriften kann ich auswendig, kurz alles, was
nur von der dramatischen Dichtkunst geschrieben wird, lese ich; alle Komödien, die nur herauskommen, noch ehe sie aufgeführt werden, hab ich sie schon gelesen; und alles dieses wäre noch
45
nicht genug studirt?
Der Hausfreund Herr von Brukner verlacht allerdings nicht nur Ludwig, der seiner Meinung
nach weder Lessing, Diderot, Shakespeare noch Goethe verstanden hat, sondern holt aus zu
einem vernichtenden Urteil fast der gesamten dramatischen Produktion der Zeit:
Brukner. […] Wie viele giebt’s denn, die man als Muster gelten lassen kann? — Es sind immer nur
Nachahmungen, und jede Nachahmung wird um einen Grad schlechter. Glauben Sie mir, durch das
viele Komödienlesen entstehen die zusammen gestoppelten Werke, da nehmen die Herren überall
ein Fleckchen heraus; und darum sind auch die itzigen Herren Dichters in einigen Wochen mit ihren
46
schönen Originalwerken fertig.
Weder Dichtern noch Verlagswesen lässt er Ruhm: beide Gruppen lassen sich von Geldgier
leiten und setzen auf Quantität statt Qualität:
Brukner. Eben die elenden Schriftsteller haben die Buchdrucker gar gerne; die zahlen wacker, damit
sie nur ihren Namen gedruckt sehen können — da hingegen ein Mann von Talenten und Geschick-
42
Hayn (1781:31).
HAYN (1781:45).
44
HAYN (1781:8).
45
HAYN (1781:51).
46
HAYN (1781:51).
43
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
lichkeit für sein Manuskript, wie billig, Bezahlung fordert, und das ists eben, warum Schmierereyen
47
gedruckt werden, und oft die besten Schriften liegen bleiben.
Wie Der Witzling ist auch Der Dichterling eine Verlachkomödie, in der die Bloßstellung des
literarischen Dilettantismus eine ungewollte Heirat verhindert. Während aber in Der Witzling
die Frauenfigur weitaus mehr Kontur gewinnt und Selbstbewusstsein demonstriert, und die
Erleichterung über die Verhinderung der Ehe deutlich zum Ausdruck kommt, dominiert in Der
Dichterling die Literatursatire und dadurch die Kritik an sogenannten Dichtern und Verlagswesen der Zeit. Der Schluss fasst die primäre Botschaft zusammen:
Brukner. […] wir haben ein Wort, das uns diese lächerlichen Kreaturen treflich malt! — wir nennen
ein solches Insekt — einen Dichterling — und jedermann lacht es aus! — .
48
Kranz. Ja wohl! — und solche Insekten giebts die Menge!
Ein Kennzeichen der Dramen, die mittels eines Spiel-im-Spiels eine Enthüllungsszene gestalten, ist die Betonung der Illusion, der Fiktion, des Spielerischen, — eine Dimension, die in
den von Frauen verfassten Stücken häufig einen Subtext aufweist: ihre gesellschaftliche Situation, der Weiblichkeitskodex, die geschlechtsbedingten Ansprüche verlangen täglich ein Spiel,
ein Sich-Verstellen, ein Sich-in-die-Rolle-Fügen. Sowohl Juliana Hayn als auch — noch stärker
— Luise Gottsched greifen diese Dimension auf, bei der Gottschedin wird deutlich gezeigt, wie
schwer Lottchen das abverlangte Verhalten fällt.
In Johanna Franul von Weißenthurns Einakter Das Nachspiel (1800) wird diese Dimension
noch vertieft und als Rollenfach ad absurdum geführt. Das Stück greift die literarische Diskussion und den theatralischen Geschmack der Zeit auf, kombiniert es aber nicht mit einem
unerwünschten Bräutigam, sondern mit dem ebenso bekannten Motiv der jungen, geheimen
Liebe. Die Handlung spielt im Hause des Baron Bergs und seinem Mündel Leonore. Der Baron ist
künstlerisch interessiert, er schreibt für das Theater, und zwar ausdrücklich — meint er — für
49
die Nachwelt. Leonore ist ebenfalls musisch veranlagt; sie verfasst romantische Liedertexte,
zwar manchmal mit etwas holprigen Reimpaaren, aber “[…] wenn man es singt, bemerkt man
50
diesen Fehler kaum.” Mehr aber als für die Kunst interessiert sie sich für den jungen Baron
Willburg, der ihr durch das Fenster Liebeserklärungen zu Gitarre rezitiert. Das junge Liebespaar
glaubt, Baron Berg wie in einer volkstümlichen Posse überlisten, überwinden und überreden zu
müssen, um einander zu bekommen. Als Willburg mit einer erfundenen Ausrede ins Haus
kommt, um Leonore zu sehen, zwingt Baron Berg — der alles inzwischen versteht — die zwei
jungen Menschen zu einer Komödie. Er will ihnen zeigen, dass sie ihn fälschlicherweise für ei51
nen “Komödienonkel” halten und ihn unterschätzt haben. Unter dem Vorwand, eine geplante
Dramenszene zu extemporieren, verwickelt er Willburg und Leonore in ein Spiel-in-Spiel, bei
dem das junge Liebespaar weder aus noch ein weiß. In Das Nachspiel, das die Technik des
Spiel-im-Spiels auf kunstvolle Weise verwendet, gibt es nicht nur eine totale Übereinstimmung
zwischen dem Personal der zwei Spielebenen, auch ist die Verschachtelung so eng, dass
Leonore und Willburg ständig Gefahr laufen, aus der Rolle zu fallen und am Ende kaum mehr
erkennen können, wo die Grenzen des Spiels verlaufen. Als Baron Berg den klassisch-strengen
Vormund hervorkehrt, geben Leonore und Willburg ohne Widerstand auf, werden jedoch zum
Weiterspielen aufgefordert: “Ihr habt ja noch gar nichts gethan, meinen Zorn zu besänftigen.
Du [Leonore] mußt weinen, bitten. — Sie [Baron Willburg] müssen verzweifeln; immer in den
47
Hayn (1781:34-35).
Hayn (1781:58-59).
49
Weissenthurn (1810:175).
50
Weissenthurn (1810:179).
51
Weissenthurn (1810:188).
48
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Hauptsituationen happerts bey euch.” Und nach einem letzten, äußerst kurzen Auftritt wird
das fast märchenhafte Happy End vollzogen: Baron Berg gibt ihnen seinen Segen und verspricht ihnen die Erbschaft seines ganzen Vermögens.
Durch Handlung und Dramaturgie macht das Stück auf überholte Gesellschaftsstrukturen
aufmerksam. Es ist — wie der Titel sagt — ein Nachspiel, eine durch die commedia dell’arte angehauchte Posse. Damit hängt eine unterschwellige Ebene des Spiels zusammen, nämlich die
Ebene, auf der die konventionellen, geschlechterbedingten Rollen demonstriert werden, die für
die Protagonistin Leonore zu Verstellung und Entstellung führt. Dadurch entlarvt Weißenthurn
das Rollenhafte der Konventionen ihrer Zeit, jedoch auf spielerisch-kokette Weise: “Nicht wahr,
lieber Onkel! ich muß schüchtern, verlegen seyn, und das ist, glaube ich, Alles, was meine Rolle
53
fordert?” Neigungen und Wünsche dürfen nicht zur Sprache kommen, allerdings erlaubt der
Onkel Leonore paradoxerweise, ihr Geständnis zu singen, “[…] denn was sich nicht schicklich
54
sagen läßt, pflegt man auf dem Theater zu singen.” Die Leonore, die uns in der Rahmenhandlung begegnet, ist aufgeschlossen, sehr verbal, sie diskutiert mit dem Onkel über Fragen der
Dramaturgie, wird jedoch in der Binnenhandlung gänzlich von den Forderungen der Konventionen gesteuert: sie soll schweigen, während der Mann redet, sie soll weinen, bitten und
verzweifeln, und wird am Ende wie ein gutes Kind — “[…] meine Leonore ist ein gutes Kind […]”
55
— dem Bräutigam übergeben. Auch wenn der Einakter mit einem traditionellen Happyend
schließt, zielt der implizite Subtext auf den auf Frauen ausgeübten gesellschaftlichen Zwang,
eine Rolle spielen zu müssen, denn das Spiel-im-Spiel ist nicht bloß eine dramaturgische Tech56
nik, sondern entspricht einem “gesellschaftlichen Diskurs” der Zeit.
4. “Warum sie auch schreibt?”
Neubers Antwort auf ihre Frage, “Warum sie auch schreibt?” läßt an die Sprache eines trotzigen Kindes denken: “Darum”. Auch Weißenthurns Antwort auf ihre entsprechende Frage entzieht sich dem Ernst: “[…] warum soll nun dieß Talent [das Dichten] sich bey uns [Frauen] in
bloß alltäglichen Dingen äußern? […] Ich habe allerdings wider die Kleiderordnung gefehlt und
— statt Strümpfe zu stricken, ein paar Federn stumpf geschrieben.” Lieber, sagt sie, Federn “in
57
die Dinte tauchen”, denn das Stricken war ihr schon immer zuwider. Wie können wir ihre
Antworten interpretieren? Marie von Zay (1779-1842) verfasst zwischen 1810 und 1820 sechs
Lustspiele. Im 1813 erschienenen Lustspiel Die unsichtbaren Liebhaber auf der Probe kommentiert die Autorin ihr eigenes Stück, zwar nicht in einem Vorwort, sondern in einem eingebetteten Metakommentar. Auf die Frage, was das Theater im Moment gibt, fällt die Antwort:
Es wird jetzt ein Stück gegeben, wo bloß drei Frauenzimmer spielen. […] Die unsichtbaren Liebhaber
auf der Probe, ein weniger als mittelmäßiges Stück, das bloß diese Sonderabartigkeit erträglich
macht; nichts als Briefe, und Briefe, und kein Liebhaber erscheint. […] In dieser bösen Zeit, wo man
für alles Surrogat erfindet, sogar für den lieben Kaffee, ist es recht klug, auch an ein Surrogat für
Liebhaber zu denken. Wahrhaftig, wenn in dem Stücke eine Rolle übrig wäre, ich könnte mich ent58
schließen, sie zu übernehmen, bloß weil kein Mann mitspielt.
Zwar wird das eigene Stück bescheiden als weniger als mittelmäßig eingeschätzt, aber doch
durch einen Vorteil ausgezeichnet: es ist ein reines Frauenstück. Dadurch thematisiert Marie
52
Weissenthurn (1810:203).
Weissenthurn (1810:197-198).
54
Weissenthurn (1810:198).
55
Weissenthurn (1810:203).
56
Kraft (1996:44).
57
Weissenthurn (1910:I-VI).
58
Zay (1820:310-311).
53
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"Warum sie auch schreibt?" Reflexionen über Schreiben und Gender in von Frauen verfassten Dramen
von Zay das Paradox, das das Verhältnis zwischen textexternen und textinternen Kommentaren
zum weiblichen Schreiben charakterisiert: in Vorworten finden wir eher konventionelle, phrasenhafte Hinweise, die manchmal ins Parodistische übergehen, auf die Schwächen des Geschlechts in Bezug auf das dramatische Schreiben. Aber das Schreiben und das Publizieren bedeuten — das zeigt uns die große Produktion dieser Zeit — eine Arena für sich zu finden, aus
den engen Grenzen des Privaten herauszutreten, auf den Schutz “einiger Freunde”, wie es in
vielen Vorreden heißt, zu verzichten, einen Raum für sich allein — auch wenn es Schutzlosigkeit
bedeutet — zu finden. Ein Stück, wo kein Mann mitspielt, ist ein solcher Freiraum: ein Spielraum. Und um diesen Spielraum zu bekommen, kann frau getrost Kritik in Kauf nehmen und —
weißenthurngleich — die Federn lieber in die “Dinte” tauchen als auf dem Kopf tragen.
Literatur:
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CAMPE, JOHANN HEINRICH (1812): Väterlicher Rath für Meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Tugend gewidmet. Leipzig.
DÖRRIEN, CATHARINA HELENE (1762): Der Besuch. Ein kleines Schauspiel für junges Frauenzimmer. Aufs neue übersehen, verbessert und mit allerhand nützlichen Anmerkungen aus den besten Englischen und Französischen
Schriftstellern begleitet. Frankfurt am Mayn (= Theaterbibliothek Schikander, Bd. 36).
GOTTSCHED, LUISE ADELGUNDE VIKTORIE (1962): Der Witzling. Ein deutsches Nachspiel in einem Aufzuge. Johann Elias
Schlegel: Die stumme Schönheit. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Berlin (= Helmut Arntzen, Karl Pestalozzi (Hrsg.):
Komedia. Deutsche Lustspiele vom Barock bis zur Gegenwart. Texte und Materialien zur Interpretation).
GOTTSCHED, LUISE ADELGUNDE VICTORIE (1996): Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Stuttgart.
HAYN, JULIANA (1781): Der Dichterling, oder: Solche Insekten giebts die Menge. Ein Original-Lustspiel in einem
Aufzuge. Wien.
KORDING, INKA (Hrsg.) (1999): Louise Gottsched — mit der Feder in der Hand. Briefe aus den Jahren 1730 bis 1762.
Darmstadt.
KRAFT, HELGA (1996): Ein Haus aus Sprache. Dramatikerinnen und das andere Theater. Stuttgart.
KORTZFLEISCH, SOPHIE ELEONORE VON (1776): Lausus und Lydie, ein Drama in drey Aufzügen, nach den moralischen
Erzählungen des Herrn Marmontel, verfasset von einem Adlichen Frauenzimmer in Schlesien. Breslau.
MEINERS, CHRISTOPH (1799-1800): Geschichte des weiblichen Geschlechts. Hannover, 4 Bde.
NEUBER, FRIEDERIKE CAROLINE (1997): Ein Deutsches Vorspiel. In: Bärbel Rudin, Marion Schulz (Hrsg.): Friederike
Caroline Neuber. Das Lebenswerk der Bühnenreformerin. Poetische Urkunden 1. Teil. Reichenbach im Vogtland, S.
44-66.
POCKELS, CARL FRIEDRICH (1797-1802): Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemählde
des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens. Hannover, 5 Bde.
TEUTSCHER, MARIA ANTONIE (1773): Fanny, oder Die glückliche Wiedervereinigung, ein Drama in einem Aufzuge.
Wien (= Deutsche Schaubühne, 62. Theil).
WEIßENTHURN, JOHANNA FRANUL VON (1810): Das Nachspiel. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Berlin.
WEISSENTHURN, JOHANNA FRANUL VON (1910): Vorrede. In: Schauspiele. Wien. Bd. 1, S. I — VI.
ZAY, MARIE VON (1820): Die unsichtbaren Liebhaber auf der Probe. In: Lustspiele. Pesth.
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DER TOD DER HELDINNEN.
Konstanten und Wandlungen im Drama von Gryphius bis Hebbel
Stefan Trappen
Ganz offensichtlich bereitet es Autoren in der Neuzeit Spaß, genüßlich eine Frau um die Ekke zu bringen. Immer wieder stellen Dramatiker eine Frau in den Mittelpunkt einer Tragödie,
lassen sie über vier oder fünf Akte sich abmühen und kämpfen und am Ende muß diese tragische Heldin dann einen effektvollen Tod sterben. Gryphius ist mit der Catharina von Georgien
so verfahren, Lessing mit Emilia, Schiller mit Maria Stuart, Hebbel mit Agnes Bernauer (um
andere Figuren derselben Autoren und andere Beispiele von Cronegk, Wieland und anderen zu
verschweigen1). Dies jeweils mit dem erfolgreichen Bemühen, ein wirkungsreiches, wertvolles
und auch ästhetisch bedeutsames Werk zu verfassen. Interessant erscheint mir dabei weniger
der Erfolg – in mehr als einem Fall ist so das dramatische Hauptwerk eines Autors entstanden –
und auch nicht die politisch korrekt erfüllte Frauenquote zu sein, sondern vielmehr sind die es
Umstände des Todes, die den Dramenschluß besonders beachtenswert machen.
Nehmen wir Emilia: im 5. Akt will sie ganz sicher gehen und bittet erst ihren Vater um die
Tötung, dann, als der Vater zögert, versucht sie sich selbst zu erstechen, woraufhin der Vater
dann endlich tut, was Emilia von ihm verlangte. Emilia hat in dem Drama eine Alternative, die
durchaus attraktiv erscheint. Sie könnte die Geliebte des Fürsten werden, eine Weile in Saus
und Braus leben, um dann, sobald der Fürst, dessen Treue eine kurze Halbwertszeit hat, ihrer
überdrüssig geworden sein wird, wieder ihrer Wege zu gehen. Aber diese Option kommt für
Emilia nicht in Frage.
Werfen wir einen Blick auf Maria: Sie stirbt einen waschechten Märtyrertod, mit Standhaftigkeit, Großmut, dem paradox verkehrten Trost, den sie spendet – und all dies in voller Unschuld! Auch sie hätte mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Hinrichtung entkommen können. Mortimers Befreiungsplan war gar nicht so schlecht, wurde aber durch Marias Skrupel, den
Wächter Paulet zu opfern, empfindlich gestört. Maria hätte das auf falschen Zeugenaussagen
basierende Urteil anfechten können; immerhin tut dies – mit Erfolg! – ein Höfling der Elisabeth.
Und Maria hätte als dritte echte Chance in dem Zusammentreffen mit Elisabeth weniger Stolz
zeigen und mit großer Sicherheit eine Begnadigung erreichen können. Aber sie ergreift diese
Chancen nicht. Ihre Tod ist dann auch durchaus folgerichtig nach dem Modell des Märtyrertodes gestaltet.2
1
Johann Friedrich von Cronegk [1731-1757]. Olint und Sophronia [zuerst 1760]. In: Deutsche Nationalliteratur. Bd. 72:
Lessings Jungendfreunde. Hg. Jacob Minor. Berlin und Stuttgart o.J. S. 136-199 – Wieland. Lady Johanna Gray oder
Triumf der Religion. [1758]. Sämtliche Werke XIV: Supplemente 4. Reprint Hamburg 1984. S. 193-315.
2
Darauf ist schon oft hingewiesen worden: Richard Maria Werner. Vergleichendes zu Schiller. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Sonderheft Schiller. 1905. S. 60-70 (mit einer positivistisch verengten und in vielen spekulativen Perspektive); Walther Rehm. Schiller und das Barockdrama [1941/51]. In: Schiller. Zur Theorie und Praxis der
Dramen. Hrsg. von K.L. Berghahn und R. Brinn. Darmstadt 1972. S. 55-108 (bes. S. 61, Anm. 7, mit dem Hinweis auf
ein verlorenes Jugenddrama Schillers, das offenbar Züge einer Märtyrertragödie trug; S. 63, S. 95f;) Hans Jürgen
Schings. Consolatio tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Bd. 1. Hrsg. von
Der Tod der Heldinnen. Konstanten und Wandlungen im Drama von Gryphius bis Hebbel
Sehen wir uns als letztes Hebbels Agnes Bernauer an. Agnes hat es nun wahrlich leicht,
dem gegen sie ausgesprochenen Todesurteil zu entgehen. Der Zweck des Urteils besteht ja auch
gar nicht in der Hinrichtung, sondern darin, die nicht standesgemäße Ehe mit dem Fürstensohn
aufzulösen. Die Möglichkeit einer komfortablen Auflösung wird Agnes mit allem Nachdruck
angetragen. Sie möge in ein bereits für sie ausgesuchtes Kloster gehen, wo sie gut und respektiert leben könnte. Agnes lehnt dies ab und stirbt.
Stellt man diesen drei Befunden gegenüber, wie in anderen Dramen die Umstände des Todes der Helden konzipiert werden, wird eine Besonderheit deutlich. Es ist nämlich keineswegs
so, dass die abendländische Dramatik stets und immer Helden den allein subjektiv notwendigen, objektiv aber vermeidbaren Tod sterben lassen. Man halte sich nur einmal die berühmtesten Paradigmen der Antike vor Augen, also den ›König Ödipus‹ und die ›Antigone‹ – mit
ihrem Sturz ins Elend (Ödipus lebt weiter) als Resultat eines Versuchs, Schuld zu vermeiden,
durch den er unwissend schuldig wurde; und man denke an Antigones unausweichliches Dilemma, entweder gegen die Gebote der Familie zu verstoßen und ihren toten Bruder nicht zu
beerdigen, oder die Gesetze der Polis zu verletzen und ihn zu beerdigen. Oder man denke an
Tragödien von Goethe (wo es für Egmond und für Götz einfach keine Möglichkeit des Weiterlebens mehr gibt), von Gottsched, J.E. Schlegel, an die Sturm und Drang-Dramen und viele
weitere. Was wir bei Lessing, bei Schiller und bei Hebbel antreffen, gehört hinsichtlich der Gestaltung des Heldinnentodes zusammen, ist aber keienswegs identisch, sondern zeigt zugleich
eine historische Entwicklung an.
Die Gemeinsamkeit des Todes dieser drei Heldinnen besteht in der Vorrangstellung, den die
Charaktere den inneren Werten vor dem äußeren Erfolg einräumen. Emilia sieht sich der Alternative gegenübergestellt, entweder in das Haus der Grimaldi zu gehen, dort ihr ”heißes Blut“ in
Wallung bringen zu lassen, die Verführung zu genießen und irgendwann die verlassene Geliebte
des Fürsten zu sein oder aber den Tod zu wählen. Für sie gibt es hier kein Schwanken, kein Abwägen, sondern das feste Wissen um die Verführbarkeit ihrer sinnlichen Seite und um die darin
liegende Unmoral. Ist der Tod das einzige Mittel die Unmoral zu meiden, wird der Tod auf sich
genommen.3
Analog stellt sich die Situation für Agnes dar. Sie führt die ideale, von reiner Liebe getragene Ehe. Für die Liebe hat sie die Herauslösung aus ihrer Umgebung und hat ihr Mann den
Anspruch auf den Fürstentron auf sich genommen. Nun aber – Hebbel motiviert dies durch
einen Ausfall der alternativen Linie des Fürstenhauses – kann allein ihr Mann legitime Erben
zeugen, dies aber keinesfalls mit der bürgerlichen Agnes. Agnes sieht dies durchaus ein und sie
wäre auch bereit, ihre Ehe aufzugeben und die Zuflucht im Kloster zu suchen, wenn, ja wenn
dann nicht ein Schatten auf die Liebe fallen könnte, wenn ihr Mann nicht womöglich einen
auch nur kleinen Zweifel gewinnen könnte, dass sie ihn doch nicht so liebt wie er sie. Dies will
R. Grimm. Frankfurt am Main 1971. S. 1-44, S. 36: ”Schillers idealistische Erneuerung des Märtyrerdramas“; vgl. auch
die Äußerungen von Zeitgenossen, abgedruckt bei Christian Grawe, Erläuterungen und Dokumente zu Schillers Maria
Stuart, Stuttgart 1983,, S. 123, cf. 116, 118, 127ff, 135. Neuere Stimmen: Thomas Diecks. ”Schuldige Unschuld“:
Schillers "Maria Stuart" vor dem Hintergrund barocker Dramatisierungen des Stoffes. In: Schiller und die höfische
Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 233-246; Ferdinand van Ingen:
Maria Stuart‹. Friedrich von Gentz und Friedrich von Schiller. In: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur
vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Fs. W. Wittkowski. Hrsg. von Richard Fisher. Frankfurt am Main usw.: Lang 1995. S.
247-257; Reinhardt, Hartmut: Apologie der Tragödie: Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels, 1989.
3
Zu dem Thema “der Tod von Emilia Galotti” gibt es Berge von Literatur, die allerdings vielfach dazu tendiert, mehr
mit Wissenschaftsgeschichte als dem literarischen Text selbst zu tun zu haben. Meist wird durch die Fragestellung –
weist die Moral “bürgerliche Züge” auf? oder: hat Emilia eine offene Einstellung zu Sexualität? – eine Verzerrung
produziert, die den Interpreten blind macht für den Text.
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Stefan Trappen
und kann sie ihm, übrigens in einer erkennbaren Parallele zu Mariamne in Hebbels Drama
›Herodes und Mariamne‹, nur mit ihrem Tod beweisen. Das Ideal tötet auch hier die Heldin.
Der gewiß komplexeste Fall liegt bei Schillers Maria vor. Das Ideal konkretisiert sich hier im
Erhabenen, welches nach Schillers erklärter Absicht in der Figur der Maria sinnenfällig gemacht
werden soll. Nun besteht das Erhabene in der Bewahrung der moralischen Freiheit gerade angesichts zuwiderlaufender Kräfte und Verlockungen der physischen Natur (der sinnlichen Welt)
und überdies läßt das Erhabene sich allein in dem Widerstand, also negativ, darstellen. ”Nur der
Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden“.4 Somit ist
der deutlichste Fall derjenige, bei dem das Subjekt in Bewahrung seiner moralischen Freiheit
eine Gewalt erleiden muß, die es tötet. Dieser Fall liegt nicht bei dem heroischen, aber aussichtslosen Kampf bis zum bitteren Ende vor, denn hier wirkt der Instinkt des Lebenstriebes
(oder kann wirken), wohl aber, wenn die übermächtige und vernichtende Gewalt aus freiem
Willen hingenommen wird. ”Erhabenes der Fassung“ hatte Schiller dies genannt und die
zwangsläufig ”negative“ Weise seiner ”Offenbarung“ festgestellt.5 Bei diesem Akt wird die
übermächtige Gewalt nicht physisch überwunden. Sie wird lediglich idealiter eingeholt, indem
das Individuum sich der Gewalt ”freiwillig“ unterwirft.6
In Maria wird dies gezeigt. Indem sie sinnliches Interesse hintanstellt und aus moralischen
Gründen gegen die Ermordung Paulets einsteht, indem sie in dem Gespräch mit Elisabeth ihren
Stolz über das pragmatische Lebensinteresse stellt, befindet sie sich am Ende in der Situation,
die Hinrichtung erleiden zu müssen. Maria handelt dort wie der Mensch, der ”kein anderes
Mittel [mehr hat], der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen. Er tut dies
durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesses“, was nichts anderes bedeutet, als den
Tod zu antizipieren, sich im Vorgriff auf die sichere Vernichtung ”moralisch zu entleiben.“7 An
anderer Stelle spricht Schiller von der ”begrifflichen Zernichtung“ des Todes.
Die Eigenart des Todes von Maria ergibt sich demnach aus Schillers Verständnis von Tragik.
Denn bei dem Bemühen, das Erhabene in einem Drama auf die Bühne zu bringen, handelt es
sich um das Bemühen, einen spezifischen Tragikbegriff zu betätigen. In analoger Weise liegt
auch bei Lessing und Hebbel eine enge Korrelation zwischen dem jeweiligen Tragikverständnis
und der Gestaltung des Todes vor.
Lessing begriff Tragik als die Realisierung eines kathartischen Affektes, den er ”Mitleid“
nannte.8 Um dieses ”Mitleid“ auszulösen bedarf es einer Darstellung, die dem Zuschauer das
psychologische Mitempfinden ermöglicht. Genau dies strebt das Drama ›Emilia Galotti an, wenn
uns die Umstände, die Charaktere, die Situation vorgestellt werden und wir in uns selbst nachvollziehen können, dass Emilia durch die Umstände zu etwas gezwungen wird, von dem sie
befürchtet, dass es ihre moralische Widerstandskraft untergräbt. Sie wird, so weiß sie, sich von
4
Über das Pathetische, S. 512 (Schiller. Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, 6.
Auflage München 1980).
5
Über das Pathetische, S. 527.
6
Über das Erhabene, S. 794.
7
Über das Erhabene, S. 805.
8
Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Die Poetik des Mitleids von Lessing bis Brecht.
München 1980, Albert Meier, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie
des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1993 (Das Abendland, 23), S. 180ff: zu Bewunderung und Mitleid in der
Theorie; Stefan Trappen, Von der persuasiven Rhetorik zur Ausdruckssprache. Beobachtungen zum Wandel der Formensprache in Lessings Trauerspielen In: Colloquium Helveticum 30 (1999). S. 67-88; und jetzt grundlegend Thomas
Martinec, Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik, Tübingen 2003.
288
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Der Tod der Heldinnen. Konstanten und Wandlungen im Drama von Gryphius bis Hebbel
demjenigen verführen lassen, der die letzte Verantwortung für die Ermordung ihres geliebten
Bräutigams trägt. Als sie dies vor sich sieht, faßt sie den Entschluß zum Tode. Ihr Vater Odoardo, der in einer dramatischen Szene zunächst noch letzte Zweifel an der Moral seiner Tochter
hat – jeder Tochter ist, wie einem Atomkraftwerk, stets ein Restrisiko inhärent, – dann aber von
Emilias Qualität überzeugt ist und die Ausweglosigkeit einsieht, fungiert dabei als ein Medium
für den Zuschauer. Was der Vater endlich versteht, wozu er sich schließlich überwinden kann,
das kann auch der Zuschauer in sich realisieren. Genau dies nannte Lessing ”Mitleid“.
Für Hebbel bestand Tragik in dem unausweichlichen, tragischen Dilemma, welches Hegel in
seiner Ästhetik und andere Theoretiker in weiteren Schriften als wesentliches Ingredienz des
Tragischen beschrieben hatten. Auf der einen Seite des Dilemmas steht eine ”objektive Notwendigkeit“, bestehend in einem sittlich berechtigten Anspruch des Staates. Hebbel hat alle
Mühe darauf verwandt, eben diese Berechtigung in seinem Drama kräftig herauszustreichen. Es
ist nicht Machtgier, nicht Egoismus des Fürsten, sondern eine objektiv bestehende und unbedingt gebietende Notwendigkeit, dass der Herzog von Bayern legitime Nachfolger bekommt.
Und auf der anderen Seite des Dilemmas steht eine ”subjektive Notwendigkeit“, die ebenfalls
sittlich berechtigt ist. Auch dies liegt vor, denn die Liebe zwischen Agnes und ihrem Mann ist
wirklich empfunden und wird in dem Stück mit keinem Wort in Zweifel gezogen. In dieser Situation, und hier mag dann Hebbel nicht nur von Hegel, sondern auch von Schiller gelernt haben, stirbt Agnes für ihre Liebe.
Abschließend mag man fragen, warum diese drei Autoren so oft Frauen in den Mittelpunkt
ihrer Dramen stellten und an ihnen zeigten, was sie für Tragik hielten. Für Lessing und für
Schiller gilt, was Hebbel 1859 in sein Tagebuch notierte: ”im Weib liegt das Ideal“.9 Bei einer
Dramatik, der es um das Ideal geht, schwebt deshalb die Heldin in ständiger Lebensgefahr.
9
Tgb. 5653, Februar 1859.
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DAS SYMBOL DES LABYRINTHS
im Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten
von Hugo von Hofmannsthal
Lucia Gorgoi
Das Symbol des Labyrinths ist eines der ältesten Urbilder der Menschheit und wird im Laufe
der Zeit mit immer neuen Sinninhalten bereichert. Das Wort Labyrinth kommt aus dem Griechischen lábrys, heißt “Doppelaxt”, welche oft auf den Pfeilern der Ruinen des kretischen Königspalastes bei Knossos eingemeißelt gefunden wurde. Das Labyrinth war in der Antike in
Ägypten und Griechenland ein großes Gebäude in Quadrat- oder Rundform mir vielverschlungenen und verzweigten Gängen, in dem sich der Betreter leicht verirrte und nicht wieder
herauskam. Das Vorbild für den Bau des Labyrinths ist ursprünglich die spiralenartige Form der
Muschel, die ein antiker Dichter “das Labyrinth des Meeres” nannte. Der Sage nach ließ der
König Minos Dädalus ein Labyrinth bauen, in dem er den Minotaurus einsperrte, ein Mischwesen
mit Stierkopf und Menschenleib, den Sohn der Frau des kretischen Königs Minos, gezeugt mit
einem von Poseidon nach Kreta geschickten Stier. Er wurde von Theseus getötet, der von
Ariadne einen Knäuel Garn bekam, mit dem er sich im Labyrinth zurechtfand und den Ausgang
1
erreichte. Das Labyrinth mit seinem Wirrwarr von verschlungenen Gassen und Sackgassen , mit
der komplizierten Strecke steht als Symbol für das Menschenleben und für den menschlichen
Lebensweg, der unausweichlich nach vorwärts, zum Tode führt. Jedes Hindernis, das man überwinden muß, bedeutet eine Schwelle auf dem Weg zur Initiation. Carl Gustav Jung sah im Labyrinth eine Projektion der Mandala, die labyrinthartig gebaut ist. Es geht hier um die Hinführung auf ein Zentrum, wo der Eingeweihte sein vereinigtes Ich wiederfindet. Die Psychologie
faßt die Mandala-Symbolik als der Menschheit angeborene “Archetypen” auf, die bei Personen
im Verlaufe eines seelischen Reifungsprozesses spontan auftreten können als Symbole der Versenkung und Verinnerlichung nach chaotischen Phasen, um die eine Idee der inneren Ver2
söhnung und Ganzheit zum Ausdruck zu bringen. Das Hineintreten und Herauskommen aus
dem Labyrinth ist auch das Symbol des Todes und der geistigen Auferstehung. Je mühevoller der
Weg ist und die Hindernisse schwer überwindbar, desto größer ist die innere Verwandlung des
Individuums. Die Verwandlung des Ich geschieht im Zentrum des Labyrinths und das Herauskommen bedeutet der Sieg des Geistes über die Materie, des Ewigen über das Vergängliche, der
Vernunft über die Triebe, der Liebe über die blinde Gewalt, der ratio über die Triebbesessenheit.
Der Minotaurus symbolisiert auch die perverse Besessenheit des Königs Minos, die dunkle Seite
1
Für die Deutung des Symbols des Labyrinths habe ich grundsätzlich folgende Quellen benützt: Horst S. und Ingrid G.
Daemmrich Themen und Motive in der Literatur, UTB für Wissenschaft, Franke, Basel und Tübingen, 1995, S. 237-238
und Hans Biedermann Knaurs Lexikon der Symbole, Directmedia, Berlin 1999, Digitale Bibliothek, Band 16.
2
Jung, Carl Gustav: Simbolistica mandalei, in: Ders. Opere complete, vol. 12: Psihologie i alchimie, Simboluri onirice
ale procesului de individua ie. Reprezent ri ale mântuirii în alchimie. Trad. de Carmen Oni i i Maria Magdalena Anghelescu, Universitas Teora, Bucure ti, 1998, S. 90-193.
Lucia Gorgoi
seinen Unbewußten, die er zu bändigen versucht. Laut einer anderen Sage konnte Theseus das
Monster nicht mit Hilfe von Ariadnes Garn töten, sondern dank des lichten Kranzes, den der
Held auf dem Kopf trug und die Dunhelheit der labyrinthischen Gassen beleuchtete. So bedeutet
der Labyrinth auch der Sieg des Lichtes über die Dunkelheit des menschlichen Inneren. Als
Dädalus mit seinem Sohn Ikarus im Labyrinth gefangengenommen wurde, mußte er durch die
Luft entfliehen. Nach der Überlieferung soll Dädalus ein Relief des Labyrinths angefertigt haben,
das Aeneas tief versunken betrachtete, ehe er in die Unterwelt stieg. So bedeutet das Labyrinth
Abstieg und Aufstieg, Tod und Leben. Dem Labyrinth als Weg schließen sich Initiation, Rückkehr,
Selbstfinden, mögliche Welterkenntnis an.
Das Motiv des Labyrinthischen beschäftigte viele Autoren der Weltliteratur, die es in literarischer Form darstellten, mit neuen Deutungen bereichern oder enträtseln wollten.
Hugo von Hofmannsthal macht in seinem Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten die
Stadt Venedig zum Sinnbild des Labyrinths. Dieses Thema steht in einer langen Tradition. Venedig erschient mit seinen Lagunen, kleinen Gassen und Plätzen wie keine andere Stadt auf so
einem begrenzten Raum irreführend und der Fremde kann sehr leicht seine Orientierung verlieren; die unüberschaubare Menge gleichaltriger Brücken, eine zweifelsfreie Ortsbestimmung,
der Lauf der Landwege, die immer wieder den Kanälen ausweichen müssen, ist für den Fremden
verwirrend. Hofmannsthal benutzte als Vorlage den Geisterseher von Friedrich Schiller für die
“Darstellung einzelner Detailszenen, Figurendeskriptionen, als auch für die Verwendung des
3
Venedig-Sujet insgesamt.”
Schiller betont die verwirrende Unübersichtlichkeit Venedigs, die das Gefühl der maskenhaften Verfremdung und des Spiels karnevalistischer Identitätsverbergung hervorruft. Hinzu
kommt die topographische Eigenheit als Lagunen- und Hafenstadt, mit der Vermischung von
verschiedenen Völkern des Mittelmeerraums. Der Lauf der Landwege, die immer wieder den Kanälen ausweichen, ist für einen Fremden undurchschaubar; in Venedig gibt es keinen geraden
4
Weg zum Ziel.
Gleich zu Beginn des Romanfragments wird Andreas von Ferschengelder in Venedig ausgesetzt und weil er ganz verwirrt ist und die Stadt gar nicht kennt, glaubt er ein Opfer des
profitgierigen Gondoliers zu sein.
“Das ist gut”, dachte der junge Herr Andreas von Ferschengelder, als der Barkenführer ihn am 17.
September 1778 seinen Koffer auf die Steintreppe gestellt hatte und wieder abstieß, “das ist gut,
läßt mich da stehen, mir nichts, dir nichts, einen Wagen gibt es nicht in Venedig, das weiß
ich, ein
5
Träger, wie käme da einer her, es ist ein öder Winkel, wo sich die Füchse gute Nacht sagen.
Andreas hat Venedig, das Ziel seiner Reise erreicht, und doch anscheinend nicht erreicht, da
er sich in einem verlorenen “Winkel” der Stadt wähnt.
Als ließe man einen um sechs Uhr früh auf der Rossenauerlände
oder unter den Weißgärbern aus der
6
Fahrpost aussteigen, der sich in Wien nicht auskennt.
Die Rossauerlände befindet sich an der Donau, liefert also die Analogie zum Canal Grande,
während mit den Weißgärbern eine Vorstadt von Wien gemeint ist; Andreas deutet die Stadt
3
Nienhaus, Stefan: Ein Irrgarten der Verschwörungen. Das Venedig-Sujet und die Tradition des Bundesromans, in:
Germanistisch-Romanische Monatsschrift, neue Folge, 42, 1992, Nr. 1, S. 87-105.
4
Ebd., S. 89.
5
Hofmannsthal, Hugo von: Andreas oder Die Vereinigten, in: Ders. Ausgewählte Werke in zwei Bänden, zweiter Band:
Erzählungen und Aufsätze, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1966, S. 69.
6
Ebd.
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291
Das Symbol des Labyrinths im Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten von Hofmannsthal
mit seinen wienerischen Maßstäben, zeigt aber seine völlige Verwirrung, wenn er nicht einmal
den Canal Grande identifiziert. Andreas hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Von dem “Maskierten” erfährt er, daß es sich um den Viertel zu Sankt Samuel handelt. Er ist also nicht in einem Randgebiet abgesetzt worden, sondern vielmehr auf dem Campo San Samuele, also mitten
in der Stadt, denn dieser Platz ist von den berühmtesten Palästen umringt. Auch holt Andreas
keine Auskünfte beim Barkenführer ein, obwohl er italienisch spricht. Daß dieser ihn ausgerechnet in Campo San Samuele aussteigen läßt, ist befremdend, da es sich dabei keineswegs
um einen typischen Landeplatz handelt. Seine passive Haltung ist ganz merkwürdig für einen
Ausländer, der Vorkenntnisse über seine Reiseroute besitzen müßte, er scheint ein Ausgelieferter
zu sein, als ob er diese Vorbestimmung schon kennt und akzeptiert: “Ich kann die Sprache, was
ist weiter, deswegen machen sie doch aus mir, was sie wollen”, lautet sein Kommentar.
Daß Andreas völlig unwissend ist, hebt der Autor etwas später hervor; als der Held durch
den Maskierten eine Wohnung in einem heruntergekommenes Haus bei einer verarmten, adligen
Familie findet, fragt er, “ob man hier in der Innenstadt oder in der Vorstadt” sei. Diese Unsicherheit fällt besonders ins Auge, da die Lagunenstadt wegen ihrer Lage im Wasser über eine weit
schärfere Konturierung als irgendeine andere europäische Stadt verfügt. Andreas hat die Topographie einer anderen mitteleuropäischen Großstadt vor den Augen, wo das Zentrum sich stark
und auffällig vom Rand unterscheidet, ohne daß man sich darum erkundigen muß, kann man
sich mit Leichtigkeit zurechtfinden. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Frage der Topographie,
die Spannung zwischen Zentrum und Rand die ontologische Thematik von Zentrierung und Dezentrierung des Ich erörtern will. Das wird im Nachhinein belegt durch den Kontrast zwischen
dem Finazzer-Hof und Venedig: das Castell Finazzer ist symetrisch-überschaubar gebaut, eine
Art ideale Ich-Festung, jenseits aller labyrinthischen Verschlungenheiten, wie sie Venedig aufweist. Auf dem Bauernhof haben die Menschen ihre Ich-Integrität aufbewahrt, sie fühlen sich in
einer Zeit zu Hause, die sich dem Rhythmus der Natur zufügt und führen ein Leben, das nach
uralten Gepflogenheiten festgeregelt ist.
Vom Fenster seines im zweiten Stockwerk liegenden Zimmers erblickt Andreas nur das
Wasser und scheint nicht ortskundiger zu sein als vorher.
... unten war das Wasser und kleine besonnte Wellen schlugen an die bunten Stufen eines recht
großen Gebäudes gerade gegenüber, und an einer Mauer tanzte ein Netz von Lichtkringeln. Er
beugte sich hinaus, da war noch ein Haus, dann noch eins, dann mündete die Gasse in eine große
breite Wasserstraße, auf der die volle Sonne lag. Aus dem Eckhaus sprang ein Balkon vor, mit einem
Oleanderbaum darauf, dessen Zweige der Wind bewegte, auf der anderen Seite hingen Tücher und
Teppiche ans luftige
Fenstern. Über dem großen Wasser drüben stand ein Palast mit schönen Stein7
figuren in Nischen.
Diese persönliche, aus der Sicht Andreas erfolgte Schilderung belegt keine Ortskundigkeit; er
sieht nicht den Canal Grande sondern nur eine “große Wasserstraße,” im Palast von drüben erkennt er nicht das berühmte Theater. Indem der Autor seinen Protagonisten ausgerechnet in
diesem Haus gegenüber vom Theater einquartiert, konfrontiert er ihn mit der Maske, mit dem
Spiel und mit der Kunst der Verführungen und erhebt Venedig zur Städte des Theatralischen –
8
der theatralischen Initiation.
Hofmannsthal unterscheidet ständig die Opposition zwischen dem “Engen”, Bedrückenden,
Verschlungen-Labyrinthischen und dem “Offenen”, Freien. Dieser Gegensatz ist deutlich artikuliert in der Gegenüberstellung zwischen dem Bereich Romans und der dumpfen Atmosphäre des
7
8
Ebd., S. 72f.
Dieterle, Bernhard: Die versunkene Stadt; sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos, hg. von Jacques Leenhadd,
Alain Montandon, Michael Nerlich, Monika Walter, Bd. 5, Frankfurt am Main 1995, S. 407.
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Lucia Gorgoi
9
elterlichen Wien. Die erste Station auf diesem Weg ist ein kleiner, freier Platz mit einer
“Cafeboutik”; das einzige etwas hervorgehobene Merkmal ist dasjenige des “Freien.” Auf diesem
Platz begegnet Andreas zum ersten Mal den Malteser, den Zorzi als “Narren” bezeichnet, der
ständig Briefe an eine “Halbnärrin” schreibe, die entweder krank in einem Bett oder auf ihren
10
Knien “in irgend einer Kirche liege.” Im Haus von Nina angelangt, muß Andreas “eine Minute”
warten bis Zorzi den Besuch bei ihr ankündigt. Er entfernt sich auf einer Gasse, da er die Umgebung sehen will.
Er ging bis ans Ende der ziemlich engen Gasse. Sie endete in einem Schwibbogen unter diesem aber
führte seltsamerweise eine Steinbrücke
über einen Kanal auf einen eiförmigen Platz hinüber, auf
11
dem eine kleine Kirche stand.
Andreas wirft einen Blick darauf, kehrt dann zu Ninas Haus zurück; das Seltsame ist, daß
Andreas nach wenigen Minuten das Haus Ninas unter den umherliegenden Häusern nicht mehr
mit Sicherheit identifizieren kann. Er begibt sich wieder zum kleinen Platz, man erfährt nur von
ihm daß er “menschenleer” war und die ganze Stadt scheint so zu sein, was für eine italienische
Stadt Anfang September ungewöhnlich und merkwürdig scheint. Obwohl sich Andreas in einem
überschaubaren Raum bewegt, zeigt seine Desorientierung, daß das Labyrinthische psychischer
Natur ist. Ein Schwibbogen ist ein zwischen zwei Baukörper gespannter freischwebender Bogen.
Dieses architektonische Merkmal ist typisch für Venedig, da die Lagunenstadt eine Vielzahl solcher Durchgänge hat, welche auf Kanäle, Brücken und Plätze münden. Schwibbogen, als Durchgang, Brücken und kleine Kirchen gehören zu den Grundelementen der venezianischen Stadtarchitektur. Der kleine Platz steht für Venedig und metaphorisch für Andreas Psyche. Auf diesem
Platz ereignet sich die Kernszene des Romans, die Erscheinung der Maria-Mariquita. Die junge
Frau erscheint auf eine geisterhafte Art und Weise und sie erfährt ebenso eine Verwandlung von
einer keuschen Betenden zu einem burschikos dirnenhaften Mädchen. Diese Ambivalenz von
gemalter und wirklicher Erscheinung nimmt dann in den anderen Fragmenten mehr Platz und
wird als ”Dissociation of a personality”, Syndrom der Persönlichkeitsspaltung angesehen, die
Hofmannsthal unter dem Einfluß eines amerikanischen Psychiaters näher studierte. Die Persönlichkeitsspaltung als auch der Identitätsverlust von Andreas scheinen dem Labyrinthischen der
Psyche zu korrespondieren. Auch der Leser ist nicht mehr in der Lage, sich eine präzise Vorstellung des Dargestellten zu machen. Die “Lokalität” besteht, wie seit beginn des Romans, aus
einzelnen für Venedig typischen stadtarchitektonischen Denkmälern, wie Hof, Treppe, Garten,
Mauer, Kanäle und dergleichen, die zum einen die Stadt als Labyrinth zeigen und zum anderen
aufgrund des ständigen Wechsels von Innen- und Außenräumen und der vielen Schwellen (Türen, Brücken, Schwibbogen) die grundlegende symbolische Entsprechung zwischen dem venezianischen Schauplatz und dem in der Seele des Protagonisten herrschenden Chaos konkretisieren, das heißt nach außen projizieren. Die Topographie wird auch nicht deutlicher, als Andreas
über eine enge Treppe zu Nina gelangt und einen Blick aus ihrem Fenster wirft. Er entdeckt den
“hübschen kleinen Dachgarten,” einen idyllischen Gegenpol zu Orten wie Platz und Gasse. Als er
bei Nina weilt, stellt er fest, daß seine Ängste ihn dazu zwingen, Abschied zu nehmen. Und auch
als sich Zorzi entfernt, geht er in großer Eile zum kleinen Platz mit der Kirche, wo er vorher die
merkwürdige Frau getroffen hat.
Er trat in die Kirche, es war niemand da. Er ging wieder zurück auf den Platz, er stand auf der Brücke
und sah in jedes Haus und fand niemanden. Es entfernte sich, durchstreifte ein paar Gassen, kam
9
Ebd., S. 412.
Hofmannsthal, Hugo von, a.a.O. S. 117.
11
Ebd., S. 118.
10
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Das Symbol des Labyrinths im Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten von Hofmannsthal
nach einer Weile wieder auf den Platz zurück,
trat durch die Seitentür in die Kirche, ging durch den
12
Schwibbogen zurück und fand niemanden.
Dieser komplizierte Weg ohne Ziel, auf der Suche der merkwürdigen Frau, die bald die Gestalt einer innerlich Gequälten, bald die einer Abenteuerlustigen annimmt, dieser geschnörkelte
Weg zeigt das Labyrinth des Inneren von Andreas, der sich sowohl von der Stadt als auch von
den Menschen verwirren läßt. So wie Gaston Bachelard in seinem Buch über die Deutung der
labyrinthischen Träume bemerkt, enthält das Labyrinthische die Angst vor einer qualvollen Vergangenheit und die Furcht vor einer unglücklichen Zukunft. So erinnert sich Andreas an die in
der Kindheit gequälten Katze und die Blicke des von ihm erschlagenen Hundes lassen ihm keine
Ruhe. Im Anschluß an die Psychoanalyse gehört das Labyrinth zur Urprägeform der Menschheit,
zu dem ältesten Archetypen, weil in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung das Leben des
Menschen ein Weg war. Im Traum oder in chaotischen Phasen treten diese Bilder aus dem Unterbewußtsein wieder auf in Form von Irrwegen die das Symbol des Labyrinths rekonstruieren
13
wollen. Das Individuum erlebt diese Bilder als Alpträume, er kann nicht mehr auf denselben
Weg zurückkommen, auf den er einmal gegangen ist. So auch im Falle von Andreas, kehrt er
zurück zu Ninas Haus, aber er kann es nich mehr identifizieren. Dieses unausweichliche Vorwärtsschreiten schließt auch das Thema der Gefangenschaft und des Freiseins ein, das ausführlich im Weg des Kaufmannssohns aus dem Märchen der 672. Nacht dargestellt wird. Andreas irrt
durch kleine verschnörkelte Gassen, es scheint daß er einen Weg zwischen Mauern betritt, der
ihm schicksalhaft vorbestimmt ist. Wenn er auf einen kleinen Platz gelangt, der ihm das Gefühl
des Offenen, und der Freiheit verleiht, verengt sich dann bald der Weg, so daß er das Unglück
des unterwegs Verlorenen erlebt. Bei einer Straßenkreuzung konfrontiert man sich mit zwei
komplementären Angstformen: der Schreitende kann weitergehen, auch wenn der Weg ganz
eng ist, aber er hat das Gefühl frei wählen zu dürfen oder zur Kreuzung zurückkehren, das eine
Stagnation mitten auf dem Wege heißt. Andreas bewegt sich in Venedig traumhaft. Er steht hier
allein, wie am Anfang des Romans, auf einem öden Campo und seine Lage hat sich nicht
wesentlich verändert. Dieser beschriebene Vorgang scheint das Innere des Seelenlebens Andreas
zu widerspiegeln, das Chaotische, das ihn mehr beherrscht und es scheint, daß seine Identität
aus den Fugen geraten ist:
Ihm war zumute wie kaum je im Leben, zum erstenmal bezog sich ein Unerklärliches aus jeder Ord14
nung heraustretend auf ihn, er fühlte, es werde sich nie über dieses Geheimnis beruhigen können...
Hofmannsthal beabsichtigte eine Art Entwicklungsroman zu schreiben, in dem er den Helden
infolge einer Reihe von Begegnungen, Kontakten, Irrungen zu einer gewissen Reifung seiner
Persönlichkeit verfolgt und seine Ausbildung der vorhandenen Anlagen in der Auseinandersetzung mit den Umwelteinflüssen darstellt. Die Absicht des Autors war, in Anknüpfung an
Goethe einen Bildungsroman zu schreiben und “das Genre der italienischen Bildungsreise zu
15
erneuern.” Das Streben und das Irren des Helden führt aus eigener Kraft zu einem Stand gewisser Vollkommenheit, das dem subjektiven Idealbild des Dichters und seiner Zeit entspricht.
Hofmannsthal spielt mit einer Gattung, ohne in ihr vollständig aufgehen zu wollen. In Abgrenzung zum Erziehungsroman ist der Bildungsroman nicht final aus der Überlegenheit der
12
Ebd., S. 130.
Vgl. Bachelard, Gaston: P`mântul [i reveriile odihnei. Eseu asupra imaginilor intimit`]ii, trad., note [i postfa'` de Irina
Mavrodin, Editura Univers, Bucure[ti, 1999, S. 174.
14
Ebd., S. 123.
15
Le Rider, Jacques: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Böhlau
Verlag, Wien, Köln, Weimar, 1997, S. 134.
13
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Erziehungsfigur konzipiert. Der thematisierte Bildungsweg kann auch mißlingen, abbrechen oder
scheitern. In unserem Fall können wir nicht genau festlegen, welche die Absicht des Autors war.
Im Fragment Die Dame mit dem Hündchen wird gesagt, daß Andreas von seinen Eltern geschickt
wurde, teils aus Snobismus teils infolge einer seelischen Krise, die Andreas früher erlitten hat.
Grund ihn auf die Reise zu schicken: schwierige schleppende Rekonvaleszenz nach 16
einer seelischen
Krise, Spuren von Anhedonia, von Verlust des Wertgefühles, Verwirrung der Begriffe.
Das Motiv der Bildungsreise verbindet sich hier mit dem Motiv der Heilung, “man denke an
17
die Italienreise als Therapie oder allgemeiner formuliert als “Lebenshilfe.” Heilung und Bildung
anstrebend, fühlt sich Andreas von Venedig angezogen, weil man in Venedig Maske trägt.
Andreas geht hauptsächlich (wenn er auf den Grund geht) darum nach Venedig, weil dort die Leute
fast immer maskiert sind. Nach dem Abenteuer mit der hochmutigen Gräfin auf dem Land [...] ist
ihm halb geträumt die Vorstellung entstanden, daß die Abenteuer herrlich gewesen wäre, wenn er
maskiert gewesen wäre. Überhaupt quält ihn jetzt der Unterschied zwischen Sein und Erscheinung.18
Das Motiv der Maske, des Scheins, der illusorischen Ambivalenz, des Theaters erscheinen
eng verbunden mit dieser Stadt. “Das Venedig der Maskenbälle und karnevalistischen Ver19
kleidungen [wird] zum entscheidenden Handlungsplatz.”
Maske und Maskierter korrespondieren der inneren seelischen Lage Andreas, dessen Ich gespalten in “zwei Teile, die auseinanderklaffen” ist und deutet auf den Versuch des Helden seine
wahre Identität zu verbergen, auch auf sein Unvermögen, sein wahreas Gesicht zu zeigen, denn
er hat schon bevor er nach Venedig kam eine Spaltung seiner Persönlichkeit erfahren.
Das gesamte Andreas- Projekt ist geprägt vom Problem der Persönlichkeitsspaltung. Die
doppelten und multiplen Persönlichkeiten beschäftigen den Geist der Epoche [...] Die Spaltung
zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten, die Vorgänge des Träumens, des Halluzinierens,
des Schlafwandelns, die Phänomene des Spiritismus, der Besessenheit von Dämonen, der
20
Hypnose, der Hysterie nähren die Einbildungskraft der Romanschreiber und Psychiater.
Fast alle Personen des Romanfragments, abgesehen, vielleicht, von Romana und ihrer Familie haben eine gespaltene Persönlichkeit, die sich in der Trennung von Geist und Trieb äußert.
Andreas “Nachtseite” ist im “bösen Gotthelf” versinnbildlicht, der in Venedig von Zorzi, dem
Begleiter von Andreas ersetzt wird; dieser ist ein zweiter Verführer, trägt ausgeprägt dämoni21
sche Züge und wird darum auch “Luzifer redivivus” genannt. Ihm fiel es schwer, zu sich selber
zu gelangen, damit ist Andreas Not und sein Ziel bezeichnet. Er sucht die die Vereinigung von
Geist und Körper, denn “alles Übel und Böse ist isoliert und isolierend, es ist das Prinzip der
16
Hofmannsthal, Hugo von, a.a.O. S. 153.
Dieterle, Bernhard, a.a.O. S. 413.
18
Hofmannsthal, Hugo von: Das erzählerische Werk, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1969, S. 1999.
19
Grosse, Carl: Der Genius. Aus den Papieren des Marquis von G., 4 Bände, Halle an der Saale 1791-95. Zu Venedig vgl.
Bd. 4, zweiter Teil, S. 181.
20
Le Rider, Jacques, a.a.O., S. 147.
21
Wiethölter, Waltraud: Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk, Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1990, S. 170.
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Das Symbol des Labyrinths im Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten von Hofmannsthal
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Trennung.” Gespalten ist auch Maria/Mariquta, Nina, der Malteser. Erst wenn diese Trennung
aufgehoben wird, indem jede Hälfte die andere erkennt und vor allem liebt, kann die Heilung
eintreten. Die Verwandlung und Wiedergeburt durch die Liebe ist einer der stärksten Gedanken
Hofmannsthals seit dieser Zeit. Die Vereinigung Andreas mit sich selbst bewirkt auch die Vereinigung von Maria/Mariquita. Mit der gegenseitigen Wandlung haben Andreas und Maria ihre
Aufgaben aneinander erfüllt und damit trennen sich ihre Wege. Die ‘ganze” Maria ist nun frei
für die Vereinigung mit Gott, der “ganze” Andreas ist reif für die Vereinigung mit Romana. Wie
W. Wiethölter bemerkt, hatte Hofmannsthal wahrscheinlich auf Carl Gustav Jung Symbole der
Wandlung gestützt und ihn als Vorlage gedient als er das Prototyp des mythischen Helden darstellt, der sich auf einer rituellen Reise begibt, um am Ende als Neugeborener und Verwandelter
glücklich zurückzukehren. Der verwandelte Andreas kann sich mit Romana vereinigen und damit
würden die Lehrjahre von Andreas ein Ende nehmen. Seine Vereinigung mit Romana wird auch
vom Autor als der einzige Weg zur Vervollkommnung des durch die Lagunenstadt umherirrenden
Andreas angesehen. Der Aufenthalt in Venedig hat zur Überwindung seiner Krisen und zur
Mannesreife beigetragen, die Heirat mit Romana könnte nun seinem Leben eine neue Richtung
verleihen. Die labyrinthische Erfahrung von Andreas in Venedig hatte als Ziel sich zu verlieren,
um dann auf einer höheren geistigen und seelischen Stufe sich wieder zu finden.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
22
Alewyn, Richard, Über Hugo von Hofmannsthal, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1967.
Bachelard, Gaston, P`mîntul [i reveriile odihnei. Eseu asupra imaginilor intimit`]ii, traducere, note [i postfa]` de
Irina Mavrodin, Editura Univers, Bucure[ti, 1999.
Biedermann, Hans, Knaurs Lexikon der Symbole, Directmedia, Digitale Bibliothek, Bd. 16, Berlin, 1999.
Chevalier, Jean/ Gheerbrand, Alain, Dic]ionar de simboluri. Mituri, vise, obiceiuri, gesturi, forme, figuri, culori, Bd.IIII, Ed. Artemis, Bucure[ti, 1994.
Daemmrich, Horst S. und Ingrid G., Motive in der Literatur, UTB für Wissenschaft, Franke, Basel und Tübingen,
1995.
Dieterle, Bernhard, Die versunkene Stadt; sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos, hg. von Jaques
Leenhadd, Alain Montandon u.a., Frankfurt am Main, 1995.
Hederer, Eduard, Hugo von Hofmannsthal, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1960.
Jung, Carl Gustav, Gesammelte Werke. Bd. 12 Psychologie und Alchemie, Walter-Verlag AG, Zürich, 1972.
Le Rider, Jaques, Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende,
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar, 1997.
Nienhaus, Stefan, Ein Irrgarten der Verschwörungen. Das Venedig-Sujet und die Tradition des Bundesromans, in:
Germanistisch-Romanische Monatsschrift, neue Folge 42, 1992, Nr.1, S. 87-105.
Tarot, Rolf, Hugo von Hofmannsthal. Daseinsformen und dichterische Struktur, Max Niemeyer, Tübingen, 1970.
Wiethölter, Waltraud, Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische
Studien zum Prosawerk, Max Niemeyer Verlag Tübingen, 1990.
Hofmannsthal, Hugo von, a.a.O., S. 229.
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ZGR, 1-2 (21-22)/2002, 1-2 (23-24)/2003
ASPEKTE DER INTERTEXTUALITÄT
Einige Überlegungen zu Thomas Mann
1
Carmen Elisabeth Puchianu
I.1."Schichtentechnik" - eine Präambel
(...) Es ist eben gut und kann gar nicht schaden, wenn man auch unter der Epidermis ein bißchen
Bescheid weiß und mitmalen kann, was nicht zu sehen ist, - mit andern Worten: wenn man zur
Natur noch in einem andern Verhältnis steht als bloß dem lyrischen, wollen wir sagen; wenn man
zum Beispiel im Nebenamt Arzt ist, Physiolog, Anatom und von den Dessous auch noch so seine
stillen Kenntnisse hat, - das kann von Vorteil sein, sagen Sie, was Sie wollen, es gibt entschieden ein
Prä. Die Körperpelle da hat Wissenschaft, die können Sie mit dem Mikroskop auf ihre organische
Richtigkeit untersuchen. Da sehen Sie nicht bloß die Schleim- und Hornschichten der Oberhaut,
sondern darunter ist das Lederhautgewebe gedacht mit seinen Salbendrüsen und Schweißdrüsen
und Blutgefäßen und Wärzchen - und darunter wieder die Fetthaut, die Polsterung, wissen Sie, die
Unterlagen, die mit ihren vielen Fettzellen die holdseligen weiblichen Formen zustande bringt. Was
aber mitgewußt und mitgedacht ist, das spricht auch mit. Es fließt Ihnen in die Hand und tut seine
2
Wirkung, ist nicht da und irgendwie doch da, und das gibt Anschaulichkeit.
Nicht einzig und allein um Anschaulichkeit und unterschwellig erotischen Anspielungen
dürfte es dem Romancier Thomas MANN in der eben zitierten Passage gehen, sondern viel eher
um eine subtile, keineswegs eindeutige oder gar vordergründige Darstellung eigener ebenso wie
epischer Schreib- und Schichttechnik schlechthin.
Denn was sind Ge-Schichten anderes als über- und nebeneinander geschichtetes Erzählwerk, zeit- und räumliches Neben- und Beieinander, wie man es - allerdings chaotischer- aus
der Realität nur zu gut kennt und darin vor-findet? Kein lyrisches Verhältnis gestattet sich der
Epiker: er ist, so Thomas MANN, eher ein "Physiolog" und "Anatom", ein Kenner der sogenannten "Dessous", der Unter-Lagen, also der tiefliegenden Schichten und Strukturen, die
dem ungeübten Auge (des Lesers) unter der schützenden (Körper)Pelle verborgen bleiben. Der
Blick durch das schonungslose Mikroskop des Anatoms allerdings enthüllt Schichten, die nicht
unbedingt einen genehmen Eindruck erwecken: sachlich - nüchtern, mit einem ins beinahe
Groteske hinüberspielenden Hang zur exakten Nennung physiologischer Fakten zählt der
Sprecher Schleim- und Hornhaut, Salben- und Schweißdrüsen und Blutgefäße auf, die die
lockend verführerische Anatomie, die Rundungen des weiblichen Körpers, von dem hier vordergründig die Rede ist, nüchtern und bei Lichte betrachtet ausmachen.
Indes, anderes macht "Polsterung" aus. Der Diskurs erweist sich abermals als metapoetisch
im besten Sinne des Wortes, denn: zum besseren Verständnis der Kunst gehört ein Prä, worauf
der Künstler zurückgreift oder sich auf irgendeine Weise bezieht und das dem Kunstadressaten
zumindest andeutungsweise bekannt sein sollte. Dahinter verbirgt sich äußerst diskret und
dekorativ oder in hohem Maße manieriert, der Romancier, wie etwa in den niederländischen
Gemälden früherer Zeit der Maler selbst, oder wie der im Hintergrund als Komparse agierende
Regisseur in einem Hitchcoock-Streifen.
1
Vorliegender Beitrag ist Teil unserer im Entstehen begriffenen Dissertation zum Thema "Der Splitter im Auge, oder
Lebensform Schriftsteller. Kritische Bemerkungen anhand von Thomas Manns Erzählwerk". (Wissenschaftlicher Betreuer: Prof. Dr. George Gu]u, Universität Bukarest.)
2
Thomas Mann: Der Zauberberg, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1968, S. 368-369.
Carmen Elisabeth Puchianu
Für den Leser ergibt sich aus dieser mise-en-abyme die Anweisung oder freundliche Erlaubnis, die
Epidermis des Textes mikroskopisch zu untersuchen (...) Die genaue Betrachtung der Oberfläche ist
3
das erste. Darunter liegt das Mitgedachte, das sich in Spuren an der Oberfläche zeigen muß.
Michael Maar nennt dies 4Schreibverfahren Schichtentechnik, andere Interpreten wiederum,
beispielsweise Leonie MARX , sprechen von Substrattechnik; in beiden Fällen ist ein leitmotivisches Denkmuster und Darstellungsprinzip des Romanciers gemeint, das auf Einwirkungen, Übereinstimmungen und Reminiszenzen entweder eigener oder fremder
Texte/Werke beruht. Bei genauer Betrachtung wird sich herausstellen, daß dieser Schreibtechnik weit mehr als nur ein werkgestalterisches Prinzip zugrunde liegt: m.E. entspringt sie
einer grundsätzlichen Veranlagung sowohl des Romanciers selbst als auch des literaturgeschichtlichen Moments, dem der Romancier zuzuordnen ist. Gemeint ist jene Endzeit, zu der
sich Thomas MANN oft genug bekannt hat und über die man heute nicht mehr ganz eindeutig
zu sagen weiß, ob es sich noch um die Moderne oder schon um eine Postmoderne handelt.
Es geschieht durchaus nicht billigerweise, daß Interpreten und Kritiker von Thomas MANNS
Erzählwerk wiederholt dazu verleitet werden, dieses aus der Perspektive der Textschichtung zu
untersuchen. Ihm ist eigen, sich gewollt mit (literarischen ) Vor-Lagen in Beziehung zu setzen,
so daß der Nachwelt regelrecht eine sichtbare Spur gelegt wird zu den Quellen und zu dem
geistigen wie textuellen Herkommen des Werkes. Dem Textdeuter entspringt daraus das Dilemma, sich zwischen akribischer Quellenforschung und textimmanenter Interpretation entscheiden zu müssen, wobei der einen wie der andern Annäherungsweise Tücken und Fallen
anhaften können:
Das implizite Ideal der Quellenforschung ist es, das Original möglichst vollständig aus einem Vorgegebenen abzuleiten. (...) Zu Ende gedacht wäre das Ideal des Quellenforschers der Fund eines (...)
wortindentischen Manuskripts. Zu Ende gedacht ist das Ideal der Quellenphilologie die Stillegung
des Originals.
Das Ideal der Interpretation wäre ein Text ohne widerständige Details. Das Detail ist nur hinderlich,
im Grunde ärgerlich;(...) Gesamtinterpretation strebt nach Resultaten, möglichst nach Sätzen und
Begriffen;(...) Das Ziel ist die Subsumtion unter den Begriffen und die Stillegung des in der Fiktion
5
Schwebenden.
Entschlüsselung von Tiefenschichten, von sogenannten Quellen und Vorlagen erfordert m. E.
eine genaue Auseinadersetzung mit dem Wesen der Epik und zwar mit deren Textualität und
implizite ihrer dialogischen Fähigkeit und Funktion, sowie mit dem so ergiebigen Zusammenspiel und -wirken einzelner Texte und dessen Ergebnis: der Inter-Texte und der Intertextualität.
(...) Thomas Manns Weg zu Goethe ist kennzeichnet als Prozeß einer Identifikation und Anver6
wandlung . Thomas Mann vollzieht, in fortschreitender Lebensentwicklung, den Prozeß einer tiefen
und bewußten Nachahmung, die aber nicht als Imitation der Stoffe auftritt (...) sondern aus ähn7
licher Substanz (...) goethische Probleme in einer neuen Zeit zu behandeln sucht.
Ganz gleich für welche Termini man sich entscheidet, ob man über Schichten- oder
Substrattechnik, über Identifikation oder Anverwandlung spricht, es geht in jedem Fall a) um
ein schreibtech-nisches und konzeptuales Prinzip des Epikers, und b) um ein textimmanentes
Prinzip der Interpretationsmethode.
Es liegt in der Absicht der Verfasserin im Folgenden einer jüngeren Tendenz in der ThomasMann-Forschung zu folgen und Intertextualität sowohl als werkzusammensetzende als auch als
3
Michael MAAR. Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg. München Wien: Carl Hanser Verlag 1995, S. 14.
Leonie MARX: Thomas Mann und die skandinavischen Literatuten in: Thomas-Mann-Handbuch (Hrsg. H. Koopmann),
Stuttgar: A. Kröner Verlag 1995, S. 164-199.
5
Michael MAAR, a.a.O., S. 15.
6
Meine Hervorhebung.
7
Hans MAYER: Der Weg zu Goethe in : Thomas Mann. Frankfurt /M.: Suhrkamp 1980, S. 225.
4
298
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
werkdeutende Methode aufzufassen und dazu einzusetzen, um Verschlüsseltes im Werk Thomas
MANNs aufschlußreich zu erschließen.
2. Exkurs über den Begriff Intertextualität
Wörtlich genommen und im weitesten Sinne bedeutet Intertextualität alles das, was sich
zwischen Texten abspielt, oder anders: Intertextualität signalisiert die Bezugnahme von Texten
auf andere Texte, deren Verhältnis zu diesen. Nicht zuletzt scheint Intertextualität ein wesentlicher Faktor der Textbedeutung zu sein.
Wie dem auch sei, älter als der Begriff ist die Sache selbst: keineswegs einzig und allein
eine imitatio vitae, wurden Texte seit der Antike ebenso gut als imitatio veterum aufgefaßt. Die
mimetische Kunstauffassung beinhaltet neben Nachahmung von Natur auch jene mustergültiger Autoren und deren Werke. So liegt jedem Text ein Prä-Text vor und jeder Autor gibt
sich als "Schnittpunkt von Diskursen" zu erkennen, wobei "das intendierte Werk zum
ambivalenten Text" mutiert und Intertextualität an die Stelle von Intersubjektivität treten
8
muß.
Jeder Wortkünstler greift sowohl auf eine vorgefundene Wirklichkeit von Erkennen und
Handeln zurück, als auch auf bereits vorhandene Literatur. Der Kampf jedes Schriftstellers mit
der Wirklichkeit läßt sich nicht trennen von einem ähnlichen Kampf innerhalb des literarischen
Kontextes: dabei gilt es, für oder wider alte literarische Formen zu kämpfen, diese
sind ent9
weder zu benutzen und zu kombinieren oder ihr Widerstand ist zu überwinden . Es dürfte die
Leistung der Romantik gewesen sein, der intertextuellen, mimetischen Literaturauffassung ein
anderes, wie man glaubte, kreatives und originelles Modell entgegenzuhalten:
Die Funktion der Literatur wurde nunmehr darin gesehen, originäres Ausdrucksmedium eines
singulären Dichtergenies zu sein, das aus der Fülle seiner begnadeten Inspiration heraus Neues,
noch nie Gedachtes authetisch formuliert. Mit einer solchermaßen dominant autorenorientierten,
expressiven Literaturkonzeption gerät der bis dahin herrschende mimetische Literaturbegriff in
Mißkredit. Im Rahmen der Genieästhetk ist es nicht mehr Ziel der Dichter, vor dem Hintergrund
bereits existenter Texte neue Texte zu formulieren, sondern gerade den Text-Text-Bezug zu
10
negieren.
Ein solches Verdikt, das intertextuelles Schreiben als unoriginell, unkreativ und
plagiatorisch verwirft, wirkt lange Zeit auch in der Literaturwissenschaft fort. Im 19. aber vor
allem im 20. Jahrhundert schließen sich Originalität und Rückgriff auf existente Texte jedoch
weder für die Schiftsteller, noch für deren Interpreten aus. Im Gegenteil, man sieht darin
komplementäre Größen, mehr noch, man ist bemüht, aus Vorformuliertem ein kreatives
Potential zu schöpfen und Neues zu schaffen. Eine Hochkonjunktur erfährt intertextuelles
Schreiben in der Postmoderne, wobei dem Begriff damit auch eine erhebliche Erweiterung
zuteil wird, in dem Sinne, daß nicht mehr nur eine bestimmte Qualität individueller Texte gemeint ist, "sondern ein notwendiges (...) Merkmal jeglicher kulturellen Äußerung. Diese verstärkte intertextuelle Literaturpraxis hat mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft eine
Neuorientierung bewirkt.(...) Die romantische Fixierung auf die Autor-Text-Relation
wurde
11
aufgelöst durch die Zentrierung des Interesses auf die Text-Text-Relation."
Eine regelrechte Intertextualitätsdiskussion setzt erst nach einer etwas verspäteten
BACHTIN-Rezeption ein, also in den sechziger Jahren und nimmt in den Siebzigern und Achtzigern zu: es geht darum, eine anwendbare Theorie und eine ebensolche Terminologie zu
8
M. MARTINEZ, a.a.O., S. 442.
Siehe Manfred PFISTER: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Max-NiemeyerVerlag 1985, S. 2.
10
Horst WEICH: "Dialogizität und Intertextualität", in: Don Quijote im Dialog. Zur Erprobung von Wirklichkeitsmodellen
im spanischen und französischen Roman (von Amadis de Gaula bis Jacques le fataliste), Passau: Wissenschaftsverlag
Richard Rothe, 1989, S. 25.
11
H. WEICH, S. 26.
9
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299
Carmen Elisabeth Puchianu
12
formulieren und auf historische Beispiele anzuwenden . Erschwert wird die Diskussion
allerdings dadurch, daß man es methodisch mit zwei Begriffen zu tun hat, die miteinander zu
konkurrieren scheinen: gemeint sind Dialogizität und Intertextualität.
Dialogizität geht auf BACHTIN zurück und erscheint etwas umfassender als der später von
KRISTEVA geprägte Begriff Intertextualität. Das Dialogische bei BACHTIN zielt darauf ab, den
Vorgang des Verstehens von Texten allgemein nachzuvollziehen, wobei der Leser ein
dialogisches Verhältnis zum Text einnimmt. Aber auch Texte können mit einander ein solches
Verhältnis eingehen, indem "fremde Rede" in die eigene eingebracht wird. So wird der Text
nach BACHTIN
(...) zum Ort des Dialogs unterschiedlicher Sinnpositionen und Weltbilder, der Konstitution und
wechselseitigen Brechung widerstreitender Sinne, Ideologien, Normen. (...) In dem Maße, wie die
fremde Rede nicht nur fremde ideologische Positionen beinhaltet, sondern selbst deutlich als
fremden literarischen Texten zugehörig ausgewiesen ist, wird dieser Dialog der Ideologien zu einem
Dialog der Texte und der in ihnen propagierten Sinnbildungen, Weltmodelle und Normen. Der Dialog
der Sinnsysteme wird geführt 13auf der Basis der intertextuellen Relationierung der sie transportierenden literarischen Texte.
Da der Rahmen vorliegenden Beitrags keine detaillierten Ausführung zum Thema
Intertextualität
/ Dialogizität gestattet und der theoriegeschichtliche Aspekt zur Entstehung der
14
Termini als bekannt vorausgesetzt werden kann, beschränkt sich die weitere Darstellung
lediglich auf das Hervorstreichen einiger methodisch relevanten Aspekte von Intertextualität.
Julia KRISTEVA prägte den Begriff Intertextualität im Kontext einer allgemeinen Theorie über
Textproduktion. Für sie stellt jeder Text das Ergebnis eines Mosaiks von Zitaten dar beziehungsweise greift er auf andere Texte zurück, stimmt diese auf einander ab oder paßt sie
15
einander an . Anderenorts definiert KRISTEVA Intertextualität als Einschub von Geschichte in
einen Text und von Text wiederum in die Geschichte, was nichts anderes besagen will, als daß
ein Text andere (vergangene, vorangegangene) Texte aufnehmen kann, dadurch Vergangenes
aufarbeitet und seinerseits Geschichte produziert. Dem Text haftet dann in gewissem Sinne
Historizität an. Literaturgeschichte läßt sich als intertextueller und innerliterarischer Kampf
von Autoren gegen ihre kanonischen Vorbilder rekonstruieren, so Harold BLOOM, der
16
literarische Produktivität als "anxiety of influence" auffaßt :
Jeder bedeutende Autor sei unweigerlich auf literarische Vorbilder bezogen und versuche gleichzeitig, sie zu verdrängen. In ödipaler Ambivalenz verbleibe er zwar unter dem Einfluß des übermächtigen "Vaters", müsse dessen Werke aber notwendig mißverstehen (misreading), um eine selb17
ständige künstlerische Artikulationsmöglichkeit zu finden.
BLOOM beschreibt den Vorgang des Hervorbringens ("act of origination"), und setzt dabei
das Vorhandensein eines Prätextes, eines sogenannten precursor-text,
notwendigerweise
18
voraus, "of which the later text is a strong and agonistic rewriting."
Eine solche Lesart setzt einen äußerst hohen Grad an literarischer Vorbildung und die
Kenntnis zahlreicher literarischer Modelle und Kanons nicht allein auf der Seite des Autors
voraus, sondern um so viel mehr auf der Seite des Lesers. In der Tat sollte die intertextuelle
Analyse davon ausgehen, daß alle Schriftsteller in gewisser Weise die Werke ihrer Vorgänger
12
Vgl. LACHMANN 1982, SCHMID 1983, STIERLE/WARNING 1984, BROICH/PFISTER 1985, WEICH 1989.
H. WEICH, S. 27.
14
Vgl. M. PFISTER, 1985, S. 1-30.
15
"(...) jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen
Textes" (KRISTEVA 1969, S. 348), nach MARTINEZ: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft (Hrsg. Arnold/Detering), dtv 1996, S. 441-442.
16
Nach MARTINEZ, a.a.O., S. 443 ff.
17
MARTINEZ, a.a.O., S. 444.
18
Michael WORTON, Intertextuality: to inter textuality or to resurrect it? in: Cross-references. Modern French Theory
and the Practice of Criticism. D. Kelley and I. Llasera, Society for French Studies, Leeds, 1986, S. 14.
13
300
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
um-schreiben. Um mit WORTON zu sprechen, stellt das Umschreiben letztendlich eine mehr
oder weniger bewußt verfolgte Funktion des Textes dar, sich aggressiv gegen alle vorgegebenen
Standorte früherer Autoren abzugrenzen:
This rewriting is in many ways a generous expression of gratitude, but it is also a function of
(conscious and, more often, unconscious) aggression as the writer battles to demarcate and affirm
19
his/her own creative space.
Intetextuelles Schreiben impliziert auf jeden Fall neben Umschreibung auch eine Um-
wertung der Vorlagen, infolge eines Sich-in-Beziehungsetzens mit dieser. Ein dialogisches
Verhältnis ("dialogic relation") entsteht und ermöglicht dem Nachfahren eine Neu- und Uminterpretierung des Vorfahren (auch als Verhältnis zwischen Text und Prä-Text zu verstehen).
Nicht völlig außer Acht zu lassen ist in diesem Prozeß die Tatsache, daß vermittels einer derartigen Umwertung das intertextuelle Schreiben zur Re-Präsentation in zweifachem Sinne des
Wortes wird: Autoren wie JOYCE, ECO und Thomas MANN illlustrieren m.E. beispielhaft den
Doppelsinn des Begriffs, zumal in meiner Anschauung Intertextualität einen hohen Grad an
poetologischer (Selbst)Reflexion enthält, dahingehend daß der "neue" Text nicht nur Spuren
legt, sondern auch eine metaliterarische Funktion übernimmt.
Wird Intertextualität zum Gegenstand der Forschung, dann geht es darum, den Text-TextKon-takt auf Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, auf Identität und Differenz zu einem Vortext
bzw. mehreren Vortexten hin zu untersuchen. Dabei gilt immer, daß in den Texten Fremdes und
Eigenes organisiert wird, "wobei das Fremde im Eigenen im dreifachen Wortsinne aufgehoben
ist: Das Fremde wird im Eigenen aufbewahrt, es
wird mehr oder weniger überwunden, und es
20
wird mehr oder weniger ästhetisch überboten."
Jede intertextuelle Annäherung an Vor- und Nachfolgetext muß berücksichtigen, daß der
Text-Text-Kontakt aufgrund seiner dialogischen Qualität eine gewisse
Wechselseitigkeit
21
impliziert. Das heißt, der ältere Text beeinflußt zwar den jüngeren , als würde er diesen als
Kern in sich bergen, der spätere Text jedoch wirkt seinerseits zurück auf den früheren, indem er
diesen umdeutet, neu perspektiviert und in gewissem Sinne Veränderungen an ihm vornimmt.
Solcherart muß Intertextualität als "wesentliches Verfahren der Konstitution und
22
Problematisierung von Sinn, eine komplexe Form der Zuweisung zusätzlicher Bedeutung"
verstanden und genutzt werden. In dem Fall muß Harold BLOOM beigepflichtet werden, daß
Intertextualität immer auch Intentionalität impliziert:
Every strong poet who does not wish merely to imitate his predecessors must ... distort (clinamen),
antithetically complete (tessera), repeat (kenosis), convert (daemonization), purge (askesis) and
23
finally gain priority over (aprophrades) the poems written by his greatest precursors.
KRISTEVA kennzeichnet das Lesen als eine Form aggressiver Teil-nahme, sozusagen als ein
Sich-Aneignen des Fremden, während das Schreiben als produktive Form des Lesens zu verstehen ist, ein Vorgang, der sowohl Anteilnahme als auch Aggression impliziert:
(...) writing (...) tends towards complete participation and aggression. /W h i c h/ is the correlative of
narcissistic identification. The violence which generates writing is a symptom of the urgent desire
19
WORTON, a.a.O., S. 15.
H. WEICH, S. 37.
21
Vgl. die sog. "Einflußmetapher" der New-Criticism-Schule: "The metaphor of influence says that literary history is
like the natural flow of water and that there is a unidimensional current or relationship between an anterior text and
a posterior text. Text A influences Text B when the critic can demonstrate that B has borrowed structure(s), theme(s),
and/or image(s) from A or the lender." (Thais MORGAN: The Space of Intertextuality, in: Linda HUTCHEON: A Poetics
of Postmodernism - History, Theory, Fiction. Routledge, 1988, S., 240.)
22
H. WEICH, S. 39.
23
MORGAN, a.a.O., S. 244.
20
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Carmen Elisabeth Puchianu
and need to establish priority, but the written text rewrites - as it is read - the problematics of
24
textual signification and reference.
Solches bedeutet, daß der Leser bereit und gerüstet sein muß, das spurenlegerische Spiel
mitzumachen; andererseits fungiert er schon beinahe als eine Erfindung des Autors, ganz so als
wollte Letzterer eine Idealfigur seiner Selbst schaffen und den Kreis Autor-Text-Leser völlig
schließen. Daher sprechen die meisten Theoretiker der Intertextualität weniger vom Leser, als
viel eher vom Interpretierenden ("Interpretant") oder von einer "Clearingstelle der inter25
textuellen Transaktion" .
Der Intertextualität haftet eine gewisse Doppelbödigkeit an, denn sie wird eigentlich nur
dann wirksam, wenn sie vom Leser wahrgenommen wird. Sie ist für ihn inszeniert und durch
ihn realisierbar. Daher erscheint Intertextualität als textimmanentes Phänomen ein elitäres
Unternehmen zu sein, von Autoren für gebildete Leser, von Insidern für Insider ausgedacht.
Diese müssen vermittels ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten den gemeinen Durchschnittsleser
weit übertreffen. Dabei rückt die Figur des Autors unberechtigterweise in den Hintergrund, was
einen Mangel der Theorie aufzeigt, wenn nicht sogar ein Paradoxon.
Meine Untersuchungen stützen sich auf die Anschauung über Intertextualität als poetologisches Aufnehmen und Umwerten von Prä-Texten und -Kulturen; daher kann keiner sonst
als der Autor urheberrechtlich in den Vordergrund treten. Die Methode ist gerade im Falle
Thomas MANNs durchaus legitim. Sie fungiert auf der Produktionsseite als "Inspirationsquelle",
sie stellt das Material dar, auf das der Autor zurückgreift, also wird sie zum Verfahren der
inventio. Intertextualität dient ebenso der Selbstdarstellung des Autors, indem er entweder
seine literarische Vorbildung unter Beweis stellt oder wesentliche Dinge der eigenen Anschauung kaschiert. Auf der Rezeptionsseite bewirkt Intertextualität mit Sicherheit großes
Vergnügen an der Aufdeckung von verborgenen Hinweisen und nicht minder Verstörtheit oder
gar Frustratíon, dort wo entweder eine falsche Fährte gelegt wurde oder wo man aus lauter
Übereifer, allzu vieles in den Text hineingelesen hat.
Die augenfällige Doppelbödigkeit der Intertextualität betrifft, so Vincent B. LEITCH, beide
Seiten, den Autor wie den Leser. Sie gilt als "a historical crypt, that is, as formation of cultural
ideology; and it shows up as a tactical device
for critical deconstruction. In the first role it
26
seems a prison; in the second, an escape key" , und sie schlägt eine Brücke zwischen Tradition
und Innovation, zwischen Traditionalismus und Modernismus, was wiederum nicht irrelevant ist
in Bezug auf Thomas MANN.
3. Quellenforschung und Wirkungsgeschichte vs. Intertextualität und Dialogizität
Es bedarf an dieser Stelle einer weiteren methodischen Überlegung: in der traditionell
positivistisch orientierten Literaturwissenschaft bestehen bereits zwei Modelle, die auf einen
ersten Blick Ähnliches bezwecken wie Dialogizität und Intertextualität und mit denen Letztere
ernsthaft konkurrieren. Gemeint sind Quellen- beziehungsweise Einflußforschung und
Wirkungsgeschichte.
Man kann sagen, daß Quellen- und Einflußforschung den genetischen Ursprüngen eines
Werks nachgehen, sowie eine Untersuchung sämtlicher literarischer Einflüsse auf dessen Autor
vornehmen. Eine derartige Vorgehensweise erscheint notgedrungen endorientiert, da es vorrangig darum geht festzustellen, inwieweit Texte/Werke früherer Autoren Stil und Motivik
beeinflußt haben. Um mit WEICH zu sprechen, sind Quellen- und Einflußforschung
dominant produktionsästhetisch orientiert. Sie spüren Bezüge und Analogien auf, konstatieren
deren Existenz und zeigen, wie Elemente aus vorgängigen Werken produktiv auf die Gestalt des
späteren Werks eingewirkt haben. Beweisziel der Studien - ... - ist dabei aufzuzeigen, aus welch
24
WORTON, a.a.O., S. 17.
Die anzitierten Stellen sind bei M. PFISTER zu lesen, der seinerseits BARTHES zitiert, a.a.O., S. 20.
26
Nach PFISTER, a.a.O., S. 22.
25
302
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
unterschiedlichen, versteckten Quellen ein Autor schöpfte und mit welcher Raffinesse er alle diese
27
Anregungen in ein Kunstwerk originär einbrachte.
Wirkungsgeschichte geht umgekehrt vor: sie geht von einem Werk aus und untersucht, inwieweit dieses auf spätere Texte einwirkt. Wirkungsgeschichte ist demnach rezeptionsorientiert, wobei weniger die Art der Wirkung als viel mehr die Breite derselben dokumentiert
und zum Qualitätskriterium des (Ausgangs)Textes gemacht wird. Beide Modelle entbehren m.E.
einer gewissen Dynamik, da sie offenbar den Text als konstante Größe auffassen. Sie liefern
überhaupt keine Hinweise zum Beispiel darauf, ob und wie kreative Impulse den Sinn eines
Textes verändern. Darum bemüht sich ein neueres Modell der literaturwissenschaftlichen
28
Untersuchung und zwar die Rezeptionsgeschichte und die kreative bzw. produktive Rezeption .
Rezeptionsgeschichte untersucht zwar auch rezeptive Streuung eines Textes, tut dies jedoch
aus einer veränderten Perspektive: der Text erscheint sowohl historisch gebunden, als auch
historisch veränderbar.
Die Rezeptionsgeschichte untersucht die Geschichte individueller Rezeptionsakte, die Geschichte
der unterschiedlichen Konkretisationen, die ein Werk seit seinem Erscheinen bei unterschiedlichen
Lesern gefunden hat. (...) Ihr Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß Texte nicht ein für allemal einen
Sinn artikulieren, sondern sich mit der Geschichte verändern. Die Rezeptionsgeschichte schreibt also
die Geschichte des sich verändernden Verstehens ein und desselben Textes und versucht zu be29
gründen, warum ein Text zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Konkretisation erfährt.
Die Geschichte der kreativen Rezeption untersucht vor allem jene Form der Aneignung, die
produktiv neuen literarischen Texten zugrunde liegt. Keineswegs eine schon institutionalisierte
Forschungsrichtung, bezieht sie methodisch ihre Quellen
aus den Fragestellungen und Erkenntnisinteressen der Rezeptionsgeschichte und der allgemeinen
Geschichte und aus den Fragestellungen und Erkenntnisinteressen der Intertextualität und der Dia30
logizität.
Das Untersuchungsmodell setzt sich zum Ziel, ein und dasselbe Werk sowohl als Prä- als
auch als Posttext aufzufassen und daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Ob beide
Aspekte des Modells auf das Erzählwerk Thomas MANNs anwendbar sind, bleibt vorläufig
dahingestellt. Der Fall dieses Autors ist dahingehend interessant und vielleicht etwas außergewöhnlich, da ein dialogisch intertextuelles Verfahren wesentlich mehr als nur den eigentlich
produktiv-kreativen Schreibaspekt betrifft. Letzterer erfährt eine erhebliche Erweiterung mit
Bezug auf die eigene schriftstellerische Lebensform, wie im Folgenden gezeigt wird. Unter
dieser Voraussetzung kann das Verfahren der Intertextualität und Dialogizität auf Thomas
MANN angewendet werden.
II. Intertextuelles Leben und Schreiben bei Thomas MANN
1. Angeborenes und Angeeignetes
Unweigerlich drängt sich einem die Frage auf nach dem Grund intertextuellen Schreibens
im Falle eines Autors, der sich einem rückblickend sozusagen als Schriftsteller par excellence
darstellt.
Begründungen und Hinweise des Autors selbst, Erzählkunst bedürfe realer wie textueller
Vorgaben, erscheinen einem etwas ungenügend; ebenso die bekannterweise auf Repräsentation
und Spurenlegerei fixierte Absicht des Autors. Es müssen noch ganz andere Gründe vorliegen,
27
H. WEICH, S. 28.
Vgl. H. WEICH, S. 29 f.
29
H. WEICH, S. 29. Illustrieren läßt sich dies anhand der unterschiedlichen Interpretationen beispielsweise der Novelle
Mario und der Zauberer, die zunächst als ausgesprochen antifaschistisch orientierter Text vor allem nach 1945 in der
DDR Schule gemacht hat. Erst später, in den 70ern etwa, war man bereit den Text aus veränderter Perspektive einzuschätzen.
30
H. WEICH, S. 30 f.
28
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303
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um eine derartige Schreibtechnik und folgerichtig eine entsprechende Lesart zu rechtfertigen.
Neuere Biographien betonen, wie vielseitig die Schwächen und Komplexe des Autors gewesen
sein mußten und messen dabei seiner angeborenen Scheu und Schüchternheit keine geringe
Rolle bei:
Thomas Mann ist ein frierender Igel, der bei anderen Igeln Wärme sucht, aber von den beiderseitigen Stacheln am Zusammenrücken gehindert wird. Immer weiter wird die Strecke, die einer
zurücklegen müßte zu dem Fliehenden. Immer mehr Platz braucht dieser um sich herum, wenn er
sich unbedrängt fühlen soll. Wenn aber der Platz statt dessen immer enger wird, wenn alle immer
eiliger selber reden wollen, bevor der Langsame, weit Entfernte zum Zug gekommen ist, dann ist
Verstummen die Folge.(...) Thomas Mann war bei aller öffentlichen Beredsamkeit privat extrem
schüchtern, schüchtern aus Gewissenhaftigkeit (denn wird man das, worauf es ankommt, wirklich
31
treffen?) und weil er sich für eine Zumutung hielt, in melancholischen Stunden zumindest.
Worauf kommt es ihm, dem Zauberer, am meisten an? Nicht etwa darauf, einem einen Weg
zu weisen zu sorgfältig verborgenen und gehüteten Komplexen, die er sogar mit anderen, nicht
weniger Großen und Bekannten, teilt? Denn man kann sich des Verdachts bald nicht erwehren,
daß es MANN geradezu ein Hauptanliegen ist, das, was er so sorgfältig hütet, die unterschiedlichsten Heimsuchungen seines Lebens, die er zum Urkram erkoren hat, allmählich preiszugeben. Zur Veranschaulichung sei hier lediglich an die bezugsreich zurechtgemachte Deutung
32
des Namens von GOETHE erinnert , darin nicht ohne Grund dem Nordischen so viel Bedeutung
beigemessen wird. Das Nordisch-Go(e)thische macht schließlich eine Hälfte des eigenen Selbst
aus, jenes kühle Erbe des patrizischen Vaters, in dem Thomas MANN stets ein geheimes Vorbild
erkannt und der sein Tun und Lassen erheblich bestimmt hatte. Das Vaterbild ist gekennzeichnet durch "Würde und Gescheitheit, seinen Ehrgeiz und Fleiß, seine persönliche und
geistige Eleganz, (...) Bonhomie, mit der er das platte Volk zu nehmen wußte, (...) seine ge33
sellschaftlichen Gaben und seinen Humor."
Einiges davon ist dem Sohne mit Sicherheit eigen: der Humor und der Ehrgeiz auf jeden
Fall; nicht aber die Gabe, das platte Volk zu nehmen, mangelt es ihm doch eher an Sinn und
Verständnis dafür, wenn man das Erzählwerk berücksichtigt. Sucht man es nach dem "Volke"
ab, findet man im besten aller Fälle die "Canaille", eine dekorative "Kulisse" oder besser
Statisten, die sich im Hintergrund zu halten haben. Die Vaterwelt scheint sich Thomas MANN
zunächst zu verschließen mit ihrer Ordnung, der kaufmännischen Tüchtigkeit und Aufrichtigkeit. Und doch gereicht sie ihm zum Gegenstand ständigen Sehnens, denn, um mit KURZKE zu
sprechen:
Er wollte sein Leben geordnet. Ein 'in sich geschlossenes Lebenswerk' sollte es sein. In Wahrheit hat
er einen verzweifelten Kampf gegen das andrängende Chaos geführt. Das innere Chaos drohte durch
die Faulheit und Traumverlorenheit der frühen Jahre, die unausgelebten homoerotischen Neigungen
34
und den Wunsch, sich gehen zu lassen.
31
Hermann KURZKE: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Verlag C. H. Beck, München, 1999, S. 306.
Sowohl in der Ansprache im Goethejahr 1949 als auch in dem Aufsatz Die drei Gewaltigen scheut MANN nicht davor
zurück, wortwörtlich den gleichen Abschnitt über GOETHEs denkwürdigen Namen zu übernehmen: "Das NordischGothische (denn von "Gothe" kommt er doch wohl), das Barbarische also, ist darin, durch den flötenhaften Umlaut ins
Musische geläutert, - und Läuterung, Klärung, Ordnung, Formung ist in der Tat der Imperativ, das hohe Geschäft dieses Lebens, das man oft ein Kunstwerk genannt hat und besser noch ein Kunststück nennen sollte." (Siehe: Th. MANN,
Gesammelte Werke, Bd. 11, Berlin: Aufbau Verlag 1956, S. 272 bzw. 497.) An anderer Stelle huldigt MANN dem Marzipan: "Marci-pan, das heißt ja offenbar, oder wenigstens nach meiner Theorie, panis Marci, Brot des Marcus,des
heiligen Marcus, der der Schutzheilige von Venedig ist." (Siehe KURZE, a.a.O.; Th. MANN, Lübeck als geistige Lebensform. 1926, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 386.)
33
Ebd., S. 381 f.
34
KURZKE, a.a. ., S. 17f.
32
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
Um es hier schon vorwegzunehmen: er wird sich disziplinieren, ein Leben lang, um solcherart dem Vaterbild möglichst nahe zu kommen, um aus dem Lebens-Werk ein Kunst-Werk zu
schaffen und daraus ein Kunst-Stück nach Goethescher Vorgabe.
Obschon er ganz andere Veranlagungen hat: am meisten imponiert Thomas MANN die
soziale Stellung, die dem Vater einzunehmen gegönnt war,
sowie das Ethische, darin er Lebens35
bürgerlichkeit und den Sinn für Lebenspflicht erkennt . Lebensbürgerlichkeit - der Begriff ist,
nüchtern und bei Lichte betrachtet, eng mit dem Namen GOETHEs verbunden: Letzterem nämlich erkennt der Nachfahre Lebensbürgerlichkeit in höchstem Maße zu. Sie bedeutet
das breitbeinige Fußen im Leben, /d e n/ Lebensaristokratismus des von der Natur Bevorteilten und
Bevorzugten, der, dem Brutalen nicht ganz fern, geringschätzig auf 'sehnsuchtsvolle Hungerleider
36
nach dem Unerreichlichen' blickt.
Zwei Vaterfiguren - eine biologische und eine geistige - schmelzen hier auf entscheidende
Weise zusammen, werden zum Leitbild, aber auch zum ständigen Stachel, ja sogar zum Lebenstrauma. Das muß immer wieder an die Oberfläche, daran muß man wiederholt gestoßen
werden. Es gilt zu aller erst für den Schriftsteller selbst, aber es gilt ebenso für den Leser und
Kritiker, der sich mit Ersterem beschäftigt. Das Trauma, welches von dem (biologischen) Vaterbild ausgeht, ist ohne Zweifel hervorgerufen durch verfrühte Todeserfahrung und der dadurch
37
freigesetzten Assoziationen, die dem Schriftsteller zu lebenslanger Obsession werden sollte. In
der früheren Münchner38Novelle Der Tod, die dem jungen Thomas MANN zunächst den Vorwurf
des Plagiats einbrachte , verarbeitet MANN, von stark melodramatischen Akzenten abgesehen,
auf erschreckende Weise den Tod des eigenen Vaters. Ähnlich wie der reale Thomas Johann
Heinrich, der gewußt haben soll, daß sein Tod an einem 13. Oktober erfolgen würde, wird der
Protagonist der Novelle ähnliche Prämonition äußern. Darüber hinaus verbindet sich der vorempfundene Tod des Vaters mit dem überraschenden Tod der kleinen Tochter Asuncion:
Zwanzig Jahre lang habe ich den Tod auf den Tag herbeigezogen, der in einer Stunde beginnen wird,
und in mir, tief unten, ist etwas gewesen, das heimlich gewußt hat, ich könne dies Kind nicht verlassen. Ich hätte nicht sterben können nach Mitternacht, und es mußte doch sein! Ich hätte ihn
wieder fortgeschickt, wenn er gekommen wäre: Aber er ist zuerst zu dem Kinde gegangen, weil er
meinem Wissen und Glauben gehorchen mußte. - Habe ich selbst den Tod an dein Bettchen gezogen, habe ich dich getötet, meine kleine Asuncion? Ach, das sind grobe, armselige Worte für feine
39
und geheimnisvolle Dinge!
"Feine und geheimnisvolle Dinge" sind Thomas MANN stets die Dinge des Todes. Es scheint
tatsächlich so gewesen zu sein, daß Thomas nicht selten das Sterben eines Kindes mit dem Tod
des Vaters in Verbindung brachte. Man kann gut glauben, daß der Grund für diese (beinahe)
Phantasie mit der Geburt des jüngsten Bruders, Viktor, zu tun hat: im Leben der Familie mochte
der Tod des Vater der Preis des neuen Lebens gewesen sein; und auch später, als Thomas MANN
selbst Vater von sechs Kindern wurde, liegen ihm Freude über das neue Leben und Sorge um
den drohenden Tod immer wieder sehr nahe bei einander. In der frühen Novelle geht das Kind
35
"Denn das Ethische, im Gegensatz zum bloß Ästhetischen, zur Schönheits- und Genußseligkeit, auch zum Nihilismus
und zur Todesvagabondage - das Ethische ist recht eigentlich Lebensbürgerlichkeit, der Sinn für Lebenspflichten, ohne
den überhaupt der Trieb zur Leistung, zum produktivem Beitrag an das Leben und an die Entwicklung fehlt; das, was
einen Künstler anhält, die Kunst nicht als einen absoluten Dispens vom Menschlichen aufzufassen, ein Haus, eine
Familie zu gründen, seinem geistigen Leben, das oft abenteuerlich genug sein mag, eine feste, würdige, ich finde
wieder nur das Wort: bürgerliche Grundlage zu geben". (Ebd., S. 381.)
36
Thomas MANN: Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932) in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin:
Aufbau Verlag, 1956, S. 114.
37
Das Thema wird noch detailierter zu erörtern sein.
38
Es stellte sich heraus, daß bereits Jakob WASSERMANN das Thema literarisch bearbeitet hatte; allerdings blieb das
Werk WASSERMANNs unauffindbar. (Siehe M. KRÜLL: Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie
Mann. Frankfurt/M: Fischer, 1993, S. 124).
39
Th. MANN: Der Tod (1897), bei KRÜLL, a.a.O., S. 125.
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dem Vater in den Tod voraus, in den Buddenbrooks folgt das Kind (Hanno) dem Vater in den
Tod.
Auch aus den Novellen Der kleine Herr Friedemann, Bajazzo und Enttäuschung, die vom Tod oder
den Todesphantasien junger Männer handeln, kann man den Schluß ziehen, daß Thomas Mann sich
selbst vor Augen führen wollte, wie die physische oder psychische Schwäche von Männern tödlich
wirken kann, daß insbesondere die Vater-Kind-Beziehung für beide totbringende Gefahren in sich
40
birgt.
Daß das Verhältnis MANNs zu den eigenen Kindern, insbesondere zu den Söhnen, kein einfaches war, bedarf an dieser Stelle keiner eingehenden Erläuterung. Es genügt darauf hinzuweisen, daß nicht allein die homoerotische Neigung dem Vater ein eher verkompliziertes Verhältnis vor allem zu Klaus "beschert". Eine ausgesprochene "Todespuschel", eine übergroße
Koketterie der Familie mit dem Tod tut im Überfluß das Ihre. Allein Klaus bereitet dem Vater
Kummer und Sorge, aber auch Ärger und Kränkung als er, nach wiederholten Versuchen, 1949
einer Überdosis Schlaftabletten in Cannes erlegen ist. Thomas MANN macht folgende Eintragung in sein Tagebuch:
41
Bei Ankunft im Hotel schwerster Chock. Telegramm, daß Klaus in der Klinik von Cannes in verzweifeltem Zustand liege. Bald darauf Telephonat von seiner u. Erikas Freundin dort: Mitteilung
seines Todes. Langes Beisammensein in bitterem Leid. Mein Mitleid innerlich mit dem Mutterherzen
und mit E. Er hätte es ihnen nicht antun dürfen. Die Handlung offenbar von ihm selbst unerwartet
geschehen, mit Schlafkapseln (...). Viel über ihn und den von langer Hand unwiderstehlich
wirkenden Todeszwang. Das Kränkende, Unschöne, Grausame, Rücksichts- und Verantwortungslose.
Beratung auch über unsere Reisezukunft, ob alles abzubrechen und direkte Heimkehr geboten. In
42
völliger Erschöpfung gegen 2 zu Bette.
Den Tod als Kränkung zu empfinden erscheint bezeichnend für die Haltung Thomas MANNs
dem Thema gegenüber: zum einen muß er in ständiger Angst vor dem Tod gelebt haben - dem
eigenen zu aller erst aber auch jenem seiner Nächsten -, war er doch äußerst pedantisch im
Feststellen und Festhalten der noch so kleinen Krankheitserscheinungen (und es gab solche
genug: angefangen von hypochondrischen Anfällen ohne Belang bis zu ernsten, schwerwiegenden Leiden der späten Jahre); zum andern trotzt er dem Tod, indem er zäh dem Leben
anhängt, in allem, was er tut. Daher bricht er beispielsweise auch seine Vortragsreise nicht ab
nach Erhalt der Botschaft über Klausens Selbstmord.
Der berechtigte Verdacht drängt sich einem auf, Thomas MANN habe als Vater versagt, man
müsse ihm Hartherzigkeit und Unnachgebigkeit nachsagen. Solches mag in gewisser Weise
stimmen. Bei näherer Betrachtung jedoch findet sich MANNs Verhalten ausgerechnet in der
zweiten, der geistigen Vaterfigur vorgebildet und vorgelebt, die sein Leben und seine Werke
maßgeblich bestimmt: so muß ihn nicht allein jene bereits zitierte Lebensbürgerlichkeit
GOETHES gereizt haben, sonder auch dessen beharrliches Bekenntnis zum Leben überhaupt.
Denn auch GOETHE erfährt wiederholt den Tod anderer und versteht ihn als Kränkung,
sozusagen als Affront der eigenen Vitalität gegenüber. Es geschieht keineswegs zufällig oder
billigerweise, daß GOETHE seinen Faust als Hundertjährigen sterben läßt. Er selbst mochte
gehofft haben, ein gleiches Alter erreichen zu dürfen, ja sogar zu müssen,
zumal es genügend
43
Verehrer gab, die solches laut werden ließen. Richard FRIEDENTHAL verweist darauf, daß der
Dichter stets über das Sterben zu scherzen pflegte und zitiert GOETHEs Kommentar anläßlich
des Todes von Sömmering, seines alten Freundes:
40
M. KRÜLL, ebd.
In Stockholm, während der zweiten Europareise des Autors. Er sollte in Frankfurt und Weimar den Goethe-Preis
entgegennehmen.
42
Tagebucheintragung vom 22.05.1949, in: M. KRÜLL, a.a.O., S. 15.
43
Richard FRIEDENTHAL, Goethe. Sein Leben und seine Zeit. Dtv, 1968.
41
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
'75 Jahre alt! was für Dummköpfe sind doch die Menschen, daß sie nicht den Mut haben, länger
auszuhalten als das'. Er lobt sich dagegen Bentham, den 'großen radikalen Narren - der hält sich
gut, und ist doch einige Wochen älter als ich'. Jeremias Bentham ist für ihn ein Narr mit seinen
radikalen Ideen für Parlamentsreform (...). Aber er hört mit Behagen, daß der Mann erzgesund ist,
stämmig, nie einen Tag krank bis zu seinem Tode, der dann in das gleiche Jahr wie das Ende Goethes
44
fällt.
Interessant will einem auch GOETHEs Verhältnis zu seinem Sohn August erscheinen, das auf
den späten Nachfahren abzufärben scheint. Thomas MANN findet sein eigenes vertracktes
Vater-Sohn-Verhältnis in jenem GOETHEs mit Sicherheit vorgeprägt - als wäre das Schicksal
der Kinder berühmter Väter (oder Mütter) ohnehin nicht schon schwer genug -: Klaus Mann
war zwar wesentlich begabter als August,
der weder begabt noch tüchtig war und
nur die
45
46
Pendanterie vom Vater geerbt hatte, wird allerdings mit August ein von Exzessen geprägtes
und daher gefährdetes Leben, das frühzeitig enden mußte, gemeinsam haben.
Bemerkenswerterweise findet August von Goethe seinen Tod während einer vom Vater aus
therapeutischen Gründen beorderten Italienreise - ähnlich wird Klausens Selbstmord während
eines Aufenthaltes in Cannes erfolgen -; während der Reise scheint August sogar heimlich
gedichtet und den Entschluß gefaßt zu haben, sich vom Gängelband des Vaters freizumachen:
August dichtet insgeheim, dem Vater wagt er nichts zu zeigen. Da schreibt er ungelenke und
ahnungsvolle Zeilen,, er will nicht mehr am Gängelbande gehn, er spricht von seinem zerrißnen
Herzen: 'Sein Untergang ist sichres Los.' Er faselt einem Freund von außerhalb, lallend und rot vom
Wein, vor: 'Sie glauben, ich bin betrunken? Ich bins nie, wenn ichs nicht scheinen will! Überhaupt,
Ihr kennt mich alle nicht! Für einen wilden, oberflächlichen Gesellen haltet Ihr mich - aber hier
drinnen, da ist es tief! Wenn Sie einen Stein hinabwürfen, Sie könnten lange lauschen, bis Sie ihn
47
fallen hörten!'
In Folge eines raschen Fiebers - der Obduktionsbefund lautet auf "Verwachsungen im Gehirn" - stirbt August von Goethe im November 1830.
GOETHEs Kommentar ist karg und gefaßt:
48
"Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt." Schon den Tod der Vulpius hatte GOETHE mit
Schweigen und Zurückhaltung quittiert, er war gar nicht bei der Beerdigung zugegen gewesen.
Auch dieses Mal schweigt GOETHE angesichts des Todes, einzig ein Blutsturz einige Wochen
später zeugt von seiner inneren Erregung. Sein starker Lebenswille wird die Erschütterung bezwingen und GOETHE überlebt seinen Sohn um zwei gute Jahre., wie Thomas seinen Klaus um
sechs Jahre überleben sollte.
In der 1948 abgefaßten Phantasie über Goethe. Als Einleitung zu einer amerikanischen Aus49
wahl aus seinen Werken prägt MANN das treffliche Wort "Selbstschau": sie habe "etwas Kind-
44
R. FRIEDENTHAL, ebd., S. 678.
R. FRIEDENTHAL, ebd., S. 551.
46
Bei FRIEDENTHAL lesen wir Folgendes: "(A u g u s t) lernt nicht 'Welt und Weite' kennen, sondern nur nahe Unordnung, denn der Goethe-Haushalt (...) ist nur ein unbeschreiblich unordentliches Gebilde. (...) Ein Fach für den Sohn ist
überhaupt nicht vorgesehen. Er erhält weder geregelten Unterricht noch irgendwelche gründliche Unterweisung. Er
drückt sich herum, zeitweise wohnt er gar nicht in dem breiten geräumigen Haus,als ob da kein Platz für ihn wäre. (...)
Er trinkt früh, hat früh seine Liebschaften; er wird ein stattlicher Bursche mit immer etwas hektisch roten Wangen,
unsicher flackernden Augen. Er ist reizbar und scheu, beliebt bei einigen wenigen Freunden und unbeliebt bei der
Weimarer Gesellschaft, die in ihm immer nur den Sohn der Mamsell Vulpius sieht. Außerhalb glückt es ihm etwas
besser; als Student in Heidelberg, als Besucher in Frankfurt wird er von Goethes Bekannten gut aufgenommen, es sind
seine besten Jahre. Dann wird er zurückbeordert, vom Vater in eine halbamtliche Stellung als Assessor einprotegiert;
(...) Und da wird er verbraucht." (a.a.O., S. 551f.). Zwar wird Klaus von seinem Vater Thomas niemals irgendwohin
"hineinprotegiert", aber doch lebenslänglich vom Schatten des Vaters verfolgt und umgetrieben.
47
R. FRIEDENTHAL, ebd., S. 665.
48
Siehe FRIEDENTHAL, S. 666.
49
In: Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin: Aufbau Verlag, 1956, S. 674-716.
45
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50
liches und Dämonisches, etwas Entzückendes und Schauder Erregendes zugleich", und sollte
vom Wortschöpfer selbst nur allzu oft betrieben werden, daß einem nicht minder schaudererregend zu Mute werden kann. Beinahe ist es einem wie im Kapitel Fragwürdiges im Zauberberg-Roman: Hans Castorp läßt Joachim Ziemßen aus dem Reich der Geister und der Toten in
wehenähnlichen Krämpfen ins Halbdunkel des Sitzungsraumes heraufbeschwören: ein
fragwürdiges Abbild seiner Selbst, wenn man bedenkt, daß Ziemßen eine Kriegsuniform trägt
und Castorp selbst am Ende der Geschichte als Soldat den Augen des Erzählers entschwindet.
Je genauer man hinsieht, um so deutlicher wird einem: in der Anschauung des Nachgeborenen erscheint GOETHE, der Vorfahre, als vorgebildeter Thomas MANN, der seinerseits zu
erlesener Nachfolge bestimmt scheint. Wenn KURZKE beispielsweise wiederholt hervorzuheben
weiß, daß MANN beständig sein eigenes Leben literaturisiert, wenn auch stellenweise äußerst
51
unzuverlässig und immer wieder nachstilisiert , klingen Einschätzungen MANNs nach, wie jene
aus der oben zitierten Phantasie über Goethe:
Nie nämlich waren eines Dichters Leben und Werk inniger in einander verschränkt, untrennbarer
einander zugeordnet, so daß das Werk ganz Erfahrung, Aussprache, lyrisches Bekenntnis war, das
Leben dem gleichsam präformierten, vorherbestimmten, aber auf bestimmte Wendungen des Lebens
52
angewiesenen Werke diente.
Präformiert, vorbestimmt - es sind m.E. Schlüsselbegriffe, die nicht allein ein poetologisches
Bekenntnis bzw. narzißtische Selbstschau signalisieren, sondern sie verweisen auf Schreibtechnisches im Sinne oben umrissener Intertextualität. Durch eine derartige Lesart wird dem
Begriff Intertextualität eine weitere Dimension hinzugefügt: die Schichtung von Leben und
Werk in ein neues Konstrukt: das Lebens-Werk eben.
Vaterbild und Vaterwelt finden für Thomas MANN ein Pendant im Mutterbild und der
Mutterwelt: nannte man den Senator Thomas Johann Heinrich Mann stets "Eure Wohlweis53
heit" , galt Julia Mann, geb. Da Sylva-Bruhns, als schönste Frau Lübecks. Bedeutet das
Nordische der Familie bereits dem jungen Thomas Vaterschaft und Pflichtbewußtsein, verbindet
sich das Südländische mit Künstlertum, Libertinage und Verantwortungslosigkeit. Über die
Hanno-Analogie könnte man schließen, Thomas MANN sei seinem Vater nicht männlich genug
gewesen - eine nicht unberechtigte Vermutung. Auf diesen inneren Zwiespalt sollte im übrigen
die Neigung zum Essayistischen als parallel betriebene Schreibarbeit zum Dichterischen
aufgefaßt und als Ausdruck des Väterlichen gegenüber jenem des Mütterlichen verstanden
54
werden.
2. Die Kälte des Künstlers - ein Motiv des Lebenswerks
Allerdings haben beide Elternteile Thomas MANNs Eines gemeinsam: sie strahlen Kälte aus.
So bleibt der Vater letztendlich
"eine ziemlich entrückte, auch gefürchtete, ungeheuer be55
schäftigte Respektperson" , während die Mutter, von der Thomas immerhin die Vorliebe für
Märchen und Musik geerbt haben muß, eine gewisse Ferne und den damit verbundenen kühlen
Hauch des Fernwehs ausstrahlt.
50
MANN, a.a.O., S. 675.
"Wir kennen nur unterschiedliche Stilisierungen des Erlebten, nicht das Erlebte selbst. Wir haben 'das Leben', nicht
das Leben. Wir haben es zu tun mit einem Autor, der sogar Erlebnisse provoziert, um der Kunst willen. Der Literat
erlebt, um auszudrücken. Das Leben wird zum Material."(KURZKE, a.a.O., S. 151-52). Ergänzt wird mit MANNs Worten
an Otto GRAUTOFF im Jahre 1901: "Ich bin Künstler genug,alles mit mir geschehen zu lassen, denn ich kann alles
gebrauchen." (KURZKE, 152)
52
Thomas MANN, Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin: Aufbau Verlag 1956, S. 684.
53
KURZKE, a.a.O., S. 26.
54
KURZKE, a.a.O., S. 30.
55
Thomas MANN an Agnes Meyer am 29.06.1939.
51
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
Eines der seltenen Mutterporträts, die Thomas MANN literarisch nachgebildet hat, befindet
sich im frühen Roman Königliche Hoheit - bekannterweise war der Autor nie davor zurückgeschreckt,
seine Mitmenschen schonungslos zu porträtieren; eine Ausnahme bildete seine
56
Mutter -:
Klaus Heinrich (...) sah seine Mutter und ihre Schönheit, die weit und breit berühmt und gepriesen
war. Er sah sie aufrecht en robe de ceremonie, vor ihrem großen, von Kerzen erhellten Spiegel; denn
zuweilen, bei Festlichkeiten, durfte er anwesend sein, wenn der Hoffriseur und die Kammerfrauen
die letzte Hand an ihre Toilette legten. Auch Herr von Knobelsdorff war anwesend (...) er brachte
Mama mit drolligen Redewendungen zum Lachen, so daß sich die wundervollen kleinen Gruben in
ihren weichen Wangen bildeten. Aber es war ein Lachen voll Kunst und Gnade, und sie sah in den
Spiegel dabei, als übe sie sich.
(...) Klaus Heinrich war ihr ähnlich, hörte er sagen. (...) Aber er war weit davon entfernt, schön zu
sein,(...) vor allem seiner linken Hand wegen, die Mama ihn anhielt, auf geschickte Art zu verbergen,
in der Seitentasche seiner Jacke, auf dem Rücken, oder vorn in der Brust, - ihn anhielt, gerade dann,
wenn er aus zärtlichem Antriebe sie mit beiden Armen umschlingen wollte. Ihr Blick war kalt, wenn
57
sie ihn aufforderte, auf seine Hand zu achten.
Wie im Märchen sitzt weiblich mütterliche Schönheit vor dem Spiegel, dabei vermutet man
einen kleinen, verzauberten Märchenprinzen daneben, der seiner Bewunderung und Liebe kaum
Herr werden kann - in der Tat vermerkt Thomas MANN beinahe beiläufig in der Skizze Kinderspiele (1904), er sei eines Morgens mit dem Entschluß erwacht,
heute ein achtzehnjähriger Prinz namens Karl zu sein.. Ich bekleidete mich in eine gewisse liebenswürdige Hoheit und ging umher, stolz und glücklich mit dem Geheimnis meiner Würde. Man konnte
Unterricht haben, spazieren geführt werden oder sich Märchen vorlesen lassen, ohne daß dieses
Spiel einen Augenblick unterbrochen zu werden brauchte.
Klaus HARPPRECHT bestätigt diese Veranlagung des Autors, die sein weiteres Leben offensichtlich grundlegend bestimmt:
Poet - Wunderkind - Prinz Karl: kein Verlangen in der Seele des Knaben und des Jünglings war wohl
mächtiger als der Wunsch, der erste vor allen anderen, der Besondere, der Berufene, der Erwählte zu
58
sein - vielleicht nicht einmal das Verlangen, geliebt zu werden, oder der Wunsch zu lieben.
Es geht hier sicher um mehr als nur um kindliches Prinzenspiel und Prinzengehabe. Es geht
mindestens um zweierlei: erstens, geht es um die Bestätigung des Erwähltseins, das die Mutter
in Thomas schon frühzeitig zu erwecken gewußt hatte; zweitens, geht es um die schon von
Kindesbeinen an bestehende Bruderrivalität zwischen Thomas, dem Zweitgeborenen, und
Heinrich, dem Erstgeborenen. Daher geht es auch um das rivalisierende Buhlen um die Gunst
und Liebe der Mutter, die beiden Söhnen gleich nah sein wollte und
in beiden möglicherweise
59
auf unterschiedliche Art heimliche Geliebte zu sehen geneigt war . Unterdrückte Geschlechtlichkeit verbirgt sich in diesem nicht minder vetrackten Verhältnis zur Mutter, so daß schließlich die andere Seite der (mütterlich-weib-lichen) Liebe hervorgekehrt wird: das Mutterbild
gleicht eher jenem der frostigen Eiskönigin, die den jungen Kai vermittels teuflischen Splitters
mitten ins Herz zu treffen weiß.
56
In ihren Ungeschriebenen Memoiren erinnert sich Katia MANN: "Er hat die eigene Mutter, ich möchte fast sagen,
verschont. Er hing sehr an ihr, und es hätte ihm merkwürdigerweise gerade in diesem einen Falle widerstanden, sich
des Modells zu bedienen. T.M. hat eine einzige Skizze gemacht, 'Das Bild der Mutter' (der Titel ist nicht einmal von
ihm), wo er die Mutter skizziert, so wie er sie als Junge sah, ein stilisiertes Bildnis, eigentlich nicht sehr lebendig,
schablonenhaft, gar nicht detailliert, ein bißchen romantisiert, kein Porträt." (Buchverlag Der Morgen, Berlin: 1987, S.
99).
57
Thomas MANN, Königliche Hoheit, S. Fischer Verlag, Berlin:1918, S. 73-74.
58
Klaus HARPPRECHT, Thomas Mann. Eine Biographie. Rowohlt, 1995, S. 56.
59
Hierzu siehe M. KRÜLL,a.a. O., S. 65ff.
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Wesentlich erscheint in der weiter oben zitierten Passage aus Königliche Hoheit der Bezug
auf Kälte und das Bedürfnis, Haltung zu bewahren um des Repräsentierens willen. Denn eben
solches wird sich der Schriftsteller bald zu eigen machen und stets zu beteuern wissen,
wiederum in selbstbestätigender Anlehnung an namhafte Vorlage. Bemühen wir doch noch ein
Mal die Phantasie über Goethe:
Aber wie aus seiner /Goethes; C.E.P./ Naturvergottung, diesem spinozistischen Pantheismus, seine
Güte kommt, seine Duldsamkeit und Konzilianz, sein Geltenlassen, seine 'Läßlichkeit', so kommt
auch daher seine Kälte, sein Mangel an Enthusiasmus und ideellem Schwung, den viele ihm zum
Vorwurf machen, seine Ideenverachtung, sein Haß auf das Abstrakte, das ihn lebensmörderisch
60
dünkt.
Es sind dies durchaus keine abwegigen Gedanken oder gar Spekulationen, die der
repräsentationsbewußte Nachkomme anstellt. Man findet sie wiederholt bestätigt, wie etwa in
61
Richard FRIEDENTHALs Buch Goethe. Sein Leben und seine Zeit . Als Beispiel daraus Folgendes:
obwohl GOETHE der Schauspielrein Corona SCHRÖTER einige Zeit zugetan gewesen war und ihr
sogar eine Huldigung dichtet, kümmert er sich in keiner Weise um ihr späteres Leben und
reagiert nicht einmal auf ihren einsamen Tod in Ilmenau. Etwas scheint ihn, wie den Nachfahren vielleicht auch, regelrecht verhärtet zu haben, und um mit FRIEDENTHAL zu sprechen:
Die eisige Kälte, die so vielfach an ihm bemerkt wurde, ist keine Legende. Das Abgetane ist für ihn
62
abgetan, ob es eine Geliebte, ein Freund oder die eigene Mutter ist.
Das mochte wohl das Geheimnis seiner Langlebigkeit gewesen sein, denn nur so vermag der
Dichter sich zu Neuem aufzuraffen. Und gerade das muß Thomas MANN erkannt und fasziniert
und zum Nachleben angeregt haben. Daß GOETHE, dem (scheinbar) Immer-Liebenden und
demzufolge, Immer-Geliebten, von Thomas MANN Kälte zugeschrieben wird, geschieht so ganz
in eigenem Sinne, im Sinne dessen, der sich zeitlebens als ein Schlechtgeliebter auffassen zu
müssen glaubte - ein regelrechtes Lebensgefühl, das nicht zuletzt auf die leidig-verholene, nie
gänzlich ausgelebte Homoerotik zurückzuführen ist, sondern ebenso zur Lebensform des
Schriftstellers schlechthin gehört, wie die Arroganz oder das Außenseiter- und Erwähltentum.
Ein Brief an Paul EHRENBERG bestärkt einen in der Annahme, Thomas MANN habe absichtlich
GOETHE in mehrfacher Weise nachzuleben gewollt: beinahe wörtlich erinnert der Text an
Augusts trunken-nüchterne Klage (siehe S.13) und rückt den Autor selbst in die Nähe
mißverstandener Gleichgültigkeit - denn diese scheint sich zunächst hinter dem Attribut der
Kälte zu verbergen:
In Wahrheit bin ich aller dieser Lobpreisungen meines Talents entsetzlich überdrüssig, denn sie entschädigen mich eben nicht für das Fehlende. Wo ist der Mensch, der zu mir, dem Menschen, dem
nicht sehr liebenswürdigen, launenhaften, selbstquälerischen, ungläubigen, argwöhnischen aber
empfindenden und nach Sympathie ganz ungewöhnlich heißhungrigen Menschen, Ja sagt?
Unbeirrbar? Ohne sich durch scheinbare Kälte, scheinbare Abweisungen einschüchtern und befremden zu lassen? Ohne zum Beispiel solche Kälte und solche Abweisungen aus Bequemlichkeit
und Gleichgültigkeit damit erklären zu wollen, 'daß ich mich erst wieder an ihn gewöhnen müsse',
sondern aus Neigung und Vertrauen unverbrüchlich zu mir hält? (...) Eine Aussprache würde mir,
glaube ich, gut thun, und darum - hätte ich beinahe gesagt: 'Besuche mich doch mal', wenn ich
irgend - wie berechtigt wäre, anzunehmen, daß Du nicht zu all den Übrigen gehörst, die das Talent
63
respektabel und den Menschen scheußlich finden.
Auch an dieser Stelle geht es um weit mehr als nur um sublimierte Liebeserfahrung und um
euphemistisch ausgedrücktes Liebesleid; es geht um das Leid des Schriftstellers schlechthin, der
Kälte austrahlt, weil ihm notgedrungen Kälte entgegenschlägt. Die daraus entstehende
60
Thomas MANN, Phantasie über Goethe, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin: Aufbau Verlag, 1956, S. 698.
Richard FRIEDENTHAL, Goethe und seine Zeit. dtv, 1968.
62
Ebd., S. 282.
63
Brief an Paul Ehrenberg, 28.01.1902, nach M. KRÜLL, a.a.O., S. 164.
61
310
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Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
Ambiguität, man möchte beinahe schon von einem fatalistischen Lebensdilemma sprechen,
wird trefflich von Klaus HARPPRECHT zusammengefaßt:
(...) Thomas Mann hielt die Mitwelt, die meisten seiner Freunde, auch die Familie, in der Regel auf
Distanz. Zugleich aber ärgerte, ja peinigte es ihn bis aufs Blut, wenn ihm 'Kälte', 'Gleichgültigkeit'
oder auch nur das 'Phlegma' des passions- und parteilosen Beobachters nachgesagt wurden. Hätte
er geahnt, daß der (zitierte) Begriff des 'kalten Künstlers' in einem Brief Christian Gottfried Körners
an den Freund Schiller mit dem Blick auf Goethe geprägt worden war: er wäre eher geneigt ge64
wesen, seinen Protest zu zügeln.
Man muß allerdings ehrlich sein: ohne kalte Zurückhaltung, ohne Verzicht auf herzliche
65
Nähe und liebevolle Zuneigung wäre die große Erzähl- und Darstellungskunst des Zauberers
wohl kaum denkbar. Immer wieder fühlt er sich regelrecht dazu verpflichtet einen "kalten Blick"
auf seine Zeitgenossen zu heften und sie mehr oder weniger karikiert in seinen Büchern zu
verewigen - im wahrsten Sinne des Wortes, denn die meisten erscheinen einem als Opfer, zählt
Thomas MANN selbst in seinem Tagebuch doch eine Liste von "Morden" auf, die er, wissentlich
oder nicht, verübt: Hans Reisiger, Annette Kolb, Emil Pretorius, der Maler Walter Geffcken,
Bruno Frank, um nur jene zu nennen, die dem
Doktor Faustus - um nur ein Beispiel zu nennen 66
lebensnahe Fülle an Charakteren verleihen , und von der näheren und weiteren Verwandtschaft in Lübeck ganz zu schweigen.
Zu der Kälte gesellt sich als weiteres Attribut künstlerischen Daseins die Krankheit und ganz
gleich, ob es sich dabei um tatsächliche oder hypochondrisch gehegte Krankheit handelt: sie ist
da und ist für Thomas MANN nicht wegzudenken. Kaum eine seiner Tagebuchaufzeichnungen
beginnt anders als mit einem Hinweis auf Wetter und eigenes körperliches Befinden; das Eine
bedingt das Andere; Letzteres hängt vom Ersteren ab. MANN gefällt sich in seiner anfälligen
Wetterfühligkeit, hegt beinahe sorgsam seine diversen, mehr oder weniger ernsten Wehwehchen, die sich im Werk symptomatisch wiederfinden (man berücksichtige einzig die häufigen
stomatologischen "Affektionen" der MANNschen Charaktere, um nur ein Beispiel zu nennen). Es
beginnt mit der leidigen "Constipation", die ihm ausgerechnet während der Hochzeitsreise
viel
67
zu schaffen macht und ironischerweise auf eine "Verstopfung" ganz anderer Art hinweist und
endet in Lungenkrebs und in Thrombose, an deren Folgen der Autor schließlich kurz vor seinem
Achtzigsten in Zürich verstirbt.
Daß Krankheit ein Grundmotiv in MANNs Lebens-Werk geworden war, ist allein schon
daran zu erkennen, daß er sogar "seinen" GOETHE damit assoziiert. Wenn MANN beispielsweise
über 68GOETHEs "Wetter-Empfindlichkeit" spricht, darin sich des Vorbildes "tellurische Abhängigkeit" spiegelt, ist das eine äußerst zweideutige und anspielungsreiche Angelegenheit: es bleibt
dahingestellt, ob die körperliche Anfälligkeit GOETHE durch selbstgefälligen Rückschluß übertragen wird, oder ob MANN sich eine derartige Anfälligkeit, aus übergroßem Hang zur
Literaturisierung, nach Maßgabe des Vorfahren aneignet. Man ist geneigt, das eine wie das
andere in Betracht zu ziehen, denn das eine wie das andere entspricht dem Schichtwerk des
Zauberers sowie dessen Ehrgeiz zur (intertextuellen) Anverwandlung schriftstellerischer
Lebensform. Wie dem auch sei, Krankheit erscheint MANN als "Adelsattribut höheren
Menschentums",
64
K. HARPPRECHT, a.a.O., S. 186.
K. HARPPRECHT, ebd.
66
Siehe K. HARPPRECHT, a.a.O., S. 150 ff.
67
In Zürich müssen die Frischvermählten einen Facharzt aufsuchen, beide scheinen Schwierigkeiten im Umgang mit
der eigenen Geschlechtlichkeit und jener des Partners zu haben. Dazu kommt Thomas MANNs Bewußtsein von seiner
"Sendung", die ihm eine intensive emotionale Implikation mit seiner Frau ohnehin verbietet:"Er suchte(...) in der Beziehung zu Katia Distanz, um der Berufung, der Sendung willen. Diejenigen, die er liebte, auch seine eigene Frau,
durften ihm nicht zu nahe sein." M. KRÜLL, a.a.O., S. 202.
68
Thomas MANN: Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität. 1922, in: Gesammelte Werke, Bd. 10,
Berlin: Aufbau Verlag, 1956, S. 196.
65
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311
Carmen Elisabeth Puchianu
indem sie durch Überbetonung des Körperlichen, durch ein Zurückweisen und Zurückwerfen des
Menschen auf seinen Körper entmenschlichend wirkt, den Menschen zum bloßen Körper herabwürdigt. Andererseits aber ist es möglich, Krankheit sogar als etwas höchst Menschenwürdiges zu
denken und zu empfinden.(...) Geist (...) ist Stolz, ist emanzipatorische Widersetzlichkeit (...) gegen
die Natur, ist Abgelöstheit, Entfernung, Entfremdung von ihr. /Der Mensch ist in desto höherem
Grade Mensch/ je gelöster von der Natur, das heißt, je kränker er sei. Denn was wäre Krankheit,
wenn nicht Abgetrenntheit von der Natur? (...) Im Geist also, in der Krankheit beruht die Würde des
69
Menschen, und der Genius der Krankheit ist menschlicher als der der Gesundheit.
Diese "Philosophie der Krankheit" findet ihre intertextuelle Wiederholung im Zauberberg:
mit unverholener Verachtung werden die Gesunden dort unten im Flachland quittiert. Castorp
erkennt bald die würdevolle Lockung der Krankheit und gibt zu:
Ein gewisser Ernst und eine gewisse Abneigung gegen robustes und lautes Wesen lag immer in
meiner Natur(...). Das alles, denke ich mir, kommt wohl daher, daß ich selbst einen Knacks habe und
70
mich von Anfang an auf die Krankheit verstehe.
71
Krankheit 72verbindet sich mit "Selbstvergiftung" , stellt mit Verzweiflung "Formen der
Liederlichkeit" dar und schwenkt schließlich in die Lässigkeit erotischer Heimsuchung, also ins
73
Körperliche, wenn beispielsweise von Castorps Verhältnis zu Madame Chauchat die Rede ist .
Krankheit führt einen geradewegs zum Genie, denn:
Genie ist eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form
74
der Lebenskraft.
Im Doktor Faustus konvergiert das Kältemotiv mit jenem der Krankheit und der künstlerischen Dämonie: spätestens in dem 25. Kapitel des Romans wird dem Leser deutlich, wie eng
diese Motive miteinander verwoben sind. Der Preis des Künstlertums ist hoch und unerbittlich,
er beinhaltet zwar das Versprechen, ja die Garantie der küstlerischen Fruchtbarkeit, allerdings
auf Kosten der Liebe. Nüchtern betrachtet, ist Liebe bei MANN stets Erregung und Heimsuchung, Verführung und Gefährdung; zu guter Letzt aber eine Frage der Lieblosigkeit, der
Herzenskälte, gar der Un-LIebe.
Saß allein hier im Saal, nahendt bei den Fenstern, die mit den Läden vermacht, vor mir die Länge
des Raums, bei meiner Lampe und las Kierkegaard über Mozarts Don Juan.
Da fühl ich mich auf den Plotz von schneidender Kälte getroffen, so als säße einer im winterwarmen
Zimmer und auf einmal ginge ein Fenster auf nach außen gegen den Frost. (...) Jemand sitzt im
Dämmer auf dem Roßhaarsofa (...) - sitzt in der Sofaecke mit übergeschlagenem Bein, aber es ist
nicht Sch., ist ein anderer, kleiner als er, lange so stattlich nicht und überhaupt kein rechter Herr.
75
Aber fortwährend dringt mich die Kälte an.
Daß das Auftreten des Ludewig, des Strizzi hier unmittelbar nach einem akuten Migräneanfall des Tonsetzers Adrian Leverkühn, noch dazu in unmißverständlicher Pose stattfindet, ist
durchaus kein Zufall. Die zahlreichen Hermes-Eros-Satan-Figuren, die MANN im Laufe der
Jahrzehnte entworfen hat, wiederholen im Grunde stets ein und die gleiche Gestalt: rothaarig,
rotbewimperte, ist sie keineswegs bajuwarischen Schlages und sie stützt sich stets mit ge69
Ebd., S. 178-180.
Thomas MANN, Der Zauberberg, Berlin und Weimar: Aufbau Verlag, 1968, S. 265.
71
Ebd., S. 269.
72
Ebd., S. 316.
73
"Schlicht gesagt, war unser Reisender nun also über beide Ohren in Clawdia Chauchat verliebt - (...) Vielmehr war
das eine ziemlich riskierte und unbehauste Abart dieser Betörung, aus Frost und Hitze gemischt wie das Befinden
eines Febrilen (...). Sie bezog sich (...) auf ihren Körper, ihren lässigen und gesteigerten, durch die Krankheit ungeheuer
betonten und noch einmal zum Körper gemachten Körper." (Der Zauberberg, 328)
74
Thomas MANN über Dostojevski, nach K. HARPPRECHT, S. 1539.
75
Thomas MANN, Doktor Faustus, Frankfurt/M: Fischer Verlag, 1980, S. 223-234.
70
312
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Einige Überlegungen zu Aspekten der Intertextualität bei Thomas Mann
kreuzten Füßen aus der einen Hüfte auf das Bein, wie etwa ANDERSENs standhafter Zinnsoldat,
lächelt dazu verführerisch und weckt verborgene Gelüste und Sehnsüchte. Ich denke zunächst
an den einsamen Wanderer in der Venedig-Novelle:
Mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen Typ und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. (...) in der Rechten (trug er;
C.E.P.) einen mit eiserner Spitze versehenen Stock, welchen er schräg gegen den Boden stemmte
76
und auf dessen Krücke er, bei gekreuzten Füßen, die Hüfte lehnte.
Die Erscheinung findet ihre Wiederholung im Zauberberg, darin ausgerechnet der
pädagogisch bemühte Humanist und Freigeist Settembrini die Satanspose einnimmt:
Auf dem Wege von links kam ein Fremder daher, ein zierlicher brünetter Herr mit schön gedrehtem
schwarzen Schnurrbart und in hellkariertem Beinkleid, der (...) mit gekreuzten Füßen, auf seinen
77
Stock gestützt, in anmutiger Haltung vor ihm (Joachim; C.E.P.) stehen blieb.
An einer weiteren Stelle heißt es über Settembrini, den pädagogischen Satan und Drehorgelmann, er sehe Hans Castorp manchmal beim Skifahren aus einiger Entfernung zu, auf
seinen Stock
gestützt, die Füße anmutig gekreuzt, Gewandtheitsfortschritte mit Bravorufen
78
begrüßend , dabei warnt er und ermutigt zugleich. Der Wandel geht weiter, führt einen zu
dem "Mann auf dem Felde" ,,jener rätselhaft wissenden Erscheinung mit den blassen, ziemlich
kraftlosen Armen, der auf seinen Stab gestützt, offenbar dazu bestimmt
ist, dem jungen Joseph
79
den rechten Weg zu weisen oder ihn diebisch in die Irre zu leiten .
Dem Leibhaftigen im oben anzitierten 25. Kapitel des Doktor Faustus fehlt zwar der
stützende, wegweisende Stab oder Stock, jedoch vermag er sich als Führer und umso mehr als
Ver-Führer auszuweisen. In bester mittelalterlich-lutherischer Tradition bietet der Ludewig
Leverkühn das "Tauschgeschäft" an: Kreativität gegen Lieblosigkeit, Künstlertum gegen Kälte
des Herzens:
Uns bist du, feine, erschaffene Creatur, versprochen und verlobt. Du darfst nicht lieben. (...) Liebe ist
dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein - darum darfst du keinen Menschen
80
lieben. Was denkst du dir denn? Die Illumination läßt deine Geisteskräfte bis zum Letzten intakt,
ja steigert sie zeitweise bis zur hellichten Verzückung - (...) Eine Gesamterkältung deines Lebens und
deines Verhältnisses zu den Menschen liegt in der Natur der Dinge, - vielmehr sie liegt bereits in
deiner Natur, wir auferlegen dir beileibe nichts Neues (...) Ist etwa die Kälte bei dir nicht vorgebildet, so gut wie das väterliche Hauptwee, aus dem die Schmerzen der kleinen Seejungfrau
werden sollen? Kalt wollen wir dich, daß kaum die Flammen der Produktio heiß genug sein sollen,
81
dich darin zu wärmen. In sie wirst du flüchten aus deiner Lebenskälte. (...)
Der Hinweis auf das "väterliche Hauptwee" im anzitierten Textfragment will nicht nur auf
das "Erbe" Leverkühns aufmerksam machen. Die Tatsache, daß der Teufel seinen Auftritt nach
einem Migräneanfall hat, ist kein Zufall und signalisiert die nahe Verwandtschaft der Figur mit
ihrem Schöpfer: oft genug von Migräne indisponiert, sieht sich Thomas MANN der väterlichen
Welt leidend ausgesetzt. Beinahe beiläufig findet auch die Mutterwelt ihre anspielungsreiche
Erwähnung im oben Zitierten in der Gestalt der kleinen Meerjungfrau. Darin verbergen sich
nicht minder viele Bezüge und Zusammenhänge, deren Erläuterung Gegenstand weiterer Unter76
Thomas MANN: Der Tod in Venedig, Berlin: Aufbau Verlag, 1989, S. 197f. Vgl. C. E. PUCHIANU: "Hier ist Eros im
Spiel". Bemerkungen zu 'Der Tod in Venedig' und 'Die Betrogene', in: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, Heft 1-2
(17-18), Januar - Dezember 2000, S. 124-129.
77
Thomas MANN, Der Zauberberg,Berlin: Aufbau Verlag, 1968, S. 80.
78
Ebd., S. 670.
79
Siehe Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Der junge Joseph. Frankfurt/M: Fischer Verlag, 1990, S. 401 ff.
80
Auch Hans Castorp war bekanntlich illuminiert, das heißt der Gifte voll und febril, letztendlich der liederlich-lässigen
Anziehung des (weiblichen) Eros verfallen. Für ihn, für das "Sorgenkind des Lebens" sollte es zumindest eine Walpurgisnacht und jene erleuchtende Schneevision geben, darin eine (theoretische) Zusage zur Liebe enthalten ist.
81
Thomas MANN, Doktor Faustus, Fischer Verlag, 1980, S. 249 f.
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
313
Carmen Elisabeth Puchianu
suchungen sein wird. Denn die bisherigen Ausführungen zeigen zum einen wie sehr Thomas
MANN bemüht war, sich vermittels bewußter Annäherung (Anverwandlung) und Übernahme
bereits existenten Lebens- und Textmaterials eine eigene Vater-Männer-Welt zurecht zu
machen; zum andern schaffen sie der Verfasserin gute Voraussetzungen für die weitere Untersuchung dialogischer und intertextueller Zusammenhänge zwischen einzelnen Texten des
Frühwerks sowie einiger der großen Romane Thomas MANNs
und Texten des dänischen
82
Märchen- und Geschichtenerzählers Hans Christian ANDERSEN.
***
Literatur:
1.
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Friedenthal, Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. dtv, 1968
Harpprecht, Klaus: Thomas Mann. Eine Biographie. Rowohlt, 1995
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Koopmann, Helmut (Hrsg.) Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart: Kröner, 1995
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McHale, Brian: Constructing Postmodernism. Routledge, London and New York, 1987
McHale, Brian: Postmodernist Fiction. Routledge, London and New York,1992
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Nubert, Roxana: Zeitstrukturen bei Thomas Mann, in: Germanistische Beiträge 13/14, Hermannstadt: Universitätsverlag 2001, S. 236-258
Nubert, Roxana: Raum- und Zeitbeziehungen in der deutschsprachigen Literatur. Temeswar: Mirton-Verlag, 1998
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Runge, Doris: Welch ein Weib! Mädchen und Frauengestalten bei Thomas Mann. Stuttgart: DVA, 1998
Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität, in: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium der Intertextualität.
(Hrsg. W. Schmid und W.-D. Stempel): Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11, Wien 1983
Weich, Horst: Don Quijote im Dialog, Passau: Wissenschaftsverlag Richard Rothe, 1989
Worton, Michael: Intertextuality: to inter textuality or to resurrect it? in: Cross-references. Modern French Theory
and Practice of Criticism. (Hrsg. D. Kelley und I. Llasers) Leeds, Society for French Studies, 1986
Es handelt sich dabei um einen wesentlichen Teil der eingangs erwähnten Dissertation.
314
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
KULTURKONFLIKT IN DEN USA
Österreichische ExilantInnen 1933-1945
Helmut F. Pfanner
Die zwei Seiten des Lebens im Exil sind weithin in die Erfahrungen heutiger Menschen eingedrungen. Jährlich häufen sich die mündlichen und schriftlichen Zeugnisse dafür, wie schwer
der Verlust von Heimat das tägliche Leben belastet. Gleichzeitig mehrt sich die Liste von bedeutenden literarischen Werken, die von ExilantInnen geschrieben wurden, darunter solche von
Vergil, Dante, Hugo, Heine, Brecht, Thomas Mann, Solschenitzyn und Salman Rushdie. Wie
verhält es sich in dieser Hinsicht mit den vielen österreichischen AutorInnen, die von 1938
(manche schon von 1933) bis 1945 infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft des
'Dritten Reiches' entweder freiwillig oder gezwungenermaßen das 'Brot der Fremde' aßen?
Während der letzten Jahre sind eine Menge von Einzeluntersuchungen und auch Sammelwerke
1
erschienen, die auf diese Frage eingingen, wobei neben der Grundforschung auch der
2
hermeneutischen Untersuchung ausgiebig Platz eingeräumt wurde. Hin und wieder geht die
Forschung auch der Frage nach, wie sich die ExilantInnen in der Kultur ihres Gastlandes zurecht
fanden, wobei ich auf meine eigene Arbeit Bezug nehme, in der ich mich u.a. mit dem Verlauf
des deutschen und österreichischen Exils in den Vereinigten Staaten auseinandersetzte. Da
3
mein Buch u.d.T. Exile in New York vor zwanzig Jahren nur auf englisch erschienen ist , benutze
ich diese Gelegenheit, heute einige der darin enthaltenen Gedanken in deutscher Sprache,
jedoch inhaltlich durch neue Erkenntnisse ergänzt, vorzutragen.
Oft machten die österreichischen Flüchtlinge der dreißiger Jahre ihre erste Bekanntschaft
mit der Verschiedenheit in der Mentalität der amerikanischen Menschen, bereits bevor sie in
New York an Land gingen. Da sie es nicht gewohnt waren, mit Staatsbeamten zu scherzen,
waren sie darüber erstaunt, wie die Zöllner, die bei ihrer Ankunft im Hafen von New York ihre
Papiere noch an Bord des Schiffes prüften, auf ihre in Europa angenommene Ängstlichkeit und
Unterwürfigkeit reagierten und auch versuchten, sie aufzumuntern, ja gelegentlich sogar die
Bedingungen eines Visums verbesserten oder den betroffenen Menschen eine finanzielle Ein4
steigehilfe zukommen ließen. Ähnlich positiv mutete es die Neuankömmlinge später an, wenn
sie feststellen konnten, wie Polizeibeamte und Menschen hinter Schaltern in Regierungsstellen
ihnen in mancher Hinsicht behilflich waren, statt sie wie früher in Europa anzuschreien und
1
In diesem Zusammenhang zu nennen ist vor allem das verdienstvolle Lexikon der österreichischen Exilliteratur von
Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser. Wien u. München 2000.
2
S. z.B. Jutta Ittner, Augenzeuge im Dienste der Wahrheit: Leben und literarisches Werk Martin Gumperts. Bielefeld
1998; Ulrich Weinzierl: Er war Zeuge: Alfred Polgar. Ein Leben zwischen Publizistik und Literatur. Wien 1978; und
Stefan Zweig: Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Hrsg. Mark H. Gelber u. Klaus Zelewitz. Riverside, California
1995.
3
Helmut F. Pfanner, Exile in New York: German and Austrian Writers after 1933. Detroit 1983.
4
Z.B. berichtet Richard Berczeller, wie ihm der Beamte, der seine Papiere überprüfte, das Geld für ein Taxi vom Hafen
zu seiner Absteige in New York geschenkt habe. In: Displaced Doctor. New York 1964, S. 153.
Helmut H. Pfanner
wegen lächerlicher Vergehen festzunehmen. Anderseits fanden sich Flüchtlinge, die kurz zuvor
der Verfolgung durch die Gestapo entkommen waren, in neue Bedrängnis versetzt, wenn sie
wegen unzulänglicher Papiere oder des Verdachts der Mitgliedschaft in der Kommunistischen
Partei auf Ellis Island festgehalten wurden und ihnen schlimmstenfalls sogar die Einreise in die
Vereinigten Staaten verweigert wurde.
In den meisten Fällen, d.h. heißt, wenn sie nicht wie etwa Max Reinhardt und Stefan Zweig
zur kulturellen Elite der österreichischen ExilantInnen gehörten, deren Namen in Amerika
bereits vor ihrer Ankunft bekannt waren, hatten die Flüchtlinge während der ersten Periode
ihres Lebens in USA einen gesellschaftlichen und beruflichen Abstieg in Kauf zu nehmen. Dabei
registrierten sie es wohl positiv, wenn in Amerika Titel und akademische Zeugnisse weniger als
praktisch verwertbare Erfahrungen geschätzt wurden; aber es schmerzte sie eben doch, ohne
die Verwertung ihrer intellektuellen Fähigkeiten das tägliche Brot verdienen zu müssen, und
wenn sie, die im Durchschnitt an keinerlei körperliche Arbeit gewohnt waren, sich mit Gelegenheitsarbeiten zu begnügen hatten. Manche Ehemänner und Familienväter waren sogar auf
die tatkräftige Hilfe ihrer Ehegattinnen angewiesen, nicht nur weil es diesen leichter fiel, in
dem ohnehin - zumindest bis zu Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg Ende 1941 - von
der Großen Wirtschaftskrise stark betroffenen Land als niedrig bezahlte Hausgehilfinnen angestellt zu werden, sondern auch weil es den Frauen infolge ihrer gewöhnlich damals in Europa
noch weit zurückliegenden akademischen Ausbildung des weiblichen Geschlechts psychologisch besser gelang, die europäischen Dünkel gegenüber physischer Arbeit zu überwinden.
Inwieweit die damals in Europa sicher noch weit verbreitete Voreingenommenheit gegenüber körperlicher Arbeit und soziale Erniedrigung das Exilerlebnis der Flüchtlinge mitbestimmte,
zeigt sich an dem literarischen Motiv des zu einem Dackel gewordenen Bernhardinerhundes,
dem man in mehreren Werken der ExilantInnen begegnet: So behauptet der Dackel in Amerika,
er sei vor seiner Flucht in Wien ein Bernhardiner gewesen, dem man jeden Tag Kaiserschmarren
5
und Wienerschnitzel vorgesetzt habe. In Friedrich Heydenaus autobiographischem Roman Auf
und ab erhält der Protagonist nach einer gesellschaftlichen Veranstaltung von einem anderen
Gast die Einladung, in dessen Auto nach Hause gefahren zu werden; doch lehnt er das Angebot
ab, weil er sich schämt, seine billige Unterkunft in einem Armenviertel New Yorks bekannt zu
6
geben. Friedrich Torberg hat die Satire auf diese Art sozialer Minderwertigkeitskomplex auf die
Spitze getrieben in einer Anekdote, worin ein früher in Wien das bessere Leben gewohnter
Mensch in einem Park einem Landsmann begegnet, den er fragt. ob er ihm einen "Dollar" leihen
könne, was der andere ablehnt. Daraufhin bittet der erste den zweiten darum, ihm doch
wenigstens eine "Zigarette" zu geben, was dieser wiederum nicht vermag. Letztlich fleht der
7
erste den zweiten an: "Dann trag mich doch ein wenig." Was in diesen literarischen Motiven
und Anekdoten sich noch humorvoll anhört, konnte allerdings zu Arroganz werden, nämlich
dann, wenn die ExilantInnen ihren sozialen Abstieg dadurch zu kompensieren versuchten, indem sie, was auch vorkam, sich über ihre amerikanischen Gastgeber erheblich äußerten und
deren angeblichen Mangel an kultureller Tradition bedauerten.
5
Eine ironische Wendung dieses Motivs findet sich in einem Gedicht des deutschen Exilanten Helmut Hirsch, wenn
sein Gedicht "Die beiden Dackel" mit der Feststellung endet, der größte Hundsfott aller Zeiten" komme ebenfalls aus
dem Land der Wienerschnitzel und des Kaiserschmarrens. In: Helmut Hirsch, Amerika, du Morgenröte: Verse eines
Flüchtlings (1932-1942). New York 1947, S. 36-37.
6
Auf und ab. Roman. Innsbruck 1953, S. 271.
7
Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1975, S. 269.
316
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Kulturkonflikt in den USA: Österreichische ExilantInnen 1933-1945
Natürlich gab es auch genügend ExilantInnen, welche die Lebensgewohnheiten der durchschnittlichen Amerikaner von einer positiven Warte aus beurteilten. Geschätzt haben sie es vor
allem, wenn die Menschen ihrer neuen Umgebung weniger der Vergangenheit anhingen, als
dies bei ihren früheren Mitbürgern in Europa der Fall war. Das Leben in der Gegenwart, so
schien es den ExilantInnen wenigstens, bedeutete den Amerikanern mehr als eine jahrhundertealte Geschichte, wobei sie auch an das Goethe-Wort gedacht haben mögen: "Amerika,
8
du hast es besser." Anderseits beobachteten die ExilantInnen bei ihren amerikanischen Gastgebern auch eine innere Ruhelosigkeit und das Verlangen nach ständig Neuem, das sich negativ
auf menschliche Beziehungen und auf die künstlerische Kreativität auswirkte. Besonders im
Verhältnis der Geschlechter, in dem der amerikanische Mann in den Augen vieler Flüchtlinge
den Kürzeren gezogen habe, sahen letztere eine Fehlentwicklung; und was das Ästhetische
anbelangt, so konnten sie beim Anblick der kühn emporstrebenden und einen neuen architektonischen Maßstab setzenden Gebäude in den amerikanischen Städten nicht gegen die im
9
gleichen Blick eingefangenen ungepflegten Plätze abgrenzen.
Vieles, was den österreichischen Neuankömmlingen in ihren Begegnungen mit
AmerikanerInnen einen Kulturkonflikt und schlimmstenfalls auch Kulturschock verursachte,
fällt einfach in den Bereich tradierter Gewohnheiten. Wenn der bekannte Opernintendant
Rudolf Bing bei seinem ersten Besuch in Amerika seine Schuhe am Morgen ungeputzt vor
seinem Hotelzimmer vorfand, wie er sie am Vorabend dort hingestellt hatte, so wußte er noch
nicht, dass die damals in Europa noch verbreitete Sitte des Schuheputzens durch das Hotel10
personal in Amerika nicht üblich war. Bei manchen ExilantInnen war es auch nur eine Frage
der Zeit, bis sie merkten, dass sie rein äußerlich auffielen, weil man es ihren Kleidern, z.B.
weiten statt eng anliegenden Hosen, ansah, dass sie Flüchtlinge waren. Und während das
amerikanische Frühstück mit Speck und Eiern den meisten zusagte, fanden sie es unappetitlich,
wenn sie es der geringen Kosten wegen in einem sogenannten drugstore einnehmen mussten in
engster Nachbarschaft zu Toilettenpapier, Abführmitteln und Einlaufpritzen. Über das
amerikanische Essen haben sich viele beklagt, wobei man nicht übersehen sollte, dass sich
diese Klage weniger auf Privathaushalte bezog, in denen zu verkehren die Flüchtlinge ohnehin
wenig Gelegenheit hatten, als auf organisierte Mahlzeiten in Schulen und Kirchen, in denen
Eintopf und Salat bis heute den Standard darstellen. Dass dabei, wie es damals noch in vielen
amerikanischen Restaurants der Brauch war, kaum alkoholische Getränke zur Verfügung
standen, fanden die Neuankömmlinge ebenfalls sehr befremdlich. Dasselbe gilt für das
amerikanische Brot, auf das der Aphorismus von Raoul Auernheimer damals noch voll zutraf:
11
"Das bitterste in Amerika ist das süße Brot."
Inzwischen hat sich manches in diesen Dingen geändert, vor allem in Orten mit einer
Konzentration von Nachkriegseinwanderern. Was sich allerdings bis in die Gegenwart herein
gehalten hat, ist die billige Bauweise von kleinen Privathäusern und Mietwohnanlagen, wie
überhaupt die Unterschiede im Lebensstandard der Amerikaner kaum irgendwo deutlicher
sichtbar werden als in der Spanne der Bauweise von den an europäische Paläste erinnernden
Luxusvillen der Reichen zu den eher wie Vogelhäuschen anmutenden Hütten der Armen. So
8
Das Zitat befindet sich im 9. Buch von Goethes Zahmen Xenien.
Vgl. z.B. das Gedicht "New York, von einem Wolkenkratzer gesehen", in: Ernst Waldinger, Die kühlen Bauernstuben:
Gedichte. Wien 1946, S. 81-83.
10
5000 Nights at the Opera. London 1971, S. 2.
11
Raoul Auernheimer, Amerikanische Erlebnisse, zitiert aus dem Manuskript in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, S. 27.
9
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
317
Helmut H. Pfanner
bedauerten es auch die ExilantInnen häufig, dass die Trennwände in ihren billigen Wohnungen
und Hotels so dünn waren, dass sie ständig vom Lärm der Nachbarn belästigt wurden, die
ohnedies, wie manche feststellten, anscheinend nicht zu leben vermochten, ohne dass das
Radio - heute ist es das Fernsehen - ihren Alltag überflutete.
Als sehr befremdend registrierten die ExilantInnen auch die Einstellung der Amerikaner
zum Tod, oder besser gesagt dessen ostensible Verdrängung aus dem täglichen Leben. Ja sogar
bei der Leichenschau werde, konstatierten einige, den Toten noch der Anschein des Lebens
versetzt, indem man die Leichen in einbalsamiertem Zustand zur Schau stelle und für die
Todesanzeigen in den Zeitungen sich Bilder aus der Jugendzeit der Verstorbenen bediene.
Dieser Brauch veranlasste Auernheimer zu der Aussage: "Amerika ist das Land der fröhlichen
Toten. Kaum ist hier einer im Flugzeug-Absturz zu Kohle verbrannt, so sieht man ihn im
Morgenblatt mit einem strahlenden Lächeln aus seiner Asche wieder auferstehen. Der
Amerikaner ist ein geborene Vogel Phoenix. [...] Der Tod ist hier ein Tabu; der Amerikaner nimmt
12
ihn nur in Form des Überlebens zur Kenntnis.
Beobachtungen dieser Art reflektieren die allgemeine und bis heute anhaltende Verherrlichung des Jungseins in der amerikanischen Gesellschaft. Thematisch nicht unweit davon
entfernt ist die große Bedeutung, die der Sport, vor allem wenn es sich um die Zuschauersportarten Baseball, Football, Basketball und Eishockey handelt, im amerikanischen Alltag einnimmt.
Die meisten ExilantInnen aus Österreich entbehrten dafür jegliches Verständnis, oder es hat in
ihren Werken keinerlei Spuren hinterlassen.
Obwohl die Menschen im amerikanischen Exil vieles zu bemängeln hatten, rechneten sie es
ihrem Gastland hoch an, dass es ihnen die Freiheit gab, so zu leben, wie sie es, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen entsprechend, zu tun vermochten. Dass es den
meisten von ihnen, die früher ihr Einkommen durch Schreiben bestritten hatten, nicht möglich
war, auch in USA davon zu leben, mussten sie bald einsehen; und sie haben es auch richtig als
die Folge ihres Vertriebenseins in ein Land mit freier Wirtschaft mit ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen erkannt. Dementsprechend ironisch lesen sich ihre literarischen Darstellungen von ExlilantInnen, die entgegen allen besseren Erfahrungen immer wieder versuchen, in den amerikanischen Literaturbetrieb einzusteigen. Inzwischen schon öfter zitiert
worden ist jene Kurzgeschichte von Alfred Polgar mit dem Titel "Sein letzter Irrturm". Der
Protagonist schreibt einen Text immer wieder neu, weil er einen Verleger befriedigen will, der
sein Manuskript mit immer neuen Beanstandungen seiner Kulturverstöße zurückweist, bis der
Autor im Verlagsbüro aus dem Fenster springt. Dieser Sprung stellt sich als sein "letzter Irrtum"
heraus, weil der Raum, aus dem der Mann springt, sich in einem oberen Stockwerk eines New
13
Yorker Wolkenkratzers befindet.
Bedeutend weniger verfremdend und geradezu pathetisch lauten die aus ähnlichen Erfahrungen gemachten Bemerkungen von Oskar Jellinek in einem Brief vom 25. Dez. 1940:
Was mich betrifft, stehe ich nicht bloß dem fürchterlichen Mangel, in deutscher Sprache zu wirken
(in der allein ich Wirkung üben und persönliche Wirksamkeit entfalten kann), gegenüber - sondern
einem überhaupt ganz anders akzentuierten Geistesleben. Es ist an sich sehr rege und wohl in
seiner Art bedeutsam, aber: selbst wenn ich in diesem Zusammensturz meiner Welt überhaupt zu
einem Werk gelangen könnte, es übersetzt und veröffentlicht werden sollte - meine Musik stieße
auf fremde Ohren, eine andere Hörenswelt. Sie hören hier auf einer anderen Skala, ihr innerer
Rhythmus ist wesensverschieden von dem meines Tonfalles, meiner Tonlage, meiner Tonlandschaft.
12
Raoul Auernheimer, Wir und Amerika: Gedanken und Aphorismen, zitiert aus dem Manuskript in der Wiener Stadtund Landesbibliothek, S. 1.
13
"Ein letzter Irrtum", in: Alfred Polgar, Anderseits: Erzählungen und Erwägungen. Amsterdam 1948, S. 93-96.
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Kulturkonflikt in den USA: Österreichische ExilantInnen 1933-1945
Mein zur Gestaltung etwa reifer Erlebnisstoff trifft auf keinen korrespondierenden Seelenboden. Ehe
ich aber zu einem hier betonten Erleben, das sich in Gestalten umsetzt, gelange, können Jahre ver14
gehen.
In seiner Klage über die Unmöglichkeit, den Erwartungen amerikanischer Leser in kultureller
Hinsicht gerecht zu werden, berührte Jellinek noch ein weiteres Problem, das er mit vielen
anderen ExilantInnen teilte, nämlich das des Verwurzeltseins in einer anderen Sprache.
Es mag heute atavistisch anmuten, wenn man erfährt, dass vor zwei Generationen
Menschen in Europa aufwuchsen und einen intellektuellen Beruf ausübten, ohne etwas
Englisch zu sprechen. Tatsache ist es jedoch, dass bis nach dem Zweiten Weltkrieg das Studium
von Englisch in Mitteleuropa noch weit hinter der lebenden Sprache Französisch und selbst
hinter der toten Sprache Lateinisch zurücklag. Infolgedessen sind viele ExilantInnen der dreißiger und vierziger Jahre ohne die Grundkenntnisse der englischen Sprache in Amerika angekommen. Dementsprechend enthalten ihre Berichte viele Beispiele sprachlicher Probleme
und, was den Gebrauchswert von Englisch als Literatur- und Berufssprache anbelangt, mehr
oder weniger erfolgloser, wenn auch hartnäckiger Versuche, die Sprache ihres Gastlandes zu
erwerben. Diese Situation spiegeln deutlich diese Verse von Ernst Lothar wider: "Magister gar,
15
Doktoren/ Lernen das ABC./ Matura ist verloren,/ die Reife wächst aus Weh." Sogar den Verlust von nicht sprachabhängigen Jobs hatten die ExilantInnen infolge ihrer ungenügenden
Englischkenntnisse zu beklagen, wie man dies in den Memoiren von Richard Berczeller nachlesen kann, der vorübergehend als Zusteller für ein Lebensmittelgeschäft arbeitete, bevor er
16
seine Kenntnisse als Arzt neu verwerten konnte.
Am überzeugendsten wurde das Sprachproblem von Autoren zum Ausdruck gebracht, deren
Englisch sich ohnehin auf relativ hoher Ebene befand, die es aber dennoch vorzogen, sich so
weit wie möglich im Umgang mit Amerikanern ihrer Muttersprache Deutsch zu bedienen. Den
Grund findet man bei Ferenc Molnar, wenn er behauptet, er habe oft aus sprachlichem Mangel
seine Weltanschauung mitten in einem Satz ändern müssen. Ähnlich bekannte Friedrich Torberg, dass eine Erwachsener, der eine Sprache nicht wie ein Kind durch Nachahmung lernt und
deshalb Hemmungen im Ausdruck hat, lieber das sagt, was er sagen kann als das, was er sagen
17
will. Und mit Humor brachte der österreichische Exilkabarettist Jimmy Berg in New York das
gleiche Problem zum Ausdruck, wenn er deklamierte: "I am in a hell of a fix, weil i deutsch und
18
English vermix." Das von Fritz Kornter in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Journalistin
Dorothy Thompson geschriebene Drama "Another Sun" thematisiert dieses Problem, wenn es
einen Exilanten in den Mittelpunkt stellt, der eine Stelle als Schauspieler in einem Broadwaystück sucht. Dabei folgt er dem Rate eines amerikanischen Freundes, er solle seinen Sprachmangel damit verbergen, dass er allen Äußerungen des ihn interviewenden Direktors mit
solchen Worten wie "Marvelous!", "Magnificent!" und "Overwhelming!" begegne. Der Kandidat
fällt schnell durch die Prüfung durch, als er diese Floskeln anbringt auf die Bemerkungen des
14
Oskar Jellinek in einem Brief vom 25. Dezember 1940 an Valli und Heinz Shelness, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a. N.
15
Ernst Lothar, "Die neuen Bürger", in: Austro-American Tribune, 2, Nr. 11 (Juni 1944), S. 5.
16
Displaced Doctor, S. 140.
17
Tante Jolesch, S. 233-234, wo Torberg sich auch auf die zitierte Stelle von Ferenc von Molnar bezieht.
18
Jimmy Berg, in einem Tonbandinterview mit der österreichischen Exilautorin und Herausgeberin Mimi Grossberg vom
11. April 1976 in New York.
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Helmut H. Pfanner
Direktors: "It's tough for foreingers in New York" und "Business is bad - we've got a recession
19
in New York."
Wie oben in bezug auf Torberg vermerkt, ist das Erlernen einer neuen Sprache auch ein
Generationsproblem. Während erwachsene ExilantInnen sich stundenlang damit abmühten, die
20
korrekte Aussprache des englischen "th" zu erlernen , haben junge und noch in der körperlichen Entwicklung sich befindende Menschen einen viel schnelleren Zugang zur englischen
Sprache gefunden. So kam es, dass ExilantInnen und nicht ihre Kinder sich in Abendsprachkurse
begaben und dazu der Begleitung ihrer Kinder bedurften, genauso wie es auch die Kinder
waren, die den Eltern beim Einkaufen und im Umgang mit Behörden die Übersetzungsdienste
leisteten. Nur wenigen ExilantInnen gelang es, sich im Exil der englischen Sprache als ein
Medium des literarischen Ausdrucks zu betätigen, in Amerika vor Joseph Wechsberg und
Hertha Pauli (wohl mit Hilfe ihres Mannes, des Übersetzers E.B. Ashton) und in in England vor
allem Robert Neumann. In vielen Fällen war es erst die zweite Generation der Kinder, die, auch
wenn diese noch in Europa geboren waren, sich in der englischen Sprache literarisch schneller
durchsetzen konnten, darunter der aus Wien stammende und heute in New lebende Felix
Morton.
Zuletzt noch ein Wort zur Beurteilung der allgemeinen Gesellschaftsstruktur und des
politischen Systems der Vereinigten Staaten durch die ExilantInnen. Da das Land in dieser Hinsicht gerade heute weltweit großer Kritik ausgesetzt ist, erinnert man sich daran, dass auch die
deutschsprachigen ExilantInnen, die dem totalitären System der Nazis entflohen waren, ihr
Gastland hin und wieder kritisch beurteilten. Sie griffen vor allem die kapitalistischen Praktiken
der Arbeitgeber an und kritisierten die weitverbreiteten wirtschaftlichen Konkurrenzgepflogenheiten, wie sie oft ohne Rücksicht auf menschliche Verluste das Denken und das Handeln der
Industriebosse bestimmten. Das Fazit aus dieser Situation enthält der Roman Das Große
Halleluja des aus Prag stammenden Altösterreichers Johannes Urzidil, worin es heißt:
... dies ist in vielem noch ein wildes Land, voll von Gefahren. Unter dem weiten Schirm der Verfassung und Rechtsordnung brodelt noch immer ein Dschungel mit unheimlichen Raubtierkämpfen.
Wenn Sie sich vorsichtig am Rande halten, wird Ihnen zwar nichts zustoßen, aber Sie werden auch
nichts erreichen. Wenn Sie aber am Spiel teilnehmen, dann haben Sie nicht bloß mit legitimen Verlusten, sondern auch mit Falschspielern zu rechnen und müssen bedenken, dass selbst unter dem
Schutz der allerbesten Rechtsordnung [...] das Rechthaben mit dem Rechtbehalten keineswegs
21
immer identisch ist.
Dem Protagonisten von Urzidils Roman gelingt es schließlich, über den aus seiner
europäischen Herkunft erklärbaren Verlust im Getriebe des amerikanischen Wirtschaftssystems
hinwegzukommen, aber er beklagt auch die dabei von ihm eingegangenen moralischen
Kompromisse. Der gleiche Autor hat in einer Reihe von Kurzgeschichten die negativen Folgen
22
der amerikanischen Erfolgssucht dargestellt ; und er untersuchte mit viel psychologischer
Einfühlungskraft deren Begleiterscheinungen im Verhältnis der Menschen untereinander einschließlich des, wie er deutlich erkennen lässt, von ihm als negativ beurteilten Erziehungssystems. Andere Autoren, z.B. Ernst Waldinger in mehreren seiner Gedichte, haben auf subtile
19
Another Sun: A Play, 2. Akt, 1. Szene, Manuskript im Fritz Kornter-Nachlaß an der Akademie der Künste, Berlin, S. 17.
Vgl. z.B. Richard Berczeller, Displaced Doctor, S. 123-124.
21
Johannes Urzidil, Das Große Halleluja: Roman. München 1959, S. 348.
22
Vgl. dazu den Band von Johannes Urzidil, Entführung und sieben andere Erzählungen. Zurich 1964.
20
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Kulturkonflikt in den USA: Österreichische ExilantInnen 1933-1945
Weise auf den Verlust an Menschenwürde in den sichtbaren Ausprägungen der kapitalistischen
23
Gesellschaft hingewiesen.
Kein(e) exilierte(r) österreichische(r) Autor(in) der gegebenen Periode konnte anderseits
umhin, die positive Seite des gewährten Asyls auf dem amerikanischen Kontinent anzuerkennen. Sie wussten, dass, wäre ihnen die Flucht durch Europa und nachfolgende Überfahrt
über den Atlantik nicht geglückt, viele von ihnen in die Hände der Gestapo gefallen und in
einem Vernichtungslager des 'Dritten Reiches' umgekommen wären. Dass ihre Rettung nur
möglich war, weil sich die Vereinigten Staaten für sie einsetzten - ich verweise z.B. auf die
diesbezügliche Tätigkeit des Emergency Rescue Committee in Marseille - im Wissen darum,
dass Freiheit und Demokratie der Verteidigung wert waren, haben die Geretteten zu schützen
verstanden und wohl auch nie vergessen. Obwohl manche von ihnen nach dem Krieg in ihre
alte Heimat zurückkehrten, zogen es viele vor, ihr Leben im amerikanischen Exil bzw. als
assimilierte und naturalisierte amerikanische Staatsbürger zu beenden. Doch auch die meisten
der letzteren haben ihre innere Bindung an ihr österreichisches Heimatland nicht gebrochen.
Wie ich eingangs erwähnte, konnte das Exil einen Menschen und somit auch eine/n
Autor/in entweder brechen oder auf eine höhere Stufe seiner/ihrer menschlichen und beruflichen Entwicklung bringen. Wenn SchriftstellerInnen, die wie z. B. Ferdinand Bruckner, Oskar
Jellinek, Roda Roda, oder Guido Zernatto in ihrer österreichischen Heimat - oft mit Aufenthalten in Deutschland - früher erfolgreich gewesen waren, in USA beinahe zum Schweigen
gezwungen wurden, so gehören sie der ersten Gruppe an; und wenn Autoren wie z.B. Ulrich
Becher, Friedrich Berczeller, Hans Habe und Franz Werfel erst in Amerika einige ihrer weltweit
bekanntesten Werke schrieben, so gehören sie in die zweite. Dass es dazwischen Platz gab für
AutorInnen, die sowohl vor als auch nach ihrem Gang ins Exil weiter produktiv arbeiteten,
dafür zeugen vielleicht die meisten hier in Frage stehenden Flüchtlinge, darunter außer den
bereits genannten: Hermann Grab, Alice Herdan-Zuckmayer, Hans Natonek, Lori Segal und
Bertolt Viertel. Zweifellos erlitten die meisten AutorInnen, denen auf der Flucht vor den Nazis
der Sprung über den Atlantik gelungen war, während ihres Aufenthalts in ihrem
amerikanischen Gastland einen Kulturkonflikt, der gewöhnlich dialektisch verlief: Nach der
ersten Euphorie des Gerettetseins und der Bewunderung für alles Neue folgte die baldige Ernüchterung mit einsetzender Kritik an allem Ungewohnten. Zuletzt und nicht unbedingt von
jedem ehemaligen Flüchtling erreicht, kam die Dauerphase der mehr oder weniger gelungenen
und somit gewöhnlich zwischen Positivem und Negativen schwankenden Assimilation des
engagierten Beobachters. Für diese Phase braucht es aber nicht unbedingt des vorausgehenden
Exils, sondern alle befinden sich in ihr, die entweder aus eigenem Willen in ein neues Land
einwandern oder selbst zuhause ihrem Heimatland mit kritischer, d.h. konstruktiv positiver
Gesinnung gegenüber stehen.
23
Vgl. z.B. das Gedicht "Mädchen in der Subway", in: Ernst Waldinger, Die kühlen Bauernstuben, op. cit., S. 88.
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