Ruhi Su - Ruhr-Universität Bochum

Transkript

Ruhi Su - Ruhr-Universität Bochum
Titel der Dissertation
Ruhi Su (1912 – 1985): Ein politischer Künstler in der Republik Türkei
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
in der
Fakultät für Philologie
der
RUHR-UNIVERSITÄT-BOCHUM
vorgelegt
von
Behcet Sovuksu
(Matrikel Nummer: 108000230854)
Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum
Referent: Prof. Dr. Stefan Reichmuth
Korreferent: Prof. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt
Tag der mündlichen Prüfung: 6. 12. 2012
II
Widmung
Meine Arbeit widme ich vor allem der 1990 in Frankfurt im Exil verstorbenen
und von dem Dichter Ali Yüce als „Tochter der Stimme Ruhi Sus“ bezeichneten Sümeyra
Çakır und allen früheren und heutigen Mitglieder des Chors der Freunde (Dostlar
Korosu), die Ruhi Su in ihren Liedern weiterleben lassen. Die Widmung drückt nur einen
Bruchteil dessen aus, was ich meinem Lehrer Ruhi Su verdanke.
III
Danksagung
Es ist mir ein Bedürfnis, allen denen zu danken, die mir Gelegenheit gegeben
haben, diese Dissertation zu schreiben und die mich während des Schreibens so
freundlich wie tatkräftig unterstützt haben. Insbesondere danke ich meinem Doktorvater,
Herrn Prof. Dr. Stefan Reichmuth, dass er mein vorgeschlagenes Thema angenommen
und mich sorgfältig betreut hat. Er hat mir mit fachlichem Rat beigestanden und mich bei
zu bewältigenden Schwierigkeiten geduldig beraten. Prof. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt
hat mir dankenswerter Weise geholfen, in dem er das Korreferat übernahm. Weiterhin bin
ich Herrn Prof. Dr. Reinhold Schiffer zu Dank verpflichtet, dass er sich der sprachlichen
Form wie auch der argumentativen Struktur der Studie angenommen hat. Hilfreiche
Unterstützung bei der Übersetzung der Prosatexte und Gedichte habe ich erhalten von
meinen Kollegen Hakan Taner. Meine Kollegen Stefan Geyr und Brigitte Seeberg halfen
bei meinen inhaltlichen Überlegungen. Meinen Dank auch an sie.
Die Unterstützung in der Türkei war nicht weniger wertvoll. An erster Stelle
nenne ich Frau Sıdıka Su und ihren Sohn Ilgın Su, die mit großer Herzlichkeit mir die
Tür zu Ruhi Sus Leben und Werk geöffnet haben. Auf diesem Wege waren mir auch die
Gesprächspartner und die alten Freunde des Künstlers Dr. Balkar Yekebaş, Bertan
Onaran und Hüseyin Erdem eine große Hilfe. Çiler Belen und Karabey Aydoğan gebührt
ein besonderer Dank, weil sie sämtliche Dokumente über Ruhi Su nach seinem Tod
gesammelt haben und mir zur Verfügung stellten. In meinen Dank schließe ich ein İrfan
Ertel, Mehmet Çapan, Göksun Yener, Canan Bilge, İbrahim Yüksel, Abdullah Özkucur
und Talip Apaydın.
Endlich, jedoch nicht an letzter Stelle, danke ich meiner Frau Hülya und meinem
Sohn İsmail-Ruhi für die langen Jahre der Geduld und Nachsicht mit einem nicht mehr
allzu jungen Promovenden.
Behcet Sovuksu
Oberhausen, den 12. 7. 2013
IV
1.
Einleitung………………………………………………………………………….1
1.1
Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen ..........................................................1
1.2
Ruhi Sus Stellung in der Politik und Kultur der Türkei ...........................................3
1.3
Die Bedeutung Ruhi Sus für andere Musikkünstler
1.4
Die türkische Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts
..........................................8
als Thema bei Ruhi Su ...........................................................................................10
2.
Die Biographie Ruhi Sus ………………………………………………………..12
2.1
Ruhi Sus erste Jahre ...............................................................................................12
2.2
Die Aufnahme in die Musiklehrerschule ...............................................................19
2.3
Die Heirat mit Münire Sevim, die ersten Stadien der Musikausbildung
und die Annahme des Nachnamens Su ..................................................................22
2.4
Die Mitgliedschaft im Staatsorchester Riyaset-i Cumhur
und das Studium am Konservatorium in Ankara ...................................................24
2.5
Die Tätigkeit an der Staatsoper und die umstrittenen Sendungen
im staatlichen Rundfunk in Ankara ........................................................................26
2.5.1 Die alevitische Musik und Ruhi Sus Festhalten an ihr
trotz der Rückschläge in seiner Karriere ................................................................31
2.6
Die Zeit der Haft Ruhi Sus .....................................................................................38
2.6.1 Der historische Hintergrund der Verhaftungswelle
der Kommunistischen Partei der Türkei im Jahre 1951 .........................................38
2.6.2 Die Linken in der Türkei und Ruhi Su ...................................................................40
2.7
Ruhi Su in Sansaryan Han und im Militärgefängnis von Harbiye,
beide in Istanbul .....................................................................................................53
2.8
Ruhi Su und Sıdıka Umut: Die Heirat im Gefängnis .............................................56
2.9
Polizeiaufsicht und Bewährungszeit ......................................................................58
2.10
Die Tage in Ankara mit seiner Frau Sıdıka Su.......................................................59
2.11
Die helfende Hand eines Freundes und die Geschichte des Films:
„Die große Liebe des Karacaoğlan“ von Atıf Yılmaz............................................60
2.12
Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim und in den Clubs von İstanbul
und seine Arbeit in der Bau- und Kredit-Bank ......................................................63
2.13
Die ersten Schallplattenaufnahmen ........................................................................67
2.14
Die Sicht der putschenden Militärs auf Ruhi Su und wie Ruhi Su sie sah ............69
2.15
Ruhi Su im Ausland ...............................................................................................71
V
2.16
Ruhi Sus letztes Konzert im Februar 1983 ............................................................72
2.17
Ruhi Sus Krankheit ................................................................................................74
2.18
Ruhi Sus Beerdigung am 20. September 1985 in İstanbul.....................................76
3.
Gedenken an Ruhi Su
3.1
Die Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul ..............................................78
3.2
Der Förderverein der „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung“ e.V. in Oberhausen ..79
4.
Ruhi Su und die Kulturpolitik Mustafa Kemals ..……………………………81
4.1
Mustafa Kemals Reform der Bildungsinstitutionen ..............................................81
4.2
Atatürks Musikpolitik ..........................................................................................82
4.3
Die Sicht Ruhi Sus auf Atatürk und seine Musikreform........................................85
4.4
Ruhi Su als Schüler deutscher Emigranten ............................................................90
4.5
Die Dorfinstitute ....................................................................................................92
…..…………………………………………………78
4.5.1 Ruhi Su als Lehrer im Dorfinstitut .........................................................................99
4.5.2 Die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç..................101
5.
Die Musiktraditionen der Türkei ……………………………………………103
5.1
Die traditionelle Kunstmusik................................................................................103
5.2
Die Volksmusik ....................................................................................................105
5.2.1 Das Türkü und das Kunstlied ...............................................................................108
5.3
Die moderne mehrstimmige Musik ......................................................................113
5.4
Türkische Musik und westliche Musik ................................................................116
6.
Ruhi Su und das Türkü..…………….………………………………………...118
6.1
Das Sammeln und Neuschaffen
......................................................................119
6.1.1 „Ratschläge” (Öğütler) ........................................................................................122
6.2
Die Türküs der Mitgefangenen ............................................................................123
6.2.1 „Die Gazellen” (Cerenler) ...................................................................................124
6.3
Die Auswahl der Türküs ......................................................................................125
6.4
Die Arbeit an der Stimme ....................................................................................126
6.5
Ruhi Su in seinen Konzerten ................................................................................127
6.6
Ruhi Sus Leistung, aus der Türküs eine Kunst zu machen ..................................129
VI
6.7
Ruhi Sus Bearbeitung von Texten und ihr neuer Sinn .........................................134
6.7.1 „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü)
..............................................135
6.7.2 „Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist“
(Karşıda Görünen Yayla Ne Güzel Yayla)...........................................................138
6.7.3, „Der Jugendmarsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen“
(Gençlik Marşı-Dağ Başını Duman Almış) .........................................................142
6.7.4 „Meine Mutter hat mich aufgezogen“ (Annem Beni Yetiştirdi) ...........................145
6.7.5 „Einheit” (Tevhit) .................................................................................................147
6.7.6 „Fürbitte” (Gülbenk) ............................................................................................149
7.
Ruhi Sus Lieder und ihre Entstehungsgeschichte .…………………………..150
7.1
Der autobiographische Bezug von Ruhi Sus Texten............................................150
7.1.1 Die Geschichte des Liedes von dem „Berg Hasan“ (Hasan Dağı) ......................151
7.1.2 Die Geschichte des Liedes „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal):
Für Sıdıka Su ........................................................................................................153
7.1.3 „Drei Mädchen auf dem Şisli-Platz“ (Şişli Meydanı'nda Üç Kız) .......................155
8.
Politischer Protest und Trauer in den Liedern Ruhi Sus …………………..157
8.1
„Das Klagelied Karadeniz“ (Karadeniz Ağıdı) ....................................................157
8.2
Ruhi Su und Nâzım Hikmet .................................................................................161
8.2.1 „Eine schwarze Nachricht“ (Karalı Bir Haber): Klagelied für Nâzım Hikmet ...163
8.3
Nâzım Hikmets Begegnung mit türkischen Spartakisten .....................................166
8.3.1 Der Spartakus und Ruhi Sus kommunistische Hoffnung .....................................168
9.
Ruhi Sus Interpretationen auf Schallplatten ………………………………169
9.1
Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf /
Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı (1970) ………………………170
9.1.1 „Das Klagelied Çanakkale“ (Çanakkale Ağıdı) ..………………………………171
9.1.2 „Sarıkamış“ (Sarıkamış) ……………………………………………………….172
9.1.3 „Unsere Frauen“ (Kadınlarımız) ………………………………………………..174
9.1.4 „Die schwarze Schlange“ (Karayılan) ………………………………………….179
9.1.5 „Die Große Offensive“ (Büyük Taarruz) ……………………………………….181
VII
9.2
Yunus Emre (1971) .…………………………………………………………..184
9.2.1 Ruhi Sus Verständnis von Yunus Emre ………………………………………..184
9.2.2 „Die Flüsse dieses Paradieses“ (Şol Cennetin Irmakları) ………………………187
9.2.3 „Deine Liebe nahm mich von mir“ (Aşkın Aldı Benden Beni) …………………187
9.2.4 „Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf“ (Dervişlik Baştadır) ………………188
9.2.5 „Ich bin der Anfang und das Ende“ (Evvel Benem Ahir Benem) ……………….189
9.2.6 „Ach göttlicher Herr wenn du mich fragst“ (Ya İlâhi Ger Sual Etsen Bana) …..190
9.2.7 „Warum seufzt du, Wasserrad?“ (Dolap Niçin İnilersin) ..……………………..192
9.3
Karacaoğlan (1972) ……………………………………………………………194
9.3.1 „Elif“ (Elif) ……………………………………………………………………198
9.3.2 „Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen“
(Ben Meylimi Üç Güzele Düşürdüm) …………………………………………...200
9.3.3 „Ich drang in den Garten ein“ (Atladım Girdim Bağa) …………………………203
9.4
Pir Sultan Abdal (1973) ……………………………………………………….204
9.4.1 „Fliesse wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich“
(Kızılırmak Gibi Bendinden Boşan) ...…………………………………………..205
9.4.2 „Ich bin Moses, du bist Pharao“ (Ben Musa’yım Sen Firavun) .……………......205
9.4.3 „Klagelied-In meinem Traum gestern Nacht“
(Ağıt- Dün Gece Seyrim İçinde) .........................................................................206
9.4.4 „Die Taten des blutrünstigen Bösen“ (Şu Kanlı Zalimin Ettiği İşler) …………..208
9.4.5 „Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig“
(Dünya Kadısına Ben Sorulmazam) ..………………………………………….. 209
9.5
Gedichte und Türküs / Şiirler, Türküler (1974) ..……………………………210
9.5.1 Ausgewählte Gedichte aus A.Kadirs Übersetzungswerk Mevlânâ
in heutiger Sprache (Bugünün Diliyle Mevlânâ) ………………………………..211
9.5.1.1„Der Feind spricht unsinnige Worte“ (Düşman Saçmasapan Laflar Eder)
….211
9.5.1.2„Klagelied-Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte“
(Ağıt-Zaloğlu Bu Zulmü Görseydi)
…………………………………………..213
9.5.1.3 „Sie stecken in Dornen“ (Diken İçindeler) …………………………………….214
9.5.1.4„Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln“
(Her Gün Bir Yerden Göçmek Ne İyi) ………………………………………...215
VIII
9.5.2 „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ (Yaratan Bizleri İnsan Yarattı)............216
9.5.3 „Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun (Ninni-Merhaba Dursun Bebek)
……...218
9.5.4 „Drei Mädchen und eine Mutter“ (Üç Kız Bir Ana) ……………………………220
9.5.5 „Die drei Zypressen“ (Üç Selvi) ………………………………………………..222
9.5.6 Aus dem „Epos Scheich Bedreddin“: „Es nieselt“
(Şeyh Bedreddin Destanı’ndan: Yağmur Çiseliyor)..…………………………...224
9.5.7 „Ein Türkü von Kul Hüseyin” (Kul Hüseyin’den Bir Türkü) …………………..228
9.6
Köroğlu (1975) …………………………………………………………………233
9.6.1 „Prolog“ (Prolog) ………………………………………………………………235
9.6.2 „Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz“
(Dinle Sözlerimi Han Oğlum Ayvaz) ……………………………………………238
9.6.3 „Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet“ (Mert Dayanır Namert Kaçar) ….240
9.7
Die fremden Tore / El Kapıları (1976) ……………………………………….242
9.7.1 „Der Sewastopolmarsch” (Sivastopol Marşı) .………………………………….244
9.7.2 „Klagelied - Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr schaut”
(Ağıt –Aman, Anam Benim de Ulu Yola Durursa).…...………………………...246
9.7.3 „Das Kaman-Klagelied” (Kaman Ağıdı) ………………………………………246
9.7.4 „Das Jemen-Lied I” (Yemen Türküsü I)
……………………………………..247
9.7.5 „Das Jemen-Lied II” (Yemen Türküsü II) …………………………………….250
9.7.6
„Das Jemen-Lied III” (Yemen Türküsü III) ……………………………………252
9.7.7
„Der Berg Ala“ (Aladağ)……………………………………………………….253
9.7.8
„Oh weh, ich weine“ (O Vay Beni Ağlarım) ………………………………….254
9.7.9
„Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya Acı Vatan) ………………………….255
9.7.10 „Unsere Müllmänner in Deutschland“ (Almanya’da Çöpçülerimiz) …………256
9.7.11 „Die fremden Tore“ (El Kapıları) ………………………………………………259
9.7.12 „Sie“ (Onlar ki) …………………………………………………………………261
9.8
Der Morgen hat einen Besitzer / Sabahın Sahibi Var (1977) ………………263
9.8.1 „Merhaba“ (Merhaba) ………………………………………………………….263
9.8.2 „Das Sprichwort“ (Atasözü) .................................................................................264
9.8.3 „Demirc’oğlu“ (Demirc’oğlu) ………………………………………………….266
9.8.4 „Transparente in ihren Händen“ (Ellerinde Pankartlar)………………………..268
IX
9.8.5 „Lass den Kopf nicht hängen“ (Başın Öne Eğilmesin) …………………………269
9.8.6 „Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“ (Boşa Didinmek Fayda Vermez) ..………271
9.9
Die Samahs / Semahlar (1978) ………………………………………………274
9.9.1 „Dein Bild ist immer in meinem Sinn“ (Daima Fikrimde Zikrin) ..…………….277
9.9.2 „Der Ruf des heiligen Şah“ (Hazreti Şah’ın Avazı) .……………………………277
9.9.3 „Samah Ali Nur“ (Ali Nur Semahı) …………………………………………….278
9.9.4 „Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt” (Dünyanın Üzerinde Kurulu Direk) ...279
9.9.5 „Frauen aus Mürselek” (Mürselekli Kadınlar) …………………………………280
9.10
Kinder, Migrationen, Fische / Çocuklar, Göçler, Balıklar (1979) ………….282
9.10.1 „Eingangsformel” (Tekerleme) …………………………………………………283
9.10.2 „Das Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) ..…………………………285
9.10.3 „Hätte ich doch bloß nur einen Sohn” (Bir Oğlum Olsa) ……………………290
9.10.4 „Dummes Lied” (Aptal Şarkı) ………………………………………………….292
9.10.5 „Das kleine Mädchen“ (Kız Çocuğu) …………………………………………..293
9.10.6 „Glasauge” (Camgöz) ………………………………………………………….295
9.10.7 „Fischsprache” (Balık Ağzı) ……………………………………………………297
9.10.8 „Säugling“ (Wiegenlied) „Bebek” (Ninni) ..……………………………………300
9.11
Die Zeybeks / Zeybekler (1980) ………………………………………………302
9.11.1 „Prolog” (Öndeyiş) ……………………………………………………………..303
9.11.2 „Yürük Ali Efe” (Yürük Ali Efe) ………………………………………………304
9.11.3 „Mehmet, mein Falke” (İnce Mehmet) .………………………………………..306
9.12
Die postumen Langschallplatten, die CDs und die Musikkassetten ……….308
10.
Ruhi Sus Gedichte …………………………………………………………….309
10.1
Themen in den Gedichten Ruhi Sus …………………………………………….309
10.1.1 „Die Mobilmachung“ / Seferberlik ……………………………………………..311
10.1.2 „Das Wiegenlied“ / Ninni ………………………………………………………314
10.1.3 „Das Grenzlied“ / Serhat Türküsü………………………………………………315
10.1.4 „Wir sind gekommen“ / Geldik …………………………………………………317
10.1.5 „Das Sichtbare” / Görünen ……………………………………………………..318
X
10.1.6 „Der Fluss” / Irmak ……………………………………………………………..321
10.1.7 „Es soll anfangen” / Başlasın …………………………………………………...323
10.1.8 „Singendes Herz“ / Ezgili Yürek ……………………………………………….324
10.1.9 „Die Zyste“ / Kist ……………………………………………………………….326
10.1.10„Mensch und Lohn der Mühe” / İnsan ve Emek .........………………………….329
10.1.11Die poetische Machart von Ruhi Sus Gedichten ………………………………331
11.
Gedichte über Ruhi Su ………………………………………………………..333
11.1
„Das Lob an Türküs, die mit einer intellektuellen Stimme gesungen werden“ /
Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği Türkülere Övgü (Arif Damar)….. ……………334
11.2
„Zum Türkü werden mit Ruhi Su“ / Ruhi Su’da Türkülenmek (Tahsin Saraç) ...336
11.3
„Ruhi Su singt in der Nacht“ / Ruhi Su Söylüyor Gecede (Hasan Hüseyin) …...339
11.4
„Ein Koran der Saiten“ / Telli Kuran (Ali Yüce) ……………………………….342
11.5
„Während man Ruhi Su zuhört“ / Ruhi Su’yu Dinlerken (Mehmet Karabulut) ...344
12.
Die pädagogische Bemühung Ruhi Sus um den Chorgesang,
sowie „Der Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) ……………………………347
13.
Persönliche Erinnerungen an Ruhi Su ……………………………………….353
14.
Schluss …………………………………………………………………………358
15.
Die Liste der Gesprächspartner …………………………………………..…..361
16.
Bibliographie und Quellen im Internet ………………………………………362
XI
1.
Einleitung
1.1
Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen
Die Aufgabe dieser Studie besteht darin, Lebensweg und Wirken Ruhi Sus zu
beschreiben, seine Lieder und seine Gedichte innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur
und politischen Situation der Türkei zu positionieren und seine besondere Bedeutumg
innerhalb der Musikgeschichte zu erklären. Auch seine pädagogische Wirkungskraft und
seine Stellung in der politischen Situation sollen Beachtung finden.
Die Bekanntschaft des Verfassers mit Ruhi Su, die von Wertschätzung seiner
menschlichen Aufrichtigkeit, Integrität und Liebenswürdigkeit geprägt ist, hat sicher an
manchen Stellen seine Sichtweise positiv beeinflusst, wie auch seine politische
Überzeugung hin und wieder ein entsprechendes Licht auf die Ereignisse geworfen hat.
So seine Sichtweise beruht vor allem auf der glücklichen Mitarbeit über vier Jahre in
Ruhi Sus „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu). Sein Vorgehen benötigt, wenn auch
noch so knapp, eine methodische Begründung. Zwei Fragen drängen sich besonders auf.
(1) Wie geht man vor, wenn man das Leben eines Individuums erzählen möchte?
(2) Wie geht man vor, wenn man die politischen und moralischen Anschauungen dieses
Individuums richtig und angemessen findet und anderseits eine angemessene
wissenschaftliche Objektivität nicht aufgeben darf? 1
Die erzählende Geschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten erneut an
Prestige gewonnen. Dennoch bleibt die Frage offen, welchen Raum soll die Erzählung
eines Lebens und welchen die Analyse und Wertung des gesellschaftlichen und
politischen Umfelds einnehmen? Die Hauptstoßrichtung der Studie geht nicht auf die
politische Analyse aus, sie liegt eher in der biographischen Richtung und in dem
Aufzeigen des kulturellen Einflusses Ruhi Sus auf das Musikleben der Türkei.
Objektivität in der Darstellung eines geschichtlichen Sachverhalts ist leichter
gefordert als erreicht. Es gibt zwar eine relative, möglichst weitgehende Objektivität. Wie
aber verhält sich Objektivität zu einem moralischen Urteil über Personen, Parteien,
1
Anweisungen der verschiedensten und gelegentlich polarisierten, theoretischen wie praktischen Art bietet
der Sammelband Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (Theorie der Geschichte Bd.
1) herausgegeben von Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen. (1977). Die von der
Studiengruppe Theorie der Geschichte herausgegebenen Bände setzen bis heute methodologische
Maßstäbe. Hilfreich waren dem Verfasser insbesondere die Ausführungen von Christian Meyer, Von der
Schwierigkeit ein Leben zu erzählen. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie und
Geschichte, Bd. 3). herausgegeben von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey. (1979): 231.
1
politische Handlungen? Die Mehrzahl der Historiker wird der Objektivität den Vorrang
einräumen, dennoch gilt es auch auf diesem umstrittenen Gebiet Skepsis zu bewahren. 2
Ein moralisch begründeter Standpunkt muss erlaubt und darf nicht von Anfang an
verbannt sein. Entscheidend ist wohl die Radikalität der Parteinahme; unzulässig ist
sicherlich eine Radikalität, welche jede andere als die eigene Beurteilung ausschließt. Ein
Beispiel mag das deutlich machen: die Darstellung eines Genozids kann um möglichste
Sachlichkeit und die Abwesenheit von Parteinahme bemüht sein. Es muss aber auch eine
Parteilichkeit für die Opfer, gestattet sein. Parteilichkeit kann ebensoweit definiert
werden wie Objektivität. Diese Studie bedient sich eines eingefassten Begriffs der
Parteilichkeit. 3 Die Freiheit besteht, Taten unmoralisch oder moralisch nennen zu dürfen,
unabhängig davon, dass der Erzähler existentiell von solchen Handlungen betroffen
worden ist oder nicht. 4
2
Vgl. RUMPLER, Helmut: Beust im Schatten Bismarcks. Grenzen und Bedingungen einer
Persönlichkeitsbeurteilung. In: Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität
und Parteilichkeit (1977): 226-227. Sehen wir auf ein der Geschichtsschreibung benachbartes Feld, die
Kunstgeschichtsschreibung, und auf das nämliche Problem. Wilhelm Pinder nimmt 1932 eindeutig
Stellung: „Wir wollen der Wissenschaft den Charakter neutraler Neugier nehmen und schließlich lieber
moralisch irren als in Objektivität erfrieren.“ Die Jahre nach 1932 geben manchen Anlaß, in Deutschland
den Mangel von Wissenschaftlern an „neutraler Neugier“ zu dokumentieren. Werner Hofmann weist 1971
die Forderung Pinders zurück: „Die Alternative ist falsch gestellt. Wissenschaftliche Objektivität und
weltanschauliches Engagement können nicht zur Wahl stehen, da sie keine unvereinbaren Gegensätze
darstellen. Beide Positionen schließen den Irrtum so lange nicht aus, als sie sich des Anspruchs
dogmatischer Unfehlbarkeit enthalten. Das unterscheidet sie von den geschlossenen Systemen, die ihre
Wahrheit absolut setzen. Das geschlossene, einsinnige Denksystem ist das Gefängnis, in dem die
Wissenschaft dem Freiraum ihrer Urteile freiwillig entsagt.“ Werner Hofmann, Kunst jenseits der
geschlossenen Systeme. In: Gegenstimmen. Aufsätze zur Kunst des 20. Jahrhunderts (1980): 301.
3
Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael, Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von
Parteilichkeit. Ebd. 426.
4
Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von
Parteilichkeit. Ebd. 437.
2
1.2
Ruhi Sus Stellung in der Politik und Kultur der Türkei
Die Entwicklung des Menschen Ruhi Su und seines künstlerischen Schaffens
versteht man besser, wenn man ihn als Kind der Republik Türkei betrachtet. Wie Ruhi Su
selbst sagte, wuchs er in den 30er und 40er Jahren auf, also in einer Zeit, in der die
offizielle Kulturpolitik die Volksmusik in der Vordergrund stellte. 5 Ruhi Su lebte unter
einem Populismus, der auf der Grundlage des neuen Volksstaates das Osmanische Reich
und seine Kultur ablehnte und sich einer Volkskultur, eines Volksgedichtes und einer
Volksmusik zu bedienen suchte. 6 Teil dieser zeitweilig volksnahen Politik waren auch
die Eröffnung von vierzehn Volkshäusern in verschiedenen Städten im Februar 1932 und
die Gründung von Dorfinstituten im Jahr 1940. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die
allein regierende Partei, die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi,
CHP), einen Stellungswechsel vor. Die Aufnahme von Beziehungen zu den USA ließ
Bildungspolitik als gefährlich erscheinen, denn den Großgrundbesitzern, die in den
Regierungen das Sagen hatten, konnte an einer Aufklärung der einfachen Landbewohner
nicht gelegen sein. 7 Solange das Klima populistisch war, konnte Ruhi Su mit seiner
Stimme und mit seinem Instrument, der Saz (Langhalslaute), öffentlich arbeiten.
Zwischen 1943 und 1945 gastierte er in Gesangssendungen im staatlichen Radio Ankara.
Schon damals konnte er großes Interesse wecken. Er hatte sich bereits vorher von dem
offiziellen Kulturprogramm entfernt, mit der Folge, dass die Verantwortlichen für das
Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit ERDEN, Sadika Dikna: Yöresellikten Ulusallığa, Ulusallıktan
Evrenselliğe, Bilim ve Sanat 96 (Dez. 1983). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 166.
6
Bereits früher, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte es ein Interesse an der türkischen Folklore
gegeben, das lediglich kurz dauerte. Ahmet Vefik Paşa, Şinasi und Ebuzziya Tevfik Bey erforschten
Sprichwörter und Redewendungen. Später veröffentlichten Ahmet Rasim „Feierlichkeiten zum
Schulanfang“ (Mektebe Başlama Merasimi), Peyam (1336 / 1920) und Rauf Yekta „Musikethnographien“
(Musiki Etnografyası), Şehbal Dergisi; „Hochzeitsbräuche in Makedonien“ (Rumeli’nin Makedonya
Kısmında Düğün Adetleri), Büyük Mecmua; „Lokales Leben in Bursa“ (Bursa’da Mahalli Hayat);
„Vorzeigen der Aussteuer“ (Cihaz Teşhiri); „Polterabend“ (Kına Gecesi), Yeni Mecmua 9-75 (1923).
Obwohl in der Zeit der Konstitution (1908-1920) Veröffentlichungen von Fuat Köprülü, İkdam (24. Januar
1913), Glossen des Philosophen Rıza Tevfik, Peyam-i Edebi (20. Feb. 1913) und das Buch „Die
Grundlagen des Türkentums“ (Türkçülüğün Esasları) von Ziya Gökalp über Folklore und Kultur
erschienen, war es unmöglich, eine wirkliche Folklorebewegung in Gang zu setzen. Folkloreforschung auf
wissenschaftlicher Basis wurde erst in der Zeit der Republik realisiert. Diese Angaben folgen ERGÜN,
Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept.
2009): 5-12.
7
ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139
(Sept. 2009): 5-12.
5
3
Radioprogramm ihn, trotz seiner hohen Anerkennung im Volk, ziemlich schnell beiseite
schoben. 8
Ich habe die Lieder (Türküs) genommen, die mit ihrenTexten und Melodien das
Volk am besten verkörpern. Eben deswegen trafen mich die ersten Blitze im
Radio. Beim Vortragen dieser Türküs habe ich von der Vortragsweise des Volkes
Gebrauch gemacht, jedoch habe ich zu vermeiden gesucht, den Volksmund
nachzuahmen. 9
Ruhi Sus sowohl besonnene wie kritische Worte zeigen, dass er in einem echten
Sinne volksnahe sein wollte und nicht eine Pseudoposition wie die Regierenden vertrat.
So spricht er davon, die praktische Arbeit müsse einerseits die Sehnsucht des Volkes
verwirklichen und andererseits sie weiterführen. 10 In den Dienst des Volkes zu treten,
war für ihn nicht nur eine musikalische, sondern auch eine eminent politische Aufgabe.
Man muss daher den Sänger der Türküs stets zusammensehen mit dem idealistischen
Kommunisten. Sein Kommunismus, dem er mit seinem ganzen Herzen anhing, brachte
ihn in Konflikt mit dem Staat, der ihm fünf Jahre Gefängnis von 1952 bis 1957 und
anschließend zwanzig Monate Polizeiaufsicht auferlegte und ihm so Jahre der vollen
Schaffenskraft stahl.
In den 60er Jahren erleichterten sich seine Lebensverhältnisse mit der Legalität
von linken Gedankengut und der verhältnismäßig liberalen Verfassung von 1961. Gerade
die Generation von 1968 konnte sich eine Kundgebung ohne Ruhi Sus Mitwirkung kaum
vorstellen. Der Militärputsch vom 12. März 1971 brachte erneut eine Verschlechterung
der politischen Lage: Rechte wie Meinungsfreiheit wurden zurückgenommen sowie die
Gründung von Gewerkschaften und Parteien; linke Vorkämpfer fanden sich im Gefängnis
wieder. Jedoch dort wie auch an den Universitäten verstummten Ruhi Sus Lieder nicht;
im Gegenteil sie spendeten Mut und Zuversicht. 11 Ruhi Su wurde ständigen Befragungen
nach seinem Kommunismus unterworfen. Seine künstlerische Arbeit setzte er jedoch fort,
in dem er Schallplatten zu Texten von Yunus Emre, Karacaoğlan, Köroğlu, Pir Sultan
Abdal herausbrachte. Der Militärputsch vom 12. September 1980 brachte schließlich ein
Verbot in der Türkei für Ruhi Su, das bis zu seinem Tode im Jahr 1985 bestand, mit der
Nach AKSOY, Bülent: Kültürel Değişimin Ortasında Bir Sanatçı: Ruhi Su, Yeni Gündem (18.Okt.1.Nov. 1985). In: MEKİN Dinçer (Hrsg.) Ruhi Su’ya Saygı (1986): 227.
9
SU, Ruhi in einem Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat,
(1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):183.
10
Ebd. 183.
11
Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept.
2009):13-14.
8
4
einen Ausnahme des letzten, vorher nicht bekannt gegebenen Konzerts im Februar
1983. 12
Trotz aller künstlerischen Bekanntheit, vor allem unter Intellektuellen und
Studenten, blieb Ruhi Su seit 1952 die Anerkennung des Staates bis auf eine weitere
Ausnahme versagt. Der fortlebenden Anerkennung Ruhi Sus als eines künstlerischen
Vorbilds steht die grundlegende Missachtung entgegen, die sich im nach wie vor gültigen
Verbot seiner Musik durch den staatlichen Apparat der Türkei niederschlägt. Ruhi Su
musste aus eigener Kraft und Anstrengung sowie mit der Hilfe seiner Freunde überleben.
Unter dem Intendanten der staatlichen Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve
Televizyon Kurumu, TRT), İsmail Cem İpekçi, hatte Ruhi Su 1975 zum ersten Mal die
Möglichkeit, im staatlichen Fernsehen aufzutreten. Dies war auch sein letzter Auftritt. Er
trat mit großer Freude auf. Die Zuschauer, die zum ersten Mal Ruhi Su im Fernsehen
sahen, waren begeistert. Die Stimmen, die sich anfänglich gegen ihn erhoben hatten,
gingen im Meer des Beifalls unter 13.
Der Staat hat dennoch nicht verziehen, dass ein Mensch sich gegen seine
Institutionen wandte, die ihn aufgenommen, erzogen und ausgebildet hatten. Ruhi Su
wurde von staatlicher Seite stets behandelt, als sei er ein Niemand. Man warf ihm vor, als
Kommunist gegen das Land zu arbeiten. Der Vorwurf der Undankbarkeit machte die
Folter in den Zellen des berüchtigten Sansaryan Han umso bitterer. 14 Spätere
Rechtfertigungsversuche seitens Vertreter der Regierung kann man nur mit Misstrauen
betrachten. 15
12
Im Ausland gab Ruhi Su Konzerte am 16. Juni 1980 in der Stadthalle Köln und 1981 in Sydney.
Vgl. İPEKÇİ, Cem İsmail: Ruhi Su ve Bir Anı, Milliyet (22. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.):
Ruhi Su’ya Saygı (1986): 159. Vorausgegangen war eine Diskussion im TRT-Vorstand, ob man eine
Sendung mit Ruhi Su ausstrahlen solle oder nicht. Den Bedenken einiger Mitglieder, dass er als ehemaliger
politischer Häftling dem Ansehen des Senders schaden würde, stellte sich İpekçi entgegen. Ob links oder
rechts, es entspreche nicht einer zeitgenössischen und demokratischen Vorstellung, einen Künstler nach
seiner politischen Gesinnung zu beurteilen. İpekçi setzte seine Meinung durch, und die Sendung wurde
ausgestrahlt. Diese Sendung mit Ruhi Su zeigt, dass eine einzige Person im gesellschaftlichen Leben trotz
gegenteiliger gesetzlicher Vorgaben oder ungeschriebener Gesetze etwas bewegen kann. Man sollte die
Leistung İsmail Cem İpekçis, des späteren Außenministers der Türkei unter der Regierung Ecevit in den
Jahren 1998-2002, anerkennen. Sein Demokratieverständnis basierte auf der Maxime, Andersdenkende zu
ihrem Recht kommen zu lassen, wobei İpekçi mögliche Schwierigkeiten in Kauf nahm. Hinzu zufügen ist,
dass İsmail Cems Vater Ruhi Su Türküs in einigen Produktionen seiner Filmfirma İpek Film singen ließ.
Ruhi Su erlebte einen seltenen Augenblick der Freude und Anerkennung. Während der Amtszeit des
Staatspräsidenten Fahri Korutürk (1973 - 1980), erhielten bekannte Personen aus Kunst und Kultur eine
Einladung zu einem Essen. Unter ihnen war auch Ruhi Su. Die Einladung lag eher an der ganz persönlichen
Liebe zur Kunst und Kultur, die das Ehepaar Korutürk veranlasste, diesen Abend zu veranstalten.
14
Aus dem Interview mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai. 2006 in Köln.
15
Am 20. Sept. 2009 nahm der Kulturminister Ertuğrul Günay von der Gerechtigkeits- und
Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), an der jährlich wiederkehrenden Gedenkfeier am
Grab Ruhi Sus teil und führte aus, dass auch er wie viele andere mit den Liedern Ruhi Sus groß geworden
sei. Er beteuerte, dass wer mit den Türküs Ruhi Sus groß geworden sei, die Suche nach Demokratie nicht
13
5
Ruhi Sus Ideen von der Musik entsprachen zwar eine Zeit lang mit den
Vorstellungen Mustafa Kemal Atatürks von einer westlich inspirierten Musik, doch ihre
politischen Vorstellungen gingen bald auseinander. 16 Spätere Regierungen sahen in Ruhi
Su eine ständige Gefahr. Was die Führung der Linken angeht, so hat sie seine
künstlerische Größe kaum verstanden. Für sie war Ruhi Su ein Sänger, dem man von
oben herab Anordnungen zur Agitation zukommen lassen wollte. 17
Im Gegensatz dazu wurde Ruhi Su vom Volk geliebt. Er gewann geradezu den
Rang eines Symbols für den humanitären Fortschritt. Diese tiefe Liebe des Volkes zeigte
sich in bewegender Weise bei seinem Besuch Australiens im Jahre 1981, als türkische
Arbeiter ihn am Flughafen auf die Schultern hoben, 18 und bei seinem Begräbnis 1985, als
zum ersten Mal nach dem Putsch von 1980 trotz des Verbotes von Massenansammlungen
Tausende von Menschen sich an den Grabfeierlichkeiten beteiligten. Ruhi Su selbst hat
jede Ideologisierung abgelehnt. Im Mittelpunkt seiner Weltanschauung standen die
Freiheit des Individuums und die Bewahrung seiner Würde.
In der positiven Sicht auf die Menschen zeigt sich die soziale Einstellung Ruhi
Sus. Das Besondere ist weiterhin, dass Ruhi Su eine Brücke zwischen Volk und
Intellektuellen geschlagen hat. In diesem Zusammenhang ist die Erklärung der Sängerin
und Schriftstellerin Erendiz Atasü sehr bedeutsam: Ruhi Su war ein wichtiger Künstler
für die Entwicklung der türkischen Intellektuellen. Seit der Tanzimatzeit (1839-1876) war
das Schicksal der Intellektuellen durch ein „halbes Fremdsein“ im eigenen Land
aus seinem Herzen entfernen könne. Er könne nicht mit Toleranz und Liebe auf die Gegner der Demokratie
und die Befürworter der Putschisten schauen. (http://www.tumgazeteler.com/?a=2253922.) Abgerufen am
12. März. 2010.
Man wird den Worten des Ministers nicht allzuviel Glauben schenken, denn Ruhi Sus Lieder dürfen in den
staatlichen Medien bis heute nicht gespielt werden. Indirekt stilisierte der Minister sich so zu einer Art Ruhi
Su. Diese Stilisierung traf auf Widerspruch. Ali Sirmen, ein Kolumnist bei Cumhuriyet, wendet ein, dass es
die Gegner einer demokratischen Aufklärung waren, die Ruhi Su angeklagt hätten. Das Volk habe Ruhi Su
nicht nur wegen seiner Kunst, seiner Stimme und seiner Art des Singens in sein Herz geschlossen, sondern
auch wegen seiner unerschütterlichen Persönlichkeit. Vgl. SİRMEN, Ali: Ertuğrul Günay biraz ayıp etmiş,
Cumhuriyet (27. Sept. 2009).
Ein weiteres Beispiel für die Doppelzüngigkeit der heutigen AKP- Regierung ist die Rede des
stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç. Im Jahre 2005, bei der 90. Jahresfeier der
Dardanellenschlacht, klagte er in einer Anwandlung von scheinheiligem Populismus: “Ach, wenn doch
Ruhi Su jetzt hier wäre und uns das Klagelied ‚Çanakkale‘ singen würde!” Im Munde Ruhi Sus wäre die
Wirkung des Liedes noch stärker gewesen. Man hätte Ruhi Su als Gast ins Parlament geladen, wo er mit
der Saz in der Hand und mit seiner Baritonstimme dieses Lied gesungen hätte. Der Minister dürfte nicht an
seine eigenen Worte geglaubt haben. Türkiye Büyük Millet Meclisi Basın Açıklamaları, TBMM Başkanı
Bülent Arınç: Çanakkale Bir Destan, Hepimiz Bu Destanın Çocuklarıyız (22 Feb. 2005). Aus:
http://www.tbmm.gov.tr. develop/owa/haber_portal.aciklama?p1=17964. Abgerufen am 5. Apr. 2009.
Folgende Frage stellt sich ganz offensichtlich. Warum haben er und der Kulturminister nicht veranlasst,
dass damals das Lied Çanakkale von Ruhi Su in den Medien ertönen durfte?
16
Siehe unten Kap. 4.2.
17
Siehe unten Kap. 2.6.2.
18
Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).
6
bestimmt. Ein Intellektueller, der sich von seinem Volk und seiner Heimat getrennt hatte,
nahm übermäßige Anstrengungen auf sich, um wieder an seine Wurzeln anzuknüpfen.
Ruhi Su bereitete den Gedanken einer Vereinigung mit dem Volk mit vor. Er zeigte
ihnen, dass sie die Kinder und ein Stück des historischen Erbes dieses Landes sind; er
lehrte sie das wahre Nationalbewusstsein frei von Chauvinismus und Militarismus. 19
Die Legitimation der Linken durch die neue Verfassung von 1961 änderte die Einstellung
der Intellektuellen gegenüber der Volkskultur. Ruhi Su spielte eine wichtige Rolle bei
diesem Wandel. Er machte die als feudales Kulturerbe mißachteten anonymen Lieder und
Lieder von Yunus Emre, Köroğlu, Pir Sultan Abdal, Karacaoğlan und Dadaloğlu, zu
einem Element im Kampf für Demokratie und Freiheit. Erst durch ihn, begann man diese
Volksdichter in einem neuen Licht zu sehen. Wenn man Ruhi Sus Perspektive genauer
betrachtet, stellt man fest, dass bei ihm das Weltliche in der Volkskultur einen eher noch
prägenderen Ort besitzt als das Mystische, 20
Für Ruhi Su war eine Vereinigung mit dem Volke nicht denkbar und praktizierbar
ohne das Konzept des İmece. Dieses Konzept beinhaltet gegenseitige Hilfe in der
Dorfgemeinschaft, jeder unterstützt nach seinen Fähigkeiten den Nachbarn, der diese
nicht hat oder nicht anwenden kann. Man erntete gemeinsam die Felder ab oder baute
gemeinsam einen Brunnen. 21 Es ist eine alte Tradition, welche durch die Gründung von
Dorfinstituten neues Leben gewann, indem der Staat zwar die Gründung anregte, das
Dorf jedoch beim Bau Hand anlegte. Ruhi Su hätte ohne İmece seitens seiner Freunde
kaum arbeiten können. Diese legten Geld zusammen, damit er die ersten kleinen
Schallplatten produzieren konnte. So wurde es zu einer charakteristischen lebenslangen
Geste der Dankbarkeit, dass Ruhi Su allen seinen Schallplatten die Bezeichnung İmece
gab. Außerdem praktizierte er İmece auf vielerlei Weise: dadurch dass er an
Dorfinstituten lehrte, Chöre bildete, musikalische Talente unterstützte und Auftritte für
sie organisierte.
Nach ATASÜ, Erendiz: Ruhi Su için, Bilim ve Sanat (Nov.1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi
Su’ya Saygı (1986): 244.
20
Vgl. ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin
Bahar 139 (Sept. 2009): 11-12. Für diese Perspektive Ruhi Sus siehe auch unten Kap. 2.5.1, 6.7.5 und
6.7.6.
21
Zum Prinzip des İmece zwischen Dorfbewohnern und Dorfinstituten siehe unten Kap.4.5.
19
7
1.3
Die Bedeutung Ruhi Sus für andere Musikkünstler
Als Musikkünstler hatte und hat Ruhi Su noch heute eine prägende Kraft. In den
60er Jahren entwickelte er sich zu einem Vorbild für viele Künstler, weit über sein
unmittelbares Umfeld und seine Zeit hinaus. Man kann in der Tat von einer Schule Ruhi
Sus sprechen. Bis in die 80er Jahre ist diese in vielen Gruppen, speziell in den der linken
Szene nahestehenden, zu erkennen. Fortschrittlich denkende Liedersänger achteten seinen
Vortrag und seine Vertonung der Texte. 22 Für Sümeyra, Rahmi Saltuk, Zülfü Livaneli,
Sadık Gürbüz, Tülay German und Esin Afşar war das Werk Ruhi Sus eine wichtige
Orientierung. Rahmi Saltuk berichtet, dass er als junger Mann Türküs gesungen habe,
ohne die eigene künstlerische Linie gefunden zu haben. Eines Tages sah er einen Film, in
dem ein Häftling Saz spielte und dazu Türküs sang. Dieser bewegte ihn sehr und brachte
ihn zu der Überzeugung, dass Türküs genau so gesungen werden müssten. Später erfuhr
er, dass dieser Häftling Ruhi Su war. Seine Bekanntschaft mit Ruhi Su habe viel zu
seinem künstlerischen Können beigetragen. 23 Esin Afşar ist eine Künstlerin, die sich
zunächst der westlichen Musik verschrieben hatte. Sie sang ausschließlich englische,
französische und italienische Chansons. Auf Anraten Ruhi Sus, sie solle ihr Repertoire
durch Türküs erweitern, setzte sie sich mit Türküs auseinander und sang sie gelegentlich.
Sie entwickelte mehr und mehr Begeisterung, bis sie schließlich nur noch Türküs auf ihre
eigene Art sang. 24 Der Verfasser von vielen Türküs, Märschen und Klageliedern, Mehmet
Koç, betont, dass ihm die Bekanntschaft mit Ruhi Su als Sprungbrett seiner
musikalischen Karriere diente. 25 Es gibt heute noch Opernsänger, die Türküs singen, eine
Tradition, welche Ruhi Su begann. Solche Sänger nahmen auch an den Konzerten der
Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul 26 und anderen Städten teil. Zu nennen sind
Tuncer Tezcan, Ömer Yılmaz und Ufuk Karakoç. Auch Hasan Yükselir, Mehmet Çapan
und Karabey Aydoğan, die keine Opernausbildung haben, singen Türküs auf die gleiche
Art wie Ruhi Su.
Unter den vielen Künstlern war Sümeyra Çakır Ruhi Su allein kongenial. Sie
vermochte es, seine Vortragskunst fortzuführen. Ihren Kritikern, die sie der Nachahmung
beschuldigten, entgegnete sie, es sei für sie eine große Ehre, wie Ruhi Su zu singen,
Nach GÜNDOĞAR, Sinan: Muhalif Müzik (2005): 109.
Vgl. SALTUK, Rahmi: Cumhuriyet (23 Nov.1982). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı: 101.
24
Vgl. AFŞAR, Esin: Ruhi Su Ölmedi, Hey (26. Sept.1985). Ebd. 183.
25
Vgl. KIVANÇ Hüseyin: Interview mit Mehmet Koç (Juli 2003) Acılarını türküleriyle yoğuran ozan:
Mehmet Koç. In: http://my.opera.com/Kalender/blog/show.dml/4305593. Abgerufen am 28. März 2010.
26
Siehe unten Kap. 3.1.
22
23
8
seinen Interpretationen zu folgen und seine Ideen weiterzutragen. 27 Ein wichtiger Grund
der Kongenialität lag sicherlich darin, dass Sümeyra im Gegensatz zu anderen
Liedersängern eine westliche Ausbildung in Praxis und Theorie erhalten hatte. Später bat
sie Ruhi Su um Unterricht. 28 Im „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) war sie die einzige
Solistin und außerdem hatte sie nach Ruhi Su die zweite Lehrerstelle. 29 Ruhi Su sagte
von ihr, es gebe nur eine Person, die seine Schule fortführe: Sümeyra. Andere hätten ihn
gemocht und nachgeahmt, auch heute noch. 30
Sänger ohne musikalische Ausbildung waren für Ruhi Su lediglich Nachahmer
ohne Können und Originalität. Er setzte sich sehr dezidiert von ihnen durch vier
Forderungen ab. (1) Der Sänger des Türkü braucht eine Stimmausbildung und muss die
Regeln der Musik kennen. (2) Das Volk, in dem man lebt, soll man kennen und lieben.
(3) Die Umstände, unter denen Türküs entstanden sind und ihre Entstehungsweise sollen
ebenfalls dem Sänger bekannt sein. (4) Die Sprache der Türküs muss schließlich dem
Sänger bestens vertraut sein. Wenn diese Forderungen nicht erfüllt sind, wird einen zwar
niemand vom Singen abhalten, aber das Singen führt nicht weiter zu einem Fortschritt der
Kultur, sondern bleibt der Tradition verhaftet. 31
Ruhi Su nimmt eine Sonderstellung unter den Intellektuellen und Künstlern in der
Türkei ein. 32 Er wurde geschätzt, weil er seine Türküs, die im Volk entstanden waren, in
die städtische Kultur der Intellektuellen getragen hat. Er legte Wert auf die Nähe zum
einfachen Volk ohne sich ihm anzubiedern, sondern er war bestrebt, wie erwähnt, die
ursprüngliche Musikkultur zu suchen und weiterzuentwickeln. Auf keinen Fall
beabsichtigte er eine Geringschätzung der Volkssänger. 33 Seine demokratische
Gesinnung, aus der seine Lieder flossen, zeigte sich darin, dass er sich nicht vor die
Menschen stellte, um ihnen ihre Verhaltensweisen und ihr Tun vorzuschreiben.
27
Vgl. ÇAKIR, Sümeyra im Gespräch mit CANPOLAT, Mehmet: Milliyet Sanat (Jan. 1988).
Hüseyin Erdem, der Schriftsteller und freier Redakteur beim WDR Köln ist, machte in İstanbul in den
60er Jahren Sümeyra mit Ruhi Su bekannt.
29
Sümeyra Çakır musste nach dem Militärputsch 1980 in Deutschland Zuflucht suchen, woraufhin sie
ausgebürgert wurde. Sie starb 1990 im Exil.
30
WDR 4, Vom Bosporus bis Gibraltar : Ruhi Su singt und erzählt (l. Juli 1985). Redakteur: Hüseyin
Erdem.
31
SU, Ruhi im Gespräch: Ruhi Su ile Söyleşi, Robert College, The Bosphoros Chronicle XXIII, 5. (Apr.Mai 1978). In: Ezgili Yürek (1985): 124.
32
Diese Sonderstellung Ruhi Sus betont auch Ali Haydar Timisi in seiner im Internet, http://www.timisi.
com/ruhisu.asp, veröffentlichten Abschlussarbeit „Ruhi Su, Hayatı-Eserleri-Sanatçı Kişiliği”, İstanbul
Teknik Üniversitesi Türk Musikisi Devlet Konservatuvarı, Temel Bilimler Bölümü, Türk Halk Müziği Ana
Sanat Dalı, Bitirme Çalışması, İstanbul (2003).
33
SU, Ruhi im Gespräch mit SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4. Nov. 1976). In: Ezgili Yürek
(1985): 118.
28
9
1.4
Die türkische Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Thema bei Ruhi Su
Zunächst geht es um die letzten Jahre des Osmanischen Reiches und den
Befreiungskampf, freilich nur insofern sie Themen von Ruhi Sus eigenen Liedern,
Volksliedern und von ihm vertonten Gedichten Nâzım Hikmets sind.
Der Jemen war seit Jahrhunderten ein Symbol dafür, dass Soldaten in Kriege
zogen und nicht wieder kamen. Dies hatte zu tun mit der osmanischen Politik der
Expansion und Ausbeutung in dieser Region, welche immer wieder zu Erhebungen der
einheimischen Bevölkerung führte, die mit militärischer Gewalt niedergeschlagen
wurden. 34 Ruhi Su hat die volkstümlichen Klagelieder über den Jemen (Yemen Türküleri
I-II-III) bearbeitet. 35 Am Ende des Ersten Balkankrieges (1912), den Serbien, Bulgarien
und Griechenland den Osmanen erklärt hatten, musste das Osmanische Reich wichtige
Metropolen wie Thessaloniki und Edirne aufgeben. Das Reich ging zu geschwächt aus
den Balkankriegen hervor, als dass es weitere Kriege führen konnte. Dennoch trat 1914
das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg
ein.
Bei Sarıkamış gingen die Soldaten unter der rücksichtlosen Führung Enver Paşas
in eine logistische Katastrophe. Das Volk klagte Enver Paşa in dem Lied Sarıkamış
(Sarıkamış) an, und Ruhi Su thematisierte und teilte diese Anklage. 36 Unter den
militärischen Befehlshabern gilt Mustafa Kemal als ein anfänglich entschiedener
Kriegsgegner. Es war jedoch die Schlacht an der strategisch wichtigen Meerenge der
Dardanellen (1915), welche Mustafa Kemal militärischen Ruhm bringen sollte. Er führte
seine Truppen zu einem ebenso blutigen wie siegreichen Kampf gegen eine englischfranzösische Invasionsarmee. 37 Dieses Ereignis bewegte Ruhi Su dazu, dem äußerst
populär gewordenen „Klagelied Çanakkale“ (Çanakkale Ağıdı) 38 einen neuen und
tieferen Sinn des Soldatentodes und eine angemessen ernste Vortragsweise zu geben.
Drei große Katastrophen führten zum Zerfall des osmanischen Reiches: Die erste
war der Krieg gegen die Russen im Jahre 1877. Nach der Niederlage verlor das
Osmanische Reich von Plevne (Bulgarien) bis zur Donau den Großteil der Gebiete in
Vgl. SIRMA, İhsan Süreyya im Gespräch mit Aynur ERDOĞAN über die Geschichte des Jemens. In:
http://www.nurcenneti.com/forum/roportajlar/prof-dr-ihsan-sureyya-sirma-ile-yemen-tarihi-t2225.html.
Abgerufen 3.2.2012 sowie OTYAM, Fikret: Adı Yemendir (1981).
35
Vgl. unten Kap. 9.7.4; 9.7.5 und 9.7.6.
36
Vgl. unten Kap. 9.1.2.
37
STEINBACH, Udo: Geschichte der Türkei (2000): 23.
38
Vgl. unten Kap. 9.1.1.
34
10
Thrakien. Millionen flohen vom Balkan und Kaukasus hungrig und ohne jede Habe nach
İstanbul und Umgebung. Die zweite Katastrophe war der Balkan-Krieg von 1912, in der
das Reich nunmehr alle Gebiete in Balkan verlor und die Menschen erneut flüchten
mussten. Die dritte und schwerste war der Erste Weltkrieg, 39 in dem weite Teile des
osmanischen Territoriums von den Siegermächten besetzt wurden. Es folgte der
Befreiungskampf von 1919 bis 1922 gegen Griechenland. Ihren poetischen Niederschlag
fand die Befreiuung in mehreren bedeutenden Gedichten Nâzım Hikmets, die Ruhi Su
vertonte, und die an anderer Stelle dieser Studie ausführlicher behandelt werden. Dem
Titel nach seien angeführt: „Unsere Frauen” (Kadınlarımız), 40 „Die schwarze Schlange”
(Karayılan), 41 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz), 42 „Das Lied des Reiters”
(Süvarinin Türküsü). 43 Das Gedicht Ruhi Sus „Die Mobilmachung” (Seferberlik) 44 gehört
ebenfalls in diesen thematischen Kontext.
39
Vgl. KURAT, Akdes Nimet: Türkiye ve Rusya (1990): 576-577. In: AKYOL,Taha: Ama Hangi Atatürk
(2008): 13.
40
Vgl. unten Kap. 9.1.3.
41
Vgl. unten Kap. 9.1.4.
42
Vgl. unten Kap. 9.1.5.
43
Vgl. unten Kap. 6.7.1.
44
Vgl. unten Kap. 10.1.1
11
2.
Die Biographie Ruhi Sus
2.1
Ruhi Sus erste Jahre
Verhältnismäßig selten sprach Ruhi Su in Interviews über sein Leben. 45
Einzelheiten jedoch konnte man zum ersten Mal aus dem Gespräch erfahren, das Zeynep
Oral am 1. Mai 1984 mit Ruhi Su ein Jahr vor dessen Tod führte. 46
Nach offizielle Registrierung wurde Ruhi Su im Jahre 1912, zwei Jahre vor dem
Ersten Weltkrieg, geboren. 47 Drei Jahre später, 1915, wurde er in der südanatolischen
Stadt Adana auf der Straße aufgelesen. In allen Quellen gilt die Provinz Van als
Geburtsort Ruhi Sus. Die schwierige und bedrückende Kindheit Ruhi Sus war von dem
Chaos des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet. 1915 begannen die Osmanen die
Armenier aus ihrem Stammland in Richtung Syrien zu deportieren. Man kann nicht sicher
behaupten, dass Ruhi Su geborener Türke war. In einer Zeit, in der in Van neben Türken
auch zahlreiche Armenier und Kurden lebten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering,
dass er zu einer dieser beiden Volksgruppen gehörte. Sein Sohn Ilgın Su sagte, dass man
seinen Vater im Heim und in der Schule entweder als “Armenierbrut” oder als
“Kurdensohn”
angesprochen
habe. 48
Er
sprach
davon,
dass
sein
Vater
höchstwahrscheinlich Armenier gewesen ist. Dies begründete er damit, dass bis heute
kein einziger Mensch aufgetreten ist und behauptet hat, er sei ein Verwandter von Ruhi
Su.
Mit einer wenig überzeugenden Hypothese behauptet Yalçın Küçük, dass die
Türken keine Musikstimmen haben und wenn jemand eine Stimme mit Musikqualität
habe, bezweifle er, dass dieser ein Türke sei. Deshalb könne Ruhi Su auf keinen Fall
Türke sein. 49 Eine gewisse Glaubwürdigkeit hat die Tatsache, dass für alle Menschen, die
islamisiert wurden, Abdullah als Name des Vaters von den Behörden eingetragen wurde.
Eben dies war bei Ruhi Su der Fall. 50 Demnach ist es nicht ausgeschlossen, dass Ruhi Su
Siehe für Interviews mit Ruhi Su: SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4.Nov. 1976);
KUTLAR, Onat: Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır, Gösteri (16. März 1982). In: SU, Ruhi,
Ezgili Yürek (1985): 117-120 und 158-164.
46
SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1 Mai
1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985):13-28. Vgl. auch
ORAL, Zeynep: Sözden Söze (1990): 237-249.
47
Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 27, 29 und 59.
48
Aus dem Gespräch mit SU, Ilgın, dem Sohn aus der zweiten Ehe Ruhi Sus, am 28. Juli 2007 in İstanbul.
49
Vgl. KÜÇÜK, Yalçın: Türkiye Üzerine Tezler 5 (2007): 289.
50
Vgl. KÜÇÜK, Yalçın: Tekelistan (2000): 82.
45
12
Armenier war. 51 Letztlich ist die Entscheidung von geringer Bedeutung, denn er war
durch seine Sozialisation, Bildung und Arbeit ein Türke 52.
Ruhi Su hat vor 1970 seine Erinnerungen an die Zeit und Umstände der Flucht aus
Van Hüseyin Erdem erzählt. Dieser berichtet von den ältesten Spuren der Kindheit des
Musikers. Die Menschen hatten offenbar in der Provinz Van ihren Heimatort verlassen
müssen, denn Soldaten befanden sich in der Umgebung. Vor allem erinnerte er sich
daran, dass er eine Hand festhielt. Es muss die Hand seiner Mutter gewesen sein, denn
nur die Hand einer Mutter konnte so festhalten. Die Flüchtlinge waren müde, hungrig und
froren sehr. Sie überwanden Berge und Gewässer und kamen schließlich nach einer
Wanderung voller Strapazen in Adana an. Sie dachten, sie könnten sich in Adana erholen;
jedoch vergeblich, die Flucht ging weiter. In diesem Moment verlor Ruhi Su die Hand
der Mutter. Er fand sich an einer Mauer wieder; die einzige Verbindung zum Leben hatte
er verloren. Er schaute den Menschen so lange weinend nach, bis sie am Horizont
verschwanden. Die Kraft zum Weinen hatte er verloren. Ein Mann nahm ihn mit nach
Hause. In diesem Haus blieb er und wuchs als Kind dieser Bewohner auf. Mehmet, wie er
damals genannt wurde, sorgte für die Ziegen, Kühe und Hühner und begann, als Schäfer
zu arbeiten. Er liebte die Tiere und hütete sie bis zur Dämmerung auf den Weiden. Er
pflückte Obst von den Bäumen und versorgte sich somit mit täglicher Nahrung. Ruhi Su
fügte hinzu, dass er sich nur ganz schwach an eine andere Sprache erinnern könne. Auch
Kurdisch verstand er damals nicht, Türkisch schon gar nicht. Er konnte weder mit Ja
noch Nein auf die Frage nach dem Armenischen antworten. Spuren spüre er wohl, aber
sie seien unklar. Nach der Flucht wurde natürlich Türkisch zu seiner Muttersprache. 53
Das Wichtigste aber war, dass bereits Mehmet Türküs sang; 54 eine Liedform, der
er sein Leben widmete. An dieser ersten Stelle ist eine kurze Charakterisierung dieser
Liedform unerlässlich, deren Verständnis für diese Studie eminent wichtig ist. Das Türkü
gilt als das ursprüngliche Volkslied der Türkei. Sein Aufbau ist meist strophisch mit
einem Kehrreim und die Melodie bleibt innerhalb eines Türküs gleich. Seine Zeilen
werden häufig wiederholt. Ein Türkü besteht aus drei bis sechs Strophen mit je vier bis
fünf Zeilen. Die Anzahl der Silben pro Zeile beläuft sich auf sieben, acht oder elf Silben.
Manche Türküs sind in der ganzen Türkei bekannt. Darüber hinaus gibt es regionale und
lokale Türküs. Als literarische Gattung enthält das Türkü Berichte über lustige oder
51
Murat Belge spricht auch von Ruhi Su als Armenier. Siehe BELGE, Murat: Linç Kültürünün Tarihsel
Kökeni: Milliyetçilik (2006): 80.
52
So auch Bertan Onaran im Gespräch vom 25. Juli 2007 in İstanbul.
53
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
54
Nach AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 9.
13
traurige Ereignisse, Heldentaten, Kämpfe, Kriege, Liebe, Sehnsucht, Kummer und
Schönheit. Das Türkü bringt die individuellen und gesellschaftlichen Gefühle des Volkes
zum Ausdruck. Deswegen kann man die gesamte Lebensweise des Volkes an den Türküs
erkennen. Wer die Lieder eines Volkes macht, so ein griechischer Philosoph, ist stärker
als derjenige, der die Gesetze macht. 55 Die Dichter der Türküs sind meist anonym. Es ist
jedoch Brauch, dass sich einige Dichter in der letzten Strophe mit Namen nennen. Unter
dem Begriff Türkü existieren weitere Dichtungsformen wie Koşma, Destan, Mani, Ağıt. 56
Das Volkslied (Halk Türküsü) ist in der Türkei immer noch eine lebendige
Tradition, insofern auf dem Lande neue Lieder entstehen. Man kann das Singen als
unmittelbarsten Ausdruck des türkischen Volkes ansehen; schon das Wort Türkü ist
verwandt mit dem Wort Türkisch (ursprünglich türki), das heißt mit allem, was die
Türken singen. Das vorangestellte Wort halk (Volk) bedeutet heute, dass es sich nicht um
eine zufällig überlieferte Einzelaufzeichnung, sondern um ein volkstümlich gewordenes
Lied handelt. 57 Das Türkü ist ein für die Saz geschriebenes Gedicht; es ist gleichzeitig
eine lyrische Erzählform und die Übertragung einer gelebten Erfahrung in die Musik.58
Die Saz ist eng verbunden zu sehen mit dem Schatz an Weisheit, den das anatolische
Volk über die Jahrhunderte zusammengetragen hat. Sie symbolisiert ihn geradezu. 59
Ruhi Su brachte aus seiner Kindheit Kenntnisse über Pflanzen und Vegetation
mit. Er hat, sagt Sıdıka Su, mit einer gottgegebenen Stimme Türküs gesungen, obwohl er
noch jung war. Wenn er vom Schafshüten zurückkam, ließen ihn die Nachbarsfrauen
schon vor der Haustür singen. Bei seiner Pflegemutter fand er jedoch keinen Beifall. So
wird verständlich, dass er sein Leben möglichst außerhalb des Hauses verbrachte und sich
selbst zu helfen lernte. 60
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Gebiete des besiegten Osmanischen
Reiches von den Alliierten aufgeteilt. Nach den Vereinbarungen von Mudros im Oktober
1918 besetzten die Franzosen Adana. Die Besetzung wichtiger strategischer Punkte
erschien legitim, wenn sich die Alliierten bedroht fühlten. 61 Viele Menschen aus Adana
retteten sich in das Taurusgebirge. Auch Mehmet, der zu dieser Zeit ungefähr acht Jahre
KARAALİOĞLU, Seyit Kemal: Ansiklopedik Edebiyat Sözlüğü (1983): 827. Zitiert ohne
Namensangabe.
56
Vgl. http://www.opp.udk-berlin.de/opp/index.php?title=T%C3%BCrkische_Volksmusik. Abgerufen am
11. 08. 2011.
57
Siehe ÖZTÜRK, Ali Osman: Das türkische Volkslied als sprachliches Kunstwerk (1994): 13.
58
EYÜBOGLU, İsmet Zeki: Soyut (Dez. 1972). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 65.
59
Vgl. KURDAKUL, Şükran: Ruhi Su İçin. In: Şairce Düşünmek (1990): 63.
60
Aus dem Gespräch mit Ruhi Sus Frau Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
61
Vgl. http://www.bilgiportal.com/v1/idx/54/1913/Tarih/makale/Mondros-Atekes-Antlamas.html.
Abgerufen am 15.8.2011.
55
14
alt war, flüchtete mit seiner Tante und seinem Onkel. Es waren die Tage der Flucht (Kaç
Kaç Günleri). 62 Es waren Zeiten, in denen man die bedrückenden Auswirkungen der
allgegenwärtigen Mobilmachung deutlich spürte. „Die Mobilmachung“ ist ein Gedicht, in
dem Ruhi Sus Kinderjahre mit der letzten schweren Zeit des Osmanischen Reiches,
verknüpft werden. 63
„Die Mobilmachung“
Es war das Voranschreiten mit der Waffe in der Hand,
Ach, das unglückliche Los der Landwehr.
Unter den Instrumenten gibt es wie bei den Menschen einige,
Die einen störenden Klang haben,
Einige, die nur lallen.
Ich wurde wach von der Trommelstimme,
Von der fanatischen Stimme der Trommel und der Trompete.
Der Freudenbotschaft des gespannten Trommelfells
Konnte man nicht widerstehen,
Weil es die Mobilmachung war.
…
Ich erinnere mich, als ob es jetzt wäre,
Die Brote sahen aus wie neugeborene Zwillinge,
Gebacken auf brennendem Heidekraut.
Dieses Kraut duftete nach Honig,
Uns sättigt seit eh und je das Brot,
Und ich erinnere mich nun an meine Kindheit.
Ist nur die Armut von Kriegen übrig geblieben?
„Mobilmachung“, sagte man, und ich war mittendrin.
Eichenbrotbaum,
Johannesbrot war Sirup und Honigbaum für uns,
Kinder gab es entweder wenige oder sie weinten wenig,
Oder sie hatten wenig Zeit zu weinen.
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 174.
63
Vgl. GİRİTLİ, Osman: Şair ve Yazar Ruhi Su, Gösteri (Okt. 1985). In: Mekin Dinçer (Hrsg.), Ruhi
Su’ya Saygı (1986): 214. Für das vollständige Gedicht siehe unten Kap. 10.1.1.
62
15
Die Krankheit war Fleckfieber,
Das Medikament war Chinarinde.
Meine Kindheit soll verschwinden und nicht zurückkommen;
Ich erinnere mich an meine Kindheit.
(Ruhi Su)
„Seferberlik“
Eli silah tutanların gidişiydi bu,
Rediflerin, vay anam kur’asının.
Çalgıların da insanlar gibi
Zort zort edeni var,
Zom zom gideni var.
Uyandım davulun bağnazlığına,
Davulun, trampetin,
Gerilmiş derilerin muştusuna.
Seferberlikti bu karşı durulmaz.
…
Şimdilerdeki gibi anımsarım,
İkiz bebeklere benzerdi ekmekler,
Püren çalısında pişer,
Püren balı gibi kokardı.
Biz oldum olası ekmekle doyarız da
Çocukluğum geldi aklıma.
Hep savaşlardan mı kaldı bu yoksulluk?
Seferberlik derlerdi, ben de bulundum içinde.
Pelit, ekmek ağacı,
Harnup, pekmez ağacı, bal ağacıydı bizim Güney‘de.
Çocuklar ya çok azdı, ya çok ağlamazdı
Ya da ağlamaya vakit kalmazdı.
Hastalık lekeli humma,
İlaç kınakınaydı.
Gitsin, gitsin de gelmesin;
Çocukluğum geliyor aklıma. 64
(Ruhi Su)
64
Markar Etrüsyan, ein Journalist der Zeitung Agos, hielt am 20. 9. 2010 eine Rede anlässlich des 25.
Todestages von Ruhi Su. Er ging besonders auf die letzten zwei Zeilen des obigen Gedichts ein. Er führte
aus, dass diese Zeit eine schreckliche Erfahrung für ein Kind gewesen sein muss, dass es derart die eigene
Kindheit verstosse und wünschte sich zukünftigen Kindern keine solche Ablehnung.
16
„Die Mobilmachung“ (Seferberlik) ist eines seiner wenigen selbstverfassten
Gedichte. Ruhi Su legte jedoch niemals den Hauptwert aus sein Dichtertum. Jedoch gab
und gibt es renommierte Schriftsteller und Literaturwissenschaftler wie Osman Giritli,
Cevat Çapan, Oktay Akbal und Doğan Hızlan, die ihn als Dichter würdigen. 65
Das Kind Mehmet arbeitete in den Kaç Kaç Günleri sehr schwer, erledigte die
ihm gegebenen Arbeiten und konnte trotzdem seine Tante nicht zufrieden stellen. Die
Familie kam schließlich an einer Bleibe an und blieb dort vorübergehend. Eines Tages
wurde von ihm verlangt, Wasser zu holen. Er nahm den Krug und ging los. Als er
zurückkam, fand er niemanden mehr vor und blieb mit dem Krug Wasser in der Hand
allein auf dem Berg. Er wusste später nicht, wie viele Tage er damals allein blieb.
Schließlich fand er die Kolonne wieder. Als der Onkel ihn sah, umarmte er ihn und fing
an zu weinen. Die Tante blieb regungslos und kühl. Daran merkte Mehmet, dass er
absichtlich allein gelassen worden war. Ihm wurde klar, dass sie nicht die eigentlichen
Eltern waren. 66
Inzwischen lernte er weitere Türküs und sang sie. Die Zuhörerschaft bestand
hauptsächlich aus Frauen, da die Männer im Krieg waren. Diese Türküs, die er als Kind
lernte, wurden sein erstes Türkü Repertoire. Im Jahre 1952 wird Ruhi Su dem
Schriftsteller Orhan Kemal Folgendes sagen:
Ich war seit jeher neugierig auf die Türküs. Während der Kaç Kaç Günleri hatte
ich Türküs gelernt von den Menschen der İndereci und Mansurlu Dörfer in den
Taurus-Gebirgen. Ich sang sie ständig mit viel kindlicher Freude vor mich hin.67
Als die Franzosen abzogen, kehrten die Menschen nach einiger Zeit nach Adana
zurück. Mehmet war nun wieder mit der Tante und dem Onkel zusammen. Die Tante
begann eines Tages, ihn wegen einer Kleinigkeit zu verprügeln. Sie fesselte ihn an einen
Baum, um ihn auszupeitschen. 68 Er wurde mit Hilfe einer alten Nachbarin ohne Wissen
der Tante und des Onkels in ein Waisenhaus (Dār ül Eytām) gebracht. Die alte Frau hatte,
so glaubte Ruhi Su sich zu erinnern, zwei Enkel. Sie hatte Angst um ihre Enkel und
Vgl. GİRİTLİ, Osman, Şair ve Yazar Ruhi Su, Gösteri (Okt. 1985); AKBAL, Oktay: Ruhi Su Yaşayacak,
Cumhuriyet (22. Sep. 1985); HIZLAN, Doğan: Bir Ruhi Su Vardı, Hürriyet (25. Sep. 1985). In: MEKİN,
Dinçer (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı. 214, 151 und 145 sowie AKBAL, Oktay: Şairlere Ölüm Yok
(1994):105-113. Damit ist die Mobilmachung für den Befreiungskrieg (1919-1922) gemeint. Für Gedichte
Ruhi Sus siehe unten Kap.10.
66
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. Frau Su vermutet, dass die Tante
eifersüchtig auf ihn war. Alle Andern liebten ihn, die Nachbarn, der Onkel, aber sie hielt Abstand.
67
SU, Ruhi in einem Gespräch mit KEMAL, Orhan: Ruhi Su ile Bir Konuşma, Forum 336 (1. Apr.1968).
In: Ruhi Su: Ezgili Yürek (1985): 89.
68
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
65
17
sorgte sich darum, was mit ihnen wohl geschehen würde, wenn sie stürbe. Die Kinder
waren nämlich Waisen. Sobald sie von einem Waisenhaus hörte, brachte sie die Kinder
dorthin. Als sie den leidenden Mehmet sah, fragte sie ihn, ob sie ihn auch zu ihren Enkeln
ins Waisenhaus bringen dürfe. Er antwortete mit Ja. Im Waisenhaus wurde sie von den
Verantwortlichen gerügt, sie dürfe nicht alle auf der Straße aufgelesenen Kindern
bringen. Man habe keinen Platz mehr. Sie flehte die Leiter an und machte sogar den
Vorschlag, einen ihrer Enkel zurückzunehmen, denn die Leiden Mehmets waren
unerträglich. Endlich wurde er aufgenommen. Dies bedeutete die Wende in seinem
Leben. 69
Ruhi Su sagte später, dass er im Heim zum ersten Mal so etwas wie Spiele kennen
gelernt habe. Er sei sehr aufgeregt vor Freude gewesen und verdutzt zugleich. Für den
zehnjährigen Mehmet begann jetzt erst seine Kindheit. In der Schule übersprang er die
ersten beiden Klassen. Dort wurde man zuerst auf seine Stimme aufmerksam. Die Lehrer
ließen ihn an der Spitze von Gruppen gehen und Märsche und Lieder singen. Seine
Mitschüler und Nachbarn forderten ihn auf zu singen. Nach einem Jahr ließ der
Musiklehrer Mehmet Tahir für das Waisenhaus eine Geige kaufen. Mehmet begann mit
Unterstützung dieses Mannes Geige zu spielen. 70
Im Jahr 1924 wurde in Ankara die Musiklehrerschule (Musiki Muallim Mektebi),
die heute wie die Gazi Universität das Fundament des Staatskonservatoriums bildet, mit
dem Ziel eröffnet, Musiklehrer auszubilden. An alle Waisenhäuser in der Türkei wurde
folgende Nachricht versandt: „Schickt uns alle Kinder, die für die Musik ein besonderes
Interesse und Talent haben.“ 71
69
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 10.
71
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 15.
70
18
2.2
Die Aufnahme in die Musiklehrerschule
Aus dem Waisenhaus in Adana nahmen Mehmet aus der vierten Klasse und Şaban
aus der fünften Klasse an der Aufnahmeprüfung für die Musiklehrerschule teil. Mehmet
bestand die Prüfung, jedoch Şaban nicht. Die Schulpflicht dauerte nur fünf Jahre. Der
Schuldirektor erklärte Mehmet, er habe die Möglichkeit, noch ein Jahr im Waisenhaus
und in der Schule zu bleiben, weil er erst in der vierten Klasse sei. Diese Chance bestand
aber für Şaban nicht. Deshalb wollte der Direktor die Erklärung: Şaban hat die Prüfung
bestanden, nicht aber Mehmet. Mehmet willigte ein. Was er fühlte, hat Ruhi Su detailliert
beschrieben:
In diesem Augenblick war es für mich selbstverständlich Şaban den Vortritt zu
lassen. Nein, ich hatte keinen Knoten im Hals. Der Direktor hatte Recht. Dadurch
kam auch Şaban nicht auf die Straße. Ich war mir sicher, dass ich die Prüfung im
nächsten Jahr wieder bestehen würde. Ich war überhaupt nicht traurig. 72
Die Großzügigkeit Ruhi Sus entstammte nicht einer einzelnen Situation, sondern war eine
besondere Eigenschaft seines Charakters. 73
Nach einem Jahr nahmen Mehmet und Suphi, ein anderer Schüler, an der Prüfung
teil und beide bestanden. Ihre Unterlagen gingen für das Einschreibeverfahren nach
Ankara. Gleichzeitig kam aus Ankara an alle Waisenhäuser ein Rundschreiben, nach dem
alle Kinder, die die Grundschule beendet hatten, auf Militärschulen zu schicken waren.
Mehmet klagte nicht, dass er ein Jahr zuvor Şaban seinen Platz gegeben hatte:
Als dieses Rundschreiben kam, war die Prüfung vergeblich. Suphi und ich
waren sehr traurig. Es nützte nichts; wir wurden nach İstanbul auf das Halıcıoğlu
Militärgymnasium geschickt. 74
Die Militärärzte, welche die Kinder vor ihrer Abreise von Adana untersuchten,
lachten, als sie ihre Namen Ökkeş, Cumali, Ali Merdan, Durmuş hörten. Sie rieten ihnen,
zu ihren Namen noch einen modernen Namen hinzu zu nehmen, um in İstanbul nicht
verspottet zu werden. So wurde aus Cumali Ali Ulvi und aus Mehmet wurde Mehmet
Ruhi. Mit ihren neuen adretten Namen machten sie sich auf den Weg zum
Militärgymnasium von İstanbul. Ruhi Su wollte aber um jeden Preis nach Ankara auf die
Musiklehrerschule.
72
Ebd. 16.
Hüseyin Erdem betonte ebenfalls die außerordentliche Großzügigkeit des Sängers in einem Gespräch mit
dem Verfasser am 31. Aug. 2011 in Köln.
74
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 16.
73
19
Als seine neuen Freunde das Talent Mehmet Ruhis bemerkten, machten sie ihn
mit dem Musiklehrer Ahmet Muhtar bekannt. Dieser riet ihm, auf die Musiklehrerschule in Ankara, wo er unterrichtete, zu gehen. Als er eines Abends für seine Freunde in
der Kantine auf der Geige spielte, kam der Kommandant der Schule angerannt, schrie sie
alle an, ergriff die Geige und schleuderte sie weg. Die Geige ging zu Bruch. Das
Verhalten des Kommandanten traf Mehmet schwer. Er setzte es sich immer stärker in den
Sinn, aus dem Militärgymnasium nach Ankara zu fliehen, obwohl der Kommandant ihm
anbot, die Geige zu bezahlen. Das Problem war, die Fahrt nach Ankara zu organisieren.
Da sich sein Ausweis in den Händen der Militärschulleitung befand, nahm er den
Ausweis eines Freundes. Die Freunde sammelten gemeinsam Geld für seine Fahrkarte.
Eines Tages schaffte er es, mit einem Koffer in der Hand und einem falschen Ausweis zu
fliehen. In den Zügen gab es strenge Kontrollen. Kurz vor Ankara geriet er in Polatlı in
eine Polizeikontrolle. Ihm wurden immer die gleichen Fragen gestellt: Wo kommst du
her? Wo gehst du hin? Wo bist du untergebracht? Seine Antworten erschienen
unglaubwürdig; man nahm ihm den Ausweis ab und beschied ihn, er könne den Ausweis
am nächsten Tag auf der Polizeiwache in Ankara abholen. Er stieg am Hauptbahnhof aus
und fragte sich über Ulus nach Cebeci bis zu der Musiklehrerschule durch. Hier machte
er Ahmet Muhtar ausfindig. Als er gestand, dass er geflohen sei, erschrak Muhtar und
schickte ihn umgehend zur Zentralstelle der Militärgymnasien in Ankara. Er sollte dort
sein Zeugnis und seinen Ausweis abholen. Ohne seinen Koffer abzulegen, eilte er
dorthin. Dem ersten Zuständigen, den er antraf, teilte er sein Problem mit. Als seine
Leidensgeschichte seit Adana erzählte kamen ihm die Tränen. Der vorsitzende Oberst
blieb jedoch hart, denn Mehmet Ruhi sollte kein schlechtes Beispiel bieten. Andererseits
riet er ihm, er möge von İstanbul aus einen seinem Wunsch entsprechenden Antrag
stellen. Mehmet Ruhi wurde in Begleitung von zwei Militärpolizisten nach İstanbul
zurückgeschickt. Bevor er seine Freunde überhaupt sehen konnte, wurde er arrestiert. In
den beiden Tagen seiner Haft verstärkte sich sein Wunsch, auf die Musiklehrerschule zu
gehen. Er war sich sicher, eines Tages sein Ziel zu erreichen. 75
In diesen Jahren wurden die Militärschulen mit Aufnahmeanträgen überhäuft.
Kinder, die ursprünglich aus Waisenhäusern kamen, mussten vor der Aufnahme in die
Militärschule medizinisch untersucht werden. Untaugliche wurden an andere Schulen
geschickt. Mehmet Ruhi sah in diesem Verfahren eine Chance für sich, der Militärschule
zu entkommen und bat daher den Schulkommandanten, auch ihn zu dieser medizinischen
75
Vgl. Ebd. 16-18.
20
Untersuchung zu schicken. Der Kommandant lehnte dies zunächst ab, weil er ja
offensichtlich gesund sei, gab aber den zähen Bitten schließlich nach. Beim Augentest las
Mehmet alle Buchstaben bewusst falsch.Die Ärzte bescheinigten Mehmet Ruhi dennoch
die volle Gesundheit, ein Verfahren, dass zu Gunsten der finanziellen Sicherheit der
Waisenkinder üblich war. Beim Hörtest jedoch erzählte Ruhi Su dem zuständigen Arzt
von seinem Wunsch, Musiklehrer zu werden. Angetan von seiner Lebensgeschichte,
bescheinigte dieser ihm die Untauglichkeit. Mehmet Ruhi war sehr glücklich über seine
vorgebliche Untauglichkeit und stellte sofort den Antrag, auf die Musiklehrerschule in
Ankara aufgenommen zu werden. Als er in dem Gefühl der Sicherheit lebte, an die
Institution seines Wunsches zu kommen, erreichte ihn die Nachricht, dass dort alle Plätze
besetzt seien. Der für untauglich erklärte Mehmet Ruhi musste das Halıcıoğlu
Militärgymnasium verlassen und wurde zurück nach Adana geschickt. Jeder andere hätte
an seiner Stelle dieses Unglück verflucht und dagegen rebelliert, Mehmet Su tat das
nicht. 76
In Adana ging er auf das Lehrergymnasium. Dort übte er das Geigenspiel, denn er
war fest davon überzeugt, dass er sehr bald schon an der Musiklehrerschule in Ankara
angenommen werde. Die Begegnung mit der westlichen Musik ereignete sich in dieser
Zeit. Es gab in Adana ein Orchester, das in Stummfilmkinos die Begleitmusik zu den
Filmen spielte. Der Violinist dieses Orchesters, ein Österreicher namens Erwin Bey77,
war gleichzeitig der Violinlehrer des Lehrergymnasiums. Durch ihn lernte Mehmet Ruhi
die Stücke der klassischen westlichen Musik kennen.
In den Sommerferien gingen alle Schüler nach Hause, und wer, wie Mehmet, kein
Zuhause hatte, wurde ins Internat nach Konya geschickt. Dort kam Mehmet Ruhi in
Kontakt mit den Schülern der Musiklehrerschule von Ankara. 78
76
Vgl. Ebd. 19.
Den Nachnamen konnte der Verfasser leider nicht in Erfahrung bringen.
78
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 179.
77
21
2.3
Die Heirat mit Münire Sevim, die ersten Stadien der Musikausbildung und die
Annahme des Nachnamens Su
Die Sehnsucht nach einer warmen Suppe und einer kleinen geborgenen Familie
war groß. 79 Er heiratete 1934 überstürzt die Krankenschwester Münire Sevim. Ruhi Su
gibt an, er sei damals 22 Jahre alt gewesen. 80 Er zog zu den Schwiegereltern, und sie
bekamen ein Kind, das sie Güngör 81 (Der, der glückliche Tage erleben möge) nannten.
Als er in die Musiklehrerschule nach Ankara kam, wurde seine Frau an das dortige
Numune Hospital versetzt. Jedoch trennten sie sich nach einiger Zeit. 82
Nach
den
Sommerferien
wurden
erneut
Aufnahmeprüfungen
an
der
Musiklehrerschule in Ankara abgehalten. In der Prüfung fragte man ihn, welches Stück er
spielen wolle. „Morceaus“, antwortete er. Er war sehr überrascht, als er ein Concerto
spielen sollte. Diesen Terminus hörte er zum ersten Mal, auch Noten und Harmonielehre
kannte er nicht. Einer der Lehrer schlug ihm für die Prüfung das Violinkonzert G-Dur
von Vivaldi vor. Mehmet Ruhi lieh sich eine Violine von einem Freund und übte Tag und
Nacht in seinem Hotelzimmer und bestand die Prüfung mit Erfolg. Dem Vorschlag von
Ulvi Cemal Erkin, 83 ihn in die Vorbereitungsklasse zu setzen, damit er keine
Schwierigkeiten in der Abschlussklasse bekäme, stimmten alle anderen Lehrer zu. 84 So
gelang es Mehmet Ruhi endlich, in die Musiklehrerschule aufgenommen zu werden. Als
externer Student absolvierte er die erste Klasse mit Bravour und errang das Recht, intern
an der Schule zu bleiben.
1934 wurde das Gesetz über Nachnamen verabschiedet. Jeder war verpflichtet,
sich einen Nachnamen auszusuchen, der verständlich und leicht auszusprechen war. Also
79
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. August 2011 in Köln.
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):180.
81
Güngör Su zu kontaktieren ist trotz zweier Versuche nicht gelungen. Die Beziehung zu seinem Vater
kann man aus dem Gespräch des Verfassers mit Bertan Onaran vom 23. September 2010 in İstanbul nur
erschließen: Güngör Su war am Kontakt mit seiner Familie gelegen. Vgl. das Foto in: AKATLI, Füsun: Bir
de Ruhi Su Geçti (2001): 30. So gab er dem Halbbruder Ilgın Su Arbeit. Eine familiäre Verpflichtung wird
auch bestanden haben, sonst hätte er den Film über die Beerdigung von Ruhi Su, wie Ilgın Su mitteilte,
nicht drehen lassen. Güngör Su hat vielleicht auf diese Art und Weise seinen Vater in die Arme genommen
und ihm die letzte Ehre erwiesen. Vgl. das Foto in: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 30.
82
Weitere biographische Information über die erste Ehe ist nicht erhältlich.
83
Ulvi Cemal Erkin (1906-1972) war seit 1930 Professor am Staatskonservatorium in Ankara (Ankara
Devlet Konservatuvarı), das er 1949 bis 1951 leitete. Später war er auch Dirigent der Staatsoper. Er gehörte
zu den Türkischen Fünf, der Gruppe der ersten professionellen Komponisten der Türkei, zu der außer ihm
noch Cemal Reşit Rey (1904-1985), Hasan Ferid Alnar (1906-1978), Ahmet Adnan Saygun (1907-1991)
und Necil Kazım Akses (1908-1999) zählen. Siehe AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003).
84
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 13.
80
22
nahm er den Nachnamen Su (Wasser) an. Nun hieß er offiziell Mehmet Ruhi Su, in seiner
künstlerischen Laufbahn verkürzte er den Namen fortan auf Ruhi Su.
Halim Spatar geht ein auf die Namensgleichheit von Ruhi Su und Yahya Su. Als
1952 Ruhi Su nach den Kommunistenverhaftungen von 1951 im Militärgefängnis von
Harbiye einsaß, fragte sein Mitgefangener Spatar ihn, ob er Yahya Su, seinen Lehrer am
İnönü Gymnasium in İzmir, kenne. Daraufhin erzählte Ruhi Su von ihrer gemeinsamen
Vergangenheit. Sie wurden in ihrer Kindheit im gleichen Waisenhaus aufgezogen. Yahya
und Ruhi Su teilten ein Hochbett. Beide liebten die Musik sehr. Ruhi wollte Geige
spielen, Yahya wollte singen. Später wurde Ruhi ein bekannter Bassbariton in der Türkei.
Yahya wurde Sportlehrer. Nach dem Gesetz über Nachnahmen nahmen beide den Namen
Su an, um ihre innige Freundschaft zu verdeutlichen. 85
Es schmerzte Ruhi Su sehr, wenn er auf die Frage, von welcher Familie er
abstamme und wer seine Verwandten seien, nicht antworten konnte. Den Wert der
Selbsterziehung hatten seine traditionellen Frager noch nicht erkannt:
Dass ich Waise bin, konnte ich vielen nicht sagen. In unserer Gesellschaft
herrscht immer noch der Glaube an die Stammeszugehörigkeit. „Zu welcher
Familie gehörst du?“ wird man zuerst gefragt.86
Vgl. SPATAR, M. Halim: Müzik Yazılarım (2007): 188-192.
SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1 Mai
1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):184.
85
86
23
2.4
Die Mitgliedschaft im Staatsorchester Riyaset-i Cumhur und das Studium am
Konservatorium in Ankara
Im Jahre 1826, unter dem osmanischen Sultan Mahmut II., wurde anstelle der
Janitscharen-Kapelle (Mehterhane) 87 in İstanbul eine nach europäischer Art eingerichtete
Kapelle mit dem Namen Hofkapelle (MÙsīkā-yi Hümāyūn), gegründet. Diese bildete die
Grundlage für das Sinfonieorchester des heutigen Staatspräsidenten (Cumhurbaşkanlığı
Senfoni Orkestrası). 88 Ihr bekanntester Leiter war Giuseppe Donizetti. 89
Die Hofkapelle zog auf Wunsch Mustafa Kemals 1924 90 nach Ankara und nahm
1934 den Namen Philharmonie des Staatspräsidenten (Riyaset-i Cumhur Filarmoni
Orkestrası) an. Dr. Ernst Prätorius, der sein Amt als Generalmusikdirektor in Weimar aus
Protest gegen die politische Entwicklung in Deutschland niedergelegt hatte und als erster
Musiker auf die Empfehlung Hindemiths in die Türkei kam, traf im Oktober 1935 in
Ankara ein und begann als Dirigent des Staatsorchesters zu arbeiten. 91 1935-36 wurde in
Ankara das renommierte Staatsorchester neu besetzt. Dazu wurden aus der
Musiklehrerschule Schüler ausgesucht, unter ihnen auch Ruhi Su. Er war sich zwar
sicher, Lehrer werden zu wollen, nahm aber dennoch an den Proben teil.
Nach der Gründung des Staatskonservatoriums wollte niemand das Fach Oper
studieren, weil Opern den Türken nahezu unbekannt waren. Die Leiter des
Konservatoriums schlugen den Studenten vor, sowohl ihre Ausbildung als Musiklehrer
fortzuführen als auch gleichzeitig den Opernstudiengang zu besuchen. Für Carl Ebert und
Paul Hindemith, die beide inzwischen Deutschland verlassen hatten und am
Staatskonservatorium in Ankara lehrten, war die ablehnende Haltung der Studenten
gegenüber der Oper unverständlich. Sie fragten sich, wie man die Oper ablehnen könne,
zumal sie Lohn und Brot, also Wohlstand, bieten würde. Schließlich erkannten auch
87
Die Militärkapelle bestand in der Zeit von Osman Gazi bis zu Mahmut II. (1284-1826). Siehe SÖZER,
Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi M-Z (1986): 484.
88
Vgl. MERKT, Irmgard: Europäische Musik in der Türkei, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der
Bundesrepublik Deutschland (1983): 73-74. Bei Gründung der Republik existierten zwei Institute für
Musik. Das erste war das Orchester des Palastes (MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn), das zweite hieß Haus der Melodien
(DÁr-ül ElḥÁn) und entsprach einer Musikhochschule. DÁr-ül ElḥÁn erhielt 1926 den Namen Städtisches
Konservatorium İstanbul (İstanbul Belediye Konservatuvarı). Siehe SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler
Ansiklopedisi A-L (1986):180. 1986 wurde es zum Staatskonservatorium der İstanbuler Universität
(İstanbul Üniversitesi Devlet Konservatuvarı) umfunktioniert.
89
Siehe unten Kap. 5.4.
90
Im gleichen Jahr wurde dort eine Ausbildungsstätte für Musiklehrer nach westlichem Stil (Musiki
Muallim Mektebi) gegründet. Diese war die Schule, in die Ruhi Su nach den bereits geschilderten Mühen
aufgenommen wurde.
91
WIDMANN, Horst: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei
nach 1933 (1973): 42.
24
Mesude Çağlayan, Rabia Erler, Süleyman Güler und Ruhi Su ihre Chance und gingen an
die Oper. Da Ruhi Su nicht wusste, was man später mit einer Opernausbildung machen
konnte, nahm er das Opernstudium nur unter der Bedingung auf, gleichzeitig als Lehrer
arbeiten zu dürfen.
Von 1936 bis 1942 studierte Ruhi Su das Fach Oper an dem Staatlichen
Konservatorium in Ankara. Der Gesangslehrer Prof. Hay riet ihm, wenn er nicht wolle,
dass einige Töne seiner Stimme schwach blieben, müsse er weniger Geige üben. Ruhi Su
beschloss daraufhin, mit dem Geigenspiel ganz aufzuhören. Nach seinem Studium erhielt
er eine Stelle an der Staatlichen Oper und arbeitete parallel als Musiklehrer an der
Mittelschule İkinci Ortaokul. Er musste wegen des Operngesetzes, das eine
Doppeltätigkeit verbot, die Lehrerstelle aufgeben und arbeitete als einer der ersten
Absolventen der Opernabteilung bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1952 an der
Staatlichen Oper.
92
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984) In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 2223.
92
25
2.5
Die Tätigkeit an der Staatsoper und die umstrittenen Sendungen im staatlichen
Rundfunk in Ankara
Ruhi Su spielte bis zum Jahr 1952 viele Rollen, zum Beispiel in Bastien und
Bastienne, Madame Butterfly, La Boheme, Die verkaufte Braut, Fidelio, Ein Maskenball,
Die Fledermaus, Figaros Hochzeit, Rigoletto und Der Liebestrank. 93 Als junger
Schauspieler erhielt er schon positive Kritiken, so als der Heiratsvermittler des Dorfes in
Die verkaufte Braut und als Kerkermeister Rocco in der Oper Fidelio. Ruhi Su, der seit
der Oper Bastien und Bastienne in allen Rollen eine außergewöhnliche Reife zeigte, hatte
die Kritiker auf seine kommenden Erfolge aufmerksam gemacht. 94 Seine letzte Rolle
spielte er in der Oper Konsulat, nach deren Probe er festgenommen wurde. Damit endete
auch seine Opernkarriere.
Dass Ruhi Su sich wegen des Endes seiner Opernlaufbahn den Türküs zugewandt
hat, ist eine nicht haltbare Behauptung, denn seit seiner Kindheit hatte er sich ständig mit
ihnen beschäftigt. Auch wenn er den Gesang in der Oper genoss und liebte, hat er die
Türküs nie vernachlässigt. Kurz vor seinem Tod betonte Ruhi Su selbst, dass er sich umso
stärker mit den Türküs verbunden fühlte, je mehr sein Wissen über diese Musik wuchs
und seine Einstellung sich vertiefte:
Ich bin glücklich darüber, dass ich auch in den Mauern der Oper meinen Schweiß
vergossen habe. Ich war von 1941 bis 1952 in kleineren sowie größeren Rollen
nicht erfolglos. Dennoch erlangte ich meine Künstlerpersönlichkeit durch die
Türküs. Der Grund liegt darin, denke ich, dass ich in der Sprache des Volkes
spreche und seine Sehnsüchte in einer universalen Erzählweise ausdrücke. 95
Er sang in den Jahren 1943 bis 1945 Türküs auch im staatlichen Radio Ankara.
Seine Auftritte im Radio, glaubt er, waren ihm sehr hilfreich und seine Stimme und seine
Art fand viel Anklang 96. Sein Lehrer Markowitz bewunderte den Vortrag der Türküs und
daraufhin kam es zu einem regelmäßigen Konzert im Radio.
Ich genoss die Oper sehr. Ich konnte es aber auch nicht lassen,
Türküs zu singen. Als mein österreichischer Lehrer Markowitz mich einmal in
der Oper Türküs singen hörte, sagte dieser, er würde zum ersten Mal erkennen,
wie schön die türkische Musik sei und er erzählte dem damaligen Radiodirektor
Vedat Nedim Tör von mir. Daraufhin bot man mir an, täglich eine Stunde im
93
Vgl. Ebd. 23.
ALTAR, Cevat Memduh: Ülkü (16. Apr. 1943). In: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 74.
95
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Türküler Üzerine, Günümüzde Kitaplar (15.
März 1985). In: Ezgili Yürek (1985): 186.
96
Ebd. 186.
94
26
Radio Türküs zu singen. Ich nahm zwar das Angebot an, aber nicht in dem
gewünschten Umfang. Ich wollte nur alle fünfzehn Tage singen. 97
Sein Programm begann jeden zweiten Sonntag um 10.00 Uhr mit der
Ankündigung „Bassbariton Ruhi Su singt Türküs.“ Er suchte die Lieder selbst aus und
bot sie den Zuhörern in einer neuen Interpretation. Die Volkslieder, die er im Radio
Ankara sang, machten ihn in der ganzen Türkei berühmt. Der Künstler gab am 14. Juli
1944 im Volkshaus (Halkevi) in Ankara sein erstes Salonkonzert. Eine sehr wichtige
Feststellung ist hier bezeichnend: Er selbst verstand ein Salonkonzert als Türkürezital
(Türkü Resitali) und wollte damit ausdrücken, dass er einerseits mit dem Wort Türkü auf
die türkische Tradition der Volksmusik zurückgriff und andererseits den Charakter des
Konzertes, wie es der europäischen Musikkultur vertraut ist, mit dem Begriff Rezital
verstärken wollte. 98
In der Zeit beim Radiosender in Ankara sang Ruhi Su auch alevitische Lieder. Er
war der erste, der mit Mut die Lieder der alevitischen Tradition der breiten Öffentlichkeit
bekannt machte. Er sah in diesen Liedern den Ausdruck eines jahrhundertelangen
rebellischen Kampfes des Volkes gegen die Obrigkeit. Obwohl er selbst kein Alevit war,
fand er in diesen Liedern seine eigene Weltanschauung bestätigt. Er stand mit seinen
Liedern auf der Seite der Unterdrückten und gefährdete sich damit selbst sehr. So sang er
Titel wie „Kommt Freunde, lasst uns eins werden“ (Gelin Canlar Bir Olalım) von Pir
Sultan Abdal; „Lasst uns einen Gott erkennen“ (Bir Allah’ı Tanıyalım) von Ali İzzet und
„Frommer, verwünsche uns nicht“ (Zahit Bizi Tan Eyleme) von Muhyi. Er wurde unter
dem Vorwurf, er habe mit der alevitischen Musik Propaganda für die Linke gemacht, von
der Radioanstalt entfernt. 99
Drei der bekanntesten Lieder der alevitischen Tradition folgen, in denen er seiner
Anschauung von Freiheit und Menschenrechten einen starken Ausdruck gegeben hat:
SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1.
Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 23.
98
Nach SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme. In: Berfin Bahar 139
(Sept. 2009): 13-14.
99
SU, Sıdıka: Beiheft zur CD Sultan Suyu (1990).
97
27
„Kommt Freunde, lasst uns eins werden“
„Gelin Canlar Bir Olalım“ 100
Kommt Freunde, lasst uns eins werden,
Gelin canlar bir olalım,
Den Leugner mit dem Schwert bekämpfen,
Münkire kılıç çalalım,
Hüseyins 101Blut rächen,
Hüseyn'in kanın alalım,
Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah
Tevekkeltü taalallah.
Lasst uns verbinden, was zusammen gehört,
Özü öze bağlayalım,
Lasst uns stürzen wie der Wasserfall,
Sular gibi çağlayalım,
Lasst uns gemeinsam marschieren.
Bir yürüyüş eyleyelim,
Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah.
Tevekkeltü taalallah.
Mein Pir Sultan ist voller Aufregung,
Pir Sultan'ım geldi cuşa,
Die Leugner sind von Sinnen,
Münkirlerin aklı şaşa,
Was geschrieben steht, geschieht,
Takdir olan gelir başa,
Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah.
Tevekkeltü taalallah.
Pir Sultan Abdal 102
„Lasst uns einen Gott erkennen!“
„Bir Allah'ı Tanıyalım“ 103
Lasst uns einen Gott erkennen!
Bir Allah'ı tanıyalım!
Was soll das Trennen der Religionen?
Ayrı gayrı bu din nedir?
Was soll der Streit um den Besitz?
Senlik, benliği nidelim?
Was soll dieser Streit, dieser Hass?
Bu kavga, dövüş, kin nedir?
Er füllte die stille Welt,
Issız dünyayı doldurdu,
Offenbarte sich seinen Untertanen.
Kendini kula bildirdi.
Kain brachte Abel um.
Kabil Hâbil'i öldürdü,
Was soll das Blut dort auf dem Boden?
Orta yerde bu kan nedir?
100
Aus der Schallplatte „Pir Sultan Abdal“ (1973)
Hüseyin ist der Prophetenenkel, der in der Schlacht von KarbalÁ im Oktober 680 von Truppen Yazīds,
des Sohns des Muʿāwiya, niedergemetzelt wurde. Für die Aleviten steht sein Name symbolisch für den
Guten und Unterdrückten, der beim Kampf gegen die Bösen und die Unterdrücker ermordet wurde. Vgl.
ÇALIŞLAR, Oral: Hz. Ali-Muaviye Çatışması (Ohne Erscheinungsjahr):147-154.
102
Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert) war ein von den Aleviten als Heiliger angesehener Dichter. Er nahm
an einem alevitischen Aufstand gegen die osmanische Zentralmacht teil und wurde von Hızır Paşa
gefangengenommen, in Ketten gelegt und in Sivas erhängt. Siehe unten Fußnote 120 und Kap. 9.4.
103
Aus der postumen CD „Sie weckten uns, während wir schliefen” (Uyur İken Uyardılar).
101
28
„Einzig die Thora hat Recht“, sagte Moses,
Musa „Tevrat'a hak“ dedi,
„Nichts dergleichen“, sagte der Pharao,
Firavun „aslı yok“ dedi,
„Schau in die Bibel“, sagte Jesus
İsa „İncil'e bak“ dedi,
Was soll der späte Koran?
Sonra gelen Kur'an nedir?
Ali İzzet ist für die mystische Lehre,
Ali izzet batın ilmine,
Soll man Gabriel vertrauen?
Nedir Cebrail Emin’e?
Glaube an den Erschaffer des Universums!
İnan Rabbülalemin’e!
Was soll dieses Gerede vom Gottlosen, diesem Moslem?
Bu gâvur, müslüman nedir?
Ali İzzet 104 :
„Frommer, verwünsche uns nicht“
„Zahit Bizi Tan Eyleme“ 105
Frommer, verwünsche uns nicht,
Zahit bizi tan eyleme,
Gottes Name lesen unsere Zungen,
Hak ismin okur dilimiz,
Erzähl uns keine Sagen,
Sakın efsane söyleme,
Unser Weg führt zu ihm.
Hazrete varır yolumuz.
Mit einer Hand sind wir nicht zu zählen,
Sayılmayız parmağ ile,
Mit Morden sind wir nicht auszulöschen.
Tükenmeyiz kırmağ ile,
Wer uns von außen her befragt,
Taşramızdan sormağ ile,
Wird uns niemals verstehen.
Kimse bilmez ahvalimiz.
Die Weisen haben viele Wege,
Erenlerin çoktur yolu,
Wir sagten „Ja“ zu allen,
Cümlesine dedik beli,
„Verrückte“, denken, die uns sehen,
Gören bizi sanır deli,
Unsere Verrückten sind besser als die Vernünftigen.
Usludan yeğdir delimiz.
Muhyi, die Gunst, die dir begegnet,
Muhyi sana ola himmet,
Soll deinem Leib helfen, wenn du Aşık bist.
Aşık ise cana minnet,
Der ganzen Welt schenkt Vergebung
Cümle alemlere rahmet,
Diese unsere arme Hand.
Saçar şu yoksul elimiz.
Muhyi 106
Ali İzzet Özkan (1902-1981): Der Volkssänger war ein bedeutender alevitischer Sänger, der viele seiner
nachkommenden Volkssänger beeinflusste. Siehe ÖZMEN, İsmail: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 5
(1994): 309-313.
105
Aus der postumen CD „Ich war Saat und wurde gedroschen” (Ekin İdim Oldum Harman).
106
Muhyiddin Abdal war ein im 16. Jahrhundert lebender Mystiker, der sich der Bektaschi-Lehre
verschrieben hatte. Siehe ÖZMEN, İsmail: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 87-116)
104
29
Die Radioleitung, die in diesen Liedern eine kommunistische Propaganda sah,
aber ihre Meinung ihm nicht direkt sagen wollte, kündigte ihm nach gezielten
Andeutungen im Jahr 1945. Der damalige Intendant Mesut Cemil sprach Ruhi Su an
wegen der Gerüchte, die über ihn in Umlauf waren. Er schlug vor, das Programm für eine
Weile auszusetzen, da man über ihn schlecht rede. Ruhi Su antwortete: „Ich bin bereit,
meinen Weg fortzusetzen, selbst wenn ich zugrunde gehe.“ Daraufhin wurde die Arbeit
Ruhi Sus an der Radioanstalt beendet, 107 denn den offiziellen Rahmen des staatlich
verordneten Populismus hatte er schon vorher gesprengt. 108 Die oppositionelle Tendenz
der Lieder und die Art seines Vortrags passten den politisch Führenden nicht. 109 Später
im Jahre 1975 trat er, unter dem damaligen Leiter der staatlichen Radio- und
Fernsehanstalt, İsmail Cem İpekçi 110, im Fernsehen auf. Diese Aufnahme ist eine der
wenigen Aufzeichnungen von Ruhi Su. Sie muss in den Archiven der Staatlichen Radiound Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu, TRT) zu finden sein.
107
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 14.
Vgl. AKSOY Bülent: Kültürel Değişimin Ortasında Bir Sanatçı: Ruhi Su, Yeni Gündem (18.Okt.-1.
Nov.1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986): 227-229.
109
Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin
(Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986):189.
110
İpekçi diente als Außenminister vom 30. Juni 1997 bis zum 10. Juli 2002. Zu dem Fernsehauftritt siehe
oben Kap.1.2, Fußnote 13.
108
30
2.5.1
Die alevitische Musik und Ruhi Sus Festhalten an ihr trotz der Rückschläge in
seiner Karriere
Die Zahl der Aleviten in der Türkei beläuft sich nach Schätzungen der
Alevitischen Gemeinde Deutschlands (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu) auf mehr
als 20 Millionen. Diese Zahl umfasst Türken, Kurden sowie Araber. 111
Die Geschichte der Aleviten unter den Osmanen ist eine der Unterdrückung und
des Leidens. Das änderte sich mit der Errichtung der modernen laizistischen Türkei durch
Mustafa Kemal Atatürk. Die anfängliche Sympathie Atatürks war begründet in der
Unterstützung der Aleviten und ihres geistlichen Oberhaupts Cemalettin Çelebi im
Befreiungskrieg. 112 Hinzu kam, dass Atatürk eine Gedankenverwandschaft mit der
laizistischen Einstellung der Aleviten zu erkennen glaubte, welche der größeren
religiösen Freiheit in der laizistischen modernen Türkei nahe kam.
Die Aleviten begrüßten die Republik mit großer Euphorie. Mustafa Kemal
erlangte bei den Aleviten nahezu den Status eines Messias; sie nahmen mit Respekt die
Trennung von Staat und Religion auf. Allerdings wurden im Zuge der Modernisierungen
alle Derwischklöster geschlossen und damit den traditionellen Bildungsanstalten der
Aleviten der Boden entzogen. Mit der Gründung der Republik konnten die Aleviten zwar
endlich frei atmen, doch ihre Gebetsübungen wurden im Namen der Säkularisierung
streng überwacht. Wie im osmanischen Reich konnten die Aleviten auch in der Republik
ihren Gottesdienst (Cem) bis ungefähr zum Jahr 2000 nur heimlich ausüben. 113
Linke Parteien suchten und suchen die Stimmen der Aleviten auf sich zu ziehen.
Der Grund dafür ist deren traditionelle Opposition, ihr verhältnismäßiger Säkularismus
Vgl. KAPLAN, İsmail: Das Alevitentum (2004): 22. Kaplan stützt sich dabei auf die von Alford
Andrews: “Ethnic Groups in the Republic of Turkey,Wiesbaden, gemachten Angaben.
112
Vgl. ULUSOY, Veliyettin in Interview mit Oral Çalışlar: Radikal (11. Nov. 2008); KALELİ, Lütfi:
Demokrat Hacı Bektaş ve Mustafa Kemal. In: KALELİ, Lütfi: Alevi-Sünni İnancında Mevlâna-Yunus ve
Hacı Bektaş Gerçeği (1994): 117-123 sowie ŞENER, Cemal: Alevilik Olayı (1989): 135-140.
113
ZELYUT, Rıza: Cumhuriyeti Selamlama. In: İslami İlimler Araştırma Vakfı (Hrsg.) Türkiye’de
Aleviler. Bektaşiler, Nusayriler (1999): 92-93. Die Armee unterdrückte 1938 die alevitische Identität durch
ein blutiges Massaker in Dersim, dem heutigen Tunceli. Historische Sicherheit darüber ist nicht leicht zu
erlangen, da die Behörden dieVeröffentlichung von Quellendokumenten bis auf den heutigen Tag
verhindern. Gleichwohl wurde und wird das Massaker von einer informierten Öffentlichkeit auf Grund von
Zeugenaussagen heftig diskutiert. Vgl. KAYA, Cemşid: İleriye Doğru Açılımın ilk Adımı Olarak Geriye
Açılım: Dersim Katliamı. In: DERSİMİ, Ali (Hrsg.): Dersim-Koçgiri Direnişleri, Alişer Efendi ve Zarife
Xatun (2010): 9-86; sowie BAYRAK, Mehmet: Dersim –Koçgiri (2010). Für weiterführende
Literaturangaben zu dem Massaker in Dersim siehe auch http://www.bianet.org/bianet/bianet/134312dersim-ayrintili-bilgi-icin-bkz .
Eine Mutter klagt in der dritten Strophe “des Soldatenlieds”, deren Sohn 1938 im Einsatz gegen Kurden in
Dersim gefallen ist, wie Ruhi Su in diesem Volkslieds andeutet. Siehe unten Kap. 2.6.1.
Zu erwähnen sind auch noch die Massaker an Aleviten in Kahramanmaraş (1978) und in Sivas (1993).
111
31
und ihre Offenheit für einen politischen Wandel. Es gibt viele Aussagen von Şeyh
Bedreddin bis zu Pir Sultan, die dem sozialistischen Gedankengut sehr nahe stehen. 114
Man kann geradezu von einer Entdeckung der Aleviten durch die politische Linke in den
60er Jahren sprechen. Ruhi Su sang aber bereits im Rundfunk schon in den 40er Jahren
alevitische Lieder. 115 Bei ihm war es die Sympathie mit den Armen und Unterdrückten,
die ihn zur Parteinahme für die Aleviten und zur einen oppositionellen Haltung
gegenüber dem Staat führte.
Die weltanschauliche Hinwendung zur alevitischen Musik gab Ruhi Sus Schaffen
eine elementare Bedeutung. Er erkannte nämlich, dass die alevitische Musik neben
religiösen auch weltliche Strömungen enthielt und dadurch das ganze Leben umfaßte. 116
Er sah in ihr eine moralische Kraft, welche die Gefühle der Menschen besonders prägnant
zum Ausdruck brachte. Vor allem war das Thema des Widerstands gegen alles Falsche,
Ungerechte und Böse in diesen Liedern für ihn ausschlaggebend. Der Aufstand gegen die
Obrigkeit, der Mut, den diese Menschen zeigten, inspirierten seine nicht immer kritiklose
Arbeit. Seine positive Einschätzung der alevitischen Kultur wirkt im allgemeinen Kontext
durchaus einleuchtend. Ruhi Su hat für sich den Alevitismus gefunden, aber er fasste ihn
mit einer Art von Bewunderung auf. Besonders schätzte er Pir Sultan, seinen Vorrang des
Widerstands, der Aufsässigkeit und Opposition. 117
Wegen der Bedeutung der alevitischen Kultur für Ruhi Su ist es notwendig, auf
ihre Musik einzugehen. 118 In dem Leben der Aleviten spielt sie eine wichtige Rolle. Die
Musik ist ein Bestandteil ihrer Gottesdienst. Die Saz hat dabei eine herausragende
Bedeutung, so dass die Aleviten dieses Instruments wie einen „Koran mit Saiten“ (Telli
Kuran) verehren. Das Instrument und die Aleviten sind untrennbar. Die bekannte
Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel, einem Mitglied des „Chors der Freunde“, am 27. Sept. 2010 in
İstanbul. Zu Şeyh Bedreddin und Pir Sultan Abdal siehe unten Kap. 9.4 und 9.5.6.
115
Siehe oben Kap. 2.5.
116
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Semahlar üzerine Ruhi Su ile bir konuşma,
Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 130-132.
117
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan, einem Mitglied des „Chors der Freunde“, am 27. Sept. 2010
in İstanbul. Aydoğan berichtet weiter, dass Ruhi Su auf die Frage eines Zuhörers „Wie können Sie so
herzlich alevitische Lieder singen, sind Sie Alevit? antwortete: „Ein Mensch kann als Alevit geboren und
doch kein Verständnis dieser Lieder haben. Ich bin vom Herzen Alevit und kann deshalb so aus dem
Herzen singen.“
118
Zu alevitischen Ritualen vgl. KEHL-BODROGI, Krisztina: „Was du auch suchst, such es in dir selbst“,
(2002): 16-18; KORKMAZ, Esat: Alevilikte Cem ve Oniki Hizmet, (2002); STOKES, Martin: Ritual,
Identity and the State: An Alevi (Shi’a) Cem Ceremony. In: Nationalism and minorities and diasporas
(1996), Stokes, ebd. 193, faßt zusammen: „ Ritual practice is focused in gatherings called cem, which take
place in private houses and not mosques, and which involve the resolution of disputes within the
community, prayers, gently ecstatic dancing in which men and women participate, and singing to the
accompaniment of the long- necked lute, the saz. They are famously secretive.“ ; KAPLAN, İsmail: Das
Alevitentum (2004); ÖZKIRIMLI, Atilla: Toplumsal Bir Başkaldırının İdeolojisi, Alevilik-Bektaşilik
(1990); KAPLAN, İsmail: Alevice-İnancımız ve Direncimiz (2009): 82-100 sowie ÖZKIRIMLI, Atilla:
Alevilik-Bektaşilik ve Edebiyatı (1985).
114
32
alevitische Sängerin Sabahat Akkiraz erzählt von der Heiligkeit der Saz und der auf ihr
gespielten Musik. Der letzte Wunsch ihres Großvaters an ihren Bruder sei gewesen, dass
er jedes Jahr am Todestag an sein Grab komme und Saz spiele. Eigentlich war das eine
seltsame Situation, aber ihr Bruder trat an das Grab und begann zu spielen. War es
möglich, dass der Großvater zuhörte? Wenn in Malatya eine Beerdigung stattfindet, wird
heute noch Saz gespielt. Für Aleviten ist der Gesang des Âşık ein Hinweis auf der
Göttlichkeit (dalīl al-ḥaqq) und das Wort Gottes (kalām Allāh). 119
„Die Sieben Heiligen Dichter“ (Yedi Ulu Ozan) haben der alevitischen Lehre ihre
besondere Prägung gegeben. 120 Wesentlich ist die Siebenzahl, die Namen der Dichter
scheinen austauschbar gewesen zu sein. Im Folgenden wird der Umfang dokumentiert, in
dem Ruhi Su sich mit ihnen befasst hat. Er arbeitete mit einer Schallplatte über Pir Sultan
Abdal, welche diesen Dichter in seiner Ganzheit vorstellt, und mit weiteren neunzehn
AKKİRAZ, Sabahat: İnsanlığın geldiği son nokta: Alevilik, In: www.sonsayfa.com/Haberler/
Roportaj/insanligin-geldigi-son-nokta-Alevilik.htm. Abgerufen am 21. Aug. 2010. Am Grabe Ruhi Sus hat
sich das Sazspielen und Singen an seinem Todestag zu einer Tradition entwickelt. So haben am 20
September 2010 seine ehemaligen Schüler, die Künstler der neuen Generation, die seine Kunst
weiterführen und die Vertreter der oppositionellen Musik wie die Grup Yorum, an seinem Grabe in
Zincirlikuyu Saz gespielt und gesungen. Vgl. ÇELİK, Emir: Ruhi Su, Şarkılarıyla Anıldı, Bianet Bağımsız
İletişim Ağı (20. Sept. 2010). In: http://bianet.org/bianet/siyaset/124913. Abgerufen 12. Dez. 2010.
120
In chronologischer Abfolge werden die „Sieben Heiligen Dichter“ hier genannt:
Nesimi (1369-1417), der Hallacı Mansurs Gedanken von der Göttlichkeit des Menschen weiter führte. Er
vertrat die Ansichten Fazlullah Hurufis, welche die „Hurufi-Lehre“, will sagen: den geheimen Sinn der
Buchstaben im Koran, vertrat. Er wurde in Aleppo enthäutet. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Seyyid Nesimi. In:
Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 1 (1998): 249-396.
Şah Hatayi (1487-1524), geboren im iranischen Aserbaidschan und auch bekannt als Şah İsmail, ist der
meistbesungene Dichter in den anatolischen Cem-Ritualen. 1502 gründete er als Sultan die alevitische
Dynastie der Safawiden. Im Jahre 1514 wurde er durch den osmanischen Sultan Selim in der Schlacht bei
Çaldran besiegt. Şah Hatayi starb 1524 im Alter von 37 Jahren. Seine Grabstätte befindet sich in Erdebil.
Seine Gedichte werden bis heute als die schönsten Gedichte der alevitischen Bektaşi Literatur angesehen.
Vgl. ÖZMEN, İsmail: Hatayi. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 117-194.
Fuzuli (1504-1556), in Kirkuk, im heutigen Irak geboren, schrieb seine Gedichte auf Türkisch, Arabisch
und Persisch. Er hat seinen Platz in der Weltliteratur gefunden. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er
in KarbalÁ und Bagdat. In KarbalÁ betreute er eine Zeit lang die Grabstätte Hüseyin, des Enkels
Mohammeds. Sein bedeutendstes Werk ist „Der Garten der Glücklichen“ (ḥadiqat-ü Su‘ada). Er ist der
einzige alevitische Dichter der osmanischen Hofdichtung. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Fuzuli. In: Alevi-Bektaşi
Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 357-419.
Yemini (15./16. Jahrhundert), der an der Donau lebte, glaubte, wie Nesimi, an die Kraft der Buchstaben im
Koran (Hurufilik). Vgl. ÖZMEN, İsmail: Yemini. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 33-81.
Virâni (16. Jahrhundert), der ein Bektaşi Volksdichter war, gehörte ebenfalls der Hurufiyesekte an. Er war
der Überzeugung, dass alles, was im Kosmos zu sehen ist, eine Erscheinung Alis sei. Vgl. ÖZMEN, İsmail:
Virâni. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 429-467.
Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert), in Sivas geboren, war der wohl bekannteste und bedeutendste
Volkssänger der Aleviten. Er führte ein sagenumworbenes Leben. Aus seinen Gedichten geht hervor, dass
Pir Sultan in der Zeit des Şah Tahmasb, eines Sohns des Şah İsmails, gelebt hat. Er kämpfte gegen die
osmanische Macht in Anatolien, welche die Aleviten unterdrückte, und wurde von ihr gehängt.
Vgl. ÖZMEN, İsmail: Serezli Pir Sultan Abdal. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 195-288.
Kul Himmet (Zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts), geboren in Tokat, folgte dem Weg Pir Sultan Abdals.
Eine Cem-Zeremonie ohne seine Gedichte ist undenkbar. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Kul Himmet. In: AleviBektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 289-322.
119
33
seiner Texte. 121 Pir Sultan erhält im Werk Ruhi Sus eine Sonderstellung. Şah Hatayi folgt
mit drei Liedern, sodann Virani mit einem Lied und der heilige Nesimi ebenfalls mit
einem (wenn denn diese Person und nicht eine zeitgenössische mit gleichem Namen
gemeint ist).
Die Aleviten preisen die Sieben Volksdichter über alles. Sie begreifen die
Sprache Gottes mit ihrer Hilfe. Die Lieder der „Sieben Heiligen“ werden von Generation
zu Generation weitergetragen, weil sie ihre moralischen Regeln, die Liebe zu Gott, den
Menschen und das Wissen zum Erreichen der Vollkommenheit (sır al-ḥaqīqah / al-insān
al-kāmil) zum Ausdruck bringen. 122
Das Volk konnte in den Türküs sagen, was es im wahren Leben nicht sagen
durfte. Es geht jedoch nicht nur um oppositionellen Charakter dieser Musik, denn sie hat
seit je her eine zentrale Bedeutung für das soziale Gefüge der Aleviten. Sie umfasst nicht
nur religiöse Themen, sondern alle Probleme des Alltags. Die Musik baut die Aleviten
moralisch auf, entwickelt sie philosophisch weiter, trägt zur persönlichen Entfaltung bei
und fördert ihre gesellschaftliche Organisation.
Hatayi und Pir Sultan Abdal, zwei der „Sieben Heiligen Dichter“, kommen bei
Ruhi Su zu Wort:
„Die Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief“
Die Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief, sagten,
„Gedankenloser, öffne die Augen und stehe auf,
Bleibe kein Verirrter auf dieser Welt,
Geh’ auf eine Wahrheit zu, lieber Freund“! sagten sie.
Ich bin aufgewacht und machte die Augen auf,
Hörte zu, sah sie und drehte mein Gesicht zu ihnen.
Mein schwarzes Schicksal wurde erhellt.
„Lauf’ jetzt, hab’ keine Angst, lieber Freund“! sagten sie.
Hatayi / Pir Sultan
Siehe unten Kap. 9.4 und AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000).
ATA, Kelime: Osmanlı’nın şeytanı, Cumhuriyet döneminin gericilik simgesi, Saz. Siehe
.www.uzumbaba.com/alevi/kelime ata.htm, abgerufen am 21.08.2010.
121
122
34
„Uyurken Üstüme Gelen Yoldaşlar“
Uyurken üstüme gelen yoldaşlar,
„Gafil, aç gözünü, uyan“ dediler.
„Serseri kalma bu cihan içinde,
Yürü bir gerçeğe ey can” dediler.
Uyandım uykudan, açtım gözümü,
Kulak verdim, gördüm, döndüm yüzümü,
Bir aydınlık aldı kara yazımı,
„Yürü şimdi, korkma ey can“ dediler.
Hatayi / Pir Sultan
Selbstverständlich wird auch zeitgenössischen Volkssängern große Bedeutung
zugemessen, so den vier Aşıks Veysel (1894-1973), Ali İzzet (1902-1981), Kul Hasan
(1933-2010), und Mahzuni (1940-2002), welche eine besondere Rolle bei den Aleviten
spielten.
Die alevitische Musik ist nicht lediglich eine Musik für das Ohr, sondern auch
für die Seele. Aşık bedeutet „Der vorbehaltlos Liebende“ und ist eine Bezeichnung, die
die Beziehung des Musikers zu Gott zum Ausdruck bringt. Die Worte des Aşıks werden
als zum Wesen des Korans gehörig betrachtet. 123
Ruhi Sus Hinwendung zu dieser Musik lässt dennoch eine Spannung bestehen:
Für die Aleviten galt ihre Musik als ein theologisches Ausdrucksform, während Ruhi Su,
als weltlich denkender Musiker, dieser theologischen Prägung nicht folgte, obwohl er
eine große Achtung vor dieser Religionsgemeinschaft hatte. 124 Er wollte mit den
alevitischen Aşıks das Leid, das sie durch die Staatsmacht erleiden mussten oder müssen,
teilen.
Er
strebte
nach
Frieden,
Gerechtigkeit
und
Brüderlichkeit.
In
der
Widerstandsmusik der ganzen Welt fand er diese Forderungen, in der Türkei jedoch in
der alevitischen Musik. 125
Ruhi Su spielte bei den Aleviten eine wichtige Rolle. Künstler alevitischen
Glaubens traten als Solisten oder mit ihm auf. Sie akzeptierten ihn als einen der ihren,
schätzten ihn und sahen ihn fast wie einen Heiligen an. Ein Alevit besuchte ihn auf
seinem Krankenbett und verabschiedete sich von ihm mit den Worten „ Möge Pir Sultan
Vgl. ÖZDEMİR, Ulaş: Aşık’ın Sözü, Kur’an’ın Özü, Le verbe de l'aşık est l'essence du Coran. Les
chants d'Orphée. Musique & poésie. La pensée de midi. 28. Actes Sud. (2009).
124
Siehe unten Kap. 6.7.5 und 6.7.6.
125
Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran am 23. September 2010 in İstanbul.
123
35
dein Helfer sein,“ statt des unter Muslimen üblichen „Möge Allah dein Helfer sein.“ 126
Als Ruhi Su vor seiner Beerdigung vom Imam gewaschen wurde, wollten einige
Menschen seine Füße küssen. Der Imam bekannte später, er habe so etwas noch nie
erlebt. 127
Nicht von ungefähr wendet sich deshalb Ruhi Su dieser Musik zu. Er selbst
bekräftigt sein überaus enges Verhältnis zur Saz und zum Volk:
Ich habe meine künstlerische Identität und die Verbundenheit mit dem Volk in
den von der Saz begleiteten Türküs gefunden. 128
Dennoch sieht Ruhi Su sich nicht in der Tradition der Saz-Meister Anatoliens,
welche die Saz im Gleichschritt mit der Melodie benutzen. Er selbst hat, nach eigenen
Worten, die Saz als ergänzendes Element genommen, das ihm die Mehrstimmigkeit
ermöglichte. Die eigentliche Arbeit macht er mit seiner Stimme; die Saz begleitet ihn. Sie
ist bei ihm ein Instrument, welches die Melodie manchmal hören lässt, manchmal
weniger zu hören ist und manchmal auch nur einige Akkorde anklingen lässt. Sein
eigentliches Ziel ist nicht, die Saz schön zu spielen. Es gibt viele Virtuosen, die besser
Saz spielten als er. Er will hauptsächlich mit seiner Stimme Türküs singen, welche
Technik ausschließt, ein Instrument wie die Klarinette zu spielen. Ruhi Su betont
mehrfach, dass die dreisaitige Saz beim Vortrag der Türküs gegenüber anderen
Instrumenten die reifere Fähigkeit der Begleitung hat. 129 Es gibt Künstler, die ihre
Geschicklichkeit unter Beweis stellen möchten, indem sie die Saz virtuos spielen. Ruhi
Su wollte die Saz nie so spielen. Hüseyin Erdem zitiert ihn wie folgt: „Die Saz ist der
Weggefährte meiner Stimme und steht nicht im Wettstreit mit ihr.“ 130 So wie Ruhi Su mit
seiner Stimme die Höhe der Klarheit und Schlichtheit erreichte, so erreichte er auch beim
Sazspielen genügend Geschicklichkeit, um mit der Saz seine Stimme am besten zu
begleiten.
Es ist richtig, dass mit Beginn der neuen türkischen Republik und der
„Volkstümlichkeit“ (Halkçılık) als einem Grundpfeiler des kemalistischen Denkens die
alevitische Volksdichtung und Volksmusik neues Leben erhielt. Dies geschah ohne dass
die offiziellen Medien erwähnten, es handele sich um alevitische Musik. Ruhi Su war jder
Nach einer e- mail von İbrahim Yüksel an den Verfasser vom 28. Okt. 2010.
EKMEKÇİ, Mustafa: Bir Düş Gibi, Cumhuriyet (25. Sept. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 172-173.
128
SU, Ruhi im Gespräch mit HIZLAN, Doğan: Çoksesliliğe Götüren Her Çabayı Saygı ile Karşılıyorum.
Cumhuriyet (28. Apr. 1979) In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 139.
129
SU, Ruhi: Ezgili Yürek 89-91, 147, 198. Die Wichtigkeit seine Argumente zeigt er auch daran, dass er
sie wiederholt vorbringt.
130
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
126
127
36
erste, der, freilich nur in den 40er Jahren, in den offiziellen Medien die alevitische Musik,
welche über Jahrhunderte mündlich tradiert worden war, an die Öffentlichkeit brachte. 131
Obwohl er deswegen aus dem Radio entlassen wurde, konnte man ihn nicht hindern,
alevitische Lieder zu singen. Er widmete zwei von seinen elf Schallplatten, Pir Sultan
Abdal und Samahs (Semahlar), ganz alevitischen Liedern.
131
Vgl. SU, Sıdıka, Beiheft zur CD Sultan Suyu, İstanbul 1990.
37
2.6
Die Zeit der Haft Ruhi Sus
2.6.1
Der historische Hintergrund der Verhaftungswelle der Kommunistischen Partei der
Türkei im Jahre 1951
Das Mehrparteiensystem begann in der türkischen Republik im Jahre 1946. 132 Am
21. Juni 1946 fanden die Wahlen für das Parlament statt. Nach dem Mehrheitssystem und
einer zwar offenen Stimmenabgabe, aber dennoch geheimen Auszählung der Stimmen
gewann die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) die Wahlen.
Innenpolitisch bedeutete ihr Sieg eine Abwendung von einem volksnahen Programm.
Symptomatisch dafür war die beginnende Schließung der Dorfinstitute. Die
Demokratische Partei (Demokrat Partisi, DP) gewann die Wahlen vom 14. Mai 1950,
nach einem geänderten Modus: dem Mehrheitssystem, geheimer Wahl und offener
Auszählung. Das Land wandte sich weiterhin nach rechts. Am 25. Juni 1950 brach der
Koreakrieg aus, nachdem Nordkorea mit Unterstützung der Sowjetunion Südkorea
angegriffen hatte. Der Weltsicherheitsrat entschied sich in einer Versammlung, welcher
die Sowjetunion fern blieb, unter dem Druck der USA für den Krieg gegen Nordkorea
und rief alle Mitglieder zur Unterstützung auf. Die Regierung Menderes beteiligte die
Türkei als erstes Land nach den USA an diesem Krieg. Unter der Führung der USA
schickte die UNO Soldaten nach Südkorea, die Türkei entsandte 4500 Soldaten. 133 Die
Organisation Der Verein der Friedensliebenden (Barışseverler Cemiyeti) protestierte
vehement. Dieser Verein, zu dessen Gründern Intellektuelle wie Behice Boran, 134 Adnan
Cemgil, Vahdettin Barut, Osman Fuat Toprakoğlu, Reşat Sevinçsoy, Nevzat Kemal
Özmeriç und Muvakkar Güran gehörten, wies die Abgeordneten des Parlaments darauf
132
Vgl. SHAW, Stanford J: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II ( 1978): 402-403;
ZÜRCHER, Erik J.: Turkey A Modern History (1997): 215-228 sowie ADANIR, Fikret: Geschichte der
Republik Türkei (1995): 77-80.
133
Vgl. GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 80-86.
134
Behice Boran (1910-1987) war eine bekannte und kämpferische Politikerin und Soziologin. Sie war die
letzte Vorsitzende der türkischen Arbeiterpartei (TİP). Nach ihrer Promotion an der Universität Michigan
kehrte sie 1939 in die Türkei zurück und wurde Dozentin für Soziologie an der Fakultät für Sprache,
Geschichte und Geographie an der Universität Ankara. Gleichzeitig arbeitete sie mit an den Zeitschriften
Yurt ve Dünya und Adımlar. Sie wurde, wie oben erwähnt, unter der Beschuldigung kommunistischer
Gesinnung im Jahre 1948 aus dem Amt entlassen. Als Der Verein der Friedensliebenden (Barışseverler
Cemiyeti), dessen Vorsitzende sie war, 1950 eine Kritik an der Entsendung türkischer Soldaten nach Korea
veröffentlichte, wurde sie zu 15 Monaten Haft verurteilt. Sie wurde im Jahre 1962 Mitglied der türkischen
Arbeiterpartei (TİP) und bei der Wahl von 1965 Abgeordnete von Urfa. Sie vertrat die Türkei im
Europäischen Parlament. Während des Militärputsches vom 12. März 1971 wurde sie verhaftet und ihre
Partei verboten. Nach dem 12. September 1980 ging sie ins Exil nach Belgien, wo sie auch 1987 starb. Vgl.
MUMCU, Uğur: Bir Uzun Yürüyüş (1988): 131-134; URGAN, Mina: Bir Dinozorun Anıları (1998): 215220; BAYINDIR, Güzella: Akıntıya Karşı-Behice Boran (2010) sowie KOÇ, Emel: Behice (2010)
38
hin, dass die Regierung ohne ihren Beschluss handele. Dieses Vorgehen der Regierung
Menderes sei nicht legitim. Der Verein informierte mit einem Flugblatt die Öffentlichkeit
in İstanbul und protestierte nochmals. 135 Darauf nahm die Polizei Behice Boran, den
Vorstand des Vereins und sogar den Besitzer der Druckerei, der das Flugblatt gedruckt
hatte, fest. Die Anklage lautete: Kritik an dem Beschluss der Regierung, Schwächung des
nationalen Durchhaltevermögens und Veröffentlichung eines Flugblatts, um das Militär
zur Revolte anzutreiben. Der Vorstand wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und
neun Monaten verurteilt. Nach einer Revision wurde die Strafe auf insgesamt fünfzehn
Monate reduziert. 136
Im Jahre 1951 begann in der Türkei, ausgehend von den Großstädten İstanbul,
Ankara und İzmir, eine Reihe von Verhaftungen, die in die türkische Geschichte als 51erVerhaftungen von Mitgliedern der Türkischen Kommunistischen Partei (Türkiye
Komünist Partisi 51 Tevkifatı) eingingen. Obwohl es nur einige hundert Kommunisten in
der Türkei gab, spielte die Regierung die angebliche kommunistische Gefahr hoch, um
die Gunst des Westens zu gewinnen. Im Zuge des Kalten Krieges wollte die türkische
Regierung wegen der Aufnahme in die NATO ihren Antikommunismus und ihre
Annäherung an die USA demonstrieren. 137 1952 gehörte auch Ruhi Su zu den 184 als
Kommunisten festgenommenen Personen. 138
135
Für die Zusammenfassung des Antrags an das türkische Parlament und für den vollständigen Text des
Flugblatts an die Öffentlichkeit siehe GÖRSEV, G.Doğan: Türkiye’de Barış Savaşımı’nın Küçük Seyir
Defteri: (1986): 7-9.
136
Vgl. Turnusol vom 25. Juli 2010, 60. Yılında Barışseverler Bildirisi. In: http://www.turnusol.biz ;
MUMCU, Uğur: Bir Uzun Yürüyüş (1988): 34-45; ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi
Partisi 1961-1971 (2002): 485 sowie ÖYMEN, Altan: Değişim Yılları (2004): 535-557.
137
Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 41-42.
138
In dem Dokument, „Esbabı Mucibeli Hüküm“ (Ankara Garnizon Komutanlığı 2 nolu Askeri Mahkemesi
1954/33 sayılı karar), das den Gerichtsbeschluß begründet, ist die Rede von 184 Menschen. Andere
Quellen nennen andere Zahlen.
39
2.6.2
Die Linken in der Türkei und Ruhi Su
Von der ersten türkischen Linkspartei, der Osmanischen Sozialistischen Partei,
(Osmanlı Sosyalist Fırkası, OSF) von 1910 bis zu der von 13 Gewerkschaftsführern 1961
gegründeten Arbeiterpartei der Türkei (Türkiye İşçi Partisi, TİP) waren alle
Linksparteien, so auch die Kommunistische Partei der Türkei (Türkiye Komünist
Partisi,TKP), gegründet 1920, Parteien der Intellektuellen. Die Intellektuellen standen im
Vordergrund, die Parteien hatten eigentlich den Charakter einer Ideenbörse. 139 Eine
Arbeiterklasse war noch nicht entwickelt und mit den Bauern gab es noch keinen
handfesten Kontakt. 140 Das Land hatte im Vergleich zu den europäischen Staaten keine
entwickelte Industrie. Die Parteien führten ihre Arbeiten teils legal und teils illegal durch,
je nachdem wie der Staat zur betreffenden Zeit politisch orientiert war. Ihre Aktivitäten
gingen oft nicht über das illegale Drucken und Verteilen von Flugblättern und
Zeitschriften hinaus. Gleichwohl blieben die Linken nicht frei von schweren
Repressalien. Die politische Ausrichtung des Landes wechselte stets zwischen der
Annäherung an die Sowjetunion und der Annäherung an den Westen. So kam es, dass die
Intellektuellen ihrer Arbeit zeitweise nachgehen konnten und dennoch den Großteil der
Zeit eingesperrt wurden. Dieser Zustand ist treffend so beschrieben worden, dass nämlich
die Geschichte der Linken in der Türkei vor der TİP die Geschichte von Verhaftungen
sei. 141
Die Geschichte der Linken in der Türkei von 1920 bis in die 60er-Jahre ist die
Geschichte der TKP. Von der TKP, die als älteste Partei und als einzige Vertreter der
linken Bewegung von 1920 bis 1950 in der Türkei galt, hörte man 1960 kaum etwas.
Nach den 1951er-Verhaftungen spaltete sich die Partei auf drei Gruppen: Die erste
Gruppe bildet sich um Reşat Fuat Baraner (1900-1968) - Mihri Belli (1916-2011); die
zweite Gruppe um Zeki Baştımar (1905-1973) und die dritte Gruppe um Dr. Hikmet
Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 43-45.
Vgl. TİMUR, Taner: Türk Devrimi ve Sonrası 1919-1946 (1971): 139. In ÜNSAL, Artun: Umuttan
Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 45.“
141
Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 43-55. Der
Politikwissenschaftler Sadun Aren stimmt Ünsal zu, dass die Partei nicht übermäßig aktiv geworden sei. Er
hebt jedoch hervor, dass individuelle Mitglieder schweren Verfolgungen bis zur Folter ausgesetzt waren.
Aus historische Sicht ist anzumerken, dass die Regierung zu ihrer Rechtfertigung das Schreckgespenst
einer übermächtigen Partei aufbaute, welche eine tödliche Gefahr für den Staat darstelle. Vgl. AREN,
Sadun: Puslu Camın Arkasında (2006): 61.
Zur Position der linken Intellektuellen in der Türkei vgl. KARPAT, Kemal: The Turkish Left, Journal of
contemporary history, 1, 2 (1966): 171-175. Er betont, dass für Nâzım Hikmet und seine Freunde das
Gefängnis eine prägende Kraft war. Er zitiert den Schriftsteller Kemal Tahir, dass die meisten seiner
Vorbilder Männer waren, die er im Gefängnis traf.
139
140
40
Kıvılcımlı (1902-1971). Diese Gruppen konnten am Anfang der 60er Jahren nur unter
dem Dach der TİP ihre Aktivitäten weiterführen. Auch die Bekanntschaft mit
sozialistischen Ideen und die Teilnahme an dem organisierten sozialistischen Kampf der
später als 68er bezeichneten Jugend findet man in dieser Phase. Die TİP und die
Federation des Clubs der Anschauung (Fikir Kulüpleri Federasyonu, FKF) dienten in
dieser Jahren als Anlaufstelle für viele linke Studenten. Bekannte Studentenführer wie
Deniz Gezmiş, Sinan Cemgil, Mahir Çayan, Doğu Perinçek oder İbrahim Kaypakkaya
waren Mitglieder dieser Organisationen. Die Entwicklungen in der Welt im Jahre 1968
beeinflusste auch die fortschrittliche-revolutionäre Jugend in der Türkei. Nationale
Befreiungsbewegungen und Theorien über Partisanenkampf gewannen unter der Jugend
große Sympathie. 142
Die Verfassung von 1961 war diejenige, welche die meisten relativen Freiheiten
gewährleistete. 143 Die Arbeiterpartei der Türkei (TİP) wurde, wie erwähnt, am 13.
Februar 1961 als Reaktion auf diese Verfassung von Gewerkschaftlern gegründet. Sie
entstand in der relativ demokratischen Zeit dieser Verfassung sowie in der Phase des
Kalten Krieges, als das Eis zwischen den USA und der Sowjetunion zu schmelzen
begann. In der Zeit während die in die Passivität getribene und nationalistisch, prosowjetisch oder sozialistisch denkende Intellektuellen die Gründung einer neuen Partei
forderten, trat die TİP in das politische Leben der Türkei ein. Am Anfang swankte sie.
Sie verstand in kurze Zeit, dass sie die Unterstützung der Intellektuellen brauchte. So
öffnete TİP ihre Tore für Intellektuelle und junge Menschen. Mehmet Ali Aybar (19081995) wurde im Februar 1962 ihr erster Vorsitzender. Die TİP wurde lebendig und
kräftig durch Mehmet Ali Aybar. Mit ihm traten weitere Intellektuelle wie Behice Boran
(1919-1987), Sadun Aren (1922-2008), Nihat Sargın (1929-2010) in die Partei ein. 144
Vgl. SİNAN, Mehmet: Marksizm ve Türk Solunun İdeolijik Geleneği. In: www.marksist.com/
mehmet_sinan/marksizm_ve turk_solonun_ideolojik_gelenegi.htm. Abgerufen am 17. Aug. 2010.
Ein Teil des Kap. 2.6.2 „Linken in der Türkei“ basiert hauptsächlich auf diesem Artikel.
1965 waren die Studenten in den mit dem Staat kooperierenden offiziellen Vereinigungen, wie der
„Nationalen türkischen Studentenvereinigung“ (Milli Türk Talebe Birliği, MTTB), der „Türkischen
nationalen Studentenfederation“ (Türk Milli Talebe Federasyonu, TMTF) und der „Türkischen nationalen
Jugendorganisation“ (Türk Mili Gençlik Teşkilatı, TMGT) organisiert. Vgl. oben gleiche Quelle wie in
Fußnote 142.
Zu der Linken in der Türkei vgl. auch SAMİM, Ahmet: The Tragedy of the Turkish Left, New Left Review
(1981): 82, „The great majority of thinkers, writers and artists are leftists, and a considerable number of
them claim to be Marxists… at the same time there is a definite distance between socialist intellectuals and
socialist political movements.“
143
Zu der Verfassung 1961 vgl. KARPAT, Kemal: The Turkish Left, Journal of contemporary history, 1, 2
(1966): 183-184. Er führt aus, dass diese Verfassung die Türkei definiere: “as a national, secular, and social
state.”
144
Zitiert nach ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002):1-3.
142
41
In den Wahlen von 1965 erlangte TİP 15 Sitze im Parlament. Zwei
Hauptrichtungen kristallisierten sich. Die eine folgte der von Mehmet Ali Aybar
unterstützten Idee, mit Hilfe von Demokratie und Wahlen an die Macht zu kommen. 145
Die andere unterstützte die von Doğan Avcıoğlu vertretene Vorstellung, einen
nationalistischen und kemalistischen Machtkampf zu beginnen. Seine Ideen stammten
aus den 30er Jahren, in denen im Umkreis der „Kadro Zeitschrift“ ein revolutionärnationalistischer Impuls gegen den Kapitalismus und den Kommunismus entwickelt
wurde. 146 Das Lager um Avcıoğlu hoffte, mit Unterstützung des Militärs an sein Ziel zu
kommen. Doğan Avcıoğlu plädierte instrumentalistisch, indem er für einen schnellen
ökonomischen Aufschwung einen durchgeplanten Etatismus vorsah. 147 Als Medium
setzte er die von ihm gegründete Zeitschrift „Yön“ ein. 148 Viele Intellektuelle wie Turan
Güneş, Abdi İpekçi, Sabahattin Eyuboğlu, İdris Küçükömer, Mümtaz Soysal und Cemal
145
Mehmet Ali Aybar stand in einem engen Freundschaftsverhältnis mit Sabahattin Eyüboğlu. Eyuboğlu
prägte den Begriff “Freundlicher Sozialismus” (Güleryüzlü Sosyalizm) und Aybar führte ihn in die
türkische linke Literatur ein. Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln.
146
Zur Kadro-Bewegung wird zitiert AKSOY, Nazan: Vom Osmanischen Reich zu Republik: Yakup Kadri
Karaosmanoğlu. In: DURZAK, Manfred-KURUYAZICI, Nilüfer (Hrsg.): Interkulturelle BegegnungenFestschrift für Şara Sayın (2004): 193-204. „Die drei Jahre lang monatlich erscheinende Kadro-Zeitschrift
hatte sich zum Ziel gesetzt, die türkische Reformideologie zu systematisieren. Ihre Gründer und
Publizierer, zu denen Yakup Kadri Karaosmanoğlu, Şevket Süreyya Aydemir, Vedat Nedim Tör, Burhan
Asaf Belge und İsmail Hüsrev Tökin, gehörten, bemühten sich, der türkischen Gesellschaft die Reformen
bzw. das Modernisierungsprojekt unter der Führung eines ausgewählten „Kaders” von oben herab
verständlich zu machen. Die Kadro-Bewegung war eine Vereinigung von Gebildeten der Oberschicht. Sie
ging davon aus, dass der Staat unter Führung eines bewussten, intelligenten „Kaders” die Bildung einer
modernen, nationalen und klassenlosen Gesellschaft verwirklichen könnte.
Zu der kemalistischen Ideologie, die Türkei besitze eine klassenlose Gesellschaft und zu einer scharfen
Kritik an dieser Position vgl. GÖKMEN Özgür: The State of Labour in Turkey, 1919-1938,
Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 33 (2005): 129-130. Zur angeblich klassenlosen
Gesellschaft vgl. auch AHMAD, Feroz: The Development of Working-Class Consciousness in Turkey. In:
Workers and Working Classes in the Middle East (1994): 140. Er zitiert Şefik Hüsnü, „there is no feeling of
class, no understandig of class, and no class friendships“. Nach Ahmad, ebd. 136, soll selbst Mustafa
Kemal gesagt haben, „ We have no working class. As for the peasant, he carries very little weight.“
Zu Kadro siehe auch TEKELİ, İlhan –İLKİN, Selim: Bir Cumhuriyet öyküsü: Kadrocuları ve Kadro'yu
anlamak (2003); YANARDAĞ, Merdan: Kadro Hareketi (2012): NAS, Alpaslan: Kadro ve Kadrocular:
Marksizmden
Kemalizme,
Birikim
(21.
Juli
2008).
In:
www.birikimdergisi.com
/birikim/makale.aspx?mid=444. Abgerufen am 10. Mai. 2013 sowie AYDEMİR, Şevket Süreyya: İnkılâp
ve Kadro (1990).
147
ALKAN, Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat: Mete Tunçay’a Armağan, (2007): 40.
Zu der nationalistischen und kemalistischen Ideologie vgl. TAŞKIN, Yüksel: From left populismus to
conservative republicanism: Left Kemalists’ regression from modernist optimism, New Perspectives on
Turkey 37 (2007): 177-201. Er charakterisiert, ebd. 180 den Kemalismus “ as an essentially rightist
ideology, due to its authoritarianism containing elitist and atavistic elements and its nationalism with
ethnicist- culturalist connotations.” Vgl weiterhin ebd. 182 zur Grundlegung eines solchen konservativen
Republikanismus und ebd. 184-185 zu der Emphase auf die Einzigartigkeit der türkischen politischen
Erfahrung, wie sie die Anhänger Atatürks propagieren.
148
AKŞİN, Sina: Sol Akımlar: Sosyalizm. In: Yakınçağ Türkiye Tarihi 2, (2003): 287-289.
Zu Yön vgl. ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 2.
42
Reşit Eyuboğlu unterstützten das Programm. 149 „Yön“ wurde auch bekannt, weil sie das
Verbot der Veröffentlichung der Gedichte Nâzım Hikmets missachtete. 150
Bis zum Jahr 1965 gab es keinerlei politischen Kampf zwischen der „Yön“ und
der TİP. Durch ihr Präsens im Parlament stand TİP im Fokus aller linken Organisationen.
Ihr Vorsitzender Mehmet Ali Aybar begann von Sozialismus und der sozialistischen
Machtübernahme durch Wahlen zu sprechen. Über die Begriffe Führung und Macht
setzte nunmehr eine große Diskussion mit „Yön“ ein. TİP sah sich selbst dabei als einzige
sozialistische politische Kraft. Und, so ihre Haltung, die Arbeiterklasse sei die erste Kraft
im antiimperialistischen Kampf. „Yön“ widersprach; sie wollte eine Bürokratie aufbauen
mit dem Militär als Fundament. Dass die Arbeiter im Kampf gegen den Imperialismus in
der Wertung vor dem Militär stehen sollten, war für sie undenkbar. Die Yön-Vertreter
standen mit ihren nationalkemalistischen Ansichten nicht alleine. Dem Herausgeber
dieser
Zeitschrift,
Doğan
Avcıoğlu,
kam,
wenn
auch
nicht
mit
absoluter
Übereinstimmung, Mihri Belli zur Unterstützung. Mihri Belli und Doğan Avcıoğlu
begannen nun, TİP zu attackieren. Sie behaupteten, TİP würde sich den Grundsätzen der
kemalistischen Bewegung widersetzen. 151
Wer von beiden sollte die Macht erhalten? TİP, die sich als Sprachrohr der
Bauern, Arbeiter, Jugend und Intellektuellen sah, oder „Yön“, die ihre Kraft mit der des
Militärs bündeln wollte?
Alle Streitfragen hingen davon ab, in welcher politisch-sozialen Lage und in
welcher Phase der Revolution sich das Land befand. Welche sozial-ökonomischen
Gegebenheiten herrschten vor? Besaß die Türkei ein Feudalsystem, ein halbfeudales
System oder einen Kapitalismus? Falls die Türkei an die imperialistischen Mächte
gebunden war, in ihr ein Feudalsystem vorherrschte und sie somit eine halbe Kolonie
war, dann musste der Kampf antiimperialistisch, antifeudal und national demokratisch
werden. Deshalb muss
in ihren Augen die bevorstehende Revolution „Nationale
Demokratische Revolution“ (Milli Demokratik Devrim, MDD) heißen. Die Gruppe um
Mihri Belli vertrat diese Gedanken, welche kaum andere als diejenigen der „Yön“ waren.
Vgl. GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 320.
Das seit 1938 geltende Verbot der Gedichte Nâzım Hikmets, wurde erst 1965 durch die YönVeröffentlichung durchbrochen. Vgl. ÇİÇEK, Hikmet: Yön Dergisi 50 Yaşında, Aydınlık (19. Dez. 2011).
In:http://www.aydinlikgazete.com/yazarlar/hkmet-ccek/6633-hkmet-ccek-yoen-dergs-50-yainda.html.
Abgerufen am 10. Mai 2013. Vgl. weiter KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet (2002): 33-37.
151
Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142. Der Streit, der zwischen der Gruppe Zeki Baştımars und
der Gruppe Mihri Bellis von der Zentralkomitee im Jahre 1951 im Gefängnis begann, ging in den 60er
Jahren in der TİP weiter. TİP sah man als gleich mit der TKP an. Gegen die Gruppe von Behice BoranSadun Aren-Nihat Sargın zu sein, galt gegen Zeki Baştımar, den Generalsekretär der TKP zu sein. Vgl.
oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.
149
150
43
Für TİP war das Land weder feudal noch eine Halbkolonie. Für sie war der Kapitalismus
der Motor der Produktion, nicht der Feudalismus. Weiterhin behauptete sie, die
herrschende Klasse sei die lokale Bourgeoisie. Die ausländischen Geldgeber hätten das
Land nicht überfallen, sie seien auf Wunsch der einheimischen Bourgeoisie in das Land
gekommen und hätten ihre Produktionen aufgebaut. Damit gebe es, entgegen der Ansicht
von „Yön“ und Mihri Belli, auch keine nationale denkende Bourgeoisie, sondern nur eine
kooperierende. Eben deswegen ist die bevorstehende Revolution nicht MDD, sondern die
„Sozialistische Revolution (Sosyalist Devrim, SD) zu nennen. Diese These wurde in der
TİP besonders von der Gruppe Behice Boran- Sadun Aren-Nihat Sargın vertreten. Nach
dem im 1966 stattgefundenen Zweiten Kongress der TİP wurde die als „Demokratischen
Revolutionäre“ bekannte Gruppe um Reşat Fuat Baraner und Mihri Belli von der Partei
ausgeschlossen. Inzwischen stellte auch die Zeitschrift „YÖN“ ihre Veröffentlichung ein.
Deswegen brachten 1967 die „Demokratischen Revolutionäre“ die Zeitschrift „Türk
Solu“ heraus, um außerhalb der TİP eine Plattform zu haben. Am Anfang wurde „Türk
Solu“ auch von der dritten Gruppe um Dr. Hikmet Kıvılcımlı unterstützt. Diese stand
aufgrund
ihrer theoretischen
Begründung
der MDD nahe und
nannte sich
„Demokratische Volksrevolution“ (Demokratik Halk Devrimi, DHD). Avcıoğlu gab
später, im Jahr 1969, die Wochenzeitschrift „Devrim“ heraus. Er hielt an der Idee fest,
mit den kemalistischen Intellektuellen sowie der Generation der jungen Offiziere die
MDD zu erreichen. „Devrim“ musste nach dem Militärputsch vom 12. März 1971
eingestellt werden. 152 Auch die TİP wurde in diesem Jahr durch ein mehr politisches als
juristisches Urteil des Verfassungsgerichts verboten. 153
Der Einmarsch der sowjetischen Armee im Jahre 1968 in die Tschechoslowakei
ließ die Diskussion in der linken Bewegung auch in der Türkei entflammen. Nur Aybar
kritisierte die Besetzung der Tschechoslowakei. Weder die Gruppe um Mihri Belli noch
die Gruppe um Behice Boran-Sadun Aren protestierten. Die Gruppe um Boran-Aren
trennte sich nach diesem Ereignis von Mehmet Ali Aybar, mit dem sie bis 1968 gegen die
Gruppe um MDD gekämpft hatte. 154
Die ideologische und theoretische Basis der linken politischen Organisationen, die
1960 gelegt wurde und bis zu dem Untergang des Kommunismus im Jahre 1990 bestand,
152
Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.
ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002):1. Die Anerkennung der
Kurden als Volk durch TİP war der Grund dieses Verbots.
154
Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.
153
44
festigte sich durch Diskussionen in den Jahren von 1961 bis 1971. In dieser Zeit hatte TİP
als die einzige legale linke Partei alle Sozialisten, Demokraten, Reformisten, Radikalen
und Kemalisten in sich gesammelt. Sie war die Front der Linken. 155
Wie nun reagierte Ruhi Su in diesem politischen Wirrwarr? Im Grunde blieb er
besonnen und bedacht und so gelang es ihm, sich den Streitereien zu entziehen. Er hielt
es für richtig, mit allen gemeinsam zu arbeiten und nahm jede Einladung an, gleich aus
welchem Lager sie kam. Die Worte İrfan Ertels aus dem „Chor der Freunde“ (Dostlar
Korosu) sind sehr aufschlussreich. Er habe in politischer Hinsicht über alles ohne Angst
mit Ruhi Su reden können. Niemals habe er über irgendjemanden Negatives gehört,
zumal sie in einer Zeit gelebt hätten, in der jeder über jeden schlecht redete, jeder jeden
hinterging. Ruhi Su ging bei seiner Kritik nicht indirekt vor; er war in dieser Hinsicht
sehr offen. Er sei ein Mann gewesen, der die Schlechtigkeiten nicht mitmachte, da er
großen Respekt vor Menschen hatte.
So nahm Ruhi Su die Einladung für einen Auftritt bei einer damals als Maoisten
bezeichneten Gruppe an. Ertel wunderte sich, da Ruhi Su als prosowjetisches Mitglied
der TKP galt. Ruhi Su antwortete:
Wir Künstler haben den Zusammenhalt als Aufgabe. Wir müssen darauf bedacht
sein, nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden und wir dürfen nicht
an die zehn bis fünfzehn Verknöcherten denken, sondern an die
anderen. 156
Er verlor niemals seine Kunst aus dem Auge und machte sich nicht zum
Sprachrohr der Partei und auch nicht vieler Splittergruppen. Dabei litt er offensichtlich
darunter, dass selbst unter seinen Weggefährten seine Kunst eine geringe Wertschätzung
erfuhr. Eine Anekdote Sadun Arens, eines ehemaligen Abgeordneten der TİP, zeigt ihr
Unverständnis. Im Jahr 1964 wurde ein Konzert organisiert, das die Kassen der TİP
füllen sollte. Auf dem Plakat wurde Esin Afşar, eine ehemalige Schülerin Ruhi Sus, an
erster Stelle und Ruhi Su an zweiter Stelle genannt. Dies verletzte ihn so sehr, dass er
nicht auftreten wollte. Sein Freund Sadun Aren sollte ihn besänftigen. Aren verteidigte
die Parteileitung; sie hoffe, mit der populären und jungen Sängerin Esin Afşar mehr
Eintrittskarten zu verkaufen. Ruhi Su möge die Zurückstellung doch entschuldigen,
zumal man einen großen Konzertsaal gemietet habe. Ruhi Su war noch tiefer enttäuscht:
Er sei es gewohnt, an Orten aufzutreten, an denen es um den Profit gehe. Aber hier
155
156
Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.
Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel vom 27. Sept. 2010 in İstanbul.
45
handele es sich um seine eigene Partei. 157 Wenn auch diese nur an ihren Profit denke,
wann werde dann endlich die Kunst als Kunst angesehen? 158
Ruhi Su war ein Mann, der seiner eigenen Linie treu blieb. Grundsätzlicher und
allgemeiner formuliert: er verhielt sich aufgrund dieser Linie jedem gegenüber gleich. Er
glaubte mit der Ruhe und Kraft eines Derwischs, 159 dass sich die Ängste und
Ungereimtheiten der Linken mit der Zeit legen würden.
Nach intensiven Gesprächen mit seinem Sohn Ilgın Su, seinen damaligen
Freunden und den ehemaligen Chormitgliedern ist dennoch nicht genau zu sagen, wie
und wann Ruhi Su zur kommunistischen Partei kam. Nach Yekebaş haben ihn Freunde
wie Aclan Sayılgan und Ulvi Uraz von der Oper zum Eintritt gebracht. 160 Von Sıdıka Su
hatte Karabey Aydoğan gehört, Nail Çakırhan habe Ruhi Su überzeugte. 161 Ilgın Su
hingegen gab dem Verfasser die Information, sein Vater sei gemeinsam mit dem Lehrer
und Opernsänger Hamdi Konur 1934 Mitglied der TKP geworden. Eine weitere Quelle
führt an, Ruhi Su sei in den 40er Jahren der TKP beigetreten, als Şefik Hüsnü Değmer
Parteisekretär war. 162 Mit dem Gedankengut von Unterdrückung und Ausnutzung des
Volkes hat Ruhi Su, wie er Ilgın selbst mitteilte, schon früh der Hausmeister des
Waisenhauses von Adana bekannt gemacht. 163 Die Lehrer des Waisenhauses, indem Ruhi
Su aufgewachsen war, arbeiteten in den kommunistischen Parteizellen. Sie vermittelten
ihn die ersten entsprechenden Ideen. 164 Die Verurteilung der TKP, und damit auch Ruhi
Sus, im Gerichtsbeschluss von 1954 in İstanbul spricht eine sehr undeutliche Sprache.
Danach soll seine Arbeit für die Partei begonnen haben, als Zeki Baştımar, der
TKP und TİP sahen sich als Geschwisterparteien.
Vgl. AREN, Sadun: Puslu Camın Arkasından (2006): 235-236.
Aren berichtet außerdem, dass damals viele männliche wie weibliche Sänger Lieder wie Aşık İhsani
sangen. Seine Art, politische Schlagworte hervorzuheben, versetzte die Zuhörer in Euphorie. Ruhi Su
schloß sich dieser Vortragsweise nicht an. Er nahm seine Art zu singen immer sehr ernst und hatte selbst
Respekt vor seiner eigenen Kunst. Eines Tages sprach Behice Boran, die Vorsitzende der TİP, an und
verlangte von ihm Lieder mit Schlagworten zu singen. Obwohl sie selbst Türkü sang und Respekt für Ruhi
Sus Schaffen empfand, hatte die Partei bei ihr Vorrang. Aren wusste natürlich nicht, was Ruhi Su in dem
Moment Behice Boran antwortete, aber kam er mit Wut direkt zu Aren und ließ seinen Ärger an der Frage
erkennen: „Wie kann sie von mir so was verlangen?“ Vgl. gleiche Quelle wie in Fußnote 158.
Auch Erdem hörte die Bitterkeit in Ruhi Sus Worten: “Glaube mir, wenn eines Tages der Kommunismus in
dieses Land käme, würde man mich genauso behandeln wie jetzt und an meiner Stelle Zeki Müren
unterstützen.” Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
159
Mehmed Kemal bezeichnet Ruhi Su in MEKİN, Dinçer (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 93, als einen
der letzten Derwische Anatoliens.
160
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006 in Köln.
161
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sept. 2010 in İstanbul.
162
SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009):
13.
163
Aus dem Gespräch mit Ilgın Su vom 28. Juli. 2007 in İstanbul.
164
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
157
158
46
Generalsekretär der Partei, dem Parteisekretär von Ankara, Ömer Lütfi Tunçay,
vorschlug, mit Ruhi Su zusammenzuarbeiten. 165
Erdems Ausführungen haben großes Gewicht. Der erste Kontakt mit den
kommunistischen Ideen gehe schon auf Ruhi Sus Kindheit zurück. Die kommunistische
Bewegung war sehr stark in Adana, weil die Industrialisierung, Landflucht und
Saisonarbeit großes Elend über die Bevölkerung brachte. Gerade die Ausbeutung der
Arbeiter in der Landwirtschaft war ein zentrales Thema für die Kommunisten. Adana
hatte zu Ende des Ersten Weltkrieges viele Gräueltaten und Flüchtlinge gesehen.
Insbesondere alteingesessene, linksorientierte Familien befassten sich mit der Lage der
Armen. So hat Ruhi Sus Musiklehrer aus dem Waisenhaus, Mehmet Tahir, sich des
Knaben angenommen. Er war ein gebildeter Mensch, der die Augen der Waisen öffnete
und ihnen eine Lebenshilfe sein wollte. Ruhi Su nahm eine linksorientierte Einstellung
an, die aus der sozialen Krise zu erklären war, und hat sie später weiterentwickelt. Die
Zusammenarbeit mit der Linken wurde ein fester Bestandteil seines Lebens.
Seine
politische
Orientierung
wurde
auch
von
den
deutschsprachigen
Immigranten beeinflusst, die in den 30er Jahren vor dem nationalsozialistischen Terror in
die Türkei flohen. Es waren kritische Jahre, in denen die junge türkische Republik
anfänglich mit dem sowjetischen Regime Kontakt aufnahm. Auch Nâzım Hikmets
Freundschaft mit der Sowjetunion hat zu der Linksorientierung Ruhi Sus beigetragen.
Ruhi Sus Besuche Behice Borans in ihrer Wohnung im Jahr 1937 in Ankara waren die
ersten bewussten Aktivitäten im Rahmen linker Politik. Frau Boran war die künftige
Vorsitzende der Arbeiterpartei der Türkei (TİP). Unter den damaligen Besuchern Borans
befanden sich Linke wie Hamdi Konur, der ebenfalls am Konservatorium studierte, Azra
Erhat und Vedat Günyol, die 1937 der TKP nahe standen.
Ruhi Su war ohnehin eher ein idealistischer und moralischer Linker als ein
linientreues Parteimitglied. Bei ihm standen der humanistische Gedanke im Vordergrund,
der Einsatz für den Frieden und der Kampf gegen jede Art der Ausbeutung. Diese
Tugenden fand er in den anatolischen Türküs. Er sprach von einer gerechteren Welt und
nicht von einer gerechten Welt. Auf diesem Unterschied bestand er. 166
Seinen Gegnern und anderen Linken war Ruhi Sus Kunstproduktion fremd, weil
sie nicht eine platte Widerspiegelung der ungerechten Verhältnisse beinhaltete. So
lehnten ihn mehrere Fronten ab bzw. unterschätzten seine Arbeit. Der Staat warf Ruhi Su
Vgl. Esbabı Mucibeli Hüküm: T.C. Ankara Garnizon Komutanlığı 2 No’lu Askeri Mahkemesi, Esas
1953 /17, Karar 1954/33: 408.
166
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 31. Aug. 2011 in Köln.
165
47
die linke Einstellung vor, während Mitglieder der linken Führung Ruhi Su weder als
Künstler noch als Denker anerkennen wollten. Zudem warf eine dritte Gruppe von
Intellektuellen Ruhi Su vor, Türküs wie Opernarien zu singen; sein Ausdruck verfälsche
die einfache Singweise des Volkes. 167
Ruhi Su hatte ein differenziertes Vertändnis dessen, was unter Volk zu verstehen
war. Das Volk bestand für ihn nicht allein aus Türken, sondern auch aus Mitgliedern
anderer Ethnien, wie der Kurden und Armenier. Daher lehrte er in seinem Chor neben
den türkischen auch kurdische und armenische Lieder. Unter den Chormitgliedern
befanden sich armenische und kurdische Freunde und Sympatisanten fast aller linken
Fraktionen. Unter allen herschte ein gutes Einvernehmen, denn Ruhi Su war die große
Integrationsfigur.
Im Jahre 2012 kann man über die Kurden offen sprechen. In den 70er Jahren
jedoch, als Ruhi Su kurdische Lieder lehrte, ging er ein beträchtliches Risiko ein. Ruhi Su
glaubte, dass der Frieden nur über das gemeinsame Miteinander funktionieren könne. Mit
seinen Worten und Taten gab er ein Beispiel für friedliches Zusammenleben.
Der Vorwurf, er habe keine kurdischen Lieder gesungen, ist zu entkräften: Im Jahr
1968 sprach er in einem Konzert im Klub Karten in İstanbul einen kurdischen Freund an
und sang für ihn ein Tanzlied (Govend) in kurdischer Sprache. 168 Er trug im Juli 1969 auf
einem Open Air Konzert, veranstaltet von der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), das Lied
“Die Schwarze Schlange” (Karayılan) 169 vor, welches von einem Helden des
Befreiungskriegs von 1919 bis 1922 handelt. Er sang die frühe Fassung, welche die
Kurden aus Antep mit ihren eigenen Namen anspricht und sie aufruft, gemeinsam mit den
ebenfalls angesprochenen Türken aus Antep gegen die Besatzungsmächte zu kämpfen.
Die deutsche Fassung gibt nur die Anreden an die Kurden kursiv wieder.
Vgl. POLAT, Ömer: Vorwort zu BAKSI, Mahmut: Şıvan’ın Sevdası (1984): 11; Vgl. auch BENK,
Adnan: Dünya (12. Jan. 1962): 2. In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 38-40 und ÖZKÖK, Ertuğrul: İadeli
Taahhütlü Bir Yazı, Hürriyet (21. Sept. 2008). Für die Forderung an Ruhi Su, er solle “wie das Volk
singen”, und seine Gegendarstellung siehe unten Kapitel 6.6.
168
Aus dem Interview mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. Der kurdische Freund war Ahmet
Aras, welcher die Geschichte Hüseyin Erdem erzählte.
169
Siehe unten Kap.9.1.4.
167
48
„Die schwarze Schlange“
Steigt aufs Pferd, die Zügel in der Hand,
An seiner Front kennt er keine Niederlage,
Innerhalb des Freischärler eine wilde schwarze Schlange.
Schlagt zu Kurdenburschen, 170 heute ist der Tag der Ehre
Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!
Ich ziehe und ziehe die Zügel, das Zugpferd läuft nicht,
Die französischen Kugeln erreichen den Helden nicht,
Grüßt meine wehmütige Mutter von mir.
Die Mütter haben solche Kinder in die Welt gesetzt.
Schwarze Schlange sagt, lasset uns in den Kampf ziehen,
Lasset uns aus Kilis‘ Straßen Köpfe holen,
Lasset uns töten, wo es Feinde gibt.
Schlagt zu Türkenburschen, heute ist der Tag der Ehre
Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!
(Volkslied)
„Karayılan“
Atına binmiş de elinde dizgin,
Vardığı cephede hiç olmaz bozgun,
Çeteler içinde Yılan’ım azgın.
Vurun Kürt uşağı namus günüdür
Vurun Antepliler namus günüdür!
Sürerim sürerim gitmez kadana,
Fransız kurşunu değmez adama,
Benden selam söylen nazlı anama.
Analar da böyle yavru doğurmuş.
170
In der späteren Schallplattenaufnahme jedoch ersetzte er diesen Namen durch den Namen der Stadt
Antep. Jedem türkischen Zuhörer war deutlich, dass Antep gleichbedeutend war mit Kurdenstadt.
49
Karayılan der ki harbe oturak,
Kilis yollarından kelle getirek,
Nerde düşman varsa orda bitirek,
Vurun Türk uşağı namus günüdür
Vurun Antepliler namus günüdür!
Halk Türküsü
Im gleichen Konzert sang Ruhi Su das Klagelied einer Mutter, deren Sohn 1938
im Einsatz gegen Kurden in Dersim war, die namentlich in der dritten Strophe genannt
werden, und der nicht wieder zurück kam. In dem Lied spricht die Mutter aus der
Perspektive des Sohnes.
„Das Soldatenlied”
Der Zug nahm ohne Rast seinen Weg,
Mein Kummer ist so groß, ich verheimliche ihn,
Meine Munition ist aufgebraucht, es kommt kein Nachschub.
Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde,
Mich ließen sie voller Heimweh.
Der Berg Aziz Abdal ist Hauptquartier,
Die wöchentliche Ration ist nicht zu essen, trocken,
Wir sehnen uns nach dem berühmten Kayseri.
Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde,
Mich ließen sie voller Heimweh.
Schwere Artillerie steht fest am Hügel,
Feuert in den Wald, Kurden sind nicht zu sehen,
Die Parolen kommen mir nicht in das Gedächtnis.
Vor meinen Augen haben sie mich erschossen,
Mich ließen sie voller Heimweh.
50
Den Befehl gaben sie, diese seien Banditen,
Sie töteten sie, obwohl sie unsere Brüder waren,
Fünf Mann waren wir, man schoß uns in der Stellung nieder.
Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde,
Mich ließen sie voller Heimweh.
Volkslied
„Bir Asker Türküsü”
Yürüdü tern de yolda eylenmez,
Derdim çoktur memlekete söylenmez,
Tükendi cephanem geriden gelmez.
Teskeremden evvel vurdular beni,
Sılama hasret koydular beni.
Aziz Abdal Dağı ordugâh yeri,
Bir haftalık tayın yenmiyor kuru,
Hasretli kaldık koca Kayseri.
Teskeremden evvel vurdular beni,
Sılama hasret koydular beni.
Ağır makinalı tepeden inmez,
Tarıyor ormanı Kürtler görünmez,
Verilen parolalar aklıma gelmez.
Gözüm göre göre vurdular beni,
Sılama hasret koydular beni.
Bunlar haydut deyi emir verdiler,
Kavim kardeş demediler kırdılar,
Beş kişiydik bir mevzide vurdular.
Teskeremden evvel vurdular beni,
Sılama hasret koydular beni.
Halk Türküsü
51
Als Ruhi Su diese beiden Lieder in einem Konzert in Club Karten in İstanbul
1970 sang, war sein Freund İsmet Zeki Eyüboğlu im Publikum in der Gesellschaft von
mehreren höheren Offiziere. Die Offiziere konnten jedoch nicht ertragen, von Kurden zu
hören, verließen den Saal und verprügelten den ebenfalls vor die Tür herausgegangenen
Freund, als er sie um Verständnis bat; ein Zeichen ihres überspannten und daher
gefährlichen Nationalbewußtseins. Die Folge war, dass bei späteren Aufnahmen dieser
beiden Lieder die Anspielungen auf die Kurden ausgelassen wurden. 171
171
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
52
2.7
Ruhi Su in Sansaryan Han und im Militärgefängnis von Harbiye, beide in İstanbul
1951 begann die Operation gegen die TKP. Es war nur eine Frage der Zeit, bis
auch Ruhi Su verhaftet wurde. Zunächst wurde die Gruppe İstanbul festgenommen und
ein Jahr danach die Gruppe Ankara. Ruhi Su gehörte wie auch seine zukünftige Frau,
Sıdıka Umut, zur Gruppe Ankara. Sıdıka Umut wurde am 12. November 1952 verhaftet
und nur zwei Tage später Ruhi Su, beide mit der Beschuldigung, Mitglied der TKP zu
sein. 172 Kurz vor seiner Verhaftung flog er nach İstanbul, um sich das Geld für seine
Filmmusik von der Produktionsfirma İpek Film zu holen. Dann flog er umgehend zurück
nach Ankara. 173 Rasih Nuri İleri, damals ein Mitglied der TKP, erzählte Jahre später in
einer Dokumentation über Ruhi Su, dass die Partei vorhatte, Ruhi Su über Antakya nach
Syrien zu schaffen, um einer Verhaftung zu entgehen. Zuvor wurde er jedoch
verhaftet. 174
Da er nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 aus dem Ausland in die
Türkei zurückkam, kann man annehmen, dass er lieber verhaftet worden wäre, als ins
Ausland zu flüchten. Dies hatte mit seinem Sammeln von Türküs zu tun, einer Arbeit, die
er nicht im Ausland, sondern nur in der Türkei durchführen konnte. Als überaus wichtige
Motivation ist auch sein Patriotismus anzuführen, der ihn bei diesem Tun antrieb. 175
Wie alle anderen TKP-Mitglieder wurde Ruhi Su zunächst in die Istanbuler
Zentralwache gebracht, die unter dem Namen Sansaryan Han bekannt war. Dort wurde er
fünf Monate lang in einem der dunkelsten Verließe gefoltert und verhört. Als ein
Polizeireporter ihn in der Haft besuchte, 176 war Ruhi Su in einem sehr schlechten
Vgl. UÇAR, Ahmet: Sanatının Zirvesinden Sürgüne: Ruhi Su, Atlas Tarih 9 (Okt. Nov. 2011): 116-123.
Zu diesem Thema vgl. auch TEVETOĞLU, Fethi: Türkiye’de Sosyalist ve Komünist Faaliyetler 1910-1960
(1967); SAYILGAN, Aclan: Türkiye’de Sol Hareketler 1-2 (2009); SUDA, Orhan: Bir Ömrün Kıyılarında
(2004): BELLİ Sevim: Boşuna mı Çiğnedik (2006) und BELLİ, Mihri: İnsanlar Tanıdım (2002).
173
Aus demGespräch mit Ilgın Su am 28. Juli 2007 in İstanbul
174
Vgl. ETİKAN, Hilmi: Ruhi Su Belgeseli (2004). Nach Frau Sus Aussage wurde Ruhi Su durch den
Verrat eines seiner Freunde nach einer Probe in der Oper verhaftet.
175
1979 nahm Ruhi Su in politisch angespannter Zeit am Alen Mak, einem politischen Liederfestival in
Bulgarien teil. In der Türkei zurückgekehrt, brachte er in einem Artikel in der Zeitschrift Sanat Emeği seine
Zufriedenheit über diese Einladung zum Ausdruck. Er schrieb, dass er das Festival sehr erzieherisch und
unvergesslich fand. Er fühlte sich mit dem Essen, den Blumen, den Pappeln und den fließenden Bächen wie
in der Heimat. Er war sehr glücklich, aber er hätte nicht bleiben können, auch wenn man ihn darum gebeten
hätte. Er kehrte in seine tiefsten Ängste zurück. Vgl. SU, Ruhi: Bulgaristan Ale Mak Politik Şarkılar
Şenliğinin Düşündürdükleri, Sanat Emeği 18, Aug. 1978. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 84-85.
Fast alle der Angehörigen der TKP dachten keine Minute an eine Flucht, weil sie solche als einen Verrat
am Vaterland ansahen. Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006, Köln. Siehe hierzu auch
ERSÖZ, Cezmi: Romantik Komünist: Patriyot Hayati. In: ERSÖZ, Cezmi: Son Yüzler (1996): 103-110.
176
Vgl. ARPAD, Burhan: Ruhi Su Gerçeği II, Cumhuriyet (1. Okt. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.):
Ruhi Su’ya Saygı (1986): 192-194. Weil Burhan Arpad ein Polizeireporter war, ließ man ihn zu Ruhi Su.
Besuchen konnte man einen Untersuchungshäftling oder Gefangenen nur, wenn man denselben Nachnamen
hatte. Bei dieser Erlaubnis hatte die Polizei auch die Absicht, Ruhi Su mit Hilfe Arpads zum Reden zu
172
53
körperlichen und seelischen Zustand. Die Misshandlungen standen ihm ins Gesicht
geschrieben. Das Fehlen einer Familie, die sich hätte nach ihm erkundigen können,
machte sich bei Ruhi Su besonders schmerzlich deutlich, erinnert sich Sıdıka Su. 177
Ruhi Su erzählt von dem Kerker in İstanbul und seinen Leiden in dem von ihm
selbst geschriebenen und vertonten Lied „Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?“
(Bu Nasıl İstanbul Zindan İçinde) Dennoch endet das Lied auf eine starke Note der
Hoffnung.
„Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?“ 178
„Bu Nasıl İstanbul Zından İçinde?”
Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?
Bu nasıl İstanbul zından içinde?
Verschwunden sind meine Tage und Nächte,
Kayboluverdi gecem gündüzüm,
Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?
Bu nasıl İstanbul zından içinde?
O Vater, o Vater…
Bavo bave...
In unseren Zellen werden Rosen blühen.
Yattığımız yerde güller bitecek.
179
„Habe Geduld, der Tag wird aufbrechen, er ist unser.“ „Gün ışıyıp gelir sabret, bu bizim”
In unseren Zellen werden Rosen blühen.
Yattığımız yerde güller bitecek.
O Vater, o Vater…
Bavo bave...
Ruhi Su
Er schrieb und komponierte später ein Lied mit der Überschrift „Ein besonderer
Ort“ (Mahsus Mahal). 180Auch hier betont Ruhi Su seine Hoffnung auf die kommenden
glücklichen Tage. Zu wissen, dass in den Nebenzellen seine Genossen und unter ihnen
auch seine zukünftige Frau Sıdıka Umut waren, gab ihm Stärke und Durchhaltevermögen
in der sogenannten Sargzelle. Unter ihnen waren Nicht-Muslime wie Armenier und
Migranten aus dem Balkan. Man hat sie alle gefoltert, jedoch hat man die Nicht-Muslime
und Migranten aus dem Balkan am schlimmsten behandelt, zumal man ihnen deutlich
machte, das Land zu retten sei nicht ihre Aufgabe. Als im Sansaryan Han die
Aufnahmekapazität überschritten war, entschied die Leitung, dass es keinen Sinn mehr
mache, die Gefangenen zu behalten, da sie schon verhört worden seien. Da auch keine
bringen. Die Absicht scheiterte. Der Artikel anlässlich des Todes von Ruhi Su ist ein verlässliches
Dokument, wenn man Ruhi Sus Leiden in diesen Monaten der Haft verstehen will. Ruhi Su erinnerte sich
später an die Begegnung mit Arpad und bedankte sich für die Mühe und Nähe Arpads auf der Rückseite
einer seiner Schallplatten. Diese Aufnahme widmete er Arpad.
177
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
178
Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in
Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer
nicht genannt werden.
179
Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls unten in Kapitel 7.1 behandelt.
180
Siehe unten Kap. 7.1.2.
54
Notwendigkeit bestand, die Gefangenen voneinander zu trennen, wurde das
Militärgefängnis von Harbiye für die Häftlinge der sogenannten 51er-Verhaftungen
geleert. 181
Nach einer fünfmonatigen Untersuchungshaft in Sansaryan wurde auch Ruhi Su
in das Gefängnis von Harbiye überführt. Nunmehr war er unter ihm bekannten
Menschen. Zusammen mit den in İstanbul, Ankara, İzmir und Adana verhafteten 184
Personen wartete er hier dreieinhalb Jahre auf die Verhandlung vor einem Richter.
Während dieser Zeit blieb er nicht tatenlos. Man erlaubte es Ruhi Su nicht, seine Saz mit
ins Gefängnis zu nehmen. Daraufhin baute ihm der Musikinstrumentenbauer Faik
Şekeroğlu, der unter derselben Anklage einsaß, aus dem Stiel eines Besens und einigen
Holzstücken eine Saz. Ruhi Su freute sich sehr und arbeitete zwei Jahre lang mit diesem
Instrument. Als nach zwei Jahren das Verbot aufgehoben wurde, ließ er sich seine Saz
aus Ankara zuschicken. Mit seinen Zellengenossen gründete er einen Chor. Er sammelte
ihre Lieder und veranstaltete Konzerte für sie im Gefängnis. 182 Ruhi Su machte jeden Tag
Stimmübungen. Er suchte eine passende Zeit und stille Ecken, in denen er keinen störte.
Er hat manche Nächte in der Gemeinschaftszelle Konzerte gegeben, und man hat ihm
zugehört, als ob man in einem Konzertsaal war. Die Zuhörer sprachen während des
Vortrags weder miteinander noch applaudierten sie. Sein Auftreten und seine Aura
verschafften ihm großen Respekt. Schon seine äußere Erscheinung beeindruckte die
Menschen, wie auch seine ausstrahlende Ruhe, seine philosophische und nachdenkliche
Art, wenn er im Innenhof des Gefängnisses auf und ab ging. Am Tag nach dem Konzert
sangen sie mit Freude eines seiner Lieder: 183
Kendisi ufacık ufacık
Elleri topacık topacık
Sie ist klein und klein,
Ihre Hand fein und fein.
Volkslied
Halk Türküsü
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006 in Köln.
Akatlı, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti, (2001): 11.
183
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln. Für den vollständigen Text des
Liedes siehe AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 114.
181
182
55
2.8
Ruhi Su und Sıdıka Umut: Die Heirat im Gefängnis
Die Eheschließung mit Sıdıka Umut ist nicht ohne Rückblick auf die Zeit in
Ankara zu verstehen. Während seiner Tätigkeit an der Oper gründete und leitete Ruhi Su
einen Chor an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie (Dil, Tarih ve
Coğrafya Fakültesi, DTCF). 184
Seine spätere Frau Sıdıka Umut studierte Philosophie und auch Soziologie bei
Behice Boran an der DTCF und war auch Mitglied des oben erwähnten Chores. Sie
kannte Ruhi Su seit längerem, da er der Freund ihres Bruders war. Er ging bei ihr ein und
aus. Sie hatte ebenfalls eine Vorliebe für Türküs. Durch die Liebe zu Türküs und die
gemeinsame Weltanschauung fanden sie zueinander. Sie spricht darüber, wie und wann
diese im Gefängnis vereinte Liebe ihren Anfang nahm. Sie wohnte damals in Ankara, da
ihr Bruder von Bursa nach Ankara versetzt wurde. Ruhi Su kam des Öfteren zu ihnen.
Ihre Mutter mochte ihn sehr. Wenn sie an seine schwere Vergangenheit dachte, wollte sie
ihn umsorgen und kochte ihm sein Lieblingsessen. Sie schenkte ihm viel Liebe, weil er
ohne Eltern aufgewachsen war. Obwohl er ein Mann mittleren Alters war, blieb er für
ihre Mutter der kleine, verwaiste Junge. Er suchte und fand die Wärme, die er brauchte.
Ihre Mutter liebte seine Lieder sehr. Wenn er im Radio sang, kam sie herbeigeeilt, legte
ihre Schürze ab und hörte ihm aufmerksam zu. Wenn er einem Bekannten ein Lied
vortragen wollte, kam er zu ihnen, denn er hatte nur eine Ein-Zimmer-Wohnung. An
einem Abend erzählte Sıdıka Umut von Aşık Veysels Türküs. Er war sehr verwundert,
dass sie etwas über diese Türküs wusste. So sangen die beiden abwechselnd Türküs. Ihre
Mutter gab ihr Ratschläge, welche Türküs sie noch singen konnte. Ihr Bruder sang
ebenfalls und ihre Mutter liebte es, wenn sie sangen. Am Ende des Abends bemerkte er
mit Verwunderung, dass Sıdıka Umut fast dasselbe Repertoire an Türküs hatte wie er
selbst. Der Funken war übergesprungen. Schließlich verabschiedete er sich widerwillig.
Ihre Mutter schaute ihm vom Fenster nach und murmelte: „Das eine Bein geht, das
andere steht.“ Am nächsten Morgen verabredete er sich mit Sıdıka Umut. So nahm die
Liebe ihren Lauf. Später erfuhren sie, dass sie in derselben Politzelle der verbotenen TKP
aktiv waren. Danach arbeiteten sie gemeinsam, teils unter ihrer Leitung, teils unter
seiner. 185
Ruhi Su und Sıdıka Umut blieben in den Jahren 1952 bis 1957 inhaftiert. Sie
verbrachten dreieinhalb Jahre im Militärgefängnis von Harbiye. Dort schrieben sich Ruhi
184
185
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 14.
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
56
Su und Sıdıka Umut heimlich Briefe. Die weiblichen Insassen wurden vormittags in
Begleitung der Gendarmen an die frische Luft auf den Hof gebracht. Auf dem Hof
kommunizierten Ruhi Su und Sıdıka mit Lichtzeichen und Körpersprache. 186 Die Zeit
voller Entbehrungen und Trennung festigte ihre Liebe umso mehr. 187 Um sich für zehn
Minuten in der Woche sehen zu können, verlobten sich die beiden. Die beiden heirateten
dann im Jahr 1954 im Beisein der Trauzeugen Behice Boran und ihrem Ehemann Nevzat
Hatko. 188
Zu den Haftbedingungen gehörte, dass zweimal in der Woche drei Tische vor die
Gemeinschaftszelle aufgestellt wurden. Dort durften die drei verheirateten Paare, Sıdıka
und Ruhi Su, Selçuk und Ulvi Uraz sowie Sevim und Mihri Belli sich unterhalten.
189
Ruhi Su insbesondere achtete auf sein Äußeres und kam entsprechend gekleidet.
Manchmal gelang es ihm sogar, mit einer Blume zu kommen. 190
Nach einer dreieinhalbjährigen Haftszeit wurde für die 51er Verhafteten im Gefängnis
von Harbiye ein Sondergericht eingerichtet. Sıdıka und Ruhi Su wurden zu je fünf Jahren
Haft verurteilt. Ruhi Su wurde mit allen männlichen Gefangenen nach Adana, Sıdıka Su
mit Sevim Belli in das Gefängnis von Sultanahmet nach İstanbul gebracht. Die Türküs
„Berg Hasan” (Hasan Dağı) und „Gazellen” (Cerenler) entstanden in dieser Zeit. 191
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln.
Vgl. SPATAR, M. Halim: Müzik Yazılarım (2007): 169.
Der Mithäftling Spatar schreibt, dass er Ruhi Su immer beobachtete, wie er SSS (Sıdıka, Seni Seviyorum)
„Sıdıka, ich liebe dich!“ in das Fenster schrieb.
188
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
189
Vgl. BELLİ, Sevim: Boşuna mı Çiğnedik (2006): 389.
Frau Belli erzählt in ihren Memoiren, dass eine Wächterin namens Dürriye zwischen Ruhi Su und Sıdıka
Umut Nachrichten vermittelte: „Sıdıka war eine gute Freundin von Ruhi. Aber sie durften sich nicht sehen.
Es war verboten, zu den Gemeinschaftszellen der Männer Kontakt aufzunehmen. Unsere Anträge, das
Verbot aufzuheben, scheiterten immer wieder. Im Nachhinein hat man die Verlobung akzeptiert und dem
Wunsch nach Kontakten stattgegeben.“
190
. Ebd. 411
191
Zu der Entstehungsgeschichte dieser Lieder siehe unten Kap. 7.1.1 und 6.2.1.
186
187
57
2.9
Polizeiaufsicht und Bewährungszeit
Das Ehepaar Su wurde im Juni 1957 mit einer Bewährungsauflage von zwanzig
Monaten entlassen. Sıdıka Su schickte man nach Ankara zurück, da das Justizgesetz
vorsah, dass Frauen an den Ort ihrer Verhaftung zurückgebracht werden mussten. Ruhi
Su wurde nach Çumra in der Provinz Konya gebracht. Er quartierte sich in einem billigen
Hotel ein. Die Nachrichten und Musikprogramme im Radio versäumte er nie. Die
Menschen in Çumra munterten ihn auf: Alles werde bald ein gutes Ende finden; er solle
nicht so traurig sein. Einerseits suchte er Arbeit und andererseits versuchte er, die
Genehmigung zum Umzug nach Ankara zu seiner Frau zu erhalten. Auf all seine Anträge
erhielt er Absagen. Der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit Kemal Aygün 192 war
gegen seine Versetzung. Dennoch versuchten der örtliche Staatsanwalt, Muharrem İlkeş,
und der örtliche Richter, İlhan Somer, seinen Umzug nach Ankara zu betreiben. Der
Staatsanwalt verstand sich gut mit Ruhi Su, denn er war ein großer Liebhaber der Türküs.
Er besuchte ihn sogar fast jeden Tag im Hotel, um Unterrichtsstunden auf der Cura 193 zu
erhalten und ließ Ruhi Su ein Konzert, vermutlich Ende 1957, im Gefängnis von Çumra
geben. Eigentlich war Ruhi Sus Umzug nach Ankara mit dem Ziel der
Familienzusammenführung juristisch erlaubt. Trotz der Einwände Kemal Aygüns
erreichte der Staatsanwalt eine Überführung nach Ankara. Ruhi Su gab zu Ehren des
Staatsanwaltes und der Bevölkerung im Bahnhof von Çumra ein rauschendes Konzert.
Der Saal platzte aus allen Nähten. Am nächsten Morgen verabschiedete man ihn, der im
Bewusstsein des einfachen Volkes wie auch der Intellektuellen einen ehrenvollen Platz
einnahm, nach Ankara. 194
192
Von 1952-1954 war Kemal Aygün Generaldirektor für öffentliche Sicherheit in Ankara. Später wurde er
Gouverneur von Ankara und schließlich Oberbürgermeister von İstanbul von 1958-1960. Vgl.
http://tr.wikipedia.org/wiki/Kemal_Ayg%C3%BCn.
193
Kleine zwei- oder dreisaitige Langhalslaute.
194
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 17.
58
2.10
Die Tage in Ankara mit seiner Frau Sıdıka Su
Endlich waren Ruhi Su und seine Frau beisammen. Um den Start in seiner
zugleich alten und neuen Umgebung so leicht wie möglich zu machen, kamen ihm alle
Freunde zu Hilfe. Einer, Celal Cündoğlu, besorgte den Sus eine Bleibe in einem
Arbeiterviertel, ungefähr zwei Kilometer entfernt von dem Stadtteil Etimesgut. 195 Die
Familie wohnte in einem kleinen Lehmhäuschen mit drei Zimmern, welches mitten auf
einem Feld stand und weder Strom noch Wasser hatte. Sie richtete das Haus mit einem
Gasofen, einem Läufer und ein wenig Geschirr ein. Endlich hatte sie eine Unterkunft nur
für sich. Hier fühlten sie sich so sicher und unabhängig wie möglich. Nur mussten sie
jeden Tag nach Etimesgut gehen, um bei der Polizei ihre Unterschrift zu leisten. Ruhi Su
gab seinen Besuchern und Freunden kleine Konzerte.
Der Schriftsteller Mehmet Kemal hingegen wollte Ruhi Su mit einem Medienball
helfen, auf dem dieser auftreten sollte. Kemal Aygün verbot die Veranstaltung mit der
Frage, „Wollt ihr ihm sein Ansehen wieder verschaffen?“ 196 Derselbe Mann erfuhr im
Zusammenhang mit dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 selbst Repressalien, als er
Bürgermeister von İstanbul war. 197
Cündoğlu hatte im Stadtteil Ulus eine Buchhandlung und im Schaufenster die Schallplatte Salkımsöğüt
von Nâzım Hikmet. Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln.
196
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18.
197
Vgl. KILIÇ, Altemur: Kılıç’tan Kılıç’a (2005): 228.
195
59
2.11
Die helfende Hand eines Freundes und die Geschichte des Films: „Die große Liebe
des Karacaoğlan“ von Atıf Yılmaz
Ruhi Su musste so schnell wie möglich Arbeit finden, auch weil seine Frau
schwanger war. Freunde aus dem Gefängnis, die gemeinsam eine Speditionsfirma
gegründet hatten, machten ihn mit einer kleinen finanziellen Beteiligung zum Partner,
doch hatte er keinen großen Erfolg. Durch den Transport von Gegenständen auf seinem
Rücken konnte er Geld nach Hause bringen. Die Bewährungsstrafe der Sus neigte sich
dem Ende zu. 198
Der Filmregisseur Atıf Yılmaz streckte ihm die helfende Hand hin.
Er wollte den Zeitungsfotoroman von Yaşar Kemal „Die große Liebe des Karacaoğlan“
(Karacaoğlan’ın Kara Sevdası) in Adana verfilmen. Den Liedern im Film sollte Ruhi Su
seine Stimme leihen. Yılmaz kam von İstanbul nach Ankara und unterbreitete Ruhi Su
ein Angebot. Eigentlich war das kein rein kommerzielles Angebot, sondern die Hilfe
eines Freundes in einer finanziellen Notsituation. Ruhi Su nahm das Angebot mit Freude
an. Der Film wurde in der Çukurova um Adana gedreht. Es war neben der Möglichkeit,
ein wenig Geld zu verdienen, auch eine Chance, die Lieder der Einheimischen zu
sammeln und die Heimatstadt Karacaoğlans 199 sowie den Ort seiner Kindheit zu
besuchen. Der Staat saß ihm immer im Nacken; daher konnte er nie frei und
ungezwungen Lieder sammeln. Die Reise nach Adana war eine willkommene
Gelegenheit, aus dieser Umklammerung auszubrechen und frei zu arbeiten. Yılmaz
erinnert sich nicht mehr, ob Yaşar Kemal oder er selbst die Idee hatte, Ruhi Su die Türküs
singen zu lassen, doch der Name Ruhi Su wurde genannt; nach seiner Erinnerung sei
auch der Produzent Hürrem Erman mit Ruhi Su einverstanden gewesen. Eigentlich
bildete die Zusammenarbeit mit einem schon verurteilten Kommunisten ein erhebliches
Risiko. Die Gefahr auf die Schwarze Liste zu kommen oder ein Verbot des Filmes durch
die Zensur war sehr groß. All diese Gefahren zum Trotz fuhren sie nach Ankara zu Ruhi
Su, um mit ihm zu sprechen und ihn dann mit dem Produzenten Hürrem Erman bekannt
zu machen. Sie trafen sich in der Lobby eines Hotels. Ruhi Su akzeptierte ihr Angebot
ruhig und ernsthaft. Er sah die Möglichkeit im Taurus Gebirge, der Heimat Karacaoğlans,
dessen Türküs zu sammeln. Yılmaz spürte den Wunsch Ruhi Sus, mit der Reise aus
Ankara zu entfliehen. Er sah das Funkeln und die Aufregung in den Augen Ruhi Sus,
198
199
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
Siehe unten Kapitel 9.3.
60
denn dieser erfuhr zum ersten Mal wieder eine Wertschätzung seiner Arbeit als
Künstler. 200
Nachdem die Filmtruppe zusammengestellt war, fuhr sie nach Adana und mietete
sich in ein Hotel in Kadirli ein. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass mit dem
Filmteam ein Aşık namens Ruhi Su gekommen war. Daraufhin versammelten sich fast
alle Aşıks der Çukurova im Hotel und belagerten ihn wie einen der ihren. Ruhi Su war
sehr aufgeregt, weil er endlich machen konnte, was er immer wollte, nämlich Türküs
sammeln. Er sprach mit großer Geduld mit jedem einzelnen dieser Aşıks, hörte ihnen
aufmerksam zu und nahm alle ihre Lieder auf. Von Berg zu Berg hallende Lieder
ertönten aus dem Hotel. 201
Während der Vorbereitungen zu den Filmaufnahmen zeigten sich die
Einheimischen nach ihrer Tradition sehr gastfreundlich. Unter ihnen befanden sich die
reichen und angesehenen Bürger des Ortes und Stammesfürsten wie der ehemalige
Räuber Bebek Ağa, der namentlich in den Romanen von Yaşar Kemal vorkommt, der
intellektuelle Ağa Safa Veyisoğlu und Ağa Hasan Hüseyin Çığşar. Hasan Hüseyin Çığşar
gab zu Ehren Bebek Ağas ein Essen und lud Atıf Yılmaz und Ruhi Su ein.
Atıf Yılmaz stellt zwei markante Persönlichkeitsmerkmale Ruhi Sus sehr deutlich
heraus. Das eine war, dass er nie Alkohol trank. Jedoch konnte er sich der trinkenden
Gesellschaft so anpassen, dass auch er trunken und angeheitert wirkte. Das zweite
Merkmal war der große Respekt vor der eigenen Arbeit. Diesen Respekt erwartete er
auch von seinen Zuhörern. Als an einem Abend die Köpfe zunehmend benebelt wurden
und man von ihm verlangte, für alle zu singen, sah Yılmaz ziemlich unruhig auf Ruhi Su.
Dieser streckte, ohne etwas übel zu nehmen, die Hand nach seiner Saz aus und begann,
von Pir Sultan und Karacaoğlan zu singen. Alle Gäste waren schon während des ersten
Türküs von Ruhi Sus Vortrag überwältigt. Sie wachten auf, sammelten sich ehrfürchtig,
hörten auf zu trinken und zu essen und verschränkten ihre Hände respektvoll. 202
Atıf Yılmaz übt eine höchst bemerkenswerte Kritik an den Intellektuellen, die sich
abwertend über die Art des Vortrags von Ruhi Su äußerten: Ruhi Su werde öfters mit
dem Vorurteil konfrontiert, seine Türküs wie eine Opernmelodie zu singen. Als Yılmaz in
Kadirli alle Aşıks anhörte, wurde ihm deutlich, dass die Kritik der Intellektuellen auf
Unwissenheit beruhte, denn ihre Ohren hatten sich an die von Radio, Fernsehen,
YILMAZ, Atıf: Hayallerim, Aşkım ve Ben (1991): 26.
Ebd. 146-147.
202
Ebd. 152-153.
200
201
61
Schallplatten und in Casinos dargebotenen, verwilderten und kommerzialisierten Türküs
gewöhnt. Ruhi Su hingegen nutzte eine reine Quelle als ein bewusster Theoretiker.
Yılmaz betont, die unzähligen Aşıks, die im Hotel sangen, sangen nicht wie die heute
„berühmten“ Sänger, sondern wie Ruhi Su. 203
Nach den Filmaufnahmen kehrte das Team nach İstanbul zurück, und die Arbeit
im Musikstudio begann. Die Baritonstimme Ruhi Sus, die aus dem gesammelten
Tonmaterial erklang, fesselte alle:
Der Wind weht vom hohen Berg,
Yüce dağdan bir yel eser,
Verweht und sagt, „Elif, Elif.“
Eser „Elif Elif“ deyi.
Mein verrücktes Herz
Deli gönül abdal olmuş,
läuft umher und sagt‚ „Elif, Elif.“
Gezer „Elif Elif“ deyi204
Karacaoğlan
Die Probe der Uraufführung des Films fand in Balıkesir statt. Den Zuschauern
sollen die Stimme und die Türküs Ruhi Sus sehr befremdlich vorgekommen sein. Der
Produzent geriet in Panik. Der Film war vielleicht der teuerste seiner Zeit. Um das
investierte Geld zu retten, beschloss Hürrem Erman, Ruhi Sus Fassung der Türküs aus
dem Film zu schneiden und sie durch einen anderen Opernsänger, Aydın Gün, singen zu
lassen: Yılmaz kommentierte später, er habe verstehen können, wenn der Produzent Ruhi
Su durch einen populären Sänger ersetzt hätte, aber dieser entschied sich erneut für einen
Opernsänger. Einer der schwärzesten Tage seiner Kinotätigkeit sei gewesen, als Aydın
Gün in das Studio kam. Seit dem Tag habe er eine gewisse Empörung gegen Aydın Gün
verspürt, weil Gün, obwohl er Ruhi Su kannte, diesen Auftrag annahm. Das Musikband
des Filmes wurde vernichtet, und Aydın Güns schrille Tenorstimme wurde zu Yılmaz
Alptraum. Der Film, den er mit seinen Freunden in einer enormen Anstrengung gedreht
hatte, wurde zu einem ihm verhassten Objekt. Das Bitterste war, dass keine Kopie des
Originals des Films mit der Stimme Ruhi Sus mehr existiert. 205
203
Ebd. 153.
Einer Legende nach liebte Karacaoğlan ein Mädchen, und als es mit jemand anderem verheiratet wurde,
ging er in die weite Fremde und wurde von einem Nomadenstamm aufgenommen. Als einer, der überall ein
zu liebendes Mädchen findet, verliebte er sich in die Tochter des Nomadenführers. Er hielt um ihre Hand
an. Da er aber mittellos war, bekam er das Mädchen zunächst nicht. Die Mitglieder des Stammes sprachen
sich jedoch für ihn aus, er erhielt schließlich das Mädchen und sie heirateten. Für die vollständige
Geschichte siehe unten Kap. 9.3.1.
205
YILMAZ, Atıf: Hayallerim, Aşkım ve Ben (1991): 156-157.
204
62
2.12
Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim und in den Clubs von İstanbul und seine
Arbeit in der Bau- und Kredit- Bank
Nach den Filmaufnahmen zog Ruhi Su nach İstanbul und trat im Städtischen
Kasino Taksim auf. Er mietete eine Wohnung und holte am 2. März 1960 seine Familie
nach. 206 Er begann, Türküs in Clubs zu singen. Was er die Revolution 207 vom 27. Mai
1960 nannte, öffnete den einheimischen Künstlern und Musikgruppen Tür und Tor. 208
Aziz Nesin lehnte Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim ab und äußerte seine
Traurigkeit. Ruhi Su kam mit seiner Saz in der Hand und setzte sich vor das Mikrofon. Er
spielte und sang mit einer heldenhaften Stimme. Das war keine Stimme, die dorthin
gehörte. Es war, als ob es nicht Ruhi Su gewesen wäre. Aus seinem Munde kam die
Stimme eines ganzen Landes. Vor Nesins verschlossenen Augen kamen und gingen die
Barfüßigen der Steppe, die Reisenden der endlosen Wege und die, die Sehnsucht nach der
Heimat haben. Er sah einen Film; Böden ohne Bäume und Wasser ohne Erde, die
Sehnsucht des Bodens nach dem Menschen, die tanzenden Bräute, Wege ohne
Wiederkehr, unüberwindbare Berge, Ebenen ohne Pflanzen. Ruhi Sus traurige und laute
Stimme, die ein ganzes Land trug, passte nicht in diesen verzierten Saal. Ruhi Su war
allein, schwebte aber über uns allen. 209
In einem Gespräch mit Aziz Nesin ließ Ruhi Su mit gewohnter Eleganz und
Höflichkeit spüren, dass er die Meinung Aziz Nesins nicht teile. Wer seit Jahren die
Gunst der Zuhörer suche, dürfe nicht wählerisch sein. 210
Die Zeitung Akşam ließ am 24. Januar 1960 ihre Leser wissen, dass der
Bassbariton der Staatsoper, Ruhi Su, im städtischen Kasino Taksim auftrete. Als Ruhi Su
an das Mikrofon trat, schauten ihn die Zuschauer verwundert an, weil er Volksmusik
ankündigte. Zunächst zeigten sie Unmut, doch als die Stimme des Künstlers ertönte,
verstummten alle und hörten gespannt zu. Am Ende des Konzerts, stellten Zuhörer, die
von Ruhi Sus Haft nicht wußten, die Frage, warum er nicht in der Oper singe. 211
206
AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18.
Die türkische Linke sah damals dieses Ereignis nicht als Putsch, sondern als eine Revolution. Es
beinhaltete eine tiefgreifende Freiheit für die Linken. Deshalb wurde der Begriff der Revolution bevorzugt,
auch von Ruhi Su, der seine Türküs nunmehr frei und ungezwungen singen konnte.
208
ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat Dergisi (1. Mai 1984). In:
Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 25.
209
NESİN, Aziz:: Akşam (18. Jan. 1960). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 34.
210
NESİN, Aziz: Ruhi Su Türküleri, Bilim ve Sanat (Apr. 1986). In: Ebd.: 291-298.
211
Akşam (24 Jan. 1960): 3. In: Ebd.: 127.
207
63
Ruhi Su arbeitete in dieser Zeit auch in privaten Nachtclubs wie As, Reis
Merhaba, Kent, Karten und Kafkas um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 212 Leider
werden in den Äußerungen zu der Biographie Ruhi Sus seine Auftritte in den Nachtclubs
nur kurz angesprochen. Bei Auftritten Ruhi Sus verloren die Nachtclubs ihren gewohnten
leichten Unterhaltungscharakter, auch blieben die Gäste nicht die gewohnte Klientel,
denn dieser Künstler zog viele Intellektuelle an. 213
Auch Frau Müzehher Vâ-Nû bedauerte die notwendige Arbeit in den Clubs. Eines
Abends gingen sie, Semih Balcıoğlu, İlhan Selçuk, Ferruh Doğan und Hıfzı Topuz
zusammen in dem Kasino Taksim, um Ruhi Su zu hören. Sie erinnerte sich an eine
Atmosphäre voller Geschirrlärm und Zigarettendunst. Natürlich übertönte die Stimme
Ruhi Su alles andere, aber wo war die respektvolle Stille, die rauchfreie Luft, die ihm
sonst in Versammlungen verschafft wurde? Sie verließ diesen Ort mit Bitterkeit. 214 Sie
konnte Ruhi Su nicht vergessen, wie er vor Jahren in den Wohnungen der Freunde
gesungen hatte. Ruhi Su hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, der für das Spielen der Saz
geeignet war. Die Freunde ließen ihre Teller und Gläser beiseite und hörten ihm still und
mit Bewunderung zu. 215
Der Schriftsteller Vedat Günyol erklärte den allmählichen Rückzug Ruhi Sus aus
den Nachtsclubs, er habe dem heimtückischen Druck der sogenannten „heimatrettenden
Löwen“ entgehen wollen. 216 Der Militärputsch am 12. März 1971 brachte Ruhi Su das
Auftrittsverbot. Ruhi Su traf sich mit Freunden in ihren Wohnungen und sang Türküs,
montags bei Sabahattin Eyuboğlu, donnerstags bei Azra Erhat und manchmal bei Bertan
Onaran. 217
Von dem Gründer der Bau- und Kreditbank, Kâzım Taşkent, erhielt Ruhi Su das
interessante Angebot, selbst einen Club zu eröffnen. Geschäfte aber waren nicht seine
Welt. Er schlug die Offerte der Bank höflich ab. Doch wenn es die Bank wünsche, könne
er die Musik der Gruppen, die jedes Jahr an dem von der Bank organisierten
Volkstanzfestival teilnähmen, aufnehmen, in Notenschrift aufzeichnen und archivieren.
Die Bank akzeptierte dieses Angebot, und für Ruhi Su begann eine fünfjahrige
212
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008.
Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin
(Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986): 189.
214
Vgl. VÂ-NÛ, Müzehher: Bir Dönemin Tanıklığı, (Ort und Datum ohne Angabe): 139-140.
215
Ebd. 137.
216
GÜNYOL, Vedat: Ruhi Su bir söylencedir artık, Kitaplar (Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.):
Ruhi Su’ya Saygı (1986): 246..
217
Aus dem Gespräch mit Ilgın Su vom 28. Juli 2007.
213
64
Archivierungszeit 218. Gleichzeitig sang er auch weiterhin Türküs. Im Film “Der endlose
Weg” (Bitmeyen Yol) 219 sang er ein Türkü von Serdari. 220 Es endet mit der Frage,
Serdari, was soll aus uns werden?
Serdari, halimiz böyle n’olacak?
Der kurze Stock wird sich vom langen sein Recht holen.
Kısa çöp, uzundan hakkın alacak.
Der Kolumnist Bedi Faik 221 schrieb über Ruhi Su, er habe eine Stimme, die wie
eine Kugel in die Ohren fliege und fragte die Unternehmer, wie sie jemanden
unterstützen könnten, der gegen sie sei. 222 Der Bankier Kazım Taşkent forderte Ruhi
Su auf, alle Arbeitsmaterialien in der Bank einzusammeln und zu Hause zu arbeiten.
Ruhi Su ließ aber seine Arbeitsmaterialien in der Bank und verließ sie. Später tauchte
im Buchhandel ein Band von Sadi Yaver Ataman auf mit dem Titel 100 Türkische
Volkstänze (100 Türk Halk Oyunu). Die Yapı Kredi Bank hatte ihn veröffentlicht. Er
enthielt in Wirklichkeit die Arbeit Ruhi Sus. Ruhi Su verklagte die Bank. Ataman gab
vor Gericht zu, dass der wahre Verfasser Ruhi Su war. Ruhi Su gewann den Prozess,
verlangte aber keine Entschädigung. Er stellte jedoch die Bedingung, in der zweiten
Auflage müsse der Titel unter seinem Namen erscheinen. Die Yapı Kredi Bank
veröffentlichte jedoch das Buch kein zweites Mal. Erst 1988, drei Jahre nach Ruhi Sus
Tod, wurde es mit Hilfe des damaligen Kulturministers, İstemihan Talay223, unter dem
wahren Namen veröffentlicht. 224
Seine Tätigkeit im städtischen Kasino Taksim sowie die Arbeit in der
Kulturabteilung der Yapı Kredi Bank brachte vielleicht eine gewisse Erleichterung,
jedoch dauerte diese nur einige Jahre. Er war nämlich eine gefährliche Person, weil er
218
Bertan Onaran klärte auf, mit wessen Hilfe Ruhi Su bei der Yapı Kredi Bank eine Arbeit fand. Osman
Necmi Karaca, der ehemalige Kolumnist der Milliyet, bat Kazım Taşkent, Ruhi Su eine Anstellung im
Bereich der Musik zu geben. Da er den Leidensweg Ruhi Sus kannte, verschaffte er ihm einen weiteren Job
in dem noblen Nachtclub „As Kulüp“, dessen Betreiber Erdem Buri war, der Freund der Sängerin Tülay
Germans, die sich mit Ruhi Sus Ermunterung der Volksmusik zugewand hatte.
219
Regie führte Duygu Sağıroğlu und in den Hauptrollen spielten Fikret Hakan und Selma Güneri. Darin
wird der Überlebenskampf von sechs Freunden aus der Provinz in den 1960er Jahren der Türkei erzählt.
220
Serdari (1834-1918) war ein Volksdichter aus Şarkışla-Sivas.
221
Bedi Faik war der Hauptkolumnist der Dünya. Er wurde in den 50er Jahren durch seinen harten
oppositionellen Kampf gegen die Demokratische Partei bekannt und verfolgte nach der Wahl Süleyman
Demirels 1965 die Linie der Partei der Gerechtigkeit (Adalet Partisi). Vgl.
http://tr.wikipedia.org/viki/Bedii_Faik_ Akın.
222
In den Wahlen vom 1965 erlangte die Partei AP mit Süleyman Demirel an ihrer Spitze 52%, in den
Wahlen vom 1969 48% und wurde somit zur allein regierenden Partei.
223
Sıdıka Su, gefragt, wie es sein könnte, dass ein Kulturminister den Druck eines Buches von Ruhi Su
unterstütze, antwortete, dass der Onkel İstemihan Talays ein Dorfinstitutler und begeisterter Hörer Ruhi
Sus war. Ansonsten habe sich weder die Haltung der Regierung, noch die des Staates gegenüber Ruhi Su
geändert. Das gezeigte Interesse sei rein persönlicher Natur gewesen.
224
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18-19.
65
Türküs auf ungewöhnliche Art und mit nicht willkommenen Inhalten vortrug und
gewisse Leute damit beunruhigte. 225
ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.):
Ruhi SU’ya Saygı (1986): 188-189.
225
66
2.13
Die ersten Schallplattenaufnahmen
Im Jahr 1964 stellte Sabahattin Eyuboğlu Ruhi Su den Gedanken vor,
Schallplatten aufzunehmen. Er sammelte in den Montagstreffen, die in seiner Wohnung
stattfanden, von allem Geld ein und sorgte dafür, dass Ruhi Su seine ersten 45er
Schallplatten veröffentlichen konnte. Insgesamt entstanden unter dem Label İmece
Plak 226 sechzehn im Viererpack zusammengestellte 45er Platten. 227
Die nicht mit Verfasser gekennzeichneten Lieder sind anonyme Volkslieder. Die
Türküs, die Ruhi Su auf diesen Platten singt, sind:
1A – „Der Avşar-Stamm machte sich auf den Weg“ (Kalktı Göç Eyledi Avşar Elleri),
Dadaloğlu
1B –
„Die jungen Pflanzen von Niksar“ (Niksar’ın Fidanları)
2A – „Heyamol“ (Heyamol)
2B –
„Die Brücke Drama“ (Drama Köprüsü)
3A-
„Die Heldensage von Köroğlu“ (Köroğlu Yiğitlemesi)
3B –
„Kocabey“ (Kocabey)
4A – „Die Schwäne“ (Akkuğular), Karacaoğlan
4B –
„Die Geliebte kommt“ (O Yâr Gelir), ein Tanzlied (Bir Halay)
5A – „Säugling“ (Bebek)
5B –
„Urfani“ (Urfani)
6A – „Sie weckten uns, während wir schliefen“ (Uyuriken Uyardılar), Pir Sultan Abdal
6B –
„Wieder geriet ich in ein sonderbares Gefühl“ (Yine Bir Gariplik Düştü Serime),
Kul Halil
7A – “Elif” (Elif), Karacaoğlan
7B -
„Mantıvar“ (Mantıvar)
8A – „Myrte vor ihrer Haustür“ (Evlerinin Önü Mersin)
8B –
„Das lila Schaf“ (Mor Koyun)
9A – „Meine gelbe Saz“ (Sarı Tamburam), Pir Sultan Abdal
9B –
„Alevitisches Lied“ (Nefes), Muhyi
10A– „Die Türkü von der Ansiedlung“ (İskân Türküsü), Dedemoğlu
İmece bedeutet im engsten Sinne das “Miteinander und Füreinander”. Auch Sabahattin Eyuboğlu glaubt,
dass diese alte Tradition in Anatolien seit den Hethitern besteht. Imece ist nach ihm ein Zusammenschluß
der Arbeiter, die durch das Singen einer Türkü ihre Arbeit mit Freude machen. Vgl. BAŞARAN, Mehmet:
Sabahatin Eyuboğlu ve Köy Enstitüleri (1990): 108.
227
Aus dem Interwiev mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
226
67
10B– „Hier dieses Land“ (Ha Bu Diyar)
11A– „Das Märchen aller Märchen“ (Masalların Masalı), Nâzım Hikmet
11B – „Aus dem Befreiungskriegsepos“ (Kurtuluş Savaşı Destanı’ndan), Nâzım Hikmet
12A– „Stern am Himmel“ (Gökte Yıldız)
12B– „Ein Tanzlied“ (Bir Oyun Havası)
13A– „Die Berge von Erzurum“ (Erzurum Dağları)
13B– „Das Gedicht von einem Floh“ (Pireli Şiir), Orhan Veli
14A– „Heute das Licht des Mondes“ (Bugün Ayın Işığı)
14B– „Aus der Tanne tropft Harz wie Mastix“ (Çamdan Sakız Akıyor)
15A– „Der junge Osman“ (Genç Osman)
15B– „Hätte ich doch bloß nur einen Sohn“ (Bir Oğlum Olsa)
16A– „Unsere Müllmänner in Deutschland“ (Almanya’da Çöpçülerimiz), Fazıl Hüsnü
Dağlarca
16B– „Eingangsformel“ (Tekerleme), Levni
Zu den ersten beiden Schallplattenausgaben brachte er eine Broschüre heraus.
In ihr wurden alle Türküs ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt und mit
ihrer Geschichte abgedruckt, sodass sich die Leser und Zuhörer einen Eindruck von
den Türküs machen konnten. 228
Im Jahre 1961 veranstalteten unter der Leitung von Sabahattin Eyuboğlu Yıldız
Kenter, Müşfik Kenter, Genco Erkal, Kamuran Yüce, Çiğdem Selışık, Sadri Alışık,
Çolpan İlhan und Şükran Güngör einen Vortragsabend mit dem Titel „İmece. Ein
Liederabend voller Sterne” (Yıldızlı Bir Türküler Gecesi) Das Ziel war, Ruhi Su mit
seinen Zuhörern zusammenzubringen und für seine zu veröffentlichenden Lieder eine
finanzielle Hilfe zu erlangen. Es war das erste Mal nach langen Haftjahren, dass er
wieder vor ein Publikum trat. 229 Bei dieser Gelegenheit hat Ruhi Su die anatolischen
Volksklassiker wie Karacaoğlan, Yunus Emre, Pir Sultan und Köroğlu, die heute aus dem
kulturellen Leben nicht mehr wegzudenken sind, unter seinem Firmennamen İmece neu
aufgenommen und interpretiert. Viele Schallplatten konnten nur entstehen, weil seine
Freunde aus Solidarität Geld zur Verfügung stellten.
Siehe SU, Ruhi: Türküler İmecesi, Beiheft zu İmece Plakları I und II (1967).
Vgl. YEZDANİ: İpek: Interview mit Sıdıka Su, Cumhuriyet Hafta (11. Feb. 2000) und EYUBOĞLU,
Sabahattin: Yıldızlı Bir Türküler Gecesi, İmece 3, (Mai 1961): 452-462. In: ERHAT, Azra (Hrsg.):
Sabahattin Eyuboğlu - Bütün Yazıları I (1981): 321-324.
228
229
68
2.14
Die Sicht der putschenden Militärs auf Ruhi Su und wie Ruhi Su sie sah
Am 27. Mai 1960 ergriffen junge Offiziere die Macht ohne Anordnung der
vorgesetzten Generäle. Diese Bewegung brachte der türkischen Gesellschaft eine
Öffnung zur Demokratie und auch zu Linken. 230 Der Putsch unterschied sich von den
Putschen vom 12. März 1971 und 12. September 1980: Er entsprang einer Verbindung
von Militärs, Intellektuellen und Studenten gegen die Regierung, wogegen die anderen
Putsche im Sinne der Regierungen agierten. 231
Ruhi Su fand Raum für seine künstlerische und politische Arbeit, als im Jahre 1961
eine neue Verfassung eingeführt wurde und Ansätze zur demokratischen Ordnung
entstanden, so die Einrichtung von Arbeiterrechten und die Gründung von
Gewerkschaften und linken Parteien. 232 Diese Freiheit war jedoch nicht von langer
Dauer, denn die Linken, zu denen auch Ruhi Su gehörte, gerieten durch die beiden
Putsche von 1971 und 1980 in große Bedrängnis. Wie viele andere Intellektuelle, unter
ihnen Aziz Nesin, Yılmaz Güney, Melih Cevdet Anday, Fazıl Hüsnü Dağlarca, Nevzat
Üstün, Hasan Ali Ediz, Nevzat Hatko, Rıza Nur und Turhan Selçuk wurde auch Ruhi Su
1971 unter Polizeigewahrsam genommen, 233 verhört und verlor die Grundlage seine
Auftritte. Als linker Künstler galt er ständig als verdächtig und Unruhestifter. Das Jahr
1980 brachte ihm dann erneut einen solchen Verlust.
Wie das Militär Ruhi Su betrachtete, wird aus einem Artikel deutlich, der in der
Zeitung Cumhuriyet vom 12. September 2000 erschien. Am 12. September 1980 wurde
die staatliche Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu, TRT)
von einem General mit seinen Soldaten besetzt. Heldenlieder und Märsche von Hasan
Mutlucan wurden gesendet. Vom Generalstab kam ein Anruf, wer denn Ruhi Su singen
lasse. Der General Servet Bilgi holte seine Waffe heraus und richtete sie auf die
angeblich Schuldigen der Sendung. Er hatte sich freilich verhört. Nicht Ruhi Su war
BELLİ, Sevim: Boşuna mı Çiğnedik? (2006): 451.
Vgl. AREN, Sadun: Puslu Camın Arkasından (2006): 93. Weiterführend siehe CEM, İsmail: Türkiye’de
Geri Kalmışlığın Tarihi (1979): 369-374; AKŞİN, Sina: Kısa Türkiye Tarihi (2011): 265-273; KONGAR,
Emre: Tarihimizle Yüzleşmek (2006): 196-203; GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 155-177.
ÖYMEN, Örsan: Bir İhtilal Daha Var (1986): 261-284; ORTAYLI, İlber: Türkiye’nin Yakın Tarihi
(2010):111-120 sowie AYDEMİR, Şevket Süreyya: Menderes!in Dramı (1969).
232
Siehe oben Kap. 2.6.2.
233
Vgl. URGAN, Mina: Bir Dinozorun Anıları (1998): 298 sowie ALKAN, Türker: Aydınlarını hapseden
toplum barbardır, Radikal vom 25. Aug.1998. In:
http://www.radikal.com.tr/1998/08/25/yazarlar/turalk.html. Abgerufen am 4. Apr. 2001
230
231
69
gespielt worden, sondern Hasan Mutlucan, ein im Grunde unverzichtbarer Sänger
patriotischer Lieder. 234
Umgekehrt wird Ruhi Sus Sicht auf das Militär aus einer Episode deutlich. Auf
die Einladung der Türkischen Lehrervereinigung (Türkiye Öğretmenler Birliği, TÖBDER) fuhr er am 17. April 1978, dem 38. Jahrestag der Gründung der Dorfinstitute, nach
Adapazarı zu einem Konzert. Nach diesem setzte er sich mit dem Vorstand der
Lehrervereinigung zusammen. Ein Mann kam in den Raum, stellte sich als Offizier vor
und fragte, ob die Bastarde in der Regierung bald verschwinden würden. 235 Ruhi Su
entgegnete mit distanzierter Stimme, dass er es nicht wissen könne. Als der Offizier den
Raum verließ, steckte er Ruhi Su einen Zettel in die Brusttasche. Ruhi Su zerriss den
Zettel und erklärte,
Ihr seid noch jung. Glaubt bloß nicht, das Militär sei revolutionär. Wenn
wir jetzt hinausgehen und bei einer Militärkontrolle dieser Zettel in meiner
Tasche gefunden wird, wird man mich eines Komplotts beschuldigen und einfach
verhaften. 236
Ruhi Su wusste sehr genau, dass Nâzım Hikmet mit einem ähnlichen Trick verhaftet
worden war. 237
234
Vgl. TÜRKER, Şule: Darbecilerın Ruhi Su Allerjisi. In: http://arsiv.sabah.com.tr/2001/05/02/g12.htm.
Abgerufen am 5. Apr. 2011.
235
Gemeint ist hier die damals regierende Nationale Front (Milliyetçi Cephe) unter Ministerpräsident
Demirel. In den Jahren 1975 und 1977 bildeten die rechtsorientierten Parteien Gerechtigkeitspartei (Adalet
Partisi, AP), Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi, MSP) und Partei der Nationalistischen Bewegung
(Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) eine Regierung, um die linksorientierte Republikanische Volkspartei
(Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) zu hindern, erneut an die Macht zu kommen.
236
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sep. 2010 in İstanbul.
237
Über die Haft von 15 Jahren Nâzım Hikmets vgl. AYDEMİR, Aydın: Nâzım (1986): 212-225 und A.
Kadir: 1938 Harp Okulu Olayı ve Nâzım Hikmet (1993).
70
2.15
Ruhi Su im Ausland
In seinem gesamten Leben erhielt Ruhi Su nur im Jahr 1977 einen Reisepass.
Diesen bekam er mit Hilfe von Ahmet İsvans, des damaligen Bürgermeisters der Stadt
İstanbul und Mustafa Necdet Uğurs, des damaligen Innenministers. 238 Wie jeder andere
Künstler wollte auch er, dass seine Stimme im Ausland bekannt würde. Deutschland,
Holland, Großbritannien, Schweden und Frankreich waren die ersten Stationen, an denen
er mit Begeisterung empfangen wurde und wo er seine Stimme bekannt machte.
239
Im
März des Jahres 1981 flog er auf eine Einladung des türkischen Arbeitervereins für ein
Konzert nach Sydney. Das australische Fernsehen erarbeitete vom ersten Tag an an eine
Dokumentation über sein Leben, Schaffen und Stellung im Volk. Am Flughafen hatte
man ihn bereits mit einer unvorstellbaren Liebe und Zuneigung empfangen. Die
Menschenmenge aus einfachen Männern, Frauen und Kindern, Jungen und Alten trug
ihn auf Schultern. In der halbstündigen Dokumentation wird deutlich, wie diszipliniert
und genau er arbeitete und wie viel Respekt er der Arbeit zollte. Umgekehrt waren der
ihm entgegengebrachte Respekt und die Zuneigung von größter Bedeutung für ihn. 240
238
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 20.
Vgl. HIZLAN, Doğan im Gespräch mit Ruhi Su: Çoksesliliğe Götüren Her Çabayı Saygı ile
Karşılıyorum, Cumhuriyet (28. Apr.1979). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985) 138.
240
Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).
239
71
2.16
Ruhi Sus letztes Konzert im Februar 1983
Ruhi
Sus
letztes
Konzert
fand
zu
Ehren
der
Apdi-İpekçi 241-Friedens-und-
Freundschaftswoche für die türkisch-griechische Freundschaft am 6. Februar 1983 im
„Istanbuler Şan Theater” (Şan Tiyatrosu) statt. Er durfte seit dem Militärputsch vom 12.
September 1980 in der Türkei nicht auftreten, deswegen hatten er und seine Zuhörer
große Sehnsucht nach dem Konzert. Ob er überhaupt würde auftreten können, war bis
zum letzten Augenblick unsicher. Unter den Zuhörern brach großer Applaus aus, noch
bevor der Moderator ansagen konnte, dass Ruhi Su auftreten werde. Es gibt einen
anrührenden Bericht von diesem Konzert. Auf der riesigen Bühne des Şan Theaters stand
Ruhi Su, seine Saz in der Hand. Der Applaus wollte nicht enden. Dabei hatte er weder ein
Wort gesagt noch die Saiten seiner Saz berührt. Er stand da, schaute auf die klatschenden
Hände, in die Gesichter, verbeugte sich und wartete. Aber es war, als wolle der Applaus
nie enden. Schließlich sah er, dass die begeisterten Menschen so schnell nicht aufgeben
würden. Dann griff er zu seinem Instrument. In diesem Augenblick hielten Tausende
Menschen den Atem an. Die Menschen im Saal gaben ihrer Sehnsucht, Begeisterung und
Entbehrung sowohl mit der Intensität des Applauses als auch der eintretenden Stille
Ausdruck. Die starke Stimme, die
Dies ist unser Land,
Bu memleket bizim,
Dies ist unseres, Herzensfreunde.
Bizim dostlar.
sang, wurde zu ihrer Stimme. 242
Ruhi Su, der sein erstes Konzert am 14. Juli 1944 im Volkshaus Ankara unter dem
Titel “Türkü Resitali” gegeben hatte, konnte nach dem Konzert am 6. Februar 1983
wegen seiner Krankheit nie wieder vor Zuschauern spielen. Nur eine schwere Krankheit
konnte ihn abhalten zu singen. Diese Einstellung hatte er schon 1981 deutlich gemacht,
als er in einem Interview mit einem Fernsehsender bekannte:
Abdi İpekçi (1929-1979) war der Chefredakteur der Milliyet. Er wurde am 1. Februar 1979 von dem
Rechtsextremisten Mehmet Ali Ağca erschossen. Ağca hat zwei Jahre später im Jahre 1981 auf dem
Petersplatz in Rom auf den Papst geschossen. İpekçi warb in seinen Artikeln für Demokratie und
Menschenrechte. Besonders trat er für die Aussöhnung von Griechen und Türken ein. Auf eine griechische
Initiative hin wurde kurz nach İpekçis Tod der Abdi-İpekçi-Preis initiiert, der Personen und
Nichtregierungsorganisationen ehrt, die sich für den Frieden und die Völkerverständigung zwischen der
Türkei und Griechenland einsetzen.
242
ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1.Mai 1984). In: DİNÇER,
Mekin (Hrg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 203.
241
72
Ich bin immer sehr zufrieden, wenn ich Türküs singe. Ich fühle mich erst dann
lebendig, wenn ich singe. Also, Türküs nicht singen zu können, kommt mir vor,
als ob ich am Ende sei. 243
243
Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).
73
2.17
Ruhi Sus Krankheit
Im Mai 1984 sprach Ruhi Su davon, er sei seit einigen Monaten schwerfälliger
geworden und könne auch beim Sazspielen seinen Fingern die gewünschte Rhythmik und
Beweglichkeit nicht mehr geben. Er habe das Gefühl des Altwerdens. 244 Eine
medizinische Untersuchung ergab zunächst den Befund, er habe Parkinson. Eine erneute
Untersuchung wollte Gicht im Nacken festgestellt haben. Erst nach einer Biopsie stand
die Diagnose endgültig fest: Er hatte Prostatakrebs im fortgeschrittenen Stadium. 245 In
diesem Jahr verschlechterte sich seine gesundheitliche Situation zusehens. Er wurde
schnell müde.
Vielleicht hoffte er deshalb so sehnsüchtig, dass sein Buch “Singendes Herz”
(Ezgili Yürek) so schnell wie möglich erschien. Das Buch war jetzt sein Leben; es war
eine Form seiner Kunst; eine andere Form des Türküsingens. Er zeigte sein Manuskript
seinen Freunden, ebenso, wie er seinen Freunden die Türküs vorgetragen hatte und ihre
Meinung eingeholt hatte, bevor er eine Schallplatte herausbrachte. 246 Schließlich erschien
noch zu seinen Lebzeiten das lang ersehnte Buch, das seine Gedichte, Liedertexte,
Schriften über die Musik, ein Resümee über sein Leben und Wirken sowie
Gesprächsaufzeichnungen zum Inhalt hat. Neben seinem musikalischen Schaffens ist dies
die einzige Quelle, die in Buchform erschienen ist.
Prof. Dr. Klaus Liebe- Harkort (Universität Bremen) reiste in die Türkei und
besuchte den Freund Ruhi Su. Als er zurück kam, organisierte er über den befreundeten
Dr. Lotze eine medizinische Betreuung in Berlin für Ruhi Su. Dr. Lotze, ein Psychiater in
Berlin, war ein Bewunderer Ruhi Sus. Als er von dessen Krankheit hörte, schrieb er ihm
einen Brief, in dem er anbot, ihn in Berlin zu behandeln zu lassen. Die türkischen
Behörden stellten Ruhi Su Hindernisse in den Weg; sie behaupteten, Ruhi Su habe keinen
Antrag auf einen neuen Reisepass gestellt und daher sei ihm die Ausreise nicht gestattet.
In den Medien machten türkische Intellektuelle wie Atilla Özkırımlı, Mustafa Ekmekçi,
Uğur Mumcu und Şükran Ketenci auf dieses Fehlverhalten aufmerksam. Auch im
Ausland
fand
Ruhi
Su
Unterstützung.
So
startete
Hüseyin
Erdem
eine
Unterschriftenaktion für eine Einreise Ruhi Sus nach Deutschland. Auf der Liste finden
sich die Unterschriften von Günther Grass, Heinrich Böll, Ingeborg Drewitz, Siegfried
ORAL. Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1.Mai 1984). In: SU, Ruhi,
Ezgili Yürek (1985): 183-184.
245
Aus dem Interview mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
246
Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 186.
244
74
Lenz, Wolf Biermann und Günther Wallraff. Ruhi Su bedankte sich bei den
Unterzeichnern in einem Brief vom 8.4.1984:
Ich kenne keinen anderen Zustand, der stolzer macht, als die Einsicht, dass man
auf dieser Welt nicht allein ist.247
Die Liste wurde an das Türkische Kulturministerium gesandt mit der Bitte, Ruhi Su so
schnell wie möglich die Ausreise zu erlauben. Eine Kopie des Schreibens erhielt auch
Ruhi Su. Die Behörden blieben ablehnend, ob er nun todkrank war oder nicht. In einem
Gespräch über die Probleme bei der Ein- und Ausreise in die Türkei erklärte Ruhi Su ihre
hinhaltende Taktik gegenüber den Linken, insbesondere denen von 1951: “Sie vergessen
alle, nur uns nicht.” 248 Schließlich wurde ihm ein neuer Reisepass mit einer einmaligen
Ausreisegenehmigung ausgestellt. Aber es war zu spät. Er starb am 20. September 1985
in İstanbul. Diese einem alten Künstler zugefügte Schande haftet, wie İsmail Cem
ausführt, bis heute auf dem Gewissen der türkischen Gesellschaft. 249
247
Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 58.
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln.
249
CEM, İsmail: Ruhi Su ve Bir Anı, Güneş (22. Sept. 1985). İn: DİNÇER, Mekin (Hrg.): Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 160.
248
75
2.18
Ruhi Sus Beerdigung am 20. September 1985 in İstanbul
Nach dem Trauergottesdienst in der Şişli Moschee wurde der Sarg mit dem
Leichnam von der Trauergemeinde in einem langen Trauerzug zum Zincirlikuyu Friedhof
getragen. Der Andrang in die Moschee war groß. Viele Freunde waren anwesend, wie
auch sehr zahlreiche Menschen aus der Umgebung. Seit dem Militärputsch von 1980 war
es die größte Menschenansammlung im Land, obwohl die Regierung kurz nach dem
Putsch Versammlungen größerer Art verboten hatte. Es herrschte eine hohe
Polizeipräsenz. Je zahlreicher die Ansammlung wurde, desto strikter wurden die
Anweisungen der Polizei, die schließlich in vielen Verhaftungen endeten. Das Verhalten
der Polizei provozierte die Menschen so sehr, dass die Trauerfeier sich zu einem Protest
gegen die Staatsmacht wandelte. Einige Stimmen seien zitiert: „Bei der Beerdigung von
Ruhi Su kamen nach einer langen Zeit wieder zum ersten Mal Trauer, Freude,
Versammlung und Demonstration zusammen.“ 250 „Es war, als ob in dieser Trauerfeier
Freude und Leid ineinander übergingen. Jeder sprach vom Glanz dieser Feier.“
251
Der
Satiriker Aziz Nesin sagte in seiner Grabesrede über Ruhi Su und seinen Tod: „Wir
haben einen wertvollen Menschen verloren: Eine schöne Stimme, ein schönes Werk, ein
menschliches Herz. Wir erbten von ihm Unvergängliches, Werte, die überdauern werden.
Wie einst der Dichter Şeyh Galip zu seinem Zeitgenossen Nefi sagte: ‚Schade, dass du
durch ein unfruchtbares Tal gerannt bist’, ist Ruhi Su auch in der Wüste der unfähigen
Regierungen verloren gegangen.“ 252 „In der Trauergemeinde waren alle Freunde
beisammen, aus allen Generationen, aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Es
war eine Ansammlung, die sich durch Liebe und Respekt auszeichnete.“ 253
Die Zeitungen sprachen in ihren Schlagzeilen davon, dass man ihn auch in seiner
letzten Stunde nicht in Ruhe gelassen habe. Das Fernsehen meldete seinen Tod nur knapp
und schwieg anschließend. Anscheinend war jemand wegen der Nachricht zu
Rechenschaft gezogen worden. Weder wurden eines oder zwei seiner Lieder noch
Abschnitte aus seinen Konzerten gespielt. 254
KÜÇÜK, Yalçın: Yüzünde Hep Sazının Tellerinin Titreşimlerini Gördüm, Aydın Üzerine Tezler 4. In:
DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 289.
251
EKMEKÇİ, Mustafa: Bir Düş Gibi, Cumhuriyet (25.Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi
Su’ya Saygı (1986): 173.
252
NESİN, Aziz: Die Abschiedsrede am Grab von Ruhi Su. In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.):
Blüte in Volksliedern (1985): 32.
253
HEKİMOĞLU, Müşerref: İyi ki Geldin ve Gitmedin, Cumhuriyet (26. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin
(Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 181.
254
KEMAL, Mehmed: Ruhi Su için, Cumhuriyet (26. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 178.
250
76
Seine Gegner, die Zeit seines Lebens ihm keine Ruhe gaben, versuchten nach
seinem Tod sogar sein Grab zu schänden. Auf Ruhi Sus Grabstätte in Zincirlikuyu war
1988 ein Denkmal gesetzt worden. Ein schlimmer Angriff erfolgte am 10. Juli 2009, über
den die Tageszeitung Milliyet berichtet. Als die Attentäter das 40cm große und aus Glas
bestehende Denkmal nicht hatten zerstören können, verwüsteten sie es mit einem
Schuss. 255
255
EZBER, Elvan: Ruhi Su ve eşinin mezarına saldırı, Milliyet (10. Juli 2009): 1, 4.
77
3.
Gedenken an Ruhi Su
3.1
Die Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul
Um das Andenken an Ruhi Sus Person und seine Stimme nicht in Vergessenheit
geraten zu lassen und um seine Ideen weiterzuentwickeln und an die jüngere Generation
zu vermitteln, gründeten Sıdıka Su und Ilgın Su 1997 in İstanbul „Die Ruhi Su Kulturund Kunststiftung”. (Ruhi Su Kültür ve Sanat Vakfı). 256 Die Stiftung versuchte bis zum
Tod von Frau Su im Jahre 2006 seine Person durch verschiedene Aktivitäten wie
Chorauftritte, Vorträge und Lesungen sowie der Produktion von CDs und Büchern in der
Öffentlichkeit lebendig zu halten. Die Stiftung war in ihrer Arbeit sehr engagiert. Jedoch
wurde sie am 26. Februar 2010 wegen bürokratischer Hindernisse und mangelnder
Finanzierung geschlossen. 257
Die Stiftung publizierte zwei Bände, zunächst „Ruhi Sus Lieder“ (Ruhi Su
Türküleri) wo man alle veröffentlichten Liedertexte findet, herausgegeben 2000 von
Karabey Aydoğan. Dann „Auch Ruhi Su durch die Welt gegangen“ (Bir de Ruhi Su
Geçti). Dieser Band herausgegeben von Füsun Akatlı, 2001, enthält Bilder, den
Lebenslauf und eine von der Herausgeberin veranstaltete Auswahl von Artikeln über
Ruhi Su.
Einige Veranstaltungen der Stiftung sollen erwähnt werden:
Konzert am 4. Juni 1999 mit Cem Karaca, Uğur Dikmen, Perihan Solak und Karabey
Aydoğan in Harbiye / İstanbul.
Bilderausstellung, 9. - 25. 2000 im Atatürk Kulturzentrum / İstanbul.
Ruhi Su Konzertabend, „Türküler İmecesi“, 27. November 2000 mit Özgür Ürem Can,
Devrim Can, Ufuk Karakoç, Tuncer Tarcan, Ömer Yılmaz und Hasan Yükselir im
Atatürk Kulturzentrum / İstanbul.
Ruhi Su Konzertabend, 26. November 2001 mit der Gruppe „Üç Deniz“ und Sabahat
Akkiraz im Atatürk Kulturzentrum / İstanbul.
In allen Veranstaltungen der Stiftung nahm “Der Ruhi Su Chor der Freunde” (Ruhi Su
Dostlar Korosu) mit Ruhi Sus Liedern teil. 258
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
Vgl. http://www.odatv.com/n.php?n=ruhi-su-vakfi-neden-kapandi-1305101200. Abgerufen am 21. Feb.
2010.
258
Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 112-115.
256
257
78
3.2
Der Förderverein der „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung e.V.“ in Oberhausen
Im Jahre 2000 kamen in Oberhausen Arbeiter, Lehrer und Studenten aus der
Türkei zusammen und gründeten den „Förderverein der Ruhi Su Kultur- und
Kunststiftung e.V.“, um die Ideen Ruhi Sus weiterzutragen, die Stiftung in İstanbul
finanziell zu unterstützen und die Kultur der in Deutschland lebenden Landsleute zu
fördern. 259 Diese Menschen sollen Ruhi Su als eine wichtige Persönlichkeit ihrer Kultur
kennenlernen
und
seine
Ideen
weitertragen.
Der
Verein
will
ein
engeres
Zusammenrücken der Türken in Deutschland ermöglichen, damit sie ihre Kultur und
Geschichte besser kennenlernen. Durch einen Chor, Konzerte und Ausstellungen soll das
soziale Miteinander gestärkt werden. Die folgende Auswahl gibt einen Überblick über
Veranstaltungen des Fördervereins:
04.02.2000
Eröffnungsfeier
27.02.2000
Gedenkfeier zu Ehren der Künstlerin Sümeyra
09.04.2000
Diskussionsveranstaltung zum Thema „Ruhi Su und die
Volkslieder“
19.11.2000
Eine Hommage an Ruhi Su
29.04.2001
Freundschafts- und Solidaritätsabend
09.07.2002
Gedenkfeier zu Ehren Nâzım Hikmets
20.04 - 02.07.2002
Gemäldeausstellung türkischer Künstler in Deutschland
14.11.2004
Erinnerungen an Ruhi Su und Sümeyra
04.11. – 09.12.2007
Gemäldeausstellung Gönül Şen-Menzel
26.04.2009
Eine Hommage an Ruhi Su.
25.04.2010 und 11.03.2011 Konzerte
Die Künstler stellten der Gemäldeausstellungen einen Teil ihres Honorars der
Stiftung in İstanbul zur Verfügung. Mit der Auflösung der Stiftung verlor der
Förderverein in Deutschland einen Teil seiner ursprünglichen Aufgaben und
konzentrierte sich, wie oben angedeutet, auf kulturelle Ziele in Deutschland. Die neue
Zielrichtung spiegelt sich in der Namensänderung zu einem „Verein zur Förderung des
Lebenswerks Ruhi Su e.V.“.
259
Siehe Evrensel Avrupa vom 22. Jan. 2000 und vom 10. Feb. 2000 und Hürriyet Avrupa vom 18. Feb.
2000.
79
Durch die Zusammenarbeit mit dem Verein „Alevitische Gemeinde AltOberhausen und Umgebung e.V.“ wurde im Jahr 2008 ein Chor gegründet, welcher
„ Chor der Freundschaft“ (Dostluk Korosu) benannt wurde. Es wird verstärkt mit Ruhi
Sus Türküs gearbeitet. Es ist von Bedeutung, dass die in Oberhausen und Umgebung
lebenden jungen Menschen Ruhi Su, seine Kunst und Vortragsart kennenlernen. Seine
Musik wird offensichtlich über die Jahrzehnte noch geliebt; daran ändert auch nichts,
dass seine Stimme in den staatlichen Medien nicht mehr erklingt: für viele Menschen
bleibt sie dennoch hörbar auf seinen Schallplatten und in den Konzerten im-In- und
Ausland wie den „Hommagen an Ruhi Su“, welche von einer großen Ehrerbietung
geprägt waren.
80
4.
Ruhi Su und die Kulturpolitik Mustafa Kemals
4.1
Mustafa Kemals Reform der Bildungsinstitutionen
Am 24. Juli 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Regierung in Ankara von
der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Mustafa Kemal rief am 29. Oktober 1923
die Türkische Republik aus. Am 24. November 1934 wurde ihm von der Großen
Nationalversammlung der Nachname Atatürk verliehen. Folgerichtig wird hier von seiner
Politik vor diesem Tag als derjenigen Mustafa Kemals gesprochen und von den späteren
Politik als derjenigen Atatürks. Er vollbrachte in kürzester Zeit Reformen, die das Land
in politischer sowie sozialer Hinsicht radikal verändern sollten: 260 Er begann nur wenige
Monate nach der Republikgründung mit der Abschaffung des Kalifats (3. März 1924).
Auch die Bildungsreform gehörte zu den zentralen Bereichen der Neuordnung. Er brachte
folgende Reformen zügig auf den Weg:
- Die Vereinheitlichung des Erziehungssystems (3. März 1924)
- Die Einführung der lateinischen Schrift (1. November 1928)
- Die Gründung des Institutes für türkische Sprache und Geschichte (1931 - 1932)
- Die Regelung der Universitätsausbildung (31. Mai 1933)
Hinzu kamen für unser Thema ausschlaggebende Neuerungen auf dem Gebiet der
Schönen Künste und Musik, welche, wie unten ausgeführt, den Idealvorstellungen
Atatürks entsprechen sollten. 261
Vgl. KOÇAK, Cemil: Siyasal Tarih 1923-1950. In: AKŞİN, Sina (Hrsg): Türkiye Tarihi 4, Çağdaş
Türkiye 1908-1980 (1989): 111-113. Die Nationalversammlung verabschiedete am 3. März 1924, am
gleichen Tag, an dem das Kalifat abgeschafft wurde, das Gesetz zur Vereinheitlichung des
Erziehungssystems (Tevhid-i Tedrisat Kanunu). Demnach wurden alle Schulen an das Ministerium für
Bildung und Erziehung gebunden. Die Nationalversammlung beschloss am 30. November 1925 die
Schließung der Derwischklöster. Am 17. Februar 1926 wurde das Zivilrecht nach Schweizer Vorbild und
am 1. März das Strafrecht nach italienischem Recht verabschiedet. Der 2. große Parteitag der
CHF(Cumhuriyet Halk Fırkası) beschloss, die Staatsangelegenheiten von der Religion zu trennen. Zum
ersten Mal wurde der Begriff „Laizismus“ eingeführt. Der in der Verfassung von 1924 enthaltene Artikel,
der Islam sei die Staatsreligion, wurde 1928 durch einen Gesetzeserlass aufgehoben. Im selben Jahr wurden
die lateinische Schrift eingeführt, und die arabischen Schriftzeichen abgeschafft. Am 3. April 1930 wurde
den Frauen das aktive und passive Wahlrecht bei lokalen Wahlen zugesprochen. Am 5. Dezember 1934
wurde das Gesetz verabschiedet, das den Frauen das Recht gab, sich zu Abgeordneten wählen zu lassen. In
den Generalwahlen von 1938 wurden 18 Frauen zu Abgeordneten gewählt. Vgl. ADANIR, Fikret:
Geschichte der Republik Türkei (1995): 36-38.
261
Das Verhältnis Atatürks zur Musik wurde von Falih Rıfkı Atay in einem Satz zusammengefasst: „Die
Musik, die er liebte, war Alaturka, aber er glaubte an die westliche Klassik.“ Nach KREISER, Klaus:
Atatürk. Eine Biografie (2008): 200.
260
81
4.2
Atatürks Musikpolitik
Bei ihrer Gründung sah die Republik sich mit einem schwierigen Problem
konfrontiert: Die neue Staatsform erforderte eine neue Identität. Der Bruch mit der
osmanischen Identität, welche neben anderem auch die kulturellen Äußerungen umfasste,
war unumgänglich und schloss den Bruch mit der osmanischen Musik ein. Ziya Gökalp
plädierte für eine Synthese der alten anatolischen Volksmusik mit einer neuen, modernen,
die auf ihre Vorbilder im Westen sah. Da die türkische Volksmusik der türkischen Kultur
und die westliche Musik zu der neuen, angestrebten Zivilisation gehörten, würden beide
musikalische Strömungen für die Türken gleich annehmbar. Deshalb würde die türkische
nationale Musik durch die Integration (Verbindung) der türkischen Volksmusik und
westlichen Musik entstehen. 262 Der Maler und Karikaturist Zahir Güvemli (1913 - 2004)
äußert sich über die Übereinstimmung zwischen Ziya Gökalp und Ruhi Su: „Die
durchaus richtige Vorstellung Ziya Gökalps darüber, dass man die traditionelle
Volksmusik mit der westlichen Technik wiedergeben sollte, fiel bei Ruhi Su auf
fruchtbarem Boden. 263
In den Augen des Gründers der Republik widersprach die höfische Musik einer
modernen westlichen Orientierung. Er hielt sie für eintönig; außerdem diente sie nicht als
Träger der türkischen Kultur. Die Volksmusik hingegen gibt die eigentliche Kultur der
Bevölkerung wieder. Aber auch sie ist qualitativ unzureichend. Man soll dem Volk daher
etwas Neues bieten. Die Volksmusik muss mit der hoch entwickelten westlichen Musik
verbunden werden. 264
Der Wille Mustafa Kemals zur Erneuerung äußerte sich bei einem Konzert. Er
ging vom 9. auf den 10. August 1928 in den Gülhane Park (Sarayburnu), um nach der
Ankündigung der Schriftreform das angebotene Konzertprogramm zu hören. Zuerst trat
ein europäisches Orchester auf, dann eine ägyptische Sängerin und zum Schluss eine
türkische Kammermusikgruppe (incesaz) aus Instrumentalisten und Chorsängern.
Mustafa Kemal gefiel eine Arie aus „Tosca“, darauf bat er die Ägypterin MÙnÐra al
MahdÐyya um ein arabisches Lied, das er seit seiner Stationierung in Syrien gut kannte.
GÖKALP, Ziya: Türkçülüğün Esasları (1987): 127-128. Gökalp kennzeichnete die Kultur als national
und die Zivilisation als international. Nach Atatürk hingegen gab es nur eine Kultur. Sie war ein
gemeinsames Produkt der Menschheit und zeigte sich zur damaligen Zeit im West-Europa. Diese Ansicht
Atatürks war auch ein Grund, aus dem er eine westliche Gesellschaft schaffen wollte. Vgl. KONGAR,
Emre: Atatürk Üzerine (1983): 69-76.
263
Vgl. GÜVEMLİ, Zahir: Tercüman (31. Juli 1962). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 45.
264
Vgl. SOLMAZ, Metin: Türkiye’de Pop Müzik (1996): 21-22.
262
82
Von ihrem Programmbeitrag war Mustafa Kemal wenig begeistert. Er soll sich um zwei
Uhr morgens verärgert über die amateurhafte Darbietung in seine Sommerresidenz
zurückgezogen haben. 265 Er kommentierte nach dem Konzert, dass die orientalische
Musik in keiner Weise den wissbegierigen türkischen Geist und seine Gefühle erfüllt.
Erst als die Musik der zivilisierten westlichen Welt gespielt wurde, ist das Volk erwacht.
Alle haben getanzt und sind fröhlich gewesen, wie es ihrer Natur entspricht. Wenn diese
Eigenschaft des Volkes bis heute nicht entdeckt worden ist, ist es nicht dessen Schuld.266
Für ihn war der künstlerische Gehalt nicht ausschlaggebend. Er maß der Stimmung einen
höheren Stellenwert zu. Eine lethargische und traurige Stimmung war für ihn ein
Symptom der osmanischen Musik und daher für seine Republik unbrauchbar. Zur
westlichen
Musik
dagegen
tanzten
Frauen
und
Männer
gleichzeitig.
Diese
Zurschaustellung der Gleichberechtigung von Frau und Mann hielt Mustafa Kemal für
entscheidend. 267
Seine Auffassung von Musik wollte er der türkischen Nation nahe bringen.
Deshalb schickte er viele junge und talentierte Studenten nach Europa, welche die
westliche Musik lernen und später in der Türkei ausüben und lehren sollten. 268 Er ersetzte
den Begriff der „Orientalischen Musik“ durch „Byzantinische Musik“, wie er dem
deutschen Journalisten Emil Ludwig darlegte: „Dies alles sind Überbleibsel der
Byzantiner. Unsere wirkliche Musik hören Sie aus dem Mund der anatolischen
Bevölkerung. Unter „Byzantinischer Musik“ verstand er die Musik des osmanischen
Hofs. 269
Seine ablehnende Haltung gegenüber der Traditionellen Kunstmusik wurde 1934
vom damaligen Innenminister Şükrü Kaya unreflektiert übernommen und führte zu einer
vollständigen Verbannung der Kunstmusik im Radio zwischen 1934 und 1936. Dieses
Verbot wurde erst durch eine Anordnung Atatürks aufgehoben.“ 270
265
Nach KREISER, Klaus: Atatürk-Eine Biographie (2008): 202.
Nach SAYGUN, Ahmet Adnan: Atatürk ve Musiki (1981): 6.
267
Ebd. 7-8.
268
Siehe unten Kap. 5.3.
269
Vgl. Demeç ve Söylevler: Vossische Zeitung muhabirine demeç, Cilt 3, (21-24 / 3 / 1930): 89. In:
SAYGUN, Adnan: Atatürk ve Musiki (1981): 9-10..
270
Vgl. KREISER, Klaus: Atatürk-Eine Biographie (2008): 202. Es bestand freilich ein deutlicher
Widerspruch: Atatürk liebte für seine Person und im privaten Kreis die traditionelle Kunstmusik sehr,
lehnte sie aber für das türkische Volk ab. An einem solchen Musikabend warf ein Freund ihm vor „Du
belehrst das Volk, tust aber das Gegenteil.“ Atatürk entgegnete: „Muss die Regierung überall im Land
Kneipen eröffnen, nur weil wir hier Rakı trinken? Vgl. ATAMAN, Sadi Yaver: Atatürk ve Türk Musikisi
(1991). In: SOLMAZ, Metin: Türkiye’de Pop Müzik (1996): 23-24.
Das Verhältnis Atatürks zur Musik wurde von Falih Rıfkı Atay in einem Satz zusammengefasst: „Die
Musik, die er liebte, war Alaturka, aber er glaubte an die westliche Klassik.“ Nach KREISER, Klaus:
Atatürk. Eine Biografie (2008): 200.
266
83
Es ging ihm darum, dass man eine türkische Musik schaffe, welche die türkischen
Melodien mit westlichem Wissen, westlicher Technik, Orchestern und Instrumenten
vereint. Er wollte, wie die Russen es mit ihrer eigenen Musik getan hatten, die türkische
Musik international machen. 271 Atatürk forderte die Errichtung eines staatlichen
Musikkonservatoriums
(Devlet
Musiki
Konservatuvarı).
Man
entschloss
sich,
ausländische Fachleute heranzuziehen. Im Frühjahr 1935 fand man einen geeigneten
Experten, den deutschen Musiker und Komponisten Paul Hindemith. Dieser kam zuerst
1935 nach Ankara, danach (bis 1937) noch dreimal, jeweils nur für kürzere Zeit.
Während Hindemith die Musikabteilung des geplanten Konservatoriums einrichtete,
baute Carl Ebert die Theaterabteilung (Schauspiel und Oper) auf. 272 Diese beiden Namen
charakterisieren auch das musische Klima, welches Ruhi Su vorfand.
Atatürk erstrebte im Grunde eine modernistisch technokratische Erneuerung nach
westlichem Muster. Die Ideologie des Kemalismus blieb freilich weitgehend auf die neu
geschaffenen Eliten des Landes beschränkt. Dies führte zu einer Sonderentwicklung, weil
die traditionalistischen Gruppierungen nicht einbezogen wurden. Die Regierung verfolgte
eine typische Kulturpolitik des „Von oben herab.“
Ein früher reformatorischer Schritt durch den Beschluß des Bildungsministerium war die Schließung des
Faches Traditionelle Kunstmusik im Jahre 1926 an der Hochschule DÁr-ül ElḥÁn, welches viel später 1943
in den städtischen Konservatorium İstanbuls neu eingerichtet wurde. Erst in der Mitte der 70er Jahren
wurde das Fach richtig gefördert. Vgl. PAÇACI, Tunçay Gönül: Müzikte Yasak Olur mu? In: ALKAN,
Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat (Hrsg.): Mete Tunçay’a Armağan, (2007): 651-661.
271
Vgl. ZOBU, Vasfi Rıza: Yanlış Anladılar, Görüşler ve Hatıralarla Atatürk, İstanbul Üniversitesi Tıp
Fakültesi Talebe Cemiyeti Yayınları, İstanbul (1962): 41. Vgl. In: Boğaziçi Üniversitesi (Hrsg.): Atatürk
Devrimleri İdeolojisinin Türk Müzik Kültürüne Doğrudan ve Dolaylı Etkileri (2007): 44-45.
272
WIDMANN, Horst: WIDMANN, Horst: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische
Emigration in die Türkei nach (1933 (1973): 135.
84
4.3
Die Sicht Ruhi Sus auf Atatürk und seine Musikreform
Ruhi Su bezeichnet sich selbst als einen Künstler, der in die Hinwendung der
türkischen Gesellschaft zu einer neuen und fortschrittlichen Kultur geboren wurde.273
Wie beurteilt er demnach die Musikpolitik der Republik, die ihm eine künstlerische
Ausbildung ermöglicht hatte? Verschiedene Interviews zu diesem Thema zeigen
deutlich seine Vorstellungen.
Ruhi Su führte im März 1982 (sinngemäß wiedergegeben) aus, dass in der
kemalistischen Zeit sowie in der Phase des Einparteiensystems eine richtige
Musikpolitik verfolgt wurde, dass diese jedoch in der Übergangszeit zum
Mehrparteiensystem ihre Konsequenz aufgegeben habe. In der Musik, wie auch in
anderen Bereichen, war nunmehr jeder mit sich selbst beschäftigt, und er beklagte,
dass einige Schlauköpfe eine ausschließlich dem Profit dienende Musikindustrie
gegründet hatten. Das Volk wurde manipuliert, es gab kein ernsthaftes staatliches
Bemühen um eine bessere Musik und deshalb wandte sich das Volk einer Musik zu,
die es und seine Alltagsprobleme am leichtesten, wenn auch nur oberflächlich,
ansprach. 274 Ruhi Su gab somit Anhaltspunkte, warum sich die Arabesk- Musik275
ausbreiten konnte und benannte die Gründe, weshalb die westliche Musik in der Türkei
nicht gut verstanden wurde:
In den westlichen Ländern sehen die Konservatorien das Lehren und die
Weiterentwicklung der eigenen Musik als ihre Aufgabe an. Bei uns jedoch
blieb es bis in die letzten Jahre nur beim Erlernen der westlichen Musik und
ihrer Darbietung. Diese Praxis kritisiere ich nicht. Sicherlich ist es förderlich,
eine fortschrittliche Musik zu erlernen. Andererseits hätten wir nicht vergessen
dürfen, dass wir bedeutende Komponisten haben, die unsere Musik
voranbringen wollen. Aber wir haben weder die Voraussetzungen geschaffen,
um diese Komponisten unserem Volk nahe zu bringen, noch haben wir uns
Gedanken gemacht, wie unsere Musik weiterzuentwickeln sei. 276
Er unterstrich weiterhin, dass die Weiterentwicklung der Musik eines Landes
nicht nur von den Komponisten abhängt, sondern dass die Entwicklung der
vortragenden Künstler eine ebenso wichtige Stellung einnimmt. Außerdem hat sich die
westliche Musik nicht plötzlich entwickelt, sondern ist mit der westlichen
SU, Ruhi im Gespräch mit SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4. Nov.1976). In: Ezgili
Yürek (1985): 118.
274
SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: „Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır“, Gösteri
16 (März 1982). In: Ezgili Yürek (1985): 158-164.
275
Siehe unten Kap. 5.3.
276
Ebd. 161.
273
85
wisschenschaftlichen,
technologischen
und
gesellschaftlichen
Entwicklung
einhergegangen. Die Entwicklung der Wissenschaft, der Kunst und der Technik bringt
eine gleichzeitige Hebung des Kulturniveaus eines Volkes mit sich. Im Kulturniveau
unseres Volkes liegt unsere Schwierigkeit. Wenn man solche Entwicklungen beiseite
lässt, reicht der bloße Wunsch nach Veränderung nicht aus. 277
Wenn es um das alte Problem geht, die Musik von der Einstimmigkeit in die
Mehrstimmigkeit zu überführen, nimmt Ruhi Su einen festen Standpunkt ein. Für ihn gibt
es keinen Zweifel, dass die Musik neue Dimensionen durch die Mehrstimmigkeit
gewinnen wird. Mehrstimmigkeit entwickelt sich nicht von selbst, sondern durch neu
erlangte Erkenntnisse der Gesellschaft. Die mehrstimmige Musik ist eine Sache der
Kultur. Sie kann nur verstanden und zum Leben gebracht werden, wenn ein bestimmtes
kulturelles Niveau erreicht wird. Der Gedanke ist irrig, mit einer altbekannten Melodie
oder mit dem Harmonisieren der Türküs einen leichten Übergang zur Mehrstimmigkeit zu
schaffen. Die harmonisierten Türküs wirkten jedoch sehr befremdlich. Nach Aziz Nesin
(den er nicht namentlich nennt) sehen sie aus wie übereinander gelegte Bilder. Der Bruch
mit dem Altbewährten ist deutlich schwieriger als die Gewöhnung an etwas Neues. Das
Volk ist noch nicht fähig, mehrstimmige Musik zu akzeptieren und zu lieben.
278
Mehrstimmigkeit ist nur zu erlangen, wenn man solche Musik ständig hört und sich an
sie gewöhnt. 279 Aus diesem Grund machte er mit dem “Chor der Freunde” (Dostlar
Korosu) den Versuch, vorsichtig zwei Stimmen einzusetzen, eine etwas höher gelegte
Frauenstimme und eine etwas tiefer gelegte Männerstimme.
Ruhi Su beklagt zudem die unzureichend wissenschaftliche Methode Türküs zu
sammeln, die dazu noch nicht sachgerecht archiviert werden. Der Zugang zu ihnen ist
im allgemeinen unmöglich:
Unter Sammeln der Türküs wird nichts anderes verstanden, als sie aufzustapeln
und zu deponieren. Schlimmer noch, man ist vorgegangen, als würden
verbotene Bücher eingesammelt und hat sie irgendwo aufbewahrt. Keiner,
außer gewissen Personen, weiß, welche Türküs jetzt wo sind. Angeblich sollte
der Degeneration der Lieder entgegen gewirkt werden. Als ob es nicht in der
Natur der Türküs liegt, sich mit der Zeit zu verändern und neu zu entstehen.
Sie sind kein Tabu. Gehen Sie einmal an der Berliner Universität am Institut
277
Ebd. 160.
SU Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile Bir Görüşme, Süreç 2, 6, (April-Juni1981). In:
Ezgili Yürek (1985): 149-150. Hierzu vgl. DOĞRUEL, Fulya: Çok Sesli Müziğe Giriş ve Türk Halk
Müziği, Halk Bilimi 3 (1997): 15-24.
279
SU, Ruhi im Gespräch mit BALKIR, Kerim: “Devrimci Müzik, Müziğimizin Çoksesliliğe Gitmesi
Sorunudur”, Tavır (April 1980): In: Ezgli Yürek (1985): 147.
278
86
für Folklore vorbei. Sie können Kopien der Türküs aus jeder möglichen
Region der Türkei erhalten. Jeder darf dort recherchieren. 280
Ruhi Su faßt die unübersehbaren Mängel der staatlichen Kulturpolitik
zusammen: Man ist nach einem reformatorischen Anfang einer falschen Einstellung
gefolgt und hat sowohl in der Volksmusik als auch in der traditionellen Kunstmusik
eine konservative Haltung eingenommen. Diese Haltung reicht für die Modernisierung
nicht aus, denn man hat die Tradition nur weiter geführt, statt sie zu entwickeln,
281
nicht zuletzt aus Furcht vor den Folgen der anfänglichen Neuerungen. 282 Ruhi Su, so
wird deutlich, hatte den autoritären kulturreformatorischen Atatürk von dem nationalen
Befreier Mustafa Kemal zu unterscheiden gelernt.
Ruhi Su unterstützte von Beginn an den Befreiungskampf Mustafa Kemals und er
war sich mit dem Dichter Nâzım Hikmet einig in der Verehrung Mustafa Kemals als
eines Antiimperialisten. Die politische Linie der TKP war gleich. Beide Künstler sahen
den Befreiungskampf und Mustafa Kemal wie die Partei. Sehr eindrucksvoll und Zeichen
von Ruhi Sus Begeisterung ist seine Vertonung von Hikmets Gedicht über den
Befreiungskrieg von 1919 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz) 283, aus dem das
entscheidende und symbolische Bild Mustafa Kemals zitiert wird:
…
Er sah aus wie ein blonder Wolf
Und seine blauen Augen funkelten und funkelten,
Er lief bis an den Abgrund,
Beugte sich vor und blieb stehen.
Wenn man ihn ließe,
Würde er mit seinen schlanken Beinen federnd,
Und wie eine nächtliche Sternschnuppe fliegend,
Von Kocatepe in die Ebene von Afyon springen. 284
280
Ebd. 150.
SU, Ruhi im Gespräch mit BERKMAN, Bülent: Halk Müziğinde Şimdiye Değin Geleneği Geliştirici
Çalışmalar Yerine, Geleneği Sürdürücü Çalışmalar Yeğlendi, Milliyet Sanat 40 (Jan. 1982). In: Ezgili
Yürek (1985): 153.
282
SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: „Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır“, Gösteri
16 (März 1982). In: Ebd. 162.
283
Für das vollständige Gedicht siehe unten Kap. 9.1.5. Vgl. auch den II. Kongress der Komintern im Jahre
1920. Er thematisierte die nationale Befreiungskriege und das Problem der Nationen. Seine Beschlüsse
lauteten, dass die Kolonien und Halbkolonien beim Kampf gegen die imperialistischen westlichen
Industrieländer nicht allein gelassen werden dürften und mit Waffen und Geld unterstützt werden sollten.
284
Vgl. KRAFT, Gisela: Nâzım Hikmet, Bleib dran, Löwe! (1984): 109.
281
87
An anderer Stelle, in dem Ankaramarsch, 285 wird Mustafa Kemal als Gazi 286
Kemal aufgefordert aufzuwachen und der Nation den rechten Weg zur Freiheit zu
zeigen.
Erwache, erwache, Gazi Kemal,
Uyan da bak, Gazi Kemal,
Schau dir unser Schicksal an.
Başımıza gelen işe.
...
...
Du hast uns gezeigt, mein Paşa,
Sen gösterdin, Paşam bize,
Den rechten Weg. an solchen Tagen
Böyle günde doğru yolu. 287
Ruhi Su hat dieses Gedicht und die schon vorhandene Melodie zu Lebzeiten
öffentlich vorgetragen. 288 So trug er mit viel Leidenschaft diesen Marsch 1977 in einem
Konzert im Kadıköy Theater in İstanbul vor, 289 der nicht länger ein Preislied auf Atatürk
war, sondern unter geänderten politischen Verhältnissen als eine an den frühen Helden
des Befreiungskampfs Gazi Kemal gerichtete Klage zu verstehen war. Zuvor sprach er
über ihn und forderte die Zuschauer auf mitzusingen:
Türküs, wisst ihr ja, leben wie Lebewesen weiter, indem sie sich den neuen
Zeiten und ihren Realitäten anpassen. Lasst uns das Türkü, „Siehe den Stein von
Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak) wie eine alte Erinnerung singen.290
285
Boratav bezeichnet diesen Marsch als den ersten Nationalmarsch des anatolischen Befreiungskampfes.
Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Kurtuluş Savaşı Yıllarının Bir Anısı İçinde Nâzım Hikmet, Sosyal Adalet 12,
(März 1965). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat1 (1982): 406-410.
286
Unter dem Begriff „Gazi“ verstehen die linken Patrioten die Person Atatürks vor der Anerkennung des
türkischen Staates im Jahre 1923 in Lausanne, als er noch als volkstümlich, antiimperialistisch und sogar
als Freund der Sowjetunion galt.
Für den Schriftsteller Atilla Ilhan (1925-2005) bedeutet „Gazi” ein tapferer Führer unterdrückter Nationen.
Vgl. AKYOL, Taha: Ama Hangi Atatürk (2008): 549.
287
Es ist ein während des Befreiungskrieges entstandenes anonymes Lied. In der Originalfassung ist das
Land von der Alliierten besetzt und es setzt Hoffnung auf Mustafa Kemal als den Befreier. Das Lied erzählt
am Ende von dem Sieg über die Feinde und deren Vertreibung. In der Version Ruhi Sus findet sich das
Land nach Jahren erneut in einer schlechten, diesmal wirtschaftlichen und politischen, Lage. Es sehnt sich
nach Mustafa Kemal als den Retter. Dieses Lied mit der Originalstimme Ruhi Sus wurde auch nach seinem
Tode gespielt aus Protest gegen die damalige Regierung und in Solidarität mit den Reformen Atatürks,
insbesondere mit dem Laizismus, in den Kundgebungen in Ankara vom 14. April 2007, in İstanbul vom 29.
April 2007 und in İzmir vom 13. Mai 2007, sowie auch in vielen anderen Städten. Das Besondere an diesen
Protestmärschen war, dass sie hauptsächlich von Frauen organisiert wurden und so im Gegensatz zum
Frauenbild der regierenden AKP standen. Anlass war die Bekanntgabe der AKP, Außenminister Abdullah
Gül werde für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren.
288
Vgl. Sıdıka Sus Information auf der Musikkassette “Sieh den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına
Bak).
289
Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran vom 23. September 2010 in İstanbul.
290
Vgl. Die CD “Sieh den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak), die am 20. September 1992
anlässlich des 7. Todestags von Ruhi Su herausgebracht wurde. Die Volkslieder in der Türkei haben einen
wichtigen Stellenwert in dem Kampf, eine gerechtere Welt zu schaffen. Ruhi Sus Anteil ist sehr groß. Ein
von ihm gesungenes einfaches Liebeslied gilt sogar als geschützt vor dem Gebrauch durch die Rechten.
Kein Reaktionärer wagte es, dieses Lied zu instrumentalisieren. Diese Tatsache war Ruhi Su, dem
88
Mit “einer alten Erinnerung” meint Ruhi Su den von Gazi Mustafa Kemal
geführten Befreiungskampf. Der Name Gazi Kemal steht für den Kampf um
Unabhängigkeit und Freiheit, also für Zustände, die sich Ruhi Su zurück wünschte. Der
Zwist zwischen Linken und Rechten sowie die Abhängigkeit vom Ausland machten das
Leben im Land sehr schwer und ließen jegliches Selbstwertgefühl der Menschen
schwinden, ein Selbstwertgefühl, das Gazi Kemal dem Land nach jahrhundertelanger
osmanischer Herrschaft vermittelt hatte. Deshalb wurde er von der TKP verehrt und seine
antiimperialistische Seite hervorgehoben. Ruhi Su bildete keine Ausnahme.
aufrichtigen Intellektuellen, bewußt. Auch von ihm gesungene Märsche erhielten einen anderen Wert und
galten als tabuisiert für die rechten Kräfte. Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 31. Aug. 2011 in
Köln.
89
4.4
Ruhi Su als Schüler deutscher Emigranten
Die junge türkische Republik begann die Universitätsreform mit der Kritik an der
alten Universität Dar-ül fünun in İstanbul. 291 Eine zentrale Rolle sowohl in İstanbul als
auch in Ankara spielte dabei die Umgestaltung nach westlichem Muster, welche durch
die Mitarbeit vieler Emigranten entscheidend geprägt wurde.
Musiker und Wissenschaftler mussten unter schwierigen Umständen aus
Deutschland in die Türkei emigrieren und leisteten einen erheblichen Beitrag zur
Entwicklung der türkischen Reformbewegungen in den Jahren nach 1933. Ruhi Su, der
mit drei Freunden 292 zum Fach Oper zugelassen wurde, drückt seine Genugtuung über
diese glückliche Fügung folgendermaßen aus:
Uns haben weltberühmte Künstler wie Paul Hindemith und Carl Ebert,
pädagogische Liedersänger wie Paul Lohmann, Stimmlehrer wie (Hans) Hey,
(Max) Klein, (Friedel ) Silberknopf-Böhm, Aranci Lombardi und Korrepetitoren
wie (Georg) Markowitz ausgebildet. Ich kann behaupten, dass die Zeit zwischen
1937-1945 eine Glanzzeit der Oper war. 1942 waren wir die ersten
Absolventen. 293
Während Hindemith in den Jahren 1935 und 1937 die Musikabteilung des
geplanten Konservatoriums einrichtete, baute Carl Ebert im Jahre 1939 das Schauspiel
und die Oper auf. 294 Hindemith wurde der entscheidende Einfluss auf Ruhi Su.
Hindemith betont, dass der Wert eines Volksliedes nicht nur in dem musikalischen
Eindruck liegt, sondern in den Empfindungen, die durch volkliche, landschaftliche und
zeitliche Beziehungen im Sänger erweckt werden. Diese können den türkischen Schülern
nicht mit fremden Volksliedern übermittelt werden. Das Liedgut für den Schulunterricht
ist daher den herrlichen Schätzen der alten kräftigen türkischen Volksmusik zu
entnehmen. 295
Ruhi Su führte die Forderungen Hindemiths fort, auch er griff die Kritik an der
Reformfähigkeit der bisherigen Musikausbildung auf und sah die Notwendigkeit einer
291
Vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die
Türkei nach 1933 (1972): 42.
292
Es handelt sich um Mesude Çağlayan, Rabia Erler und Süleyman Güler.
293
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Türküler Üzerine, Günümüzde Kitaplar 15
(März 1985). In: Ezgili Yürek (1985): 186. Ruhi Su zitiert nur die hier angegebenen Nachnamen. Für die
Vornamen vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in
die Türkei nach 1933 (1972): 260.
294
Vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die
Türkei nach 1933 (1972): 136.
295
Zu Hindemiths Vorschlägen vgl. ZIMMERMANN-KALYONCU, Cornelia: Deutsche Musiker in der
Türkei im 20. Jahrhundert (1985): 34-35.
90
Veränderung der Musik und der Bearbeitung nach neuen musikalischen Regeln. Ganz im
Sinn seines Lehrers sammelte Ruhi Su musikalisches Volksgut und bearbeitete es
entsprechend.
Aus der Synthese von westlicher Gesangstechnik und traditionellem türkischen
Musikgut entwickelte er eine neuartige Musikrichtung, die hier als Volkskunstmusik
definiert wird, und überwand die bis dahin als unüberbrückenbar geltende Kluft
zwischen der hohen und der niederen Musik. Für die intellektuellen Musikkreise galt die
Volksmusik nämlich als rückständig. Sie zogen osmanische traditionelle, als
hochstehend empfundene Musik vor. Ruhi Su gelang es aber durch seine
Volkskunstmusik, dieser modernen Variante der Volksmusik Anerkennung insbesondere
in intellektuellen Kreisen zu verschaffen. 296 Ruhi Su war es um die Stärkung und
Verfeinerung der nationalen (beileibe nicht nationalistischen) türkischen Musik zu tun.
Vgl. SELÇUK, İlhan: Cumhuriyet (18. Jan. 1968). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 50-51 und SAY,
Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 13-14.
296
91
4.5
Die Dorfinstitute
Wenn die Dorfinstitute heute noch ein großes Echo haben, ist das ein Zeichen
dafür, dass diese Einrichtung einen eminent politischen, wenn auch umstrittenen
Charakter hatte. Sie verschwand nie aus den Köpfen vieler Intellektueller und gilt heute
noch als ein Modell für fortschrittliche demokratische Bildung. 297 Die parallelen
kulturpolitischen Ziele des Gründers der Dorfinstitute, des Pädagogen İsmail Hakkı
Tonguç (1897-1960) und des Künstlers Ruhi Su werden später eingehend dargestellt.298
Zunächst soll die kurze Geschichte der Institute beleuchtet werden.
Die Dorfinstitute wurden am 17. April 1940 offiziell in der Türkei als umfassende
Bildungs- und Erziehungseinrichtung für die Landbevölkerung eingeführt. İsmail Hakkı
Tonguç arbeitete von 1936 bis 1946 als Generaldirektor für die Grundschulausbildung im
Erziehungsministerium und entwickelte gemeinsam mit seinem Förderer, dem damaligen
Erziehungsminister
Hasan
Ali
Yücel,
Alternativen
zur
traditionellen
Volks-
schulerziehung. 299 Diese war sehr eingeschränkt, denn für die Kinder der Dorfbewohner,
die 80% der Gesamtbevölkerung ausmachten, gab es keine Möglichkeit der
Schulbildung. Ziel der Dorfinstitute war es, die breite Masse der Landbevölkerung aus
ihrer Unwissenheit herauszuführen, sie zu aktivieren und am politischen Geschehen der
jungen Republik zu beteiligen; das heißt, ihre Alphabetisierung voranzutreiben, gezielt
landwirtschaftliche und handwerkliche Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln,
geeignete Dorflehrer 300 auszubilden und mehr Demokratieverständnis sowie politisches
In Ankara wurde „Die Stiftung Dorfinstitute und Zeitgenössische Bildung“ (Köy Enstitüleri ve Çağdaş
Eğitim Vakfı) gegründet und in İzmir eine Parallele mit der Bezeichnung „Verein der Dorfinstitutler der
Neuen Generation“ (Yeni Kuşak Köy EnstitülülerDerneği).
298
Siehe unten Kap. 4.5.2.
299
Nach GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64. Aus der reichen Literatur zu
Dorfinstitute siehe TONGUÇ, İsmail Hakkı: İş ve Meslek Eğitimi (1974); BAŞARAN, Mehmet:
Özgürleşme Eylemi: Köy Enstitüleri (1990); SAKAOĞLU, Necdet: Cumhuriyet Dönemi Eğitim Tarihi
(1993); ESENDAL, Fethi: Yalnız Kalanlar (1983); APAYDIN, Talip: Köy Enstitüsü Yıları (1983);
ARMAN, Hürrem: Piramidin Tabanı (1969); TONGUÇ, İsmail Hakkı: Köyde Eğitim (1997); ÖZKUCUR,
Abdullah: Köy Enstitüleri Destanı (1985); YALMAN, Ahmet Emin: Yarını Türkiyesine Seyahat (1998);
TONGUÇ, İsmail Hakkı: Eğitim Yoluyla CAnlandırılacak Köy (1998); BAŞARAN, Mehmet: Tonguç
Yolu (1974); AYDOĞAN, Mustafa: Köy Eğitim Sistemi Köy Enstitüleri (2006); ÖZKUCUR, Abdullah:
Hasanoğlan Yüksek Köy Enstitüsü (1990); TONGUÇ, İsmail Hakkı: Mektuplarla Köy Enstitüsü Yılları
(1990); KEPENEK, Mehmet (Hrsg.): Basında Köy Enstitüleri I und II (2001) sowie Yeni Toplum:
Kuruluşunun 36. Yılında Köy Enstitüleri Özel Sayısı (Apr. 1976).
300
Das Leben der Lehrer in abgelegenen Dörfern war nicht einfach. Vor dieser Reform stammten die
Dorflehrer aus der städtischen Bevölkerung und kamen mit den neuen Umständen sehr schlecht zurecht,
was dazu führte, dass sie schnell ihren Posten aufgaben. Die Lehrer in den Dorfinstituten wurden jedoch
aus den Dörfern selbst rekrutiert, sodass sie mit den schlechten Lebensbedingungen vertraut waren.
297
92
Bewusstsein in die Dörfer zu tragen. Mit diesen Maßnahmen sollten die bis dahin kaum
veränderten Eigentums- und Produktionsverhältnisse radikal verändert werden. 301
Die Einrichtung der Institute stand vor ungeheuren Schwierigkeiten, denn von
40.000 Dörfern hatten 35.000 keine Schulen. Lediglich 8% der Männer und 4 % der
Frauen waren keine Analphabeten in der 1928 eingeführten Lateinschrift. In der Ostund Südost-Türkei lagen die Zahlen bei 1-2%. In manchen Gebieten sogar bei 0
Prozent 302 Dieser Notstand war für die Republik Anlass Maßnahmen zu ergreifen. Der
vorherige Erziehungsminister Saffet Arıkan ernannte İsmail Hakkı Tonguç, der zu
jener Zeit an der Pädagogischen Hochschule in Ankara als Dozent im Fach Kunst
arbeitete, 1935 zum Generaldirektor der Primarpädagogik.
Das Dorferzieher-Projekt begann im Jahr 1936. Viele, die ihren Wehrdienst als
Gefreiter
oder
Unteroffizier
beendeten,
wurden
in
Zusammenarbeit
von
Landwirtschaftsministerium und Erziehungsministerium zu Dorferziehern ausgebildet.
Sie lernten in Mahmudiye/Eskişehir auf einem staatlichen Bauernhof mit den technischen
Möglichkeiten der Landwirtschaft umzugehen. Durch die selbstständige Produktion vor
Ort wurde die finanzielle Belastung für den Staat gering gehalten. Dieses Projekt,
welches den eigentlichen Dorfinstituten vorausging, wurde sehr erfolgreich, so dass in
den Jahren 1937 bis 1938 ein nahtloser Übergang zu der Gründung der Dorfinstitute
gelang. Am 17. April 1940 wurde das Gesetz 303 zur Einrichtung der Dorfinstitute
verabschiedet. Insgesamt 21 Dorfinstitute wurden in der ganzen Türkei eingerichtet, die
sich alle zu kleinen Musterdörfern entwickelten. Die Schülerzahl stieg von rund 1500 im
Jahr 1940 auf über 15.000 im Jahr 1945. 304
Die
Dorfinstitute
waren
nicht
nur
eine
Mobilmachung
gegen
den
Analphabetismus, sondern auch soziale Chancengleichheit wurde zum ersten Mal in den
Dorfinstituten ermöglicht. Die Ausbildung war kostenlos. Es herrschte kein rezitierendes
Lernen, sondern das Lernen war an der Produktion orientiert, am Prinzip der
Selbsttätigkeit und an der Arbeit mit Hand und Kopf. Die Ausbildung in den
Dorfinstituten schloss an die fünfjährige Volksschule an und dauerte ebenfalls fünf Jahre.
Die Schüler hatten 44 Wochenstunden Unterricht, zur Hälfte in allgemeinbildenden und
zu jeweils einem Viertel in landwirtschaftlichen und technischen Fächern. Jedes
Nach KESKİN, Hakkı: Die Türkei, vom Osmanischen Reich zum Nationalstadt (Keine Angabe zum
Erscheinungsjahr): 103.
302
KANALICI, Zeliha: 21. Yüzyılın Eğitim Sistemi Köy Enstitüleri Uygulaması Olacaktır. In: Heft des
Vereins der Gedanken Atatürks in Belgien (Belçika Atatürkçü Düşünce Derneği - BADD) Bülteni (2002):
22-23.
303
Das Dorfinstitutsgesetz Nummer 3803.
304
GEDİKOĞLU, Şevket: In: GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64.
301
93
Dorfinstitut besaß eigene Werkstätten, Felder, Gärten, Vieh und Geflügel; es versorgte
und finanzierte sich selbst. So gab das Dorfinstitut Impulse für die dörfliche
Entwicklung. 305 Die Schüler zwischen dreizehn und achtzehn Jahren bauten die Gebäude
der Dorfinstitute und der Wohnheime selbst. Hilfe erhielten sie für bestimmte Zeit von
den Erwachsenen des Dorfes. Das Prinzip des İmece, der wechselseitigen Hilfe, war
ohnehin der Dorfgemeinschaft vertraut. Nachbarn halfen Nachbarn bei der Ernte,
unterstützten Frauen, deren Männer beim Militär dienten, oder Witwen, die den Ernährer
der Familie verloren hatten. Aus eigener Kraft baute die Dorfgemeinschaft einen Brunnen
oder sogar eine Moschee.
An den Wochenendversammlungen trafen sich alle Beteiligten, vom Schulleiter
über die Lehrer, die Meisterhandwerker, die Köche bis hin zu den Schülern, um ein
Resümee der Wochenarbeit zu ziehen. Hier hatten alle die Möglichkeit Kritik und
Selbstkritik zu üben. Es gab keine Prügelstrafe. Gewalt wurde bestraft. Ausgebildete
Schüler, die den Lehrerberuf ergriffen, verpflichteten sich für zwanzig Jahre. 306
Die Dorfinstitute waren auch die kulturellen und künstlerischen Zentren ihrer
Region. Jeder Schüler lernte ein Musikinstrument zu spielen. Die Mandoline war das
beliebteste Instrument. Geige, Akkordeon oder Saz zählten auch zu den bevorzugten
Instrumenten. Volkstänze waren ebenfalls ein fester Bestandteil der kulturellen
Ausbildung. Darüber hinaus inszenierten die Schüler Theaterstücke und führten diese auf,
unter anderem Stücke von Moliere und Shakespeare. 307 Hinzu kam der glückliche
Einfluss der in den Instituten zusammengestellten Bibliotheken. Viele, heute berühmte
Schriftsteller waren Schüler aus Dorfinstituten. Persönlichkeiten wie Fakir Baykurt, Talip
Apaydın, Mahmut Makal, Mehmet Başaran, Abdullah Özkucur, Dursun Akçam, Behzat
Ay, Yusuf Ziya Bahadınlı, Adnan Binyazar, Kemal Burkay, Ümit Kaftancıoğlu, Hasan
Kıyafet, Osman Şahin, Şevket Yücel, Mevlüt Koca, Ali Yüce und andere gehören zu
dieser Gruppe. Die ins Türkische übersetzten Klassiker der Weltliteratur haben in ihnen
die Begeisterung für das Lesen geweckt. Das Dorfinstitut hat sie Schriftsteller werden
lassen. Durch sie wurde das türkische Dorf und seine Bewohner ein zentrales Thema der
Literatur.
Auf die Initiative des damaligen Erziehungsministers Hasan Ali Yücel hin
entstand ein staatliches Übersetzungsbüro, das 1940 mit der Arbeit begann. Es
wurden selbst lateinische und altgriechische Werke ins Türkische übersetzt.
305
Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 20. Juli 2005 in Ankara.
Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 6. Aug. 2009 in Ankara.
307
Vgl. MAKAL, Mahmut: Köy Enstitülerinde Tiyatro Çalışmaları, Halk Bilimi 3 (1997): 46-49.
306
94
Neben Sabahattin Eyüboğlu, Nurullah Ataç, Sabahattin Ali haben auch Azra Erhat,
Orhan Veli, Melih Cevdet Anday, Oktay Rifat, Vedat Günyol, Necati Cumalı, Suut
Kemal Yetkin, Bedreddin Tuncel, Yaşar Nabi Nayır, Lütfi Ay, Cahit Sıtkı Tarancı und
Erol Güney dort gearbeitet. Das Übersetzungsbüro führte seine Arbeit bis 1966 fort. In
dieser Zeit wurden mehr als eintausend Werke übersetzt und vom Erziehungsministerium
veröffentlicht. Diese ins Türkische übersetzten Bücher der Weltliteratur waren auch den
Dorfinstitutlern sehr nützlich. In den Bibliotheken der Institute standen viele dieser
Werke. Der Verdienst dieser Bibliotheken war es, viele Leser herangezogen zu haben. Es
war zu dieser Zeit in den Dorfinstituten Pflicht, im Jahr zweiundzwanzig Bücher zu
lesen. 308 Ein solcher Absolvent bekennt, er habe durch die Lektüre der Klassiker die
Welt, sei es Vögel, Blumen, der Kosmos, oder auch die arbeitenden Menschen, mit neuen
Augen zu sehen gelernt. 309
Das Prinzip, durch Praxis zu lernen, stieß auch auf feindliche Kritik. Einige
urbane Linke, darunter der Schriftsteller Kemal Tahir, beschuldigten den Staat, arme
kleine Kinder ohne Vergütung für den Staat arbeiten zu lassen. Dies sei eine Form der
Sklaverei und müsse unterbunden werden. 310 Der Politikwissenschaftler Yalçın Küçük
gab ein polemisches Urteil ab: Aus einem Dörfler könne kein Intellektueller werden, der
Dörfler und der Intellekt verhielten sich wie Schnee zur Wärme. 311
In dem viel beachteten Buch „Unser Dorf“ (Bizim Köy, 1950)
312
von Mahmut
Makal, einem Absolventen des Dorfinstitutes İvriz / Konya, veranschaulicht der Autor
das harte und armselige Leben auf dem Land und versucht den Leser darüber
aufzuklären, dass das unter der städtischen Intelligenz verbreitete Klischee vom
„glücklichen, naturverbundenen bäuerlichen Dasein“ 313 nicht dem Bild der Realität
entsprach. Das veranlasste İsmail Hakkı Tonguç zu dem Kommentar, die Lehrer hätten
das durch die Arbeit in den Dorfinstituten neu erworbenes Bewusstsein verinnerlicht,
sozusagen mit Pfeilern im Boden des Bewusstseins fest verankert.
Als Tonguç 1943 das Dorfinstitut von İvriz/Konya besuchte, stellte er einem
Schüler eine Frage über die Beziehung zwischen Staat und Volk. Dieser war nicht fähig
308
Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 20. Juli 2005 in Ankara.
ÖZDEMIR, Emin: Köy Enstitüleri ve Edebiyat (2011): 21.
310
Vgl. TAHİR, Kemal: Bozkırdaki Çekirdek (1976). Engin Tonguç, in Devrim Açısından Köy Enstitüleri
ve Tonguç (1970): 532- 558, widerspricht Kemal Tahir: eine pädagogische wissenschaftliche Institution
wie die Dorfinstitute könne nicht durch einen Roman, sondern nur durch eine wissenschaftliche Studie
ausgewertet werden. Er beschuldigt Tahir der Abhängigkeit, des Mangels an Ernsthaftigkeit und
Objektivität.
311
Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: Köylü Gerçekçidir, Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009): 344.
312
MAKAL, Mahmut: Unser Dorf in Anatolien (1981).
313
Siehe Petra KAPPERTS Kommentar über das Buch „Unser Dorf“ in der FAZ vom 9.1.1982. In:
MAKAL,Mahmut: Unser Dorf in Anatolien (1981): 234.
309
95
ihm zu antworten. Tonguç erklärte dem Lehrer, dass die Menschen auf dem Land über
600 Jahre schweigen mussten. Er habe als Lehrer nunmehr die Aufgabe, einfache
Menschen zum Sprechen zu bringen, damit sie sich ihre eigenen Gedanken machen und
frei zum Ausdruck bringen könnten. 314 Auf Makals Anregung begann die Dorfjugend zu
sprechen, ja sogar zu schreiben.
Schüler wurden vielfach Lehrer und Schriftsteller und nahmen eine kritische
Position gegenüber der Gesellschaft und den wechselnden Regierungen ein. Die
Absolventen der Dorfinstitute schrieben auf, was sie in den Dörfern tatsächlich gesehen
haben. Diese Sicht passte nicht in das vom Staat hochgehaltene Idealbild, der die
anhaltende bittere Armut und das Leid der Bauern nicht sehen wollte. Der Staat
bezeichnete die Dörfer zwar als dem eigenen Land zugehörig, kümmerte sich jedoch
nicht um die humanitäre Versorgung und das Wohlergehen der ländlichen Bevölkerung.
Das folgende Schullied spiegelt diese Haltung wieder:
Dort in der Ferne gibt es ein Dorf,
Orda bir köy var uzakta,
Dieses Dorf ist unser Dorf.
O köy bizim köyümüzdür.
Auch wenn wir nicht dort hingehen
Gezmesek de tozmasak da
Dieses Dorf bleibt unser Dorf.
O köy bizim köyümüzdür.
Ahmet Kutsi Tecer
Melodie:Münir Ceyhan
Selbst die Landschaft wurde offiziell auf eine Weise beschönigt, die für kritische Geister
schwer zu ertragen war.
Wie schön fändest du
Sen ne güzel bulursun
Wenn du durch Anatolien reist
Gezsen Anadolu’yu
Befreist du dich von den Sorgen
Dertlerden kurtulursun
Wenn du durch Anatolien reist
Gezsen Anadolu’yu
Es gibt klare Flüsse
Billur ırmakları var
Es gibt eisige Quellen
Buzdan kaynakları var
Wie schöne Erde gibt es
Ne hoş toprakları var
Wenn du durch Anatolien reist
Gezsen Anadolu’yu
M. Faruk Gürtunca
Melodie: unbekannt
Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: Tonguç: „Kazığı Sağlam Çakmışız“ , Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009):
382-383.
314
96
Mahmut Makal hat diese beschönigende Sichtweise durch seine nüchterne
Schilderung der Verhältnisse auf dem Lande gründlich entlarvt.
1946 wurde mit der Demontierung der Dorfinstitute begonnen. Als die
Demokratische Partei (DP) in diesem Jahr an den Wahlen teilnahm, wuchs der Druck auf
die Dorfinstitute, denn sie waren Produkte der CHP und somit Objekte des Angriffs für
die DP. Der Angriff bedeutete eine grundsätzliche Ablehnung der von der CHP
betriebenen Politik der Volksnähe. Die DP beschuldigte in einer beispiellosen
Propagandaaktion die Dorfinstitute, dass sie Nester des Kommunismus wären und dass
ihre gemischten Klassen zu Unzucht führen würden. Die Großgrundbesitzer innerhalb der
CHP machten ebenfalls Druck, so dass der Kulturminister Hasan Ali Yücel und der
Generaldirektor für die Grundschulen İsmail Hakkı Tonguç von ihren Ämtern enthoben
wurden. Die CHP fürchtete um ihren Ruf und um den Verlust der Mehrheit der
Wählerstimmen und ließ die Dorfinstitute kurzerhand schließen. Der Wahlsieg der
Demokratischen Partei (DP) im Jahre 14. Mai 1950 bedeutete das Ende der Dorfinstitute.
Sie wurden zu normalen Lehrerschulen umgewandelt und am 27. 1. 1954 per Gesetz
endgültig aufgelöst. 315
Eine grundlegende Ursache für das Scheitern des Projekts ist sicher des
Ausbleiben einer tiefgreifenden Landreform. So waren die Dorfinstitute den Kräften der
Restauration völlig ausgeliefert.
Eine fort dauernde Existenz der Dorfinstitute hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit
die Probleme der dörflichen Erziehung, darunter auch das der Geschlechtertrennung,
gemildert. So aber sah sich am 30. April 2005 die Tageszeitung Milliyet veranlasst, eine
neue Kampagne unter dem Motto „Papa, schick mich zur Schule!“ (Baba Beni Okula
Gönder!) zu starten. Sie suchte, mit der Unterstützung einer zivilen Organisation, des
„Fördervereins des zeitgenössischen Lebens“ (Çağdaş Yaşamı Destekleme Derneği),
Mädchen in den entlegenen Regionen der Ost-Türkei einen Schulbesuch zu ermöglichen.
Falls man sich die Frage stellt, wer eigentlich der Erfinder der Dorfinstitute war,
dann sind die Ausführungen Tonguçs beachtenswert. Er spricht von dem Ergebnis einer
gemeinschaftlichen Erfahrung und hält es für falsch, diese auf eine einzige Person zu
reduzieren. Vom Schüler bis zum Generaldirektor habe jeder Arbeit hineingesteckt und
Erfahrungen, wie auch die anderen Mitarbeiter, gesammelt. 316 In Wahrheit war das
türkische Modell allein Tonguçs Verdienst. 317
315
GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64.
Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: İlginç Öneriler, Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009): 376.
317
Vgl. Ebd. 377. Vgl. auch KIRBY, Fay: Türkiye’de Köy Enstitüleri (2010): 118.
316
97
Tonguç wurde 1894 in der Dobrudscha geboren, im heutigen Bulgarien. Zwischen
1918 und 1919 hatte er an einem Programm für türkische Studenten der Lehrerschule in
Karlsruhe/Ettlingen teilgenommen. An der Akademie der Schönen Künste in Karlsruhe
beendete er sein Studium, kehrte 1924 in die Türkei zurück und gründete an der
Lehrerschule in Ankara das Fach Kunst. Als er 1925 erneut nach Deutschland reiste,
lernte er den Pädagogen Kerschensteiner kennen, der ihn nachhaltig prägte. 318
Kerschensteiner betont das unterrichtliche Prinzip der Selbsttätigkeit, der
Spontaneität und des manuellen Tuns. Pädagogische Arbeit muss manuell, praktisch und
geistig zugleich geprägt sein. Bildung war für ihn zugleich Charakterbildung und
Erziehung zum Staatsbürger, sein Augenmerk lag vor allem auf der Berufserziehung. 319
Die Pädagogik der Dorfinstitute wollte ebenso konkret an das Leben der Menschen in den
Dörfern anknüpfen. Auch dort war der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe vorherrschend.
Für viele war das Scheitern des pädagogischen Experiments der Dorfinstitute
nicht leicht zu ertragen, auch nicht für den Pädagogen İsmail Hakkı Tonguç. Nachdem er
seinen hohen Posten verloren hatte, arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als
Kunstlehrer an einem Gymnasium in Ankara. Nach seiner Pensionierung reiste er im
Sommer 1956 mit seinem Sohn Engin Tonguç in die Schweiz, nach Birr im Kanton
Aargau, an das Grab Heinrich Pestalozzis, vor dem der alte Pädagoge schweigend
nachdachte. 320
318
Tonguç übersetzte neben vielen pädagogischen Artikeln Kerschensteiners dessen Buch „Die Seele des
Erziehers und das Problem der Lehrerbildung“ (1921) ins Türkische: (Mürebbinin Ruhu ve Öğretmen
Yetiştirme Sorunu).
319
Nach DOLCH, Josef ( Hrsg.): KERSCHENSTEINER, Marie: Georg Kerschensteiner - Der Lebensweg
eines Schulreformers (1954). Vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Kerschensteiner.Abgerufen am
1.04.2012.
320
Vgl. TONGUÇ, Engin: Umut Yolu (1984): 208.
98
4.5.1
Ruhi Su als Lehrer im Dorfinstitut
Ruhi Su stand den Dorfinstituten sehr nahe. Er unterstützte sie, indem er als
Meister der Musik (Usta Öğretici) lehrte. Als der Musiklehrer des Dorfinstitutes in
Çifteler / Eskişehir zum Militär eingezogen wurde, wollte der Gründer der Dorfinstitute
İsmail Hakkı Tonguç Ruhi Su für diese freie Stelle für eine gewisse Zeit einsetzten. Ruhi
Su willigte ohne zu zögern ein. 321
Mit dem Ziel, neue Dimensionen des Volklieds aufzuzeigen, arbeiteten Aşık
Veysel (1894-1973), der Volkssänger und Meisterlehrer der Türküs, und Ruhi Su, der
Absolvent des Staatlichen Konservatoriums, Schulter an Schulter. 322 Ruhi Su hat den
Geist der Dorfinstitute nicht nur in sich aufgenommen, sondern diese in der
Gründungszeit mit seiner Arbeit als Meisterlehrer im Fachbereich Musik unterstützt.
Als Lehrer entdeckte und förderte Ruhi Su begabte Schüler, eine Praxis, welcher
er sein Leben lang treu blieb. Ein ehemaliger Schüler des Dorfinstitutes, Talip Apaydın,
berichtet, wie Ruhi Su seine schulische Entwicklung beeinflusst hat, indem er sein
musikalisches Talent entdeckte. Ruhi Su riet ihm, das Höhere Dorfinstitut Hasanoğlan zu
besuchen, um später als Musiklehrer in das Dorfinstitut in Çifteler zurückzukehren. Talip
Apaydın stimmte zunächst nicht zu, weil er vorhatte, als Grundschullehrer mit festem
Gehalt seine Eltern finanziell zu unterstützen. Ruhi Su wies ihn darauf hin, dass er gerade
wegen seiner Armut das Höhere Dorfinstitut Hasanoğlan besuchen müsse, um sich und
seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Apaydın entschied sich schließlich
nach Hasanoğlan zu gehen und wurde am Ende Musiklehrer. 323
Wie sehr Ruhi Su die Schüler der Dorfinstitute beeinflusst hat, sieht man an
folgender Erzählung. Varlık Özmenek ging eines Tages, als er noch kleiner Junge war,
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne.
BAŞARAN Mehmet: Ruhi Su Hep Söyleyecek, Kitaplar (Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi
Su’ya Saygı (2006): 251-252.
323
Aus dem Gespräch mit Talip Apaydın vom 15. Juli 2005 in Ören.
Talip Apaydın schreibt, dass er später in Ören / Balıkesir Ruhi Sus Nachbar wurde. Zwischen beiden
entwickelte sich eine zwanzigjährige innige Freundschaft. Er schrieb nach Ruhi Sus Tod seine
Erinnerungen an ihn nieder. Er war jemandem begegnet, der sowohl als Mensch wie auch als Künstler eine
bedeutende Persönlichkeit darstellte. Je mehr er erfuhr, aus welcher Not Ruhi Su kam, was er erlebt hatte,
wie er seinen Lebensweg fand und welches Kunstverständnis er besaß, desto größer wurde seine Ehrfurcht
vor ihm. Hätte man Ruhi Su die Möglichkeit eines weiteren Wirkungskreises gegeben, dann hätte er noch
mehr geschaffen. Er hätte mit einer Unterstützung des Staates ein staatliches Orchester gründen und leiten
können. Er blieb eine farbige und duftende Blume, die in einer wasserlosen Wüste aus eigener Kraft blühte.
Ruhi Su wollte gegen Ende seines Lebens, auch als er nicht mehr zu singen fähig war, ein Buch
veröffentlichen, welches seine Gedichte sowie seine Gedanken und Gespräche über Musik enthielt. Er gab
Apaydın das Manuskript zur Lektüre, doch die Publikation hat er nicht mehr erlebt. Nach APAYDIN,
Talip: Koca Ruhi Su Gitti Gider, Cumhuriyet (21. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 147-148.
321
322
99
mit seinem Vater, einem Schüler von Ruhi Su, durch die Steppe von Konya. Der Vater
erzählte, er habe als Lehrer einen elf Kilometer langen Fußmarsch zu der Schule gehabt.
Auf die Frage des Jungen, ob er im Winter nicht gefroren habe, antwortete der Vater:
„Ich habe ein Lied Ruhi Sus gesungen, das mich auf dem Weg gewärmt hat." 324 Aus dem
Lied „Kocabey“ stammen folgende Zeilen, die davon sprechen, dass der Sprecher im
Lied Kocabey und seiner Tapferkeit folgen will:
Wenn ich mich vor der Knechtschaft verbeugen soll,
Eğer ki kulluğa verirsem destur,
Glaube mir, ich werde mich weigern, wie du.
İnan üçten, beşten, senden geride
kalan değilem.
Broyyy...!
Broyyy...!
Am 17. April des Jahres 1967 ließ Sabahattin Eyuboğlu 325 am Jahrestag der
Dorfinstitute in einem Schreiben Mevlânâ, 326 Yunus, Bâki, 327 Karacaoğlan, Şeyh
Gâlip, 328 Muhyi, Orhan Veli 329 und Başaran mit Tanz und Gesang aufführen, wobei er
Ruhi Su die Rolle des Chorleiters gab. 330
ÖZMENEK, Varlık: Broyyy, Bilim ve Sanat, (Nov. 1985): 4-5. In: Türkülerle Çiçeklenen Ruhi Su
(1985): 53-57.
Diese Thematik des pädagogischen Einflusses Ruhi Sus wird auch sehr deutlich in der Aussage Mevlüt
Kocas: „Bei allen Absolventen der Dorfinstitute wird das Herz hüpfen, wenn ich nur den Titel eines
Türküs, nämlich ‚Kocabey’, nenne.“ Müzehher Vâ-Nû schreibt in ihren Memoiren „Bir Dönemin
Tanıklığı” (keine Angabe zum Erscheinungsjahr): 137, Ruhi Sus Türküs seien auch Intellektuellen in die
Seele gegangen. Sie schrieben sie ab und lernten sie auswendig. Dieser lebensbejahende Einfluß wird von
Ali Sirmen bestätigt: Er besuchte die Konzerte und kaufte die Schallplatten des Künstlers. Ali Sirmen
erzählt in der Cumhuriyet vom 27. Sept. 2007, er werde nie vergessen, wie er in einer kalten, dunklen und
hoffnungslosen Winternacht Ruhi Sus Stimme hörte und sich vor ihm plötzlich ein erhellender Weg,
geradezu eine Erleuchtung seines Inneren, auftat.
325
Sabahattin Eyuboğlu hat sich in der Türkei um die Verbreitung der aufklärerischen Ideen verdient
gemacht. Mehr als fünfzig Werke aus der französischen, englischen, russischen, griechischen und
lateinischen Literatur hat er ins Türkische übersetzt, insbesondere wurde er mit Übersetzungen von
Montaigne, Shakespeare und Moliere bekannt. Eyuboğlu, der sich zusammen mit İsmail Hakkı Tonguç
aktiv für die Gründung der Dorfinstitute einsetzte, übernahm mit filmischen Dokumentationen über die
alten anatolischen Zivilisationen eine Vorreiterrolle im türkischen Dokumentationskino.
326
Siehe unten Kap. 9.5.1.
327
Şeyh Galip gilt als einer der bedeutendsten Diwan- Dichter (1526-1600).
328
Muhyi war Bektaschi - Dichter (16. Jahrhundert). Siehe oben Fußnote 106.
329
Orhan Veli war Erneuerer der türkischen Poesie (1914-1950).
330
Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Köy Enstitülerini Anarken (1967). In: Köy Enstitüleri Üzerine (1979):
123.
324
100
4.5.2
Die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç
Definitorisch formuliert, beruht die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und
İsmail Hakkı Tonguç auf einer lebenslangen pädagogischen Kraftanstrengung: Beide
wollten, jeder auf seinem Gebiet und mit seinen Mitteln, die türkische Kultur auf den
Weg der Bildung bringen.
Ruhi Su gab dem Türkü ein neues Gesicht und bewirkte, dass die Intellektuellen,
die bis dahin die Türkü missachtet hatten, sie nunmehr anhörten und zu lieben lernten.
Durch ihn wurden Türküs Kunstwerke und Teil des Lebens der städtischen
Intellektuellen, wie sie es auch des einfachen Volkes gewesen waren. 331 Nicht zuletzt
liegt seine gesellschaftliche Bedeutung in dem Versuch, mit seiner künstlerischen
Integration den Graben zwischen diesen beiden Gesellschaftsschichten einzuebnen 332
Wie sich Ruhi Su in seiner Arbeit verwirklichte, so tat es auch İsmail Hakkı
Tonguç. Wenn Ruhi Su sich dem dörflichen Musikgut widmete, dann wandte sich
Tonguç an das Potential der ländlichen Kinder und Jugendlichen. Er wurde für die
praktische Ausbildung und Bildung der Dorfbevölkerung in den 40er Jahren eine sehr
wichtige Gestalt. Er war es, der die Idee der Dorfinstitute entwickelte und somit einen
Beitrag für die soziale und kulturelle Weiterentwicklung der anatolischen Bauern leistete.
Wie Ruhi Su vereinte er eine fundamentale Theorie mit einem praktischen Programm,
Ruhi Su auf dem Gebiet der Musik, Tonguç auf dem Gebiet der Bildung der Landbevölkerung. Ihm war es wichtig, das Selbstbewusstsein der ländlichen Bevölkerung zu
stärken und sie für ihre sozial-politischen Belange zu interessieren. Die bis dahin
jahrhundertelang vernachlässigte Dorfbevölkerung sollte eine neue Identität gewinnen.
Zwischen dem, was Tonguç mit seinen Dorfinstituten aufbauen wollte, und dem, was
Ruhi Su mit den Türküs vorhatte, besteht eine Parallelität. Der eine wollte den Menschen
vom Lande ihre Würde zurückgeben, der andere wollte den Türküs Anerkennung
verschaffen.
Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç haben zur Entwicklung des kritischen Geistes
in der Türkei beigetragen, der eine durch die Türküs, der andere durch die Dorfinstitute.
Vgl. SELÇUK İlhan: Cumhuriyet (3. Feb. 1984). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986):
104: Er betont ebenfalls, Ruhi Su habe das Volk mit den Intellektuellen, mit seinen Gefühlen, seiner Saz,
seiner Gesangsart und seinen Taten zusammengebracht. Zeynep Oral schreibt: Wenn Intellektuelle die
Türküs aus Ruhi Sus Mund hörten, konnten sie kaum glauben, dass das einfache Volk diese wundervollen
Stücke geschaffen habe. Vgl. ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat, (1.
Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 181.
332
Vgl. YAVUZ Hilmi: Yeni Ortam (21. Dez. 1972). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 66.
331
101
Beide waren den Grundgedanken der Reformen nahe und setzten ihre Hoffnung auf das
Volk. Beide haben sich der Volkskultur gewidmet; Ruhi Su durch die Volkslieder und
Tonguç über die Volksbildung. 333 Ruhi Su und İsmail H. Tonguç, die beide in der
gleichen Zeit lebten und von der westlichen Ausbildung profitierten, strebten eine
Weiterentwicklung der eigenen Kultur und des Soziallebens auf dem Dorfe an. Es ist kein
Zufall, dass beide ihren Hauptarbeitsgebieten doppelte Namen gaben, welche eine genuin
türkische und eine westlich abgeleitete Komponente hatten. Schon sein allererstes
öffentliches Konzert im Volkshaus in Ankara am 14. Juli 1944 nennt Ruhi Su „Türkü
Resitali“, während Tonguç stets von „Köy Enstitüsü“ spricht. 334 Sie hatten, um es kurz zu
sagen, ein anatolisches Herz und einen europäischen Kopf. Beide waren Pioniere in ihren
Arbeitsbereichen. Zwischen dem Kampf Ruhi Sus gegen die Ausbeutung auf dem Land
durch die Neugestaltung der Türküs und der von Tonguç verwirklichten basisnahen
Ausbildung der Schüler in den Dorfinstituten besteht eine deutliche Ähnlichkeit.
Sowohl Tonguç als auch Ruhi Su waren Kinder der jungen Republik. Durch ihre
Tätigkeiten und Konzepte überschritten beide die sozialen und kulturellen Grenzen. Als
die Dorfinstitute den offiziellen politischen Rahmen sprengten und aus der
Landbevölkerung mündige Staatsbürger zu machen suchten, wurden sie zum ungeliebten
Objekt staatlicher Bildungspolitik. Das gleiche Vorgehen wird bei Ruhi Su sichtbar, den
man anfangs in seiner Radioarbeit förderte und dann herauswarf. Das Gefängnis und ein
Berufsverbot folgten 1952. Nicht zu übersehen ist auch eine biographische Parallele:
Tonguç wurde aus seinem Amt als Generaldirektor der Primärbildung entfernt und
musste in einer Mittelschule als Kunstlehrer arbeiten. Ruhi Su musste sein Leben lang
gegen Widerstände und Verbote ankämpfen und erhielt nach seiner Entlassung aus der
Haft keine offizielle Anerkennung mehr.
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan am 27. Sept. 2010 in İstanbul.
.Sabahattin Eyuboğlu erklärt, weshalb Tonguç den türkischen Begriff „Dorf“, mit dem deutschen Begriff
„Institut“ zusammenfügte. Nach Eyuboğlu war Tonguç ein westlich orientierter Mensch und ein geborener
Türke. Das Gebäude, das er in seinem Kopf zu bauen plante, war westlich, jedoch die Erde und Steine für
dieses Gebäude kamen aus der Heimat. Seine Vorbilder in der Pädagogik kamen aus dem Westen, jedoch
die Intellektuellen, nach denen er sich sehnte, sollten aus der Heimat stammen. Das ist der Grund, weshalb
Tonguç den Begriff „Dorf“, mit dem Begriff „Institut“ zusammenfügte. Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin:
Köy Enstitülerini Anarken (1967). In EYUBOĞLU, Sabahattin: Köy Enstitüleri Üzerine (1979):121.
Ahmet Say machte uns auf den Grund aufmerksam, aus dem Ruhi Su für sein erstes Konzert den
türkischen Begriff „Türkü“ mit dem westlichen Begriff „Rezital“ vereinte. Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi
Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sep. 2009): 13-14.
333
334
102
5.
Die Musiktraditionen der Türkei
5.1
Die Traditionelle Kunstmusik 335
Am osmanischen Hof und in seinem Umfeld herrschte eine Musik, die sowohl
Klassische Kunstmusik als auch Diwanmusik (Hofmusik) oder Traditionelle Kunstmusik
genannt wird. Sie ist eine Synthese der osmanischen, arabischen, persischen, armenischen
und byzantinischen Musik und kann bis zur Gründung des Osmanischen Reiches
zurückverfolgt werden. Ihre Instrumente sind hauptsächlich die Laute (ud), die Rohrflöte
(ney), das sechssaitige Zupfinstrument mit sehr langem Hals (tambur), ein zitherartiges
Musikinstrument (kanun) und eine kleine, metallgefaßte Trommel (kudüm).
Werke des wohl berühmtesten türkischen Komponisten, ÝAbd al-Qādir Marāġī (15.
Jahrhundert), haben bis in die heutige Zeit überlebt ebenso wie diejenigen des Buhurizade
Mustafa Itris (18. Jahrhundert). Komponist zu sein war eine anerkannte Tätigkeit; selbst
osmanische Herrscher wie z.B. Selim III. (1762-1807) oder Mahmud II. (1785-1839)
übten sie aus. Ebenso sind Komponisten griechischer, armenischer und jüdischer
Abstammung wie Zaharya Efendi (ges. 1740?) Dimitri Kantemiroğlu (1673-1727) und
Nikoğos Ağa (1836-1885) zu erwähnen. Außerhalb des osmanischen Hofes waren die
Klöster der Derwische (Tekkes) 336 wichtig für die Ausübung, die Pflege und das
Überleben der Traditionellen Kunstmusik bis in unsere Gegenwart. Sie waren die
Musikschulen ihrer Zeit. Ihre Musik bildete in wichtigen Zentren des Osmanischen
Reiches einen wesentlichen Bestandteil der Kultur der Oberschicht. 337
Die Werke der Traditionellen Kunstmusik hatten religiöse wie auch weltliche
Themen. In der Musik der Moschee gibt es keine Instrumente. Im Gegensatz dazu hat die
als Sufimusik bekannte Musik der Bektaschis und Mevlevis begleitende Instrumente. Die
weltliche Musik ist unterteilt in die Bereiche der Instrumentalmusik (taksim, peşrev,
çiftetelli, zeybek, sirto) und Textmusik (kâr, beste, şarkı). Der melodische Verlauf eines
vertonten und improvisierten Stückes hält sich an die Regeln der Tonreihe, die MaqÁm
335
Weiterführende Literatur zur traditionellen Kunstmusik: REINHARD Kurt. und Ursula: Musik der
Türkei, Bd. I (1984); JÄGER, Ralf Martin: Klaus Hortschansky (Hrsg.): Türkische Kunstmusik und ihre
handschriftlichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert (1996); ÖZKAN, İsmail Hakkı: Türk Musikisi
Nazariyatı ve Usulleri (1990); MERKT, Irmgard: Türkische Kunstmusik-Traditionelle klassische Musik,
Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (1983): 45-57.
336
Eine Tekke ist ein Zentrum einer Sufi-Bruderschaft (Derwisch-Orden, bzw. –Tariqa) und bedeutet so
viel wie „Rückzugsort“, „Schutz“ und „Asyl“.
337
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Für die oben genannten Musiker siehe weiterführend
SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi A-L und M-Z (1986).
103
genannt wird. Eine weitere Charakteristik dieser Musik ist der usul genannte rhythmische
Aufbau.
338
338
AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 16.
104
5.2
Die Volksmusik
Ein Gattungsname der traditionellen Kunstmusik lautet şarkı. Schon die
Etymologie „şark“ deutet auf den Orient, den Aufgang der Sonne; şarkı heißt daher „ das
Lied des Ostens“. Auch ein Gattungsname der türkischen Volksmusik, nämlich Türkü
lässt eine etymologische Erklärung zu, Türkü heißt eben „Lied eines Türken“. Als die
Türken aus ihrem Ursprungsgebiet der heutigen Mongolei nach Anatolien aufbrachen,
brachten sie Musik mit, die sie begleitet durch die ursprüngliche Art der Saz (kopuz)
sangen. 339
Der melodische Aufbau der Volksmusik basiert auch auf dem MaqÁm. Die
Volkslieder weisen hinsichtlich der Melodienfolge und des Rhythmus zwei Grundformen
auf: Die erste Grundform uzun hava ist in Takt und Rhythmus frei, hat aber innerhalb der
Melodienfolge eine feste Struktur. Diese Grundform
wird in
verschiedenen
geographischen Gebieten bozlak, maya, hoyrat, divan, kesik, aydos, yüksek hava, eğin,
türkmeni genannt. Die zweite Form ist in Rhythmus und Melodie gleichmäßig. Diese
wird als kırık hava bezeichnet. Die Instrumente der Volksmusik sind die mit drei
Doppelseiten bespannte Langhalslaute (saz oder bağlama) die Trommel (davul), die Oboe
(zurna), die Flöte, eine speziell in Ostanatolien verwendete kleinere Oboenart (mey), das
Mundstück der Oboe (sipsi), die Kürbisgeige (kabak kemane), der Dudelsack (tulum) und
eine Vielzahl von Schlaginstrumenten. Von Landschaft zu Landschaft zeigt diese Musik
Unterschiede in Form, Inhalt und Klang. 340
Im Jahre 1936 wurde der bedeutende ungarische Musikforscher und Komponist
Béla Bartók in die Türkei eingeladen und hielt in Ankara drei Vorträge über “Die
Methodik des Sammelns, Untersuchens und Herausgebens von Volksmelodien” 341 Die
Regierung hatte inzwischen den Wert des Volkstümlichen für die zeitgenössische
türkische Kultur endeckt und wollte ihn stärken. Nach den Vorträgen reiste Bartók
zusammen mit Ahmet Adnan Saygun, einem bedeutenden Komponisten und Folkloristen,
in die südtürkische Ebene um Adana (Çukurova), um dort Türküs der Nomaden in Adana,
Osmaniye und Toprakkale zu hören und sie auf Schallplatten aufzunehmen. Die
Ergebnisse übergab er in einem Bericht dem Kulturministerium. Er regte an, ein Institut
339
Vgl. oben Kap. 2.1, Fußnote 57.
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Vgl. auch İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei (ohne
Erscheinungsjahr ): 36-60; MERKT, Irmgard: Türkische Volksmusik, Deutsch-türkische Musikpädagogik in
der Bundesrepublik Deutschland (1983): 87- 89; ÖZGÜL, Vatan: Türk Halk Müziğinin Kapsamı, Halk
Bilimi 3 (1997): 10-14.
340
341
Siehe BARTóK, Béla: Küçük Asya’dan Türk Halk Musikisi (1991): 268-289.
105
für Folklore zu gründen, welches ein wissenschaftliches Arbeiten ermöglichen könne.
Das verwirklichte Projekt würde nicht nur für die türkische Musik eine bedeutende Rolle
spielen, sondern auch für die Musik der Welt. 342 Auf seinen Vorschlag hin leisteten
Volkshäuser, Rundfunkanstalten und Dorfinstitute gute Archivarbeit in mehreren
Landesteilen. Die Gründung eines Institutes für Folklore erfolgte damals nicht. 343
Am Anfang der wissenschaftlichen und musikalischen Arbeit mit Türküs steht
Cemal Reşit Rey, der sein Musikstudium in Klavier und Komposition in Genf und in
Paris abgeschlossen hat. Dieser Musikwissenschaftler und Komponist sammelte zwölf
anatolische Volkslieder (12 Anadolu Türküsü), vertonte sie mehrstimmig und publizierte
sie 1927.
344
Als nächster ist Ahmet Adnan Saygun 345 zu nennen, der eine wichtige Rolle
im Leben Ruhi Sus spielte. Er war wie Cemal Reşit Rey einer der Türkischen Fünf (Türk
Beşleri), will sagen: der führenden Komponisten ihrer Zeit. Saygun war an der
Musiklehrerschule der Lehrer Sus und, nachdem dieser mit seinen Mitschülern einen
Chor (Ses ve Tel Birliği) gegründet hatte, übernahm er sogar auf die Bitte Ruhi Sus die
Rolle des Chordirigenten. 346
Dichter und Sänger sind ein wichtiger Teil der türkischen Volksmusik. In dem sie
ihre Verse selbst auf der Saz begleitet vortrugen, haben sie als Denker, als Führer
religiöser Gruppen und als Kämpfer gegen die Unterdrückung durch den Machtapparat
eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben gespielt. Zu nennen sind Dede Korkut
im 12. Jahrhundert; Yunus Emre im 13., Pir Sultan Abdal im 16., Karacaoğlan und
Köroğlu im 17., sowie Dadaloğlu im 19. Jahrhundert. Ruhi Su bejahte die politische
Aussage der Volksmusik; genauer gesagt, er verstand sich im Kontext der türkischen
Linken, ohne einem Dogmatismus zu huldigen. Zu betonen ist, dass er als erster diese
Aufgabe der Volksmusik propagierte und in der neuen oppositionellen Musik eine
führende Rolle einnahm, ohne sie gleich zu ideologisieren. 347 Er sprach davon, dass die
Türküs an Aussagekraft gewännen, wenn die Not und das Leid des Volkes sehr groß
würden. 348
Vgl. ALİ, Filiz: Müzik ve Müziğimizin Sorunları (1987): 75.
Ebd. 68.
344
Vgl. http://tr.wikipedia.org/wiki/Cemal_Re%C5%9Fit_Rey.
345
Saygun komponierte 1946 das Yunus Emre Oratorium (Yunus Emre Oratoryosu), welches 1947
aufgeführt wurde.
346
Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 19.
347
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Reiche Literaturverweise auf die türkische
Volksdichtung bieten REINHARD, Ursula und de OLIVEIRA PINTO, Tiago: Sänger und Poeten mit der
Laute. Türkische Aşık und Ozan (1989): 256-258.
348
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: „Bir Yerde Türküler Ne Kadar
Gelişmişse, Anlatım Gücü Ne Kadar Artmışsa, Oradaki Koşullar O Oranda Ağır Demektir“, Forum 1, 336
. (Apr. 1968). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 98.
342
343
106
Die Türküs früherer Dichter interpretierte Ruhi Su neu und gab ihnen ein neues
Leben, indem er die Volksmusik mit der westlichen Musik verband. Mit seiner
ausgebildeten Stimme und seiner Technik repräsentierte er einen völlig neuen Typus in
der mehrere Jahrhunderte alten Volksdichtertradition. Innerhalb der linken Musiktradition
gibt es kaum einen Künstler, der nicht von ihm beeinflusst wurde. In den folgenden
Jahren nahmen Künstler wie Zülfü Livaneli, Rahmi Saltuk, Sadık Gürbüz, Sümeyra
Çakır, Hasan Yükselir und viele andere Ruhi Su zum Vorbild der politischen Musik. Der
Volkssänger Aşık İhsani, der um 1960 von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt wanderte,
rüttelte das Volk auf: “Wach endlich auf, dein Kampf hat begonnen. 349 Eigentlich ist der
Kampf des Volkes gegen den ständigen Krieg ein altes Thema. Es war der Opfer müde,
weil es immer wieder Soldaten stellen sollte, wie folgende Zeilen zeigen:
Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen,
Ansonst wirf uns ins Meer. 350
Das Volk verhielt sich in den Klageliedern nicht nur passiv, sondern leistete aktiv
gegen den Sultan Widerstand, wie der im 19. Jahrhundert lebende Volksdichter
Dadaoloğlu sagt: “Das Urteil gehört dem Sultan, uns gehören die Berge.” 351
Ruhi Su selbst gibt Auskunft über die verschiedene Qualität, Notwendigkeit und
Öffnungsmöglichkeit von Volksmusik und Kunstmusik innerhalb der zwei kulturellen
Komponenten der türkischen Gesellschaft, der osmanischen Kultur und der Kultur des
Volkes:
Die Musik ist die zweite Muttersprache des Volkes. Sofern der Mensch sich
selbst und der eigenen Kultur nicht entfremdet ist, wird er sich weder von der
eigenen Sprache trennen noch von seiner Musik. Deshalb umschließt die
Kunstmusik, wenn sie sich folgerichtig entwickelt, auch die Volksmusik. Unsere
klassische Kunstmusik ist die Musik der osmanischen Kultur. Sie ist abgekapselt
vom Volk, gibt das gesamte Leben in keiner Weise wieder und bildet eine
abstrakte Musik. Ein solcher Zustand behindert die Entwicklung dieser Musik
und markiert einen sehr deutlichen Trennschnitt von der Volksmusik. Seit ihrem
Bestehen ist andererseits die Volksmusik eine Musik, welche die Sehnsucht des
Volkes zum Ausdruck bringt: sein gesamtes Leben vom Brot bis zur Liebe. Sie
ist offen für jede Entwicklung. Wenn wir eine derartige Kunstmusik gehabt
hätten, wäre eine Volksmusik nicht notwendig gewesen. Da dies aber nicht der
Fall ist, haben wir nunmehr eine Klassische Kunstmusik und eine Volksmusik. 352
Siehe BACI, Aşık Sinem: Dünden Bugüne Aşık İhsani (1976).
Vgl. İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei, (ohne Erscheinungsjahr): 114-115. Für den vollständigen Text
des Liedes siehe unten Kap. 9.7.1.
351
Vgl. İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei, (ohne Erscheinungsjahr): 61.
352
SU, Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile bir Görüşme, Süreç 2, 6 (April.-Juni1981). In:
Ezgili Yürek (1985): 149.
349
350
107
5.2.1
Das Türkü und das Kunstlied
Bei der Erörterung des von Ruhi Su angenommenen Verhältnisses zwischen Lied
und Türkü stellen sich zwei Fragen, die erste nach Ruhi Sus eigener Praxis und Theorie,
die zweite nach dem Urteil seiner Freunde und Kritiker über Ruhi Sus Position, nachdem
er ein anerkannter Künstler geworden war.
Obwohl Ruhi Su seit seiner Kindheit mit Türküs aufgewachsen war, näherte er
sich bewusst dieser Liedform erst, als er das deutsche Lied kennen lernte. Mit diesem
wurde er als junger Mann während der Opernausbildung durch seine Lehrer Paul
Hindemith und Carl Ebert intensiv bekannt gemacht. Carl Ebert gibt einen Hinweis von
großer Wichtigkeit. Er erwähnt, dass Ruhi Su manchmal Schubertlieder sang. Die
türkische Musik kennt den Terminus „Lied“ nicht. Erst mit Hilfe der deutschen
Musiklehrer wird dieser Terminus aus dem Deutschen in das Türkische überführt und,
dies ist zu betonen, behält dabei seine ursprüngliche Bedeutung. So wird Ruhi Sus
Hinwendung zum Kunstlied Schuberts verständlich. Was ihn faszinierte war, wie Carl
Ebert erklärt, dass die Schönheit der Liedform der Schönheit der türkischen Sprache
begegnete. Eine zu dieser Begegnung fähige Stimme wie die Ruhi Sus, kommt alle
fünfzig Jahre auf die Welt oder gar nicht. 353
Ruhi Su skizziert sein Verhältnis zu Kunstlied und Türkü wie folgt:
Die Ausbildung, die ich genossen habe, hat meine Stimme und meine Einstellung
entwickelt. Ich erkannte die Struktur der Musik, insbesondere der Musik mit
Text. Ich spielte in Opern und sang Lieder. Ich erfuhr, dass jedes Gefühl mit
Musik ausgedrückt werden kann. Ich lernte, wie die Töne dem Thema folgen
mussten und wie der Text interpretiert wird. Die Türküs, die ich aus meiner
Kindheit kannte, wurden dabei zu einer Quelle, die sich mir aufgrund meiner
neuen Kenntnisse mit Leichtigkeit erschloss. Die Türküs waren eine Art der
Musik, die mit ihren unterschiedlichen Themen geeignet war, nachzudenken und
zu interpretieren. 354
Ruhi Su nähert sich dem romantischen Kunstlied in der Art Schuberts auf zwei
Weisen. Er nimmt volkstümliche, sehr oft anonyme Stoffe und gibt ihnen seine
individuelle melodische Interpretation. Um Ruhi Su in diesem entscheidenden Punkt, der
den Unterschied zu europäischen Liederkomponisten offen darlegt, nochmal sprechen zu
lassen:
Vgl. ARZIK. Nimet: 7 Gün (17. Jan. 1973). In: Ruhi Suya Saygı (1986): 66.
SU, Ruhi im Gespräch mit ERDEN, Dikna Sadika: „Yöresellikten Ulusallığa, Ulusallıktan
Evrenselliğe“, Bilim ve Sanat 96 (Dez. 1983). In: Ezgili Yürek (1985): 166.
353
354
108
Ich bin kein Komponist, jedoch habe ich die Türküs wie ein Komponist behandelt
und sang Türküs, als ob ich sie selbst komponiert hätte. Ich glaube, diese Türküs
waren, die „Lieder“ (welche in diese Arbeit als „Kunstlieder“ verstanden werden)
der angestrebten mehrstimmigen Musik. 355
Wie die Komponisten des romantischen Lieds erweitert auch Ruhi Su die
Thematik. In der Traditionellen Kunstmusik herrscht immer das Thema der Liebe. In der
volkstümlichen Musik der Türküs drückt das Volk jedoch auch seine Angst und Freude,
sein inneres Feuer, Kummer wie die Auflehnung gegen die Unterdrücker, sowie
Alltägliches aus, kurz gesagt alles, was es nach außen mitteilen möchte. 356
Durch seine Ausbildung bei deutschen Lehrern, beschäftigte Ruhi Su sich mit den
Türküs anders als andere Musiker. Bis dahin bestand die Ausbildung eines Türkü-Sängers
darin, ohne jegliche theoretische Ausbildung einfach nur zu singen. Lautformen, Wissen
über Modulation der Stimme, Rhythmik und Gesangsstil gab es bei diesen Sängern
nicht. 357 Ruhi Su jedoch hatte den Einsatz der Stimme und die Art des Vortrags in der
Opernausbildung gelernt und wandte dieses Wissen auf die Türküs an.
Sein Interesse an anatolischen Volksliedern wuchs, und er reiste in Anatolien
umher, um gesungene Lieder zu sammeln. Er profitierte von der Art und Weise des
Singens dieser Menschen, kopierte sie aber nicht. Er sah eine Verbindung zwischen dem
Türkü und dem Lied und versuchte bei der Interpretation, die wesentlichen Eigenschaften
der Türküs nicht zu verfälschen.
Wie, schließlich, lautete das Echo der Freunde und Kritiker auf die gerade
skizzierte Theorie und Praxis des Künstlers? Erstaunlich ist, dass Ruhi Su bereits als
Student am Konservatorium Aufsehen erregte und zwar als Sänger von Volksliedern,
obwohl er in der Fachschaft Oper eingeschrieben war. Sein österreichischer Lehrer
Markowitz war begeistert, als er in den Pausen der Oper den jungen Mann Türküs mit
großer Schönheit der Stimme singen hörte, „Ich habe zum ersten Mal erkannt, wie schön
die türkische Musik ist.“358 Der bekannte Volkstumswissenschaftler Pertev Naili Boratav
spricht seinerseits von der außerordentlichen Ausdruckskraft des Sängers, welche
menschliche Gefühle trotz fehlender Harmonisierung der Türküs hervorhebt. Ruhi Su
stelle sich so im Gegensatz zu Adnan Saygun, der einige Volkslieder bearbeitete und sie
355
Ebd. 166.
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile Bir görüşme, Süreç 2, 6 (Apr.-Juni 1981).
In: Ezgili Yürek (1985): 149. Siehe zu Thema und Struktur, ÖZTÜRK, Ali Osman: Das türkische Volkslied
als sprachliches Kunstwerk (1994): 113-117 und 222-253.
357
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: „Van’dan Yarınlara, Engebeli Bir Yolda“ , Milliyet
Sanat (1. Mai 1984). In: Ezgili Yürek (1985): 181.
358
Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 13.
356
109
vom Chor des Konservatoriums singen ließ, und zu vielen früheren Alaturka-Sängern, die
der Gewohnheit nach mit einer sozusagen mechanischen Stimme vorgetragen haben. Sein
Lob gipfelt in dem Satz: „Die neue Strömung unsere Volkslieder zeigt sich als Fortschritt
in der Weiterentwicklung unserer neuen Musik.“ 359 Boratav interpretiert Ruhi Sus Lieder
wie die Volkslieder der europäischen Romantik. So verweist er auf Gottfried Herder, der
in den Liedern der Welt die Stimmen der Völker zu hören glaubte. Boratav glaubt an das
Volkslied als die Stimme der Menschheit. 360 Dieser ausgedehnte Vergleich erlaubt ihm,
historische Parallelen zu ziehen. Er vergleicht die mittelalterlichen Minnesänger mit den
türkischen Volkssängern, den Aşıks. Beide Sänger waren mit ihren Instrumenten
unterwegs und trugen selbstkomponierte Lieder und Gedichte vor. 361 Ruhi Su, als
Sammler dörflicher Lieder, war erfolgreich bemüht, diese Musik angeblich schlichter
Bauern vom Land in die Stadt und zu den Intellektuellen zu bringen. Dies ist ihm in
einem Maße gelungen, dass seine städtischen Kritiker von seinen Türküs beeindruckt
waren. Die durchgehende Komposition thematischer wie melodischer Art lässt an
europäische Vorbilder wie Schuberts „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“
denken. Sie geht weit über die einfache Liederreihung der Aşıks hinaus, sie ließ Kritiker
an eine Oper und sogar an eine Sinfonie denken. 362 Der Vorschlag liegt nahe, für diese
von Ruhi Su aus der Tradition entwickelte Musik den bereits erwähnten Begriff
„Volkskunstmusik“
einzuführen.
In
jedem
Fall
ist
er
der
Initiator
dieser
„Volkskunstmusik“ gewesen.
Im Einzelnen: Schubert wurde am Konservatorium auch zur Zeit Ruhi Sus gelehrt
und gesungen. Doch mit der reichen türkischen Musik, wie etwa dem Heldentürkü von
Köroğlu, kamen die Staatskünstler nicht zurecht. 363 Erst Ruhi Su gelang es, durch den
Vortrag der Volkslieder in der Art der westlichen Musik der türkischen Musik eine feste
Struktur und damit eine klassische Qualität zu verleihen. Azra Erhat spricht von ihm als
einer „Brücke zwischen der Volkstradition und der zeitgenössischen Kunst.“ 364 Auch
Nach BORATAV, Pertev: (Ohne Titel), Yurt ve Dünya 3, 21, (Nov. 1942): 315. In: DİNÇER, Mekin
(Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 16. Zu den Vorgängern Ruhi Sus auf dem Feld der Erneuerung der
Volksmusik gehört Cemal Reşit Rey, der in Paris studierte und dessen Arbeiten in seinem Buch Anadolu
Halk Türküleri (1926) zu finden sind.
360
Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Türkülerde İnsanlarin Sesi, Ulus (16. Dez. 1941). In: BORATAV,
Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 340-343.
361
Ebd. 479-487.
362
ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 19, 226 (März 1971). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 60-61.
363
TÖR, Vedat Nedim: Vatan (25. Aug. 1944). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg):Ruhi Su’ya Saygı (1986): 20.
364
Vgl. ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 19, 226 (März 1971). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 60-61.
359
110
Ruhi Su war sich sehr wohl bewusst, dass er sowohl der traditionellen türkischen
Gesellschaft als auch der modernen verpflichtet war:
Ich singe nicht nur Türküs. Gleichzeitig singe ich die „Lieder“ der modernen
türkischen Gesellschaft. 365
Der Musikwissenschaftler Ahmet Say denkt über Ruhi Sus Praxis und Theorie
durchaus ähnlich. Seiner Meinung nach sang Ruhi Su die Türküs nicht wie eine
Opernarie; er sang sie wie der Interpret eines deutschen Kunstliedes, welches in der
Volksmusik verwurzelt ist. In den 1960er Jahren sprach Say mit Su, dem der Vergleich
mit einem Liedinterpreten gefiel. Ruhi Su bekannte, er gehöre, auch wenn er es wolle,
nicht zu den Künstlern einer jahrhundertelangen Tradition, da er nicht aus dieser komme.
Die Zeit sei jedoch gekommen, dass die Türküs einen Sprung nach vorne machen
müssten. Man kann das Schaffen Ruhi Sus so verstehen: Sich der Mittel der Tradition
bedienend, wollte er einen zeitgemäßen Volksmusikstil schaffen. 366
Ruhi Su war der erste, der die türkische Volksmusik mit einer wissenschaftlichen
Methode anging. Die praktischen Schritte waren, dass er das Material aufsuchte,
sammelte, auswertete und öffentlich machte. Er untersuchte die Varianten einer Türkü,
um die ursprüngliche Fassung zu rekonstruieren mit der Absicht, die sinnvollste und
künstlerisch beste Interpretation zu gewinnen. Zu diesem Ziel gehörte eine von ihm
entwickelte Methode der Betonung im Gesang. So machte er schlichte folkloristische
Türküs zu Kunstwerken. Für spätere Generationen von Musikkünstlern bildet sein Werk
eine große Orientierung. 367 Durch die Integration von westlichen Musikstrukturen in die
türkische Musik überwand Ruhi Su den Graben zwischen der Tradition Anatoliens und
der Moderne Europas.
„Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten
Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen"368
Diese Aussage Robert Schumanns verdeutlicht auch die Haltung Ruhi Sus zu der eigenen
Volksmusik. Das europäische Volkslied weist durchaus Parallelen zum Türkü auf. Seine
fruchtbarste Zeit war das 15. und 16. Jahrhundert. Das europäische Lied folgte weder
kirchlichen noch höfischen Lebensformen. Es spricht allen verständlich von Liebe und
365
SU, Ruhi: Auf der Innenseite des Covers von der Schallplatte „Gedichte und Türküs“ (Şiirler, Türküler,
1974).
366
Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept.
2009):13-14.
367
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra.
368
www.deutscheslied.com. Abgerufen am 27. Jan. 2010.
111
Leid, Gott, dem irdischen mühevollen Arbeitsleben überhaupt. 369 Solche Aussagen lassen
sich vergleichen mit denjenigen Ruhi Sus:
Die Türküs sind die einzigen Mittel, um die Sorgen unseres Volkes unbefangen
und frei zu äußern. Die Türküs sind nicht vom Leben abgekapselt und haben auch
niemals die wichtigen Geschehnisse im Leben des Volkes ausgelassen und
erhöhen dadurch unser Vertrauen an das Leben sowie unsere Lebenskraft.370
369
Vgl. DUIS, Ernst: Volkslieder (1948): 3.
SU, Ruhi im Gespräch mit AKYILDIZ, Erhan: Ruhi Su Aşık Veysel’i Anlatıyor, Milliyet Sanat (26.-30.
März 1973). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek(1985): 109.
370
112
5.3
Die moderne mehrstimmige Musik
Die erste Tendenz zur Mehrstimmigkeit in der türkischen Musik beobachtet man
Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Erneuerungsbewegung in der osmanischen Verwaltung
des Reiches um die Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelte sich in der Literatur, Musik und
dem sozialen Leben als Europäisierung. 371 Die Entwicklung des europäischen
Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert hatte ihre Parallele gefunden in der Entwicklung
nationaler Schulen in der Musik, als wichtige sind zu erwähnen die ungarische und die
russische Schule. 372 Mit der Gründung der Türkischen Republik, genauer gesagt mit den
Reformen Atatürks, entwickelte sich auch in diesem Land neben dem nationalen
Bewußtsein eine nationale Bewegung der Musik. Das wichtigste kulturelle Ziel war der
Anschluss an die zeitgenössische und moderne Zivilisation. So betonte auch Atatürk, das
Maß der Veränderung einer Nation hänge davon ab, wie fähig sie sei, Veränderungen in
der Musik aufzunehmen. Man muss, führt er aus, die Lieder, die von nationalen Gefühlen
und Gedanken erzählen, sammeln und sie nach modernen musikalischen Regeln
bearbeiten. Nur auf diesem Weg kann sich die nationale türkische Musik entwickeln und
ihren Platz in der internationalen Musikwelt einnehmen. Dies ist eine revolutionäre
Bewegung. 373 Seine Worte zeigen, wie sehr die Hinwendung zur Volksmusik der
offiziellen Kulturpolitik entsprach und auch dort, wo die Volksmusik oppositionelle Züge
annahm, sich in der Kontinuität solcher Politik wusste.
Es ist zu betonen, dass Ruhi Su die gleichen kulturellen Ziele im Sinn hatte, die
Entwicklung einer nationalen Musik und die Hoffnung, dass diese ihren Platz in der
internationalen Musikwelt einnehmen wird. Gefragt, welche Bedeutung mehrstimmige
Musik im türkischen Musikleben besitze, antwortete er differenziert. In westlichen, mit
der Mehrstimmigkeit seit langem vertrauten Ländern besitzt diese keine revolutionäre
Kraft mehr. In der Türkei ist dies anders: mehrstimmige Musik ist gleichbedeutend mit
revolutionärer Musik, weil sie einen kulturellen Fortschritt der Gesellschaft darstellt. 374
In seiner eigenen praktischen Arbeit sah Ruhi Su die Mehrstimmigkeit für einen Chor
vor, in dem die Stimmen der Frauen und Männer getrennt und in anderen Stimmlagen
geführt wurden. Als Einzelsänger ließ er Mehrstimmigkeit neben der eigenen Stimme nur
371
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra.
OKYAY Erdoğan: C.M.Altar‘a Armağan (1989): 26. In: AYDIN Yılmaz: Türk Beşleri(2003): 23.
373
Ebd. 20.
374
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit BALKIR, Kerim: Devrimci Müzik, Müziğimizin Çoksesliliğe Gitmesi
Sorunudur, Tavır (Apr.1980). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985):140-141.
372
113
auf seinem Instrument anklingen. Er betrachtete sich nicht als Komponist, sondern als
Interpret. 375
Die Regierung schickte junge talentierte Musiker in das Ausland, damit sie eine
weitergehende musikalische Erziehung genießen konnten. Unter diesen Studenten, von
denen viele sich in den Unterricht des bedeutenden österreichischen Komponisten und
Musikpädagogen Joseph Marx nach Wien begaben, waren auch fünf türkische
Komponisten: Cemal Reşit Rey, Ulvi Cemal Erkin, Ahmet Adnan Saygun, Necil Kazım
Akses und Hasan Ferit Alnar. Rey vertonte, wie erwähnt, bereits in den 20er Jahren
Anadolu Türküleri als Orchesterstücke. 376 Die Türkische Schule begann mit den soeben
genannten „Die Türkischen Fünf” (Türk Beşleri) . Sie bildeten die erste moderne
Komponistengeneration der Türkischen Republik. Der Name “Türkische Fünf” wurde
geprägt in Anlehnung an die damaligen „Russischen Fünf”. 377 Jeder von ihnen hatte ein
Kompositionsstudium an den Hochschulen europäischer Metropolen (Paris, Wien, Prag)
absolviert. Die „Türkischen Fünf” haben in ihren Werken aus Elementen der türkischen
Volks- und Kunstmusik zum ersten Mal einen türkischen Stil als moderne mehrstimmige
türkische Musik kreiert. 378
Zwei weitere Musikformen sind knapp zu erwähnen, die zwar nicht zu der oben
charakterisierten Musikarten gehören, aber wegen ihrer sehr großen Popularität nicht zu
überhören sind: Arabesk und Aranjman.
Nach manche Kennern entstand die Arabeskmusik durch die Migration der
Landbevölkerung in die Stadt. Andere Experten glauben hingegen, sie sei eine entartete
Form der türkischen Kunstmusik und habe mit Migrationn nichts zu tun. Die Zuwanderer
in der Stadt würden lediglich Zuhörer dieser Musik. 379
Für Ruhi ist Arabesk ein erfundener Begriff. Diese Musik sei weder neu noch
habe sie eine fortschrittliche Aussagekraft. Er bezeichnet sie als “depressive Musik”. Sie
sei eine Mischung von arabischer, indischer und türkischer Musik. Arabesk stehe
insgesamt für eine melodramatische Nachlässigkeit. Bei ihrer weiten Verbreitung gehe es
in dieser schwammigen Form stets um die selben Themen: Liebe und Kummer im
Leben. 380
Ebd. 147. In diesem Zusammenhang gehört auch die gemeinsame Arbeit mit Sümeyra Çakır.
Siehe oben Fußnote 359.
377
Siehe oben Kap. 4.2, Fußnote 271.
378
Vgl. AKDEMİR, Hüseyin: Die neue türkische Musik (1991): 54. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri
(2003): 23.
379
Vgl. GÜNGÖR, Nazife: Arabesk (1990):17.
380
Vgl. Nokta: Opera’dan Halk Türkülerine : Ruhi Su sesini ancak yabancı radyolardan duyuruyor (20. 26. Feb. 1984): 52. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):171-172.
375
376
114
Weiterhin existiert unter der Bezeichnung “Aranjman” eine Form der Popmusik,
die hier nur kurz angerissen wird. Diese Musik wurde unter den Bürgern und
Intellektuellen der großen Städte als Folge der westlichen Lebensform beliebt. Die
neuesten Tänze zählten auf Bällen fast als erste Stufe der Modernisierung. Nach dem
Zweiten Weltkrieg kamen mit amerikanischer Hilfe auch amerikanische und westliche
Popmusik in die Türkei. Auch diese Musik wurde zur Mode. Die anfänglich in der
Originalsprache gesungenen Lieder wurden allmählich ins Türkische übertragen, und so
begann das Aranjman. 381
381
Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra.
115
5.4
Türkische Musik und westliche Musik
Die frühe Beliebtheit der türkischen Musik bei den Europäern ging soweit, dass
europäische Komponisten den Stil der osmanischen Musik aufnahmen und in der eigenen
Produktion fruchtbar machten. Die Übernahme der Instrumente der Janitscharen brachte
ganz neue Töne in die Musik der Militärkapellen. Insbesondere im 16. und 17.
Jahrhundert, der expandierenden Periode des Osmanischen Reiches, war der Einfluss der
türkischen Musik groß. Es ist bekannt, dass die Europäer bei der zweiten Belagerung von
Wien, 1683, die Mehtermusik kennenlernten. Da zu dieser Zeit keine anderen türkischen
Musikstile in Europa bekannt waren, nahm man die Janitscharenmusik als die türkische
Musik überhaupt wahr. 382 Nach dem Sieg über die Türken im Jahr 1699 erbat sich Kaiser
Leopold I. von der Hohen Pforte eine komplette Janitscharenkapelle, die er auch als
Geschenk erhielt. 383 Die Mehtergruppen wurden durch ihre Instrumente wie Zurna, Boru,
Davul, Nakkare, Zil, Çelik Üçgen und Çevgan in Europa bekannt. 384 Berühmte
Komponisten wie Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven übernahmen die Rhythmik dieser
Musik und Instrumente wie die große Trommel, kleine Trommel, das Becken und die
Triangel für ihre eigenen Kompositionen. 385 Der letzte Abschnitt von Mozarts
Pianosonate ‘La Majeur Rondo alla Turca’ und die Oper ‘Die Entführung aus dem Serail’
sind bekannte Beispiele. 386
Der Einzug der westlichen Musik in die türkische Kultur geht mit der Auflösung
der Janitscharen-Bewegung im Jahre1826 einher. 387 Sultan Mahmut II., der Komponist
und Interpret zugleich war, löste das Janitscharenkorps und sein Musikinstitut
(Mehterhane) auf und gründete das Militärorchester „MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn“. Der Bruder
des berühmten italienischen Opernkomponisten Gaetano Donizetti, Giuseppe Donizetti
(1788-1856) wurde nach İstanbul eingeladen und Chef des Orchesters. 388 Donizetti
spielte eine wichtige Rolle in der Einführung der europäischen Musik in die osmanische
Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 33. In: AYDIN, Yılmaz: Türk
Beşleri (2003): 17.
383
JÄGER, Ralf Martin: Janitscharenmusik. In: Finscher Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und
Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik 4 (1996): 1316-1329.
384
Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 33. In: AYDIN, Yılmaz: Türk
Beşleri (2003): 33.
385
OKYAY, Erdoğan: Die Schulmusikerziehung in der Türkei-Ihre geschichtliche Entwicklung und ihr
heutiger Zustand. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Musik des Orients 12 (1973-1974): 8. In:
AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 9.
386
OKYAY, Erdoğan: Mozart im Lichte osmanisch-österreichischer Beziehungen (1989): 55. In AYDIN,
Yılmaz: Türk Beşleri (2003) 18.
387
Siehe oben Kap. 2.4.
388
Vgl. MERKT, Irmgard: Europäische Musik in der Türkei, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der
Bundesrepublik Deutschland (1983): 73-74.
382
116
Militärmusik. Mit Hilfe talentierter Musiker der Janitscharenkapelle und durch
Instrumente, die er aus Europa mitbrachte, machte er aus der Kapelle eine Institution
nach europäischem Vorbild. Er unterrichtete die Schüler statt in den HamparsumNoten 389 in dem modernen Notensystem. Er selbst lernte die Hamparsum-Notenschrift,
um sich besser mit dem alten Musiksystem vertraut machen zu können. Er lehrte
Querflöte, Piano und mehrstimmige Musik. Er hatte viele Schüler und machte das
MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn zu einem Konservatorium, welches die traditionellen und
zeitgenössischen Sparten umfasste, wie Kapelle, Orchester, Oper, Operette, Theater,
religiöse Musik, klassisches Theater und Puppentheater (Karagözspiel). 390 Er
komponierte die Lobeshymnen für Sultan Mahmud II. (Mahmudiye) und Sultan
Abdülmecid (Mecidiye), gewann Popularität und durch die Gunst des Sultans wurde er
zum Paşa ernannt. 391 Solisten wie Franz Liszt wurden nach İstanbul eingeladen und seine
Konzerte am Hof und in der österreichischen Botschaft erhielten viel Applaus. Die
Wichtigkeit des MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn in der türkischen Musikgeschichte liegt darin, dass
sie die erste mehrstimmige Musikausbildung erteilte und auch die erste Institution war,
die später in der Republik Türkei die ersten Musikausbilder hervorbrachte. 392
Nachdem der österreichische Musikpädagoge Joseph Marx (1882-1964) im
Auftrag Atatürks in den Jahren 1932-1933 als erster westlicher Musikexperte
Empfehlungen
für
den
Aufbau
eines
türkischen
Konzertwesens
und
eines
Konservatoriums nach westlichem Vorbild vorgelegt hatte, wurde 1936 das
Staatskonservatorium in Ankara gegründet und das dortige Staatspräsidentenorchester
neu strukturiert. An der „Pädagogischen Hochschule Gazi“ (Gazi Eğitim Enstitüsü)
erlernten
die
zukünftigen
Hauptinstrumente
Klavier,
Musiklehrer
Geige,
europäische
Violine
und
Musikgeschichte
Kontrabass,
während
und
als
sie
im
Stimmunterricht deutsche und französische Lieder einübten. 393
389
Limonciyan Hamparsums (1768-1839) Bedeutung für die heutige türkische klassische Musik beruht
weniger auf der Komposition als vielmehr auf der Tatsache, eine eigene Notenschrift entwickelt zu haben.
Dank dieser Notenschrift konnten viele Werke bis heute erhalten bleiben. Geboren in Beyoğlu-İstanbul
studierte er neben armenischer Kirchenmusik im Mevlevi-Haus zu Beşiktaş-İstanbul bei dem berühmten
İsmail Dede Efendi (1778-1845) religiöse und weltliche Musik. Ebenso betätigte er sich als Komponist und
Musikforscher. Er spielte Geige und ein wenig Tanbur. Vgl. SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler
Ansiklopedisi A-L (1986): 443.
390
Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 98. In: AYDIN, Yılmaz: Türk
Beşleri (2003): 17.
391
ÇALGAN, Koral: Duyuşlar, Ulvi Cemal Erkin (1991): 24.
392
Ebd. 25.
393
Vgl. REINHARD, Kurt und Ursula: Musik der Türkei 2 (1984): 132. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri,
(2003): 21. Als Schüler von Lehrern, die diese Schulen absolviert hatten, stellte der Verfasser später auf
deutschen Weihnachtsmärkten mit Verwunderung und Freude fest, dass die Lieder, die er von seinen
Lehrern gelernt hatte, deutsche Volkslieder waren. Als er die türkischen Fassungen dieser Lieder seinen
117
6.
Ruhi Su und das Türkü
Wie steht es um die Natur und die Geschichte der Türküs? Ob Türküs unter die
Kunstwerke zu zählen sind, hängt von der Enge oder Breite des Begriffs „Kunstwerk“ ab.
Hier wird von einem breiten Begriff ausgegangen, das heißt, dass Volkslieder,
kategorisch gesehen, ganz selbstverständlich zu den Kunstwerken gehören. Eine weitere
Frage ist, ob ihr Kunstcharakter nicht durch Bearbeitung und Entwicklung gesteigert
werden kann. Ruhi Su hat diese Frage in Theorie und Praxis bejaht. Zu dem
Kunstcharakter gehört, dass die Türküs sich in dem Leben des Volkes entwickelt und ihre
heutigen überaus einfachen Formen gefunden haben. Mit ihren Melodien, Rythmen und
Worten geben sie seit Jahrhunderten die Gefühle des Volkes wieder. Ruhi Sus
Argumentation geht einen Schritt weiter: Nicht die Türküs brauchen entwickelt zu
werden, sondern die Türküs brauchen entwickelte Künstler. Seine Position darf nicht so
verstanden werden, als gehörten die Türküs nicht dem Volke. Sie gehören dem Volk und
die Frage ob große Dichter dem Volk angehören oder nicht, stellt sich nur einem naiven
Theoriebewußtsein. Ruhi Su glaubt fest daran, dass die Künstler sich zwar von einem
unreflektierten Geschmack der einfachen Leute fernhalten müssen, dass sie jedoch mit
ihrer Geburt, ihrem Tod, ihrer Sprache, ihrem Geschmack und ihrem Kummer so mit
dem Volk vermischt und verbunden sind, dass man sie als Volk oder vom Volk ansehen
muss. 394 Ein wesentlicher Gedanke, kommt hinzu, dass die Arbeit des Künstlers die
Qualität des Volkslieds zu entwickeln vermag.
Ruhi Su selbst gibt dem Volkslied die zentrale Stellung in seiner künstlerischen
Arbeit:
Türkü zu singen ist für mich eine Ekstase. Meine schönsten Liebesgeschichten
habe ich erlebt, während ich sang. Weder betrogen sie mich, noch ich sie.
Solange ich Türkü singe, blühe ich auf. 395
Schülern beizubringen suchte, kam eine ähnliche Reaktion, diesmal von seinen eigenen Schülern. Denn sie
hatten auf Deutsch die gleichen Lieder im Kindergarten oder in der Grundschule gelernt: „Fuchs du hast die
Gans gestohlen, gib sie wieder her“ (Tilki Kazı Nerden Çaldın, Onu Bana Ver) oder „Morgen kommt der
Weihnachtsmann“ (Daha Dün Annemizin Kollarında Yaşarken). Für die ausführliche Geschichte der
Musikabteilung der Pädagogischen Hochschule Gazi siehe ALTUNYA, Niyazi: Gazi Eğitim Enstitüsü
(2006): 605-677.
394
SU, Ruhi: Türkülerimiz, Yağmur ve Toprak I, 5,6,8. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 48-49.
395
Vgl. Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.), Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 9.
118
6.1
Das Sammeln und Neuschaffen
Ruhi Su war ein Mensch, der einen großen Teil seines Lebens den Aşıks und
ihren Türküs widmete. Er verfolgte die Spuren der Lieder und zog von Dorf zu Dorf.
Einen verlorenen Vers fand er hier und einen anderen dort, eine Melodie stellt er in
diesem Gebiet sicher und das Auf und Ab in der Saz irgendwo anders. Er war ein
Türküsammler mit der Eigenart, dass er nicht wie ein Musikwissenschaftler handelte,
sondern wie ein türküverliebter Aşık. 396
Schaufle das Wasser von unten,
Suyum alçaktan çekerim,
Drehe das Rad und bringe es nach oben.
Döner yukarı dökerim
Yunus Emre
Ruhi Su hat sich die Verse Yunus Emres über das traurige Mühlrad zu eigen
gemacht, und sich selbst als das Mühlrad der anatolischen Türküs gesehen, als einen, der
solche Lieder jahrelang aus ihrer Niedrigkeit durch seine Bearbeitung zu Kunstwerken
erhoben hat. Er hörte die Dorfbewohner und Volkssänger mit Respekt an. Im
Taurusgebirge folgte er den Spuren Karacaoğlans und Dadaloğlus. Er übertrug die Worte
der Lieder in die Schrift und ihre Melodien in Noten. Er wollte Türküs sammeln. Er
wollte die Stimme Anatoliens mit einer neuen Interpretation erklingen lassen, in die
Städte bringen und von dort der Welt kundtun. 397
Fakir Baykurt erinnert sich deutlich, wie die als unwürdig und niedrig angesehene
Volkslieder zu Kunstwerken wurden. Er erwähnt in seinem Band Dost Yüzleri, er habe
Ruhi Su mit Nimetullah Hafız 398 bekannt gemacht. Ruhi Su fragte Hafız nach den in
Jugoslawien gesungenen Klageliedern, insbesondere nach den Jemen-Klageliedern. Hafız
kannte einige und bot an, sie beim nächsten Mal zu singen. Daraufhin besuchten Ruhi Su
und Fakir Baykurt ihn mit einem Aufnahmegerät. Summend wie die Bienen begann
Nimetullah Hafız „Jemen, Jemen, glorreicher Jemen, blutüberströmter Jemen.“ Ruhi Su
fragte: „Wollen Sie diese Stelle so oder so singen?“ Er ließ ihn erneut singen und fand
den Gesang wunderschön. „Was war an diesem abscheulichen Lied sehr schön?“, urteilte
396
DİNO, Abidin: Rückseite der Schallplattenhülle “Gedichte und Lieder” (Şiirler, Türküler, 1974).
Vgl. BAYKURT, Fakir: Ruhi Su-Türkiye’nin Sesi, Dost Yüzleri (2002): 209. Auch die Verse Yunus
Emres werden von dieser Seite zitiert.
398
Nimetullah Hafiz, ein Reisender aus dem damaligen Jugoslawien, besuchte regelmäßig in
Ören/Balıkesir Fakir Baykurt. Neben Ruhi Su verbrachten in den 70er Jahren in Ören viele Schriftsteller
und Intellektuelle ihre Ferien, so Aziz Nesin, Uğur Mumcu, İlhami Soysal, Bahri Savcı, Asım Bezirci,
Talip Apaydın, Halit Çelenk.
397
119
Fakir Baykurt. Das Jemen-Lied III sollte eine besondere Stelle auf der Schallplatte „Die
fremden Tore“ (El Kapıları) 399 erhalten.
Tage später bat Ruhi Su Fakir Baykurt, sich dieses Lied nochmals anzuhören.
Baykurt antwortete: „Wir haben es uns bereits bei Hafız angehört, oder?“ Ruhi Su sang
zunächst das Kaman-Klagelied, in dem eine Schwiegermutter seufzt:
Ich kann nicht schlafen, weder am Tage noch in der Nacht
Yatamıyom gece gündüz
Wegen der klagenden Stimmen der Bräute
Gelinlerin zarıyınan400
Nach noch zwei Klageliedern über Jemen ging Ruhi Su in das Lied über, das er
von Nimetullah Hafız aufgenommen hatte:
Jemen, Jemen, glorreicher Jemen,
Yemen Yemen şanlı Yemen
Blutüberströmter Jemen.
Toprakları kanlı Yemen401
Baykurt geriet in Begeisterung, als ob sein Körper durch und durch elektrisiert
worden wäre. Ruhi Su hatte nur die Melodie und eine einzige Strophe dieses ehemals
abscheulichen Liedes genommen und sie bearbeitet, zudem dem Lied eine neue Strophe
angefügt. 402
Ruhi Su bemerkte mehrfach, dass nicht alle Türküs schön seien. Er wählte Lieder,
die mit ihren Texten und Melodien die Gefühle des Volkes am treuesten wiedergaben.
Vieles, was das Volk in Jahrhunderten gesungen hatte, war beschädigt oder
verschwunden. Was Ruhi Su vornahm, war keine Restauration, sondern eine
Interpretation. Mit Blick auf das ästhetische Ganze gestaltete er Lieder neu in Rhythmus,
Melodie und Text. 403
Das Sammeln von Liedern brachte ihn in große Schwierigkeiten. Sein Ziel war es
nie, die Dorfbewohner zum Widerstand zu organisieren, wie die Polizei vermutete. Er
wurde aus den Dörfern, die er für seine Arbeit besuchte, oft als Agent der Sowjets
vertrieben. Fast an jedem Ort wurde er in einer Polizeiwache oder in einem
heruntergekommenen Zimmer geprügelt und festgehalten. 404
399
Siehe unten Kap. 9.7.
Siehe unten Kap. 9.7.3.
401
Siehe unten Kap. 9.7.6.
402
Vgl. Baykurt, Fakir: Ruhi Su-Türkiye’nin Sesi, Dost Yüzleri (2002): 208.
403
Ebd. 208-209.
404
Ebd. 210.
400
120
Als in den 60er Jahren die Landflucht begann, wurde es für ihn deutlich leichter
zu sammeln, da nun die Dorfbewohner in der Stadt lebten und er ohne polizeiliche
Bewachung, durch die Vermittlung von Freunden Zugang zu türkischen Liedern fand.
Damals trug er den größten Teil seiner Sammlung zusammen, die er später
veröffentlichte. 405
Seine Arbeit verdeutlicht, wie er sich von der Volkskultur inspirieren ließ. Ruhi
Su nahm mit einer großen Fertigkeit Worte, Wortgruppen und Sprichworte jeglicher Art
auf und veränderte sie. So hat er zum Beispiel einen Satz aus einer Bektaschi-Anekdote
aufgenommen und diesen in einem Türkü umgeformt.
In einem alevitischen Dorf war ein Mann, namens Munzur, gestorben. Es gab
jedoch niemanden, der das Totengebet halten sollte. Endlich erklärte sich der Schwager
des Toten bereit, die Feier abzuhalten. Er redete den Toten an: „Hörst du mich Bruder
Munzur? Ja ja, du hörst mich schon. Schau und hör mir gut zu. Falls Du gegeben hast,
erhältst Du, falls Du erhalten hast, wirst Du geben. Falls Du das nicht glaubst: nun Du
gehst ja schon und wirst sehen.“ Danach ordnete er an, den Toten zu bestatten. 406
Die Worte des Schwagers tauchen bei Ruhi Su in einem scheinbar ähnlichen, aber
sinngemäß anderen Kontext auf. Der Sänger wendet sich an seine alevitischen Freunde
und Brüder und schlüpft gleichsam in die Rolle eines religiösen Oberhaupts, der nach
einer Feier seiner Gemeinde Trost zuspricht. Ruhi Su lässt es auf Grund seiner
politischen Haltung allerdings nicht bei religiösem Trost bewenden. Auch Aleviten sollen
so schnell wie möglich aus ihrer Lethargie aufwachen und die Lösung ihrer Probleme
nicht in Gottes Hand suchen. Probleme sowie Lösungen liegen in ihren eigenen Händen;
es ist ihnen aufgegeben, weltlich zu denken und weltlich zu handeln. Der Text, den Ruhi
Su selbst verfasst und an die Anekdote angefügt hat, besagt, dass zwar das Leid von
Allah kommt, aber die Hilfe im Leid von den Menschen selbst kommen muss. Ruhi Su
appelliert an das Wachsein seiner Geschwister, ihren Gebrauch der Glieder und Organe;
an das selbstständige Denken und die intuitive Sicherheit des Individuums: „Die Hand
weiß, wo sie am Körper zu kratzen hat“ (El, gövdede kaşınan yeri bilir). Ruhi Su versteht
sich und seine Zuhörer als handelnde Menschen, nicht als abwartende.
405
Ebd. 211.
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan am 27. Sep. 2010 in İstanbul. Für die Bearbeitung von Texten
und die neue Sinngebung durch Ruhi Su siehe unten Kap. 6.7.
406
121
6.1.1
„Ratschläge” 407
Freunde, Geschwister, meine Liebsten,
Erhebt eure Köpfe!
Eure Gesichter schauen nach unten wie die von Schuldigen.
Unser Ich ist in der Enge.
Erhebt eure Köpfe,
Man gab uns Augen, um zu beobachten,
Zungen, um zu sprechen,
Ohren, um zu hören.
Die Hand weiß, wo sie am Körper zu kratzen hat.
Die Sorge tragen wir, aber auch die Heilung ist in unseren Händen.
Wenn du suchst, wirst du finden,
Wenn du gibst, wirst du erhalten,
Wenn du nicht glaubst, wirst du es schon sehen.
Ruhi Su
„Öğütler”
Dostlarım, kardeşlerim, canlarım,
Kaldırın başlarınızı !
Suçlular gibi yüzümüz yerde,
Özümüz darda durup dururuz.
Bize göz verildi, gözleyin diye,
Dil verildi, söyleyin diye,
Kulak verildi, dinleyin diye
El, gövdede kaşınan yeri bilir.
Dert bizde, derman ellerimizdedir.
Ararsan bulursun,
Verirsen, alırsın,
İnanmazsan, gelir görürsün.
Ruhi Su
407
Aus der Schallplatte „Die Samahs”, (Semahlar, 1978).
122
6.2
Die Türküs der Mitgefangenen
Wo immer Ruhi Su sich befand, selbst in einer für einen Liedersänger höchst
ungewöhnlichen Lage, ging er einer seiner Lebensaufgaben, dem Sammeln von Türküs,
nach. 408 Als er im Gefängnis von Adana mit gleichgesinnten politischen Häftlingen
einsaß, erhielt er viele Türküs von Unpolitischen. Ruhi Su zog eines Tages Raşit, einen
Dorfjungen, der wegen Mordes einsaß, beiseite und ließ ihn ein Türkü singen. Der Junge
sang ein Lied, in dem das Wort „Gazelle“ vorkam. Weder die Stimme noch das Lied
waren bedeutend. Ruhi Su arbeitete tagelang mit Raşit. Ohne Überdruss ließ er alles
wiederholen und schrieb es auf. Es waren Gazellen-Lieder (Ceren Türküleri), die er
festhielt. Nach ein paar Wochen sang er sie den Häftlingen vor. Der Erzähler dieser
Geschichte fügt hinzu, welch wundervolle Lieder Ruhi Su doch aus den schlecht
gesungenen Melodien Raşits gemacht habe. Vorher hätte man glauben können, die
Menschen seien aus Lehm geschaffen worden. Erst die Künstler hätten wirkliche
Menschen erschaffen. 409
408
Sadık Gürbüz, ein Sänger in der Tradition Ruhi Sus, erzählt in dem Dokumentarfilm „Keşke
Olmasaydı“, Regie Okan Başara, wie Ruhi Su an das Lied „Komm und sei ein Helfer gegen meinen
Kummer“ (Gel Benim Derdime Bir Derman Eyle) kam. In Tunceli nahm er dieses Lied Pir Sultans bei
einem Mann auf, obwohl dieser unter den Leuten als Verrückter galt. Er brachte es später auf seiner
Schallplatte „Pir Sultan Abdal, 1973“ heraus. Der Film wurde am 17. Jan. 2012 von dem türkischen
Privatsender Kanal 24 gesendet. Möglicherweise war es der gleiche Text, den Hüseyin Erdem in einem
alevitischen Dorf aufzeichnete und Ruhi Su gab.
409
Vgl. TÜRKALİ, Vedat: Ruhi Su için, Tüm Yazıları, Konuşmaları (2002): 193.
123
6.2.1
„Die Gazellen“
Man sollte die Wasserplätze der Gazellen umwandern,
Sollte einen Stift nehmen und ihre Augen und Brauen beschreiben,
Turkmenische Mädchen mit Nasenringen.
Zu meinem Glück kam diese Gazelle aus dem Morgengrauen heraus,
Ich habe mich verliebt in diese Gazelle.
Volkslied
„Cerenler”
Şu cerenin sulakların gezmeli,
Kalem alıp kaşın gözün yazmalı.
Burnu hızmalı Türkmen kızları.
Seherden uğruma çıktı bu ceren,
Başımı sevdaya saldı bu ceren. 410
Halk Türküsü
Das Gazellenlied deutet die Spannweite von Ruhi Sus Repertoire an: Neben
politischenTexten steht zarte, volkstümliche Liebeslyrik.
410
Aus der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik
Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı, 1970). Für den vollständigen Text des Liedes siehe AYDOĞAN,
Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 11.
124
6.3
Die Auswahl der Türküs
Ruhi Su konnte nur wenige Hundert seiner Tausenden von gesammelten Türküs
veröffentlichen. Bei der Auswahl der Türküs waren die Wahrnehmung und die
Interpretation der Welt für ihn wegweisend. Diese repräsentative und ungewohnte
Qualität brachte ihm freilich, wie er selbst feststellte, die ersten Rückschläge im Radio
ein. 411
Auf die Frage, wo er sein künstlerisches Ich gefunden habe, in der Oper oder in
den Türküs, ist seine Feststellung bezeichnend, dass er in der Oper zwar kein erfolgloser
Künstler gewesen war, jedoch in den Türküs seine wahre Berufung und sein wahres
künstlerisches Ich fand. Die Türküs seien seine eigene musikalische Sprache. Er
beabsichtige, in Zukunft die authentische Linie der Türküs nicht zu zerstören und mit
ihrer Sprache den eigenen Platz in der universalen Musik zu finden. Deswegen suche er
mit großer künstlerischer Sorgfalt nur ganz bestimmte Türküs aus. Sowohl mit ihren
melodischen Strukturen als auch mit ihren Texten seien es Türküs, die das Volk am
besten widerspiegelten. Nicht alle Türküs seien schön. Mit der Zeit könnten sie ihre
ursprüngliche Intention verlieren. Ein Klagelied zum Beispiel könnte nach ungefähr 50
Jahren zu einem fröhlichen Tanzlied werden. Genau hier beginne seine Arbeit. Er
überlege sich, mit welcher Absicht, unter welchen Umständen und aus welchem Grund
das Lied geboren wurde. Bei der anschließenden Kategorisierung der Türküs nach ihren
Melodien und Texten achte er sehr genau darauf, dass die Zusammenstellung eine Einheit
bilde. Diese Einheiten fügten sich unter ästhetischen Gesichtspunkten zu Ganzheiten. Sie
dürften keine Monotonie oder eine gleichbleibende Linie aufweisen, sondern ihr Auf und
Ab bringe Leben und Bewegung in die Türküs. Man müsse sie sehen wie ein
architektonisches Ganzes. Wie die Kuppel und das Minarett einer Moschee nicht auf
einer Ebene lägen, so habe auch er die Türküs zusammengestellt. 412
411
SU, Ruhi in einem Gespräch mit ORAL, Zeynep, Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat
(1. Mai 1984): 183.
412
Vgl. ERDEM, Hüseyin: Ruhi Su: Yattığımız Yerde Güller Bitecek, Türkiye Postası (4. Okt.1985).
125
6.4
Die Arbeit an der Stimme
Einer der bedeutendsten Satiriker der türkischen Literatur, Aziz Nesin, sprach in
seiner Eröffnungsrede zu „Die Nacht der Ruhi Su Lieder“ am 6. Februar 1986 über das
akribische und aufopferungsvolle Kunstverständnis Ruhi Sus. Er habe agiert, als ob er
nur für seine Stimme lebte, um Türküs zu singen. Er lebte abstinent, wie ein Mönch oder
Derwisch, damit seiner Stimme nichts zustoßen konnte. Dies mag auch der Grund sein,
dass seine Stimme, als er schon weit über 70 Jahre alt war, immer noch allumfassend und
raumfüllend war. Er trank weder Rakı, Wein, Bier, Kaffee, noch kaltes Wasser. Ab und
an genoss er lauwarm den so genannten Paşatee oder einen Lindenblütentee. So wie er
nicht rauchte, mied er auch Orte, in denen geraucht wurde. Aziz Nesin verstand
vollkommen, welche Bedeutung Ruhi Su seiner Kunst gab. Jeder Sänger macht
Stimmübungen und muss sie sogar machen. Ruhi Su schloss sich fünf bis sechs Stunden
am Tag ein und spielte mit seiner Stimme wie einem von seinem Körper losgelösten
konkreten Gegenstand, ebenso wie ein Bildhauer oder mit Ton arbeitender Keramiker.
Sie war wie ein intensives Stück Teig. Ruhi Su brachte diesen intensiven Teig in viele
verschiedene Formen, in dem er ihn knetete, langzog oder teilte. Die Arbeit begann in
den frühen Morgenstunden und dauerte bis spät in die Nacht. 413
Dass die Stimme sein wichtigstes Gut und sein Kapital ist, war Ruhi Su stets
bewusst. Als er an einem kalten Wintertag mit seiner damaligen Freundin Sıdıka Umut
spazieren ging, wunderte sie sich darüber, dass er so wenig sprach. Er entschuldigte sich
mit der Begründung, er müsse seine Stimme bei kaltem Wetter schonen. 414
NESİN, Aziz: Ruhi Su Türküleri, Bilim ve Sanat (Apr. 1986). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 296.
414
Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su am 21. Apr. 2002 in Herne.
413
126
6.5
Ruhi Su in seinen Konzerten
Die Konzerte und sogar die Proben liefen nach strikten Regeln ab.
Konzertcharakter hatten für ihn alle musikalischen Veranstaltungen. Ein Zeremoniell des
andächtigen und disziplinierten Zuhörens war die Folge seiner beeindruckenden
Erscheinung. In seinen Konzerten sorgte er (falls notwendig) selbst für ein ruhiges und
konzentriertes Zuhören, welches ihm sehr wichtig war. Auf diese Art belehrte und formte
er sein Publikum. Es existiert ein Bericht von einem Konzert Ruhi Sus an der Hacettepe
Universität in Ankara in den 1968er Jahren. Als Ruhi Su die Bühne betrat, standen die
Studenten auf und applaudierten. Er bat sie still zu bleiben. Er sei kein Künstler der
Bourgeoisie. Diese Künstler würden vor Beginn ihrer Vorstellung Applaus fordern. Er
aber habe noch nicht gesungen; deswegen sei auch kein Applaus angebracht. Er werde
sein Konzert beenden, und wenn es ihnen gefallen habe, könnten sie ihm applaudieren. Er
investiere Zeit und Mühe, und die Belohnung sei dann der Beifall. Nach diesen Worten
herrschte im Saal absolute Ruhe. Er beendete sein Konzert und erhielt stehende
Ovationen. Mit der Hand auf dem Herzen als Geste des Dankes lächelte er seinen
Zuhörern zu und verließ die Bühne. 415
Ruhi Sus Kollege Timur Selçuk verdeutlicht, was der Sänger von seinen Zuhörern
erwartete: Er bat Selçuk zuerst aufzutreten und die Zuschauer mit seiner lauten Musik zu
ermüden, damit sie Energie verlören und ihm danach ruhig und konzentriert zuhörten 416.
Su übte Kritik an dem Benehmen der Türken in Konzerten. Die Türken neigen
dazu, mit Kind und Kegel in ein Konzert zu gehen, als ob sie auf eine Hochzeit gingen.
Das Konzert wie auch die Hochzeit bietet die Gelegenheit, Freunde und Bekannte zu
treffen und mit ihnen zu plaudern. Diesem Benehmen widersetzte sich Ruhi Su jederzeit.
Er forderte von den Zuschauern ständige Aufmerksamkeit. Wenn diese fehlte, kam es
nicht selten vor, dass er den Konzertsaal verließ. Den Respekt, den er seiner eigenen
Kunst zollte, verlangte er auch von den Zuschauern.
Man konnte mit Ruhi Su in einer dunklen Straße in Beyoğlu, in einer der
schmutzigen Passagen, in einem engen Hof in Sıraselviler, in einem niedrigen
KOCABAŞ, Ayfer: Yaşanmış Bir Masal Ülkesi ve Bu Masalın Tanıkları: Köy Enstitüleri, Yeniden
İmece. (Nov. 2005): 68. Diese kleinen Angewohnheiten sind auch dem Komponisten und Interpreten Timur
Selçuk aufgefallen:Die morgendlichen Stimmübungen, das Ausruhen nach dem Mittagessen, die Einübung
des Konzertrepertoires abends mit einer sanften, ruhigen Stimme, die Unterhaltungen mit möglichst leiser
Stimme, das Vermeiden von Plapperei und das Präsentieren seiner Kunst auf der Bühne sind
Gewohnheiten, die einen Konzerttag von Ruhi Su füllten. Vgl. SELÇUK, Timur: İşte Ruhi Su, Hürgün (23.
Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.) Ruhi Su’ya Saygı (1986): 165-166.
416
Ebd. 166.
415
127
Dachgeschoss in Osmanbey, da und dort in İstanbul, in allen Gegenden Anatoliens, in
einem offenen Theater unter dem Sternenhimmel, in einem verrauchten Kinosalon, auf
einem lauten und sonnigen Platz Tage und Nächte verbringen. Ruhi Su war überall
derselbe Ruhi Su. Während er spielte und sang, weckte er die Freude der Zuhörer, sorgte
aber für Respekt, und alle verhielten sich sehr still. 417
Die Aufmerksamkeit seines Publikums war daran zu erkennen, dass es sich
sammelte und jeder seinen Stuhl zurecht rückte. Manch einer hockte sich neben ihn, und
durch die Faszination der Musik wurden Saz und Text, Zuhörer und Sänger zu einem
Ganzen. 418
Nach einem gelungenen Auftritt legte sich seine Erregung sehr schnell. Oft lud er
Freunde nach einem Konzert zu sich nach Hause ein. Dort wurden der Erfolg und das
Beisammensein gefeiert. Es war sozusagen ein Ritual, ihn nach den Konzerten zu
begleiten zu dürfen. Das war der Moment, in dem alle zur Ruhe kamen.
Selbst für Musikveranstaltungen im Gefängnis galten die Regeln und Forderungen
eines Konzerts. Trotz der dortigen beengten und schwierigen Lage gab Ruhi Su niemals
auf. Er komponierte, machte Stimmübungen, sang und versammelte seine Mithäftlinge
um sich, um ihnen mit seinen Liedern und Vorträgen Mut und Zuversicht zu geben. Von
einer solchen Musikveranstaltung gewinnt man ein deutliches Bild. Die Häftlinge trafen
sich in einer Gemeinschaftszelle. Viele saßen auf Hochbetten und auf dem Boden. Wenn
er anfing zu singen, herrschte absolute Ruhe. Ihm wurde mit einer Disziplin und Demut
zugehört, die man nicht in jedem Konzertsaal antraf. An Mitsingen und Applaudieren war
nicht zu denken. Man hörte ihm bis zum Ende diszipliniert zu. Dies war ein natürlicher
Prozess, der keiner vorigen Hörerziehung bedurfte. Zwischen den Jahren 1961 und 1971
galt Ruhi Su als ein Sinnbild der erwachenden Türkei, ihrer Schwermut und Freude.
Demonstrationen und Versammlungen ohne Ruhi Su konnte man sich gar nicht
vorstellen. 419
Vgl. SELÇUK, İlhan: Ruhi Su, Cumhuriyet (22. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 150. Ebd. 289 teilt KÜÇÜK, Yalçın (Yüzünde Hep Sazının Tellerinin Titreşimlerini Gördüm,
Aydın Üzerine Tezler 4) mit, dass die Konzerte von Ruhi Su sehr diszipliniert abliefen. Undisziplinierte
wurden mit einem Blick, wenn nötig auch mit höflichen Worten, ermahnt.
418
Ebd. 99 vgl. ALTAN, Çetin: Milliyet (16.Apr. 1981).
419
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006.
417
128
6.6
Ruhi Sus Leistung, aus der Türküs eine Kunst zu machen
Ruhi Su gab den überkommenen Türküs eine neue Aussagekraft, indem er die
musikalische Gestaltung ganz in den Dienst der Aussage stellte. Er formte sprachlich und
musikalisch kunstvolle Lieder, die überwiegend politische Forderungen enthielten, wie
etwa ein Ende der Leiden des Volkes und die Unterstützung seines Kampfes für die
Demokratie. Er verfasste keine plakativen Aufrufe, sondern zwang die Zuhörer zu einem
Denkprozess, der sie die Machtverhältnisse erkennen ließ und knüpfte in dieser Art an die
Tradition politisch denkender Volkssänger wie Pir Sultan, Köroğlu und Dadaloğlu an.
Die Melodie seiner Lieder ist nicht eingängig, sondern oft sperrig, brüchig und
enthält überraschende Wendungen. Ein Vortragsabend hatte einen kunstvollen Aufbau in
der Abfolge der Lieder, so dass man fast davon reden konnte, eine Symphonie aus
Liedern werde gestaltet. Dieses Prinzip wird auch sehr deutlich auf den elf
Langspielplatten, die Ruhi Su aufgenommen hat. Es wird eine hohe Konzentration von
den Zuhörern erwartet, die sich über die Abfolge der Lieder ihre eigenen Gedanken
machen sollen.
Ruhi Su wurde von Intellektuellen der Vorwurf gemacht, er singe nicht wie das
Volk, obwohl er Volklieder singe. Sie waren gegen die angebliche Verwestlichung, als
welche sie die Modernisierung zu Unrecht empfanden. 420 Es gab jedoch auch sehr späte
Zustimmung zu Ruhi Sus Kunst. An Ruhi Sus 23.Todestag bekannte der Verfasser einer
Kolumne in Hürriyet, er habe früher Ruhi Su für eine „rückständige Saz und eine
brüllende Stimme gehalten“ und sie als „revolutionäre Folter“ bezeichnet. Nunmehr habe
er erkannt, dass seine Türküs wundervoll in der Art des deutschen „Liedes“ seien und er
schäme sich der früheren Kritik. 421
Ruhi Su hatte schon zu Lebzeiten eine sehr aufschlussreiche Erklärung seiner
künstlerischen Leistung gegeben:
Es ist nicht angebracht, den Ausdruck „wie das Volk singen“ zu benutzen, denn
es gibt weder eine bestimmte Person, die „das Volk“ heißt, noch eine
Ausdrucksweise, die das ganze Volk repräsentiert. Es gibt Volkssänger wie
Veysel oder Hasan, Ahmet und Mehmet; kurz gesagt: Wir sind das Volk. Wir
sind die Einheit eines Volkes. Jeder von uns singt mit seiner Stimme nach seinen
Möglichkeiten und denen unserer Kultur. So geben wir den Volksliedern
Unterschiede. Wenn wir einige künstlerische Möglichkeiten auf Grund unserer
Kultur erworben haben, sollten wir dann unbedingt Menschen nachahmen, die
diese Möglichkeiten nicht hatten? Ist so etwas vertretbar? Wo hat man es erlebt,
420
421
Siehe oben Fußnote 167.
Vgl. ÖZKÖK, Ertuğrul: İadeli Taahhütlü Bir Yazı, Hürriyet (21. Sept. 2008).
129
dass jemand, der fortgeschritten ist, einen Zurückgebliebenen nachahmt?
Empfindet ein solcher Künstler so nicht eine falsche Liebe zum Volk und nimmt
er nicht eine traditionelle Haltung ein? Die einzige Eigenschaft des Türküs ist,
dass es wie ein lebendiges Wesen sich dauernd verändert und neugeboren wird.
Jeder von uns hat seinen Anteil an dieser Veränderung. Ein solcher Einfluss kann
gut oder schlecht sein. Zum Beispiel hat die Forderung der Redakteure beim
staatlichen Rundfunk, man müsse wie das Volk singen oder dieses singen lassen,
sowohl dem Volkslied als auch dem Volk seit 25 Jahren sehr geschadet. Aus der
vorgeschlagenen Art, Volklieder zu singen und Saz zu spielen, wurde ein
Klischee, das wir als Alaturka bezeichnen. Volkslieder hingegen sind eine
kollektive Kunst. Das heißt aber nicht, dass man stellvertretend für die
Gemeinschaft singen muss. Die Kultur, in der wir uns befinden, wird
unvermeidlich individuelle Interpretationen hervorbringen. Wichtig ist zu wissen,
welche Interpretationen unseren Geschmack verfeinern. 422
An anderer Stelle lässt Ruhi Su sich nochmals über die Art Türküs zu singen aus:
Das Volk weiß, dass jeder Volkssänger seinen eigenen Stil hat. Das Volk weiß
auch, wie mein Stil ist. Der Kernpunkt meiner Arbeit ist die Entscheidung, die
Urheber der Liedertexte zu akzeptieren. Das Volk hat mich nie mit Befremden
betrachtet. Noch entscheidender ist, dass auch die berühmtesten Volkssänger
mich nicht ablehnen. Ein Beispiel ist Aşık Ali İzzet. Er hat ein Lied, das mit der
Zeile „Lasst uns einen Gott kennen“ (Bir Allah’ı Tanıyalım) beginnt. Dieses Lied
habe ich gesungen, wie ich die Saz zu spielen vermochte und wie ich die Musik
verstand. Ali İzzet hat selber zugehört; Aber er hat mir niemals gesagt, „Du hast
es wie eine Opernarie gesungen.“ Im Gegenteil, er bat mich „Ruhi Bey, bring mir
das auch bei.“ Dieser Wunsch Aşık Ali İzzets ist ein Zeichen, dass die Musik
auch technische Erneuerung braucht. 423
Im gleichen Kontext erklärt Ruhi Su die Zusammenarbeit von Stimme und
Instrument. Eine gute Interpretation erfolge, wenn man die Fähigkeit zum guten Spiel
eines Instruments besitze. Die menschliche Stimme sei natürlich auch ein Instrument.
Man dürfe nicht annehmen, der Komponist sei auch sein bester eigener Interpret, wenn er
ein Werk für Geige oder Klavier oder menschliche Stimme komponiere. Nur wer sein
Instrument beherrsche, könne die beste Interpretation auf jenem Instrument bieten.
Komposition und Aufführung seien zwei verschiedene Tätigkeiten. Diese Regel gelte
auch für das Volk; es sei gewöhnlich der Komponist, damit aber keinesfalls der beste
Interpret, der sei ein Künstler. 424
Ruhi Sus Arbeit war stets von einem theoretischen Bewusstsein geprägt. Ihm war
der Ausdruck eines Gedankens in seiner Musik das zentrale Ziel. Er war für die junge
Vgl. SU Ruhi: Türküleri Nasıl Söylemeli, Folklore 1964, İstanbul American Collegs (März 1964): 2526. In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg), Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 94.
423
SU, Ruhi im Gespräch mit KEMAL, Orhan: Ruhi Su ile Bir Konuşma. In: Ebd. 111-112.
424
Vgl. SU, Ruhi: Türküleri Nasıl Söylemeli, Folklore 1964, İstanbul American Collegs (März 1964): 2526. In: Ebd. 93-94.
422
130
Republik ein idealer Künstler, der die traditionelle Volkstümlichkeit mit westlicher
kultureller Modernität verband. Er adaptierte musikalische Kunstformen an das türkische
Liedgut und arbeitete ganz im Sinne der Modernisierungsabsichten der türkischen
Republik, stand aber auf Grund seiner sozialistischen Weltanschauung auf der Seite der
Protestbewegung gegen die Herrschenden, welche ohnehin später die Unterstützung der
Volkskultur aufgaben, für welche Aufgabe die Schließung der Dorfinstitute ein Beispiel
ist.
In Anlehnung an das westliche Lied gestaltete Ruhi Su die Türküs völlig neu. Er
schuf eine Art zu singen, die man zum ersten Mal hörte und die unverkennbar mit seiner
Persönlichkeit verbunden war. Er verdankte zwar seine gründliche Musikausbildung der
damaligen Regierung, die sich an der westlichen Ausrichtung Atatürks orientierte, setzte
jedoch eine Bewegung in der türkischen Musikwelt in Gang, die das nationale Gut der
Türküs sammelte und neu interpretierte. Er erarbeitete sich seinen eigenen Stil, indem er
die Türküs nicht wortwörtlich und nicht Ton für Ton übernahm, sondern so umformte,
dass Sinn und Ausdruck deutlicher wurden. Was anderen als Abweichung erschien,
verstand er als eigenständige Intensivierung des ursprünglichen Gehaltes. Alles, was er
singe, so betonte er, sei sein Eigentum. Das könne er mit seiner Unterschrift bezeugen. 425
Ruhi Sus Anspruch ist nicht, die Lieder des Volkes von seiner Sehnsucht, seiner
Wut, seiner Armut einfach wiederzugeben und sie lebendig zu halten. Er will über
Ursachen und Zusammenhänge ungerechter Verteilung und der Armut nachdenken und
Sprachrohr der Armen sein, indem er die Herrschaftsverhältnisse offenlegt. Von diesem
Anspruch zeugt das von ihm angezogene Sprichwort von einem, der Brot isst, während
ein anderer zuschauen muss und darüber die Welt untergeht. (Biri Yer Biri Bakar /
Kıyamet Ondan Kopar). 426 In gleichem Zusammenhang steht Ruhi Sus Verwendung
auffallender Bilder. So entlehnt er Nâzım Hikmets Bild von den Frauen, die schwere
Arbeit mit den Ochsen leisten und erst nach den Ochsen an den Esstisch dürfen.
(Soframızdaki yeri / öküzümüzden sonra gelen). 427
Ruhi Su ordnet die türkischen Sänger nach zwei Kategorien: die Alaturka-Sänger
und die Sänger mit einer westlichen Ausbildung. Letztere Ausbildung impliziere vor
allem eine bestimmte Gesangstechnik und Modulation des Tons, sie vernachlässige
jedoch im Allgemeinen die Bindung an das Volk. Beide Typen von Sängern seien urban
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Semahlar Üzerine Bir Söyleşi, Cumhuriyet
(25. Nov. 1978). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985): 132.
426
Siehe unten Kap. 9.8.2.
427
Aus dem Gedicht „Unsere Frauen“ (Kadınlarımız) von Nâzım Hikmet. Siehe unten Kap. 9.1.3.
425
131
geprägt und sängen die Türküs nicht so, wie er selbst sie vorgetragen hätte, sondern wie
sie es erlernt hätten, ohne dass ihnen Zweifel an der Art und Weise ihres Vortrags kämen.
Auch sehr gute Alaturka-Sänger könnten bei ihrer Türkü-Interpretation inkompetent
wirken. Sie sängen dann die reinsten und mutigsten Texte mit der gewohnt aalglatten
Stimmfigur und Stimmvibration. Anderseits sähen die Liedersänger mit westlicher
Ausbildung es oftmals als eine Notwendigkeit an, die Türküs in der Stimm- und
Vibrationstechnik der westlichen Musik zu singen. Man stelle sich das Gelächter vor,
wenn die berühmte Tenorarie in der Oper Tosca in der Alaturka-Version gebracht würde.
Eine Oper von Schubert oder Mozart müsse in einer bestimmten Form gesungen werden.
Warum solle das nicht auch für Türküs gelten? Die Gesangstechnik des Westens sei für
einige türkische Künstler eine Idealform. Wenn schon die Vorzüge des Westens in allen
Lebensbereichen genutzt würden, warum solle man nicht auch die Liedertechnik
übernehmen, sofern die Besonderheit der Türküs nicht verfälscht würde? Es sei nicht
notwendig, die Türküs Alafranga zu singen, das heißt mit einer so energischen und steifen
Stimme, als ob man den Zuhörer beschimpfen möchte. Die Türküs wollten in einem
lyrischen und pastoralen Ton gesungen werden. 428
Ruhi Su betrachtete eine gute, womöglich westliche Musikausbildung als eine
Voraussetzung, wenngleich keine hinreichende, für eine gelungene Vortragsweise der
Türküs. Für ihn stand neben einer guten Musikausbildung die humanistische
Weltanschauung das heißt: nicht auf das Volk herabzusehen, sondern mit ihm zu leben
und es zu verstehen. Er glaubte an das Volk und an eine bessere und schöne Zukunft.
Sein Fazit für einen guten Sänger, das nicht ohne Spannung ist, lautet:
Man darf die Volkslieder nicht mit der jaulenden und undisziplinierten Stimme
eines Volkssängers singen, aber auch nicht in der Art und Weise eines städtischen
Sängers. Unsere Volkslieder müssen wir im Rahmen der westlichen
Gesangstechnik singen, einerseits mit der Stimme des Volkes, andererseits jedoch
in einem gewissen Abstand vom Volk. 429
Ruhi Su schließt damit den Populismus aus. In einem Artikel von 1963 setzt Ruhi
Su sich erneut mit den Qualitäten auseinander, welche ein Sänger von Türküs besitzen
muss. Seine Hauptthesen sind folgende: Die Kunst des Gesanges ist, wie andere Künste,
keine Amateursache. Ein Sänger muss neben der Gesangstechnik ein Wissen von der
Folklore haben, welches ihm erst ermöglicht, Türküs und Volksbräuche zu verbinden.
Nach SU, Ruhi: Halk Şarkılarının Söylenişi, Varlık 157, X (1. Jan. 1940): 337-338. In: SU, Ruhi: Ezgili
Yürek ( 1985): 46-47.
429
Ebd. 47.
428
132
Türküs sind recht vielartig: manche gleichen einem Lied andere haben den Charakter
einer Arie oder eines Rezitativs. Türküs sind keine gefrorene Musik; sie ändern sich mit
Sänger und Text; ihre Kunst wird ständig verworfen und neu geboren. Der richtige Weg
ist, sie nach ihrem Inhalt, welcher das Volk weiterbringen soll, zu interpretieren. Zudem
weiß ein sein Volk liebender Mensch, dass es eine Bildung des Volkes gibt. 430
Ruhi Su kommt auf der Schallplatte „Kinder, Migrationen und Fische“ (Çocuklar,
Göçler, Balıklar) von 1979 auf den Charakter seiner Arbeit zu sprechen. Er hatte bis zu
diesem Zeitpunkt Tausende Türküs gesammelt und von ihnen einige hundert gesungen.
Er bezeichnet seine Arbeit weder als folklorische noch als ethnomusikalische, sondern als
künstlerische Auswahl. Er kennt sehr wohl die Spannungen, welche darin bestehen, dass
er einerseits oft die Gesangsart des Volkes aufnimmt, andererseits der Nachahmung und
dem Kopieren auszuweichen versucht; dass er einerseits ein Städter mit musischer
Ausbildung ist und andererseits sich fragt, wie er machen soll, was das Volk macht.
Gleichzeitig geht es ihm darum, Türküs mit der Richtigkeit und Schönheit der türkischen
Sprache zu singen. Im Dienste des höheren Anliegens, dass nämlich der Gesang eine
nationale Einheit erschaffen solle, dürften die lokalen Sprachvarianten und ethnischen
Gegebenheiten nicht weitergeführt werden. Wenn eine solche Kunst nichts erbringe und
mit Blick auf die Zukunft nichts verändere, dann lebe sie nicht. Die Arbeit der
Türküsänger müsse sowohl die Sehnsucht des Volkes stillen als auch lebendig halten. 431
Vgl. SU, Ruhi: Halk Türkülerinin Söylenişi, Yeditepe 45 (16-31 Aug. 1964): 9-10. In: Ezgili Yürek, SU,
Ruhi (1985): 54-55.
431
SU, Ruhi: Rückseite der Schallplatte „Kinder, Migrationen, Fische“ (Çocuklar, Göçler, Balıklar, 1979).
430
133
6.7
Ruhi Sus Bearbeitung von Texten und ihr neuer Sinn 432
Der neue Sinn konstituiert sich dadurch, dass Ruhi Su anonymen Texten neue
Formulierungen unterlegte, welche die Historizität der alten Texte zugunsten eines
Bezugs zur Gegenwart aufgeben. Es konnte auch geschehen dass er seine eigenen
Texte mit anonymen Melodien ausstattete. Mit diesem Vorgehen reihte er sich bewußt
in die Tradition der Volksliedsänger ein. 433 Gleichzeitig war ihm der Einsatz von
Wiederholungen und Refrains sehr wesentlich, weil er glaubte, dass solche
Formelemente den Charakter eines Textes als Türkü noch deutlicher herausstellten. Ein
Beispiel sind die Wiederholungen am Strophenende im Lied des Reiters.
432
Die unter 6.7.1 bis 6.7.6 aufgeführten Texte entstammen dem Kapitel 9 und werden dort nicht erneut
behandelt.
433
Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit einem namentlich nicht genannten Partner: Robert College, The
Bosphoros Chronicle XXIII, 5 (Apr.-Mai 1978). In: Ezgili Yürek (1985): 128.
134
6.7.1
„Das Lied des Reiters” 434
Das Land, das dem Kopf einer Stute gleicht,
Die im Galopp aus dem fernen Asien kam,
Um ins Mittelmeer einzutauchen,
Dies ist unser Land.
Dies ist unseres, Herzensfreunde.
Blutige Handgelenke, zusammengepresste Zähne, nackte Füße
Und ein Land wie ein Teppich aus Seide,
Dies ist unsere Hölle, dies ist unser Himmel.
Diese sind unsere, Herzensfreunde.
Schließen sollen sich die Tore der Fremden, mögen sie sich nie wieder auftun.
Vernichtet die Verknechtung des Menschen durch den Menschen,
Dies ist unsere Forderung.
Diese ist unsere, Herzensfreunde.
Zu leben, allein und frei wie ein Baum,
Und brüderlich wie ein Wald,
Dies ist unsere Sehnsucht.
Diese ist unsere, Herzensfreunde.
Nâzım Hikmet
Dieses Gedicht richtet sich gegen eine Vereinnahmung des Stolzes auf das eigene
Land durch rechte nationalistische Kräfte. Der Hinweis auf Freiheit und Brüderlichkeit
legt die Diskrepanz offen zwischen einem real existierenden Sozialismus und der Utopie
der Linken von einem freien Leben in einer Bürgergemeinschaft.
434
Aus der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik
Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı, 1970). Die Wiederholungen sind in der deutschen Übersetzung mit
kursiv gekennzeichnet. Da der Originaltext insgesamt kursiv ist, bietet sich das gegensätzliche
Verfahren an, Ruhi Sus Zusätze nicht kursiv zu schreiben. Dieses Vorgehen kann auf alle Gedichttexte
unter Kapitel 6 übertragen werden, steht jedoch an dieser Stelle nur beispielhaft.
135
Der Text in der Fassung Nâzım Hikmets verfolgt zwei für ihn charakteristische Themen.
Das Land ist von großer Schönheit wie ein Seidenteppich und frei und brüderlich wie ein
alleinstehender Baum oder ein Wald von Bäumen. Die Menschen des Landes quälen sich
immer noch ab; sie sind aber aufgerufen, die Freiheit der Bäume zu gewinnen. Wer dem
Gedicht sorgfältig zuhört, erkennt die sozialistische Grundtendenz.
Um so erstaunlicher ist es, dass der Partei der nationalistischen Bewegung
(Milliyetçi Hareket Partisi), den sogenannten Grauen Wölfe, das Gedicht zu Eröffnung
ihres Kongresses vom 9. Oktober 1994 von ihrem Vorsitzenden, Alpaslan Türkeş,
vorgetragen wurde. 435 Einem Mißbrauch hatte freilich schon früher Ruhi Su einen Riegel
vorgeschoben, indem er in die letzte Zeile jeder Strophe Herzensbrüder (Dostlar)
einsetzte und so den Text auf eine sozialistische Deutung festlegte. Das Wort “Dost” war
für Ruhi Su sehr wichtig, denn es entsprach sowohl den Begriff “Herzensfreund” als auch
dem Wort “Genosse.” 436
„Süvarinin
Türküsü” 437
Dörtnala gelip uzak Asya’dan,
Akdeniz’e bir kısrak başı gibi uzanan,
bu memleket bizim.
Bizim dostlar.
Bilekler kan içinde, dişler kenetli, ayaklar çıplak.
Ve ipek bir halıya benzeyen toprak,
bu cehennem, bu cennet bizim.
Bizim dostlar.
Kapansın el kapıları, bir daha açılmasın,
Yok edin insanın insana kulluğunu,
bu davet bizim.
Bizim dostlar.
Vgl. PULUR, Hasan: Alpaslan Türkeş, Nâzım Hikmet'in şiirini niçin okudu?, Milliyet (28. Dez. 2006).
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln.
437
Bei der Übersetzung dieses Gedichtes hat der Verfasser die Übersetzungen von Feridun Korkmaz
und von Annemarie Bostroem herangezogen. Beide Übersetzungen enthalten jedoch Überschneidungen
oder Ungereimtheiten. Die Überschrift bei einer Übersetzung heißt “Die Einladung” und in der anderen
“Das ist unser Land.” Das gleiche Gedicht betitelt Ruhi Su als “Das Türkü des Reiters”. Für Korkmaz
vgl. Türkeizentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 219 und für Bostroem vgl. HİKMET, Nâzım:
Ich liebe mein Land (ohne Erscheinungsjahr): 96.
435
436
136
Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür,
Ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim.
Bizim dostlar.
Nâzım Hikmet
137
6.7.2
„Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist“ 438 /
Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist.
Ich gehe ohne dass mein Leben gereift ist.
Hilf mir, mein Meister mit gelbbraunen Augen,
Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)
Falls ich erblühe und zum Garten werde
Und zur Sage des Volkes werde,
Schwarze Erde, wenn ich erhabener als du bin,
Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)
Falls sie mich waschen, obwohl ich schon gewaschen bin,
Falls sie meine Gebete beten, obwohl sie schon gebetet sind,
Falls sie den umbringen, der „Schah“ sagt,
Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)
Die Welt lässt sich nicht aufhalten, ich, Pir Sultan Abdal,
Das vergangene Leben lässt sich nicht zurückholen,
Meine Augen verlassen den Weg des Schahs nicht,
Dann gehe über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)
Pir Sultan Abdal
„Karşıda Görünen Yayla Ne Güzel Yayla“
Karşıda görünen yayla ne güzel yayla.
Bir dem süremedim giderim böyle.
Ela gözlü pirim sen himmet eyle,
Ben de bu yayladan Şah’a (Dost’a) giderim.
Quelle: Süleyman Topgül. Die Sängerin Zühre Varışlı sang dieses Lied 1963 auf einer Schallplatte. Ruhi
Su erhielt das Lied von Hüseyin Erdem. Dieses Lied wurde im Chor geübt, auf Konzerten gesungen, jedoch
nicht auf Schallplatte aufgezeichnet.
438
138
Eğer göğerüben bostan olursam,
Şu halkın diline destan olursam,
Kara toprak senden üstün olursam,
Ben de bu yayladan Şah‘a (Dost’a) giderim.
Alınmış abdestim aldırırlarsa,
Kılınmış namazım kıldırırlarsa,
Sizde Şah diyeni öldürürlerse,
Ben de bu yayladan Şah‘a (Dost’a) giderim.
Pir Sultan Abdal'ım dünya durulmaz,
Gitti giden ömür geri dönülmez,
Gözlerim yolundan Şah’ın ayrılmaz,
Ben de bu yayladan Şah’a (Dost’a) giderim.
Pir Sultan Abdal
Im 16. Jahrhundert versprach der osmanische Hızır Paşa Pir Sultan Abdal das
Leben statt des Todes am Galgen, wenn er ein Gedicht schriebe, ohne das Wort „Şah“ zu
nennen, das als auf den Feind der Osmanen, Şah İsmail, bezogen, verstanden wurde. Pir
Sultan Abdal sollte dem Şah und seinem Glauben abschwören. Er verwandte jedoch
mehrfach das Wort „Şah“. Damit widersetzte er sich dem Angebot und wurde gehängt.
Historisch gesehen wurden die Aleviten von den sunnitischen Osmanen
unterdrückt. Ihr Gebrauch des Wortes „Şah“ wurde ihnen ausgelegt als eine
Verbrüderung mit dem safawidischen Şah İsmail. Folglich war es ihnen untersagt, dieses
Wort zu verwenden. 439
Wie in dem Gedicht „Das Lied des Reiters“ (Süvarinin Türküsü) gibt Ruhi Su
durch den Gebrauch des Wortes „Herzensfreund“ (Dost) diesem Text einen
sozialistischen Ton, der umso emphatischer klingt, weil dieser politische Begriff an
Nach Ali Haydar Avcı ist der Name „Şah“ bei den Aleviten mit einer rettenden Kraft gleichzusetzen, die
Ungerechtigkeit, Armut und Tyrranei bekämpft. Siehe AVCI, Ali Haydar: Kalender Çelebi Ayaklanması,
AAA Yayınları (1998):108.
Auch Irene Melikoff schreibt, dass Pir Sultan hier nicht den persischen Schah, sondern den „Şah-ı
Merdan“, also Ali lobt. Sie sagt aber weiter, dass Pir Sultan bei manchen seiner Gedichte -sie gibt dazu ein
Beispiel- mit dem Wort Şah, den damaligen persischen Schach Tahmasb meint. Vgl. MELİKOFF, İrene:
Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 1213.
439
139
herausgehobener Stelle, nämlich jeweils in der letzten Zeile eingesetzt wird. 440 Der Text
spricht mit einer autobiographischen Stimme. Pir Sultan schreibt ihn Augenblicke vor
seiner Hinrichtung, beschreibt aber auch, was nach seinem Tode mit ihm geschieht. Auf
poetische Weise kehrt er die Abfolge des Geschehens um: schon bald wird er Teil der
Natur, Garten, Blume und schwarzer Grabhügel sein. Als solcher Teil lebt er schon im
Gedächtnis des Volkes weiter. Dann erst folgen die rituelle Waschung, die Gebete und
der Grund für die Hinrichtung. Jede Strophe enthält den Hinweis auf einen Weg durch
eine schöne Berglandschaft hin zur seinem Meister Şah. Er begibt sich getreu auf diese
Wanderung, welche gewiss eine spirituelle ist, denn der Weitergang der Welt ist ohnehin
nicht aufzuhalten.
Ruhi Su weist darauf hin, dass im laizistischen Staat der Türkei das Wort „Şah“
aus den Liedern der Aleviten verschwunden sei. Die Aleviten hätten, nach dem Ende der
sunnitischen Herrschaft im osmanischen Reich, nicht mehr den historischen politischen
Kontext im Auge gehabt, das heißt, ein Bündnis mit dem Feinde der Osmanen, welcher
gleichzeitig ihr eigener Glaubensbruder gewesen sei. Vielmehr sei es den Aleviten um
Gleichheit und Glaubensfreiheit gegangen. 441 Glaubensfreiheit beinhaltete für die
Aleviten eine Art Laizismus im Staat, wie sie ihn in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft
bereits hätten. Ruhi Su zeigt an dem Beispiel eines Gedichtes von dem Volksdichter Kul
Hasan aus Maraş / Afşin, welche große Bedeutung das alevitische Volk dem Laizismus
des Gazi Kemal beimaß:
Trennt euch nicht, türkische Jugend,
Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit.
Wer sich trennt vom Laizismus, von der Brüderlichkeit,
Ist ungebildet und ein Verirrter.
440
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem 5. Aug. 2008 in Köln.
Vgl. SU, Ruhi: Günümüzde Türküler, Köken 3 (Mai 1974): 39-41. In: Ezgili Yürek (1985): 77. Pertev
Naili Boratav weist mit Nachdruck auf die Freude der Aleviten hin, als ihr Glaubenskonflikt mit den
Sunniten durch die Reformen Atatürks ein Ende zu finden schien.Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Kemalist
Kültür Devrimi. Le Monde Diplomatique, Beilage Türkiye (Okt. 1973) und Yeni Ortam (29. Okt. 1973). In:
Folklor ve Edebiyat I (1982): 183-186.
Obwohl die Aufhebung aller religiösen Versammlungsorte auch die Aleviten schwer traf, hielten sie an ihre
Hochachtung für Atatürk fest, weil er ihnen einen historischen Moment des Aufatmens gewährt hatte. Vor
der Gründung der Türkei hatte Atatürk nämlich Unterstützung und Hilfe bei Aleviten und Kurden gesucht
und erhalten im Sinne einer Revolution des gesamten, brüderlich zusammenlebenden Volkes. Nach der
Staatsgründung aber verwarf er den Gedanken der Gleichstellung der verschiedenen Volksgruppen. Sein
Ziel war ein homogener Nationalstaat von Türken, welche gleichzeitig Muslime (Sunniten) waren. Die
Aleviten wurden nicht mehr als eigene Religionsgemeischaft akzeptiert und die Kurden zu “Bergtürken”
ohne eigene Rechte degradiert.
441
140
Gazi Kemal 442 kam in die Welt und ging auf,
Trieb den Feind aus der Heimat.
„Trennt euch nicht,“ sagte er,
„Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit“
Ich bin Kul Hasan, in der Hand die Saz.
Brüderlich sind der Frühling und Sommer,
Wer Mensch ist, trennt sich nicht
Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit. 443
Kul Hasan
Ayrılmayın Türk gençleri,
Laiklikten, kardeşlikten.
Ayrılan cahil serseri,
Laiklikten, kardeşlikten.
Gazi Kemal geldi doğdu,
Düşmanı vatandan kovdu.
Atamız „ayrılman“ dedi,
Laiklikten, kardeşlikten.
Kul Hasan’ım elimde saz,
Kardeşlik bahar ile yaz.
İnsan olan ayrılmaz,
Laiklikten, kardeşlikten.
Kul Hasan
442
Auch hier wird Gazi Kemal vom Volksdichter Kul Hasan als Befreiungskämpfer beschrieben. Vgl. oben
Kap. 4.3 und Fußnote 286. Für die Gesamtgedichte Kul Hasans siehe KOÇAK Ahmet (Hrsg.): Yirminci
Yüzyılın İnsanlarıyız (ohne Ercheinungsjahr).
443
SU, Ruhi: Bir Halk Türküsü, Yeni Ufuklar 139 (Dez. 1963). In: Su, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 59-60.
141
6.7.3
„Der Jugend-Marsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen“
Dieser Marsch hat eine interessante Geschichte. Der bekannte Sportpädagoge
Selim Sırrı Tarcan (1874-1957) brachte von einer Bildungsreise im Jahre 1911 nach
Schweden Materialien für den Unterricht mit, darunter auch Lieder. Eines dieser Lieder
war dieser Marsch, welcher vom schwedischen Komponisten Felix Körling mit dem Titel
“Tre Trallande Jantor” als Försterlied verfasst wurde. Um dieses auch heute noch häufig
gespielte Lied pädagogisch einzusetzen, formte Selim Sırrı Tarcan es zu einem Marsch
um und bat den Türkischlehrer Ali Ulvi Elöve, einen Text zu verfassen. Ali Ulvi Elöve
ging auf die Bitte ein, und schrieb einen Text, der Mut machen sollte und einen kleinen
Lichtblick in eine schwere und düstere Zeit warf., in der das Osmanische Reich aus dem
Ersten Weltkrieges mit einer Niederlage hervorging, von Tagen voller Trauer, Schmerz
und Hoffnungslosigkeit 444
Der Gipfel ist Nebel umschlungen,
Der Silberfluss ruht nicht, fließt ununterbrochen,
Die Sonne geht jetzt am Horizont auf,
Freunde, lasst uns marschieren.
Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören,
Alles soll erzittern unter schweren Schritten.
Wo gibt es dieses Meer, diesen Himmel?
Wo gibt es solche Berge und Steine?
Diese Bäume, diese schönen Vögel?
Freunde, lasst uns marschieren.
Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören,
Alles soll erzittern unter schweren Schritten.
Ali Ulvi Elöve
444
Nach http://tr.wikipedia.org/wiki/Selim_S%C4%B1rr%C4%B1_Tarcan. Abgerufen am 28.8.2011.
142
Es folgt Ruhi Sus dreizeiliger Einschub in kursiver Schrift:
Die Berge, Steine und schönen Vögel,
Und diese Menschen, diese Menschen?
Eines Tages geht die Sonne am Horizont auf.
Freunde, lasst uns marschieren.
Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören,
Alles soll erzittern unter schweren Schritten.
„Gençlik Marşı-Dağ Başını Duman Almış “ 445
Dağ başını duman almış,
Gümüş dere durmaz akar.
Güneş ufuktan şimdi doğar,
Yürüyelim arkadaşlar.
Sesimizi yer, gök, su dinlesin,
Sert adımlarla her yer inlesin.
Bu gök, deniz nerede var?
Nerede bu dağlar taşlar?
Bu ağaçlar güzel kuşlar?
Yürüyelim arkadaşlar.
Sesimizi yeri gök, su dinlesin,
Sert adımlarla her yer inlesin.
Ali Ulvi Elöve
445
Aus der Schallplatte „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var, 1977).
143
Im Türkischen wird Ruhi Sus Einschub nicht kursiv gekennzeichnet:
Dağlar, taşlar, güzel kuşlar,
Ya bu insanlar, insanlar?
Güneş ufuktan bir gün doğar,
Yürüyelim arkadaşlar.
Sesimizi yer, gök, su dinlesin
Sert adımlarla her yer inlesin
Durch die Einfügung einer abschließenden Strophe, welche die Frage nach der
unglücklichen Lage der Menschen stellt, gibt Ruhi Su dem gesamten Text einen
veränderten Sinn. Die frühere Fassung ist von einem Überschwang des Heimatstolzes
erfüllt. Sie schildert einen Sonnenaufgang, bei dem der Sprecher zum kraftvollen Marsch
aufruft, der sozusagen Himmel und Erde erzittern lässt. In einer Reihe von rhetorischen
Fragen preist er die einzigartige Schönheit der türkischen Landschaft. Ruhi Sus
zusätzlicher Text verleiht dem Marsch eine tiefere Dimension, indem er die Frage nach
den Menschen aufwirft. Wo bleibt, fragt er, bei solch gefühlsbetontem Stolz auf die
Heimat, das kritische Denken? Er wandelt den naiven Nationalstolz auf die Natur der
Erstfassung um in ein politisches linkes Bewusstsein. In seinem Text geht die Sonne
nicht auf, sie wird erst eines Tages aufgehen. Ruhi Su stellt uns eine utopische bessere
Welt vor Augen und zweifelt nicht daran, dass wir sie erleben werden, wenn wir kraftvoll
auf sie zu gehen. Ruhi Su übt eine indirekte, doch deutliche Kritik an der Republik. Sie
habe noch nicht alle Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesellschaft ausgeschöpft.
144
6.7.4
„Meine Mutter hat mich aufgezogen“ 446
„Annem Beni Yetiştirdi“
Meine Mutter hat mich aufgezogen.
Annem beni yetiştirdi.
„Wecke das Volk auf,“ sagte sie,
„Halkı uyandır“ dedi.
„Ohne das Volk gibt es gar nichts,
„Halk olmadan bir şey olmaz,
„Wecke das Volk auf,“ sagte sie.
Halkı uyandır“ dedi
„Dieser Kampf ist der Kampf des Volkes,
„Bu kavga halkın kavgası,
Wecke das Volk auf,“ sagte sie,
Halkı uyandır“ dedi.
„Das arme Volk, den Arbeiter,
„Yoksul halkı, emekçiyi,
Musst du wecken und erleuchten.“
Kaldır uyandır“ dedi
„Wecke ihn, damit er dem Verräter
„Uyandır ki uymasın o
Nicht in die Falle geht.
Hainin iğvasına.
Er soll sich seiner eigenen Person annehmen,
Sahip olsun hem kendine
Seines eigenen Vorhabens.“
Hem kendi davasına“
„Dieser Kampf ist der Kampf des Volkes,
„Bu kavga halkın kavgası,
Wecke das Volk auf,“ sagte sie,
Halkı uyandır“ dedi
„Das arme Volk, den Arbeiter,
„Yoksul halkı, emekçiyi
Musst du wecken und erleuchten.“
Kaldır uyandır” dedi
Ruhi Su
Das ursprüngliche Lied, das schon seit langem von Soldaten gesungen wurde, lautet wie
folgt:
Meine Mutter hat mich aufgezogen,
Annem beni yetiştirdi,
Sie schickte mich zum Dienst dieser Heimat,
Bu vatana yolladı,
Übergab mir die rote Fahne,
Al sancağı teslim etti,
Übergab mich Allah.
Allaha ısmarladı.
446
Aus der Schallplatte „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var, 1977).
145
„Sei nicht untätig, arbeite,“ hat sie gesagt,
„Boş durma çalış“ dedi,
„Diene deiner Heimat.
„Hizmet eyle vatana.
Meine Muttermilch verlange ich zurück,
Sütüm sana helal olmaz,
Wenn Du den Feind nicht angreifst.“
Saldırmazsan düşmana.“
Unbekannter Verfasser
Melodie: Rıfat Bey
Ruhi Su hat diesen Text grundlegend verändert und auf der Schallplatte „Der
Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var, 1977) vom Chor der Freunde (Dostlar
Korosu) singen lassen. Ursprünglich war dies Lied ein Soldatenlied, das traditionelle
türkische Topoi einsetzt, dass es die Mutter ist, welche den Sohn zur Verteidigung des
Vaterlandes in die Armee schickt, und dass sie bei seiner Verweigerung ihre Muttermilch
zurück verlangt.
In Ruhi Sus Fassung geht es nicht um eine militärische, sondern um eine
politische Bewährungsprobe des Sohnes. Im Mittelpunkt steht die Forderung der Mutter,
dass der Sohn das arme Volk und die Arbeiter aufklären soll. Das Ziel des Kampfes ist
nicht näher benannt, aber gemeint ist wohl die sozialistische Revolution als Akt der
Befreiung. Zwar besteht die Mutter auf der Erkenntnis, dass es um einen Kampf des
Volkes geht, sie glaubt jedoch ebenso fest, dass erst die Stimme eines Mannes, der den
Feind kennt, das Volk aufrütteln und zu Taten bringen kann. So wird aus einem
traditionellen Soldatenlied ein sozialistisches Kampflied.
146
6.7.5
„Einheit”
„Tevhit” 447
Meine Kaaba ist der Mensch
Benim Kâbem insandır,
Und auch der Koran, auch der Retter,
Kuran da, kurtaran da, 448
Das Menschenkind des Menschen.
İnsanoğlu insandır.
Meine Kaaba ist die Liebe
Benim Kâbem sevidir,
Und auch der Koran, auch der Retter,
Kuran da, kurtaran da,
Die liebenden Menschen.
Sevili insanlardır.
Meine Kaaba ist die Arbeitskraft
Benim Kâbem emektir,
Und auch der Koran, auch der Retter,
Kuran da, kurtaran da,
Die arbeitenden Menschen.
Emekçi insanlardır.
Meine Kaaba ist die Welt
Benim Kâbem dünyadır,
Und auch der Koran, auch der Retter,
Kuran da, kurtaran da,
Die weltrettenden Menschen.
Dünyayı insanlardır.
Ruhi Su
In diesem Gedicht, welches Ruhi Su in seiner traditionellen Form zweifellos
inspiriert hat, kommt seine eigene Vorstellung zum Ausdruck, dass der Mensch selbst für
seinen Zustand verantwortlich ist. Er ist der Liebende und der Retter der Mitmenschen;
die Welt, das Humane, sozialistische Ideen, nicht das größte Heiligtum des Islam, die
Kaaba, und der Koran, verheissen das größte Heil. Der Mensch steht im Mittelpunkt und
alles kommt auf ihn zu. Die Menschen sind es selbst, die lieben können, arbeiten wollen
und somit die Welt zu einem besseren und schöneren Ort machen.
447
Aus der Schallplatte „Die Samahs“ (Semahlar, 1978). Auch dieser Text zeigt, so deutlich wie selten,
den neuen weltlichen und sozialistischen Sinn, welchen Ruhi Su durch seine Substitution der zentralen
Begriffe einem alevitischen Text gibt. Die Annahme Cemal Şeners, Alevilik Olayı (1981): 181, es handle
sich um traditionelles Gedankengut des Hacı Bektaşi Velis (1209-1271), des großen Heiligen der Aleviten,
ist nicht haltbar. Der Verweis auf Cemal Şener verdankt sich Karabey Aydoğan.
448
In diesem Vers liegt ein Wortspiel. Das Wort „Kuran“ steht im Türkischen zum einen für das Heilige
Buch und zum anderen für denjenigen, der aufbaut. Es besitzt eine Doppeldeutigkeit, die sich Ruhi Su zu
eigen macht.
147
Die traditionalle Version lautet:
Meine Kaaba ist Ali,
Benim Kâbem Ali‘dir,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah.
La ilahe illallah.
Er ist Ali, Sohn des Ali,
Ali oğlu Ali’dir,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah.
La ilahe illallah.
Meine Kaaba ist Hasan,
Benim Kâbem Hasan’dır,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah.
La ilahe illallah.
Er ist Hasan, Sohn des Ali.
Ali oğlu Hasan’dır,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah.
La ilahe illallah.
Meine Kaaba ist Hüseyin,
Benim Kâbem Hüseyin,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah.
La ilahe illallah.
Er ist Hüseyin, Sohn des Ali,
Ali oğlu Hüseyin,
Es gibt keinen anderen Gott als Allah,
La ilahe illallah. 449
449
Text nach mündlicher Mitteilung von Karabey Aydoğan vom 14. Nov. 2011.
148
6.7.6
„Fürbitte”
„Gülbenk” 450
Allah Allah, Allah Allah, Allah Allah!
Allah Allah, Allah Allah, Allah Allah!
Respekt gegenüber der Drei und der Fünf,
Üçlerin, beşlerin,
Gerçek erlerin ve şehitlerin,
Den wahren Menschen und Märtyrern.
Yüzü suyu hürmetine.
Gesegnet möge der Abend sein,
Akşamlar hayrola,
Die Bösen mögen verschwinden,
Şerler defola,
Die Helden mögen sich aufstellen,
Yiğitler safola,
Unser Helfer möge das Volk sein.
Yardımcımız halk ola .
Auf unser Sein,
Varlığımıza,
Auf unsere Einheit,
Birliğimize,
Auf unsere Einigkeit,
Bir olmamıza,
Merhaba!
Merhaba!
Ruhi Su
Am Ende der Samah, des rituellen Tanzes der Aleviten, folgt immer das Gebet. In
diesem Gebet werden Wünsche und Träume mit Blick auf die Gemeinschaft
ausgesprochen. Neben religiösen Begriffen wie „Allah“, „Märtyrer“ oder „gesegneter
Abend“ ist das Wort „Volk“ aussagekräftig. Im Türkischen bedeutet das Wort „hak“ Gott
und das Wort „halk“ Volk. Ruhi Su will mit diesem Wortspiel, welches das alevitische
Wort „Gott“ durch das Wort „Volk“ ersetzt, die Aleviten vor einfältiger Religiosität
warnen. Somit ist für Ruhi Su der Retter des Volkes das Volk selbst, in einem weiteren
Sinne, und nicht nur in dem der Aleviten. Er bestärkt die Aleviten, Hilfe nicht bei Gott,
sondern bei den Mitmenschen zu suchen. Den Kern der Selbsthilfe sieht er in der
Einigkeit der Menschen. Er setzt weltliche Begriffe, nämlich „Helden“ (yiğitler), „Die
wahren Menschen und Märtyrer (gerçek erler ve şehitler) und den Gruß „Merhaba“ an
die Stelle des alevitischen Anrufs Gottes (Hu!).
450
Aus der Schallplatte ‚Die Samahs’ (Semahlar, 1978).
149
7.
Ruhi Sus Lieder und ihre Entstehungsgeschichte
7.1
Der autobiographische Bezug von Ruhi Sus Texten
Wenn man sich näher mit Ruhi Sus Liedern und Prosatexten beschäftigt, sieht
man deutlich den Bezug zu biographischen Details und zu seinen politischen
Vorstellungen. Neben seinen Gedichten und Türkütexten hat Ruhi Su auch seine
Gedanken über Musik niedergeschrieben. Der Literaturkritiker Cevat Çapan bemerkt,
wenn man die Gedichte und Türküs lese, erkenne man die Quelle dieser mit seiner
hervorragenden Stimme gesungenen Melodien. Wenn man seine Texte lese, erfahre man
recht gut, wie er sein hohes kreatives Niveau sowie seine exzellente Bildung,
Arbeitsweise und Wissen über Kultur erreicht habe. 451
451
ÇAPAN, Cevat: Vorwort. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 7.
150
7.1.1
Die Geschichte des Liedes von dem „Berg Hasan“ (Hasan Dağı)
In seinen Liedern entwickelte Ruhi Su aus zunächst unbedeutend scheinenden
Episoden seines Lebens Gedanken über den Zustand des leidenden Volkes oder den
Zustand der Welt überhaupt. Er verknüpfte beklagenswerte politische Ereignisse mit
seiner persönlichen Reaktion und Befindlichkeit. In den vielen Liedern, die er über
Kämpfe und Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte schrieb, stellte er
einen persönlichen Bezug her. Solche Bezüge werden nun näher beleuchtet.
Nach langer Haft in İstanbul wurde Ruhi Su in das Gefängnis von Adana verlegt,
um dort die restliche Haftzeit abzusitzen. Der Weg führte am Fuße eines Berges entlang,
des Berges Hasan, eines erloschenen Vulkans. Einer der Mitgefangenen war Ahmet
Baba, der sich noch gut an diesen Tag erinnert. Die Wärter hatten die Gefangenen in
einem Bus gezwängt, der nachts durch das Niğdetal fuhr. Als die Häftlinge ausstiegen,
um Wasser zu lassen, musste jeder sich hinknien, wenn der Partner sich hinkniete, da
beide aneinander geketten waren. Die anatolische Steppe war nachts zauberhaft schön. Im
Mondlicht schimmerte der Berg Hasan. Sie streichelten die Weite und die Berge mit den
Augen. Ruhi Su war wie in Ekstase. Sie glaubten, der Berg Hasan werde das seit
Millionen von Jahren in seinem Bauch verborgene Feuer ausspeien. 452 Jahre später
beschrieb Ruhi Su diese Nacht in einem Gedicht, welches er vertonte. 453
„Der Berg Hasan“
„Hasan Dağı“
Der Berg Hasan, der Berg Hasan!
Hasan Dağı, Hasan Dağı !
Beuge dich und schau hin,
Eğil eğil, eğil bir bak,
Die Kette drückt auf die Gelenke,
Sıkıyor zincir bileği,
Keine Gnade des Gendarmen.
Jandarmada din iman yok.
Unsere Wanderer stehen auf und bewegen sich fort.
Gidiyor kalktı göçümüz.
Unser Inneres lacht und weint nicht,
Gülmez, ağlamaz içimiz,
Unsere Schuld war es, Mensch zu sein,
İnsan olmaktı suçumuz,
Berg Hasan, Mensch zu sein.
Hasan Dağı, insan olmak.
Ruhi Su
Vgl. KEMAL, Mehmed: Ruhi Su’yu Dinlerken, Acılı Kuşak (1996): 254-257. Unter den Häftlingen
befanden sich neben Ahmet Baba und Ruhi Su Enver Gökçe, Orhan Suda, Abdülkadir Demirkan,
Sabahattin Dikmen und Zeki Baştımar.
453
Aus „Gedichte und Lieder“ (Şiirler, Türküler, 1974). Die fünfte Schallplatte von insgesamt elf im
Eigenverlag veröffentlichten Platten.
452
151
Hier wird deutlich, dass Ruhi Su die Unmenschlichkeit und Erbarmungslosigkeit
anprangert. Er lebte unter Verhältnissen, die die Gefangenen entwürdigten. Er wandte
sich an den Berg Hasan mit seiner Klage, fügte aber auch hinzu, dass er innerlich über
diesen unwürdigen Bedingungen stehe.
Bei Ruhi Su finden wir oft eine emphatische Verwendung des Begriffes
„Mensch“ (insan). Damit ist die Verletzlichkeit des Menschen gemeint, zugleich aber
auch seine moralische Urteilsfähigkeit und Würde.
152
7.1.2
Die Geschichte des Liedes „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal): Für Sıdıka Su
Dieses im Gefängnis von Harbiye entstandene Lied zeigt Ruhi Sus
Durchhaltevermögen und seinen Kampfeswillen. Durchdrungen vom Glauben an eine
bessere Zukunft richtete er das Lied an die Mitgefangenen und auch an seine zukünftige
Frau Sıdıka Umut, die ebenfalls im Kerker von Sansaryan in İstanbul eingesessen hatte,
unter derselben Anschuldigung, Mitglied der kommunistischen Partei der Türkei (TKP)
zu sein. Dass er im Gefängnis das Lied insbesondere an sie richtete, war daran zu
erkennen, dass er es immer wieder in die Richtung ihrer Haftzelle sang und sie so
aufzumuntern versuchte. Bestätigt wird dies von einem Mitgefangenen. 454 Auch Sıdıka
Su betont, sie könne sich sehr gut an die von weitem kommende und überwältigende
Stimme erinnern, als sie im Frauentrakt des Militärgefängnisses von Harbiye einsaß. 455
„Ein besonderer Ort“ 456
Ein besonderer Ort ist der Kerker, in dem ich festsitze,
Sitze ein, was ist schon dabei, es sind Genossen nebenan,
Ihre beiden Hände sind rot von Blut.
Ich sterbe, ich sterbe, doch meine Gedanken sind bei Dir.
Wir werden mehr und nicht weniger in den Kerkern.
Es ist nicht einfach, die Spitze des Leidens sitzt tief,
Im Fluss Kumhan und in Karaburun.
Ich werde sie aber finden, denn meine Wut sitzt auf der Schwertscheide.
Du meine liebliche Harmonie, meine Kraft,
Meine linke Hälfte, mein Glaube,
Mein weißes Mehl, meine weiße Taube!
Ich weiß ganz sicher, alles wird gut werden in den kommenden Tagen.
Ruhi Su
Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai. 2006.
AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 147.
456
Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in
Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer
nicht genannt werden.
454
455
153
„Mahsus Mahal“
Mahsus mahal derler, kaldım zindanda,
Kalırım kalırım, dostlar yandadır,
İki elleri kızıl kandadır, kanda.
Ölürüm ölürüm kardeş, aklım sendedir.
Artar eksilmeyiz, zindanlarında,
Kolay değil, derdin ucu derinde,
Kumhan Irmak’ında, Karaburun’da.
Bulurum bulurum kardeş, öfkem kındadır.
Dirliğim, düzenim, dermanım canım,
Solum, sol tarafım, imanım dinim,
Benim beyaz unum, ak güvercinim.
Bilirim bilirim kardeş, gelen gündedir.
Ruhi Su
Ein besonderer Ort war der Kerker wahrlich nicht gewesen. Als Ruhi Su mit
vielen Mitgefangenen endlich, nach der Haft in Sansaryan und Harbiye vor Gericht
gebracht wurde, berichtete ein Häftling von ihrer elenden Untersuchungshaft in Zellen,
die den Namen Sarg verdient hatten. Darauf bemerkte der vorsitzende Richter, der Ort,
von dem der Häftling spreche, werde „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal) genannt.
Ruhi Su gab dem Gedicht diesen Namen, um die menschenverachtende Ironie des
Richters festzuhalten.
Die Zusammenfügung von Kumhan und Karaburun hat sicher damit zu tun, dass
Ruhi Su Mitleid mit allen Ausgebeuteten und Gefallenen empfand. So hatte Börklüce
Mustafa, ein Schüler des Şeyhs Bedreddin (1358 - 1420), 457 in Karaburun einen
Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen angezettelt und wurde daraufhin gehängt.
Kumhan gelangte in das Gedicht, weil türkische Soldaten in einem Natoeinsatz im Jahre
1952 in Korea in den Tod geschickt wurden.
Die Frauengestalt des letzten Teils des Gedichtes wird mit Lobpreisungen
überschüttet. Sie gibt dem lyrischen Ich Kraft: sie ist geradezu die Körperhälfte, in der
das Herz sitzt; sie ist ein kostbares Brot und ein friedenbringender Vogel.
457
Siehe unten Kap. 9.5.6.
154
7.1.3
„Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz“ 458
„Şişli Meydanı'nda Üç Kız“
Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz,
Şişli Meydanı'nda üç kız,
Eine Çiğdem, die andere Nergis.
Biri Çiğdem, biri Nergis,
Sie wurden erschossen am hellichten Tag.
Vuruldular güpegündüz.
Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen.
Sorarlar bir gün, sorarlar.
Der Morgen hat einen Besitzer.
Sabahın bir sahibi var.
Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen.
Sorarlar bir gün, sorarlar.
Enden werden dieser Kummer, diese Schmerzen,
Biter bu dertler, acılar,
Eines Tages erhalten sie Heilung.
Sararlar bir gün, sararlar.
Neunzehnhundertsiebenundsiebzig,
Bin dokuz yüz yetmiş yedi,
Der Name des unvergesslichen Jahres.
Unutulmaz yılın adı.
Es war der Maifeiertag,
Bir Mayıs bayramı idi,
Eines Tages erhalten sie Genugtuung.
Sorarlar bir gün, sorarlar.
Refrain
Nakarat
Wir waren fünfhunderttausend Werktätige,
Beş yüz bin emekçi vardık,
Wir marschierten auf den Taksim-Platz
Taksim Meydanı'na girdik,
Und sahen so ein geeintes İstanbul.
Öyle bir İstanbul gördük,
Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen.
Sorarlar bir gün, sorarlar.
Refrain
Nakarat
Hier, meine Augen, schaut hin.
Al, gözlerim, seyir eyle.
Singt einer nach dem andern.
Birin bırak, birin söyle.
Diese Erde sah zum ersten Mal
Bu yeryüzü, ilk kez böyle
Ein derartiges İstanbul,
Bir İstanbul görüyordu,
Umarmte und umschloss sie.
Kucaklayıp sarıyordu.
Ruhi Su
458
Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern
Ruhi Sus“ behandelt.
155
Der 1. Mai 1977 war ein Tag der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen
Krise in der Türkei. Die Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften
(Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu, DİSK) organisierte die Maikundgebung. Der
Taksimplatz war so übervoll, dass die Massen in die umliegenden Stadtteile strömten. In
Beşiktaş hatten sich Hunderttausende versammelt. Als der DİSK-Vorsitzende Kemal
Türkler gerade an das Ende seiner Rede kam, war das Geräusch von Schüssen zu hören.
Nach einem Moment der Totenstille brach ein Chaos aus. Die Menschenmenge rannte in
Panik auseinander. Bis heute noch nicht aufgespürte Personen, die im damaligen
Intercontinental Hotel (dem heutigen the Marmara) und im Gebäude der Wasserbehörde
auf der Lauer lagen, schossen mit automatischen Waffen in die Menge. Dann traten
gepanzerte Fahrzeuge in Aktion und verwandelten das Gelände in ein Schlachtfeld.
Immer größere Panik breitete sich aus. Tausende Menschen lagen am Boden, viele
wurden in Ecken zusammengedrängt und von den gepanzerten Fahrzeugen überfahren.
Am Ende dieses Tages hatten 34 Menschen ihr Leben verloren. 459
Der Erste Mai wurde nach einer langen Verbotszeit erst 2009 als Tag der Arbeit
wieder in einer Großveranstaltung auf dem Taksimplatz gefeiert.
Zwei politische Ereignisse hat Ruhi Su in einem Text selbst beschrieben und
vertont. Das erste waren die Schüsse am hellichten Tag auf drei Studentinnen auf dem
Şişliplatz am 24. April 1977. Die dabei getötete Çiğdem steht für die vielen Opfer, die in
dieser Zeit tagtäglich durch die Rechten mit Unterstützung der Staatsgewalt umgebracht
wurden. Einer der drei Namen, nämlich Çiğdem, ist authentisch, 460 der zweite, Nergis ist
es nicht; beide haben die Symbolik von Blumennamen, Krokussafran und Narzisse, eine
zarte Symbolik, an der Ruhi Su lag. Der dritte Name wird nicht genannt, obwohl man ihn
mitdenkt. Ruhi Su drückt die Hoffnung aus, dass die Mörder eines Tages zur
Verantwortung gezogen werden. Diese Hoffnung hat sich immer noch nicht erfüllt. Das
zweite Ereignis war das Massaker vom 1. Mai wenige Tage später. Ruhi Su urteilt auch
über diese Mordtat mit dem Blick auf eine bessere Zukunft in dem Gedicht „Der Morgen
hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var). 461 In diesem hat die Stadt İstanbul am Tage
dieser unvergesslichenVersammlung bereits eine neue, bessere Qualität gewonnen,
welche die Erde aus einem tiefen Glücksgefühl, dazu bringt, sie zu umarmen.
Vgl. KORKMAZ, Esat: 1 Mayıs: Zulüm ve Kan. In: KORKMAZ, Esat: Kafa Tutan Günler (2004): 186.
Çiğdem war tatsächlich der Name der bekannten Studentenführerin Çiğdem Yıldır.
461
Diese Zeile gibt auch der gesamten Schallplatte den Titel.
459
460
156
8.
Politischer Protest und Trauer in den Liedern Ruhi Sus
8.1
„Das Klagelied Karadeniz“ 462
„Das Klagelied Karadeniz“ (Karadeniz Ağıdı) schrieb Ruhi Su nach einer
anonymen Melodie zu Ehren Mustafa Suphis (1883-1921), des Gründers und ersten
Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Türkei (Türkiye Komünist Partisi, TKP).
Eine knappe Darstellung der Entwicklung der TKP und insbesondere die Ermordung
Mustafa Suphis 463 und seiner Weggefährten ist geeignet, Licht auf das Klagelied zu
werfen, welches sich mit diesen Geschehnissen beschäftigt.
Das
sowjetische
Russland
spielte
mit
seiner
finanziellen
Hilfe
und
Waffenlieferungen an Mustafa Kemal eine bedeutende Rolle in dem Befreiungskampf.
Die Besetzung Anatoliens durch die Alliierten hätte eine große Bedrohung für die
Sowjetunion dargestellt. Die Hilfe der Sowjetunion erweiterte den Handlungsspielraum
der Kemalisten. Die offizielle Gründung der Kommunistischen Partei der Türkei (TKF)
am 18. Oktober 1920 in Ankara mit Zustimmung Mustafa Kemals sollte die türkischsowjetischen Beziehungen verbessern. Die Existenz der TKF dauerte lediglich drei
Monate. Nach der Niederschlagung des Aufstands von Çerkez Ethem und der
Unterdrückung der Linken verschwand diese Partei von alleine. 464 Am 10. September
1920 wurde in Baku die geheime Kommunistische Partei der Türkei (TKP) gegründet
und Mustafa Suphi zum Vorsitzenden gewählt. Die Partei hatte das Ziel, zunächst gegen
die Besatzung durch die Allierten im Land zu kämpfen und dann eine Sowjetische
Republik auf türkischem Boden zu gründen. 465 Auf die Einladung Mustafa Kemals hin,
im Nationalen Widerstandskampf mitzuarbeiten, machte sich eine Delegation mit
Mustafa Suphi in den letzten Tagen des Jahres 1920 auf den Weg von Baku nach Ankara.
In der Nacht zum 29. Januar 1921 wurden jedoch Mustafa Suphi und seine vierzehn
462
Klagelied für Mustafa Suphi, den Gründer und ersten Vorsitzenden der TKP und den Generalsekretär
Ethem Nejat. Für Mustafa Suphis und Ethem Nejats Biographien siehe TUNÇAY, Mete: Türkiye’de Sol
Akımlar (1967): 100-123 und ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005):176-182. Ruhi Su hat
dieses Lied während seiner Tätigkeit an der Oper in Ankara 1950 geschrieben und komponiert, wie man
beim Verhör in Sansaryan Han und der Androhungen von Folter bestätigt haben wollte. Vgl. GÜRÇAY,
Ercüment: „Karadeniz Ağıdı“ Ruhi Su / Mustafa Suphi ve Arkadaşlarının Anısına: In:
http://www.youtube.com.
463
Vgl. ASLAN, Yavuz: Türkiye Komünist Fırkası‘nın Kuruluşu ve Mustafa Suphi (1997).
464
Vgl. TUNÇAY, Mete: Türkiye’de Sol Akımlar (1967): 83-89. Unter den Parteimitgliedern befanden
sich die Parlamentarier Tevfik Rüştü Aras, Mahmut Esat Bozkurt,Yunus Nadi, Kılıç Ali, Hakkı Behiç,
Refik Koraltan, Eyüp Sabri ve Süreyya Yiğit.
465
Akgül, Hikmet: Nâzım Hikmet, Siyasi Biyografi (2002): 66-67.
157
Freunde 466 in Trabzon auf einem Boot, das sie angeblich zurück in die Sowjetunion
bringen sollte, von Männern des Bootsverwalters Yahya umgebracht. 467 Wer den Auftrag
zum Mord gegeben hat, ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Kommunisten beschuldigen die
damalige kemalistische Regierung in Ankara wichtige Genossen hinterrücks ermordet zu
haben. Es geht um die Tötung von Mustafa Suphi und seiner Freunde durch einen Mann
namens Osman der Lahme (Topal Osman), der angeblich von Atatürk den Befehl
erhalten haben soll, die Kommunisten im Schwarzen Meer zu versenken. 468
„Das Klagelied Schwarzes Meer“
Sein Bild ist eine Erinnerung in meinem Herzen,
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer,
Mit fünfzehn Vorkämpfern ertrunken,
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.
Traurig singen die Seevögel,
Im Wasser sind ihr Schlaf und ihre Träume.
Eine Braut vergießt blutige Tränen.
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.
Gemeinsame Kerkerhaft mit Nâzım Tag für Tag
Macht den Stummen sprechen und den Blinden weinen.
Eine Seite von mir fault, die andere lebt,
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.
Meine Wunden bluten im Salz.
Die Müdigkeit ist gekommen und goldbraune Augen erlöschen.
An einer meiner Seiten stirbt Suphi, Nejat,
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.
Von der Gruppe sind neben Mustafa Suphi nur noch Ethem Nejat, İsmail Hakkı, Kazım Ali, Şefik und
Topçu Hakkı namentlich bekannt. Der Mörder Yahya behielt Suphis russische Frau sowie alle Wertsachen
für sich. (1920 Moskova’sında Türk Komünistleri-2, Tarih Dünyası 2 (Jan. 1965): 151. In: TUNÇAY,
Mete: Türkiye’de Sol Akımlar (1967): 121.
467
Ebd. 120. Vgl. auch ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 181.
468
So nach ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 176.
466
158
Es werden Tage kommen und meine Wunden heilen.
So kann es nicht weiter gehen, man wird Rechenschaft fordern.
Eine meiner Seiten sieht man vom Iran, von China aus,
Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.
Ruhi Su
„Karadeniz Ağıdı“
Hayâli gönlümde yadigâr kalan,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
On beş mürşid ile boğulup ölen,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
Garip garip öter derya kuşları,
Su içinde uykuları, düşleri,
Bir gelin, döker kanlı yaşları,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
Nâzım ile zindanda gün be gün biri,
Söyletir dilsizi, ağlatır körü,
Bir yanım çürüyor, bir yanım diri,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
Yaralarım tuz içinde kanıyor,
Uyku gelmiş elâ gözler sönüyor,
Bir yanımda Suphi, Nejat ölüyor,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
Gelir günler gelir, yaram sarılır,
Böyle gitmez bir gün hesap sorulur,
Bir yanım Acem'den, Çin'den görünür,
Bir yanım deryada çalkanır şimdi.
Ruhi Su
159
Als Nâzım Hikmet 1950 aus der Haft entlassen wurde, versammelten sich seine
Freunde, darunter berühmte Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler wie Melih
Cevdet Anday und seine Ehefrau Yaşar Anday, Behice Boran und Vâlâ Nurettin, zu
seinen Ehren in der Wohnung Abidin Dinos. Ruhi Su war auch anwesend. Nâzım
Hikmet wurde aufgefordert, endlich zuzugeben, dass „Das Klagelied Schwarzes Meer“
(Karadeniz Ağıdı) ihm gehöre. Er verneinte es wiederholt und fragte, welchen Anlass
zur Verneinung er haben könne. Wenn es ihm gehörte, würde er es doch zugeben. Ruhi
Su hörte schweigend zu. Das Gedicht war in Wahrheit sein eigenes. Jahre später fragte
man ihn, warum er sich damals nicht zur Autorenschaft bekannt habe. Der
weltberühmte Nâzım Hikmet habe davon geschwärmt, wie gut der anonyme Autor die
Geschehnisse, uns, unser Volk und unsere Welt erzähle. 469 Der schweigende Ruhi Su
war eben ein zurückhaltender Mensch. Er war niemals darauf aus, im Mittelpunkt zu
stehen.
Ruhi Su sang die ganze Nacht Türküs. Nâzım Hikmet konnte seine Tränen bei
dem Gesang kaum zurückhalten. Es waren Tränen eines sehr komplexen Gefühls. Sie
drückten weder Glück, noch Trauer aus, sondern die Euphorie einer außergewöhnlichen Situation, nämlich der Vereinigung von Freunden. 470
Bei der Analyse des Gedichtes „Klagelied Schwarzes Meer“ (Karadeniz Ağıdı)
wird deutlich, dass das lyrische Ich mit der Stimme des Volkes spricht, Der Mord an den
kommunistischen Vorkämpfern hat es schwer verwundet. Nur eine Hälfte des Körpers
lebt noch, die andere führt eine symbolische Existenz im Meer. Das Meer und seine
Bewohner, die Seevögel, tragen so schwer an der Trauer wie die Braut, welche blutige
Träne vergießt. Die Struktur des Liedes mit seinen vielen Wiederholungen gibt eine
Annäherung an eine dreifache Korrespondenz wieder in dem Sinne, dass die Opfer
ebenso Teil des Meeres geworden sind wie das lyrische Ich und das beide die gleichen
Formen der Trauer zeigen. Für die Gedankenführung Ruhi Sus ist dennoch
charakteristisch, dass der Text nicht in Verzweiflung endet, sondern der Ausblick auf
Heilung der Wunden und späte Gerechtigkeit erhalten bleibt.
469
Vgl. BARAN, Ümran: Bir yanım çürüyor, bir yanım diri, Yorum (7. Okt. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı
(1986): 221.
470
DİNO, Güzin: Gel Zaman Git Zaman (1991): 137. Müzehher Vâ-Nû erzählt in gleicher Art von der
Wirkung des Gesangs von Ruhi Su auf Nâzım Hikmet. Vgl. Vâ-Nû Müzehher: Bir Dönemin Tanıklığı
(Keine Angabe zum Erscheinungsjahr): 137.
160
8.2
Ruhi Su und Nâzım Hikmet
Einige Freunde Ruhi Sus waren der Ansicht, er bewirke in der Musik, was
Nâzım Hikmet in der Lyrik bewirkt habe, ja, eigentlich noch mehr, denn im Gedicht
gebe es die jahrhundertealte Tradition des Volkes. Es sei für Nâzım Hikmet einfach
gewesen, seine Gedichte auf dieser Tradition aufzubauen. Ruhi Su habe jedoch im
wahrsten Sinne des Wortes für eine neue Ära gesorgt. 471 Er war in der Tat
schulgründend.
Ruhi Su ist der erste Künstler, der die Gedichte Nâzım Hikmets vertont hat. Unter
dem Titel „Lieder der Mobilmachung und Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik
Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı) 472 brachte er 1971 eine Schallplatte heraus, auf der
sich aus Nâzım Hikmets Gedichtband Epos vom Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı
Destanı), die Texte „Unsere Frauen” (Kadınlarımız),
Taarruz)
474
473
„Die große Offensive” (Büyük
und „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü)
475
befinden. Auf die
Nachricht vom Tode Nâzım Hikmets aus Moskau im Jahre 1963 schrieb er das Klagelied
„Eine schlechte Nachricht” (Karalı Bir Haber) 476 und vertonte es nach einer anonymen
Melodie. Ruhi Su vertonte zudem Hikmets „Es nieselt“ (Yağmur Çiseliyor)
477
aus dem
„Epos Scheich Bedreddin” sowie „Die drei Zypressen“ (Üç Selvi),478 „Sie” (Onlar ki) 479,
„Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı)
480
und „Das kleine Mädchen“ (Kız
Çocuğu). 481
Ruhi Su hat immer wieder betont, dass er kein Komponist sei. Er beklagte es,
dass viele Musiker, die talentierter als er waren, die Gedichte Nâzım Hikmets nicht
vertonten. Er unterstrich auch, dass die Vertonung der Gedichte eines intellektuellen
Dichters wie Nâzım Hikmet keine einfache Aufgabe sei. Das Gedicht könne in einer
falschen musikalischen Gestaltung unerwünschte und sogar verfälschende Deutungen
annehmen. Die Musik könne die in den Worten liegenden Gefühle übertreiben, bringe
sie aber auch hervor. Eine übertreibende Interpretation sei sehr einfach zu bemerken,
Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran vom 23. Sep. 2010 in İstanbul. Onaran bezieht sich auf ein
Gespräch mit dem bekannten Musikwissenschaftler Ahmet Say.
472
Siehe unten Kap. 9.1.
473
Siehe unten Kap. 9.1.3.
474
Siehe unten Kap. 9.1.5.
475
Siehe oben Kap. 6.7.1
476
Siehe unten Kap. 8.2.1
477
Siehe unten Kap. 9.5.6.
478
Siehe unten Kap. 9.5.5.
479
Siehe unten Kap. 9.7.12.
480
Siehe unten Kap. 9.10.2.
481
Siehe unten Kap. 9.10.5.
471
161
weil das Gleichgewicht innerhalb des Gedichtes gestört werde. Wenn die Musik aber
das Gleichgewicht erhalte, werde die Wirkung des Gedichts verstärkt. Dann sei eine
Vertonung nützlich. Weil er unpassende Melodien befürchte, trage er Gedichtzeilen
manchmal als Rezitativ vor. 482
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: El Kapıları, Cumhuriyet
(18.Dez. 1976). In SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 110-111. Doğan Hızlan urteilt in gleicher Richtung wie
Ruhi Su: einige Liedermacher nähmen die Musik zur Hilfe , wenn sie das Gedicht nicht vortragen könnten.
Ruhi Su jedoch bringe die Aussage des Gedichtes nicht durch eine zweifelhafte Vertonung, sondern durch
den rezitativen Vortrag des Gedichts zur Sprache. Vgl. HIZLAN, Doğan: Hürgün (18 Sept. 1985). In:
DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986):110. Vgl. auch ERDEM, Hüseyin: Nâzım Hikmet
Uyarlamaları ve Sorumluluk, Yeni Ufuklar (Mai. 1976): 52-55.
482
162
8.2.1
„Eine schwarze Nachricht“ (Karalı Bir Haber): Klagelied für Nâzım Hikmet
Als die Nachricht vom Tod Nâzım Hikmets in Moskau in der Türkei ankam,
schrieb und vertonte Ruhi Su ein Klagelied für ihn:
„Eine schwarze Nachricht”
Eine schwarze Nachricht ist im Anmarsch
In den Kupferantennen, Bruder, und Silberdrähten
Ruft weder der Muezzin noch läuten die Kirchenglocken.
In der Morgendämmerung, Bruder, ist er auf dem Weg,
In der Morgendämmerung ist Bruder Nâzım , auf dem Weg.
Er ist ganz in meinen Gedanken, verlässt sie nicht.
Wenn meine linke Seite ihn vergisst, Bruder, so nicht die rechte.
Solch eine Seele beendet der Tod nicht,
Fortwährend kommt sie, Bruder, an die Äste,
Fortwährend kommt Bruder Nâzım , an die Äste.
Ich sagte in der Steppe einem gelben Kraut
“Dein Feuer, Bruder, möge nicht erlöschen, dein Rauch möge bleiben”,
Wenn eines Morgens der Hahn kräht.
Dies ist unser Türkü, Bruder, in aller Munde,
Dies ist unser Türkü, Bruder Nâzım, in aller Munde.
Ruhi Su
163
„Karalı Bir Haber“
Karalı bir haber, düşmüş geliyor,
Bakır antenlere kardeş, gümüş tellere,
Ne bir ezan sesi, ne çan çalıyor.
Sabahın seheri kardeş, çıkmış yollara,
Sabahın seheri Nâzım Kardeş, çıkmış yollara.
Her hali aklımda, aklımdan gitmez,
Sol yanım unutsa kardeş, sağım unutmaz,
Böylesi bir cana, ölüm kâr etmez.
Sürer tazelenir kardeş, gelir dallara,
Sürer tazelenir Nâzım Kardeş, gelir dallara.
Dedim ki bozkırda, bir sarı ota,
“Ateşin sönmeye kardeş, dumanın tüte”
Ola ki bir sabah, bir horoz öte,
Bu bizim türkümüz kardeş, düşer dillere,
Bu bizim türkümüz Nâzım Kardeş, düşer dillere.
Ruhi Su
In diesem Gedicht drückt Ruhi Su seine Verbundenheit mit Nâzım Hikmet aus,
indem er ihn mit Bruder anredet. Damit will er zeigen, dass er, obwohl Nâzım Hikmet
weit weg in Moskau verstarb, nahe bei ihm ist und er ihn nie vergessen wird. Die Trauer
über den Tod Nâzım Hikmets hat ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass Nâzım Hikmet
nunmehr gegenwärtiger ist als zu Lebzeiten. Im letzten Abschnitt des Gedichts drückt er
zudem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus. Seine Werke werden Ruhi Su und
vielen anderen in Zukunft als Licht dienen, um den Weg für ein besseres Leben und
Miteinander zu finden.
Zu der Struktur des Gedichtes ist anzumerken, dass es eine Verbindung
zwischen dem Sprecher, Nâzım Hikmet und einem namenlosen Hörer dadurch aufbaut,
dass der Sprecher die beiden andern mit einem stets wiederholten Bruder anspricht. Ruhi
Su bedient sich der modernen Nachrichtentechnologie, die er poetisiert als Silberdrähte
und in Baumäste verwandelte Antennenmasten. Obwohl das Gedicht von einer
Todesnachricht und dem Weggehen der Seele Hikmets spricht, hat es keinen religiösen
164
Unterton, denn der Weg der Seele bleibt ungenannt. Sicher ist nur, dass eine Seele von
solcher Größe vom Tode nicht bezwungen werden kann. Nâzım Hikmets Weiterleben
wird auch dadurch gesichert, dass er geradezu ein Teil des Körpers des Sprechers wird
und in aller Munde bleibt. Selbst in Bildern der Natur besteht Nâzım Hikmet weiter: der
Rauch des brennenden Heidekrauts wird nicht verwehen, und der Hahnenschrei im
frühen Morgen deutet auf einen neuen, hellen Tag.
165
8.3.
Nâzım Hikmets Begegnung mit türkischen Spartakisten
Nâzım Hikmets Tod im Exil in Moskau am 3. Juni 1963 und seine Zuwendung
zum russischen Kommunismus erfordern einen kurzen historischen wie auch
biographischen Hinweis. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden Teile des
Osmanischen Reichs von den Allierten besetzt. Als Mustafa Kemal vom Sultan nach
Anatolien gesandt wurde, um einen türkischen Aufstand gegen die Allierten
niederzuschlagen, wurde er selbst zum Aufständischen. Auf den Kongressen in Erzurum
(23. Juli – 7. Aug. 1919) und Sivas (4. – 11. Sep. 1919) organisierte er das Volk gegen
die Besatzungsmächte und den Sultan. Die Kongresse endeten beide mit der Parole
„Freiheit oder Tod”. Am 23. April 1920 berief Mustafa Kemal die erste
Nationalversammlung nach Ankara und erklärte die osmanische Regierung in İstanbul für
ungültig.
Als junger Poet wollte Nâzım Hikmet aus dem besetzten İstanbul nach
Anatolien gehen, um sich dem Nationalen Befreiungskampf anzuschließen. Zusammen
mit drei weiteren Dichterfreunden, Vâlâ Nurettin, Yusuf Ziya Ortaç und Faruk Nafiz
Çamlıbel, machte er sich am 1. Januar 1921 mit dem Schiff “Neue Welt” auf den Weg
nach Anatolien. Die Regierung in Ankara verweigerte jedoch Faruk Nafiz Çamlıbel
und Yusuf Ziya Ortaç die Einreise von İnebolu nach Ankara. Nâzım Hikmet war
erstaunt über das anatolische Leben, İnebolu war das erste anatolische Städtchen,
welches er kennenlernte. Anatolische Bäuerinnen erblickte er dort zum ersten Mal auf
einem Markt, wie sie an einer Mauer hockten mit Holz auf ihren Rücken. 483
Gleichzeitig war İnebolu für Hikmet auf eine andere Art wichtig. Er machte die
Bekanntschaft mit einer türkischen Gruppe, die ebenfalls auf die Erlaubnis wartete,
nach Ankara einreisen zu dürfen. Sie kam aus İstanbul und wollte dem
Befreiungskampf beitreten. Ihre Verhaltensweise stellte ihm ein Rätsel dar. Sie
verwandten Bezeichnungen wie Kommunisten, Sozialisten, Bolschewisten und
Spartakisten, die ihm bis dahin unbekannt waren. Es waren Schüler und Studenten; sie
kamen ursprünglich aus Deutschland und waren von den Spartakisten dort beeinflusst
worden. Sie nannten sich selbst Spartakisten und sprachen in hohen Tönen über das
sowjetische Russland, welches als erstes Land die neue türkische Regierung in Ankara
anerkannt hatte. Auf diese Weise machte Hikmet Bekanntschaft mit spartakistischen
483
Vgl. AKGÜL, Hikmet: Nâzım Hikmet- Siyasi Biyografi (2002): 54.
166
Ideen. 484 Diese Jugendlichen waren in der frühen Weimarer Republik in deutschen
Fabriken ausgebildet worden, und ein Teil von ihnen, welcher dem Spartakusbund
Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gefolgt war, gründete nach seiner Rückkehr
nach İstanbul in den Werften am Goldenen Horn die ersten kommunistischen Zellen
der Türkei. 485 Nâzım Hikmet ging auf Grund des Interesses, das diese Spartakisten in
ihm geweckt hatten, 1921 mit 19 Jahren nach Russland, um den sozialistischen Aufbau
aus eigener Anschauung zu erleben.
Vgl. ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 164 sowie BENLİSOY, Stefo: Türkiyeli
Spartakistler ve Kurtuluş Dergisi. In: ALKAN, Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat: Mete
Tunçay’a Armağan (2007): 462-466.
485
Vgl. ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 7 sowie EMRE, Gültekin (Hrsg.): 300 Jahre
Türken an der Spree (1983): 22.
Für die Beschreibung dieser Zeit siehe auch KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet (2002): 83115.
484
167
8.3.1
Der Spartakus und Ruhi Sus kommunistische Hoffnung
Auch bei Ruhi Su ist ein Interesse an den Spartakisten nicht zu verkennen. Der
historische Spartakus war ein römischer Sklave und Gladiator und wurde der Anführer
eines Sklavenaufstandes im Römischen Reich im Jahre 73 v. Chr. Eines seiner Ziele
war die Befreiung von Tausenden Sklaven aus ihrem menschenunwürdigen Leben.
Wenn Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts den Namen Spartakus für ihre
Gruppierungen in Anspruch nahmen, so in den modernen Sinn, dass es ihnen um die
Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrem wirtschaftlichen Elend ging. Das große
Experiment im kommunistischen Russland schien ein erfolgversprechender Weg zu
sein. Die Hoffnung, Russland ermögliche eine menschenwürdigere Welt, wurde von
Nâzım Hikmet und Ruhi Su geteilt. Ruhi Su kann daher nur in einem sehr weiten
Sinne, nämlich mit seiner Arbeit für, und Hoffnung auf, eine humanere türkische
Gesellschaft in die Nähe des Spartakus oder der oben charakterisierten Spartakisten
gestellt werden. Die Charaktere des historischen Spartakus und Ruhi Sus sind
möglicherweise vergleichbar im Hinblick auf ihre biographischen Erfahrungen und auf
ihren Widerstand gegen Formen der politischen Herrschaft. 486 Verständlich wird
freilich, dass Ruhi Su in dem 1977 erschienenen Gedicht „Das Sichtbare“
(Görünen) 487 sehr viel später noch Sympathie für die Spartakisten zeigt.
486
Mehmet Kemal vergleicht in seiner Kolumne in der Cumhuriyet (8. Okt. 1985) „Spartaküs’ten Bu
Yana“ die Charaktere des historischen Spartakus und Ruhi Sus im Hinblick auf ihre Rebellion gegen „ihre
Herren.“
487
Das Gedicht wurde in der Cumhuriyet (17. Dez. 1977) veröffentlicht. Siehe unten Kapitel 10.1.5.
168
9.
Ruhi Sus Interpretationen auf den Schallplatten
Das Ziel dieses Kapitels ist, Ruhi Sus Lieder und Gedichte in ihrem
gesellschaftlichen Kontext darzustellen und seine Gestaltungskraft herauszuarbeiten. Auf
seinen elf Schallplatten kombiniert Ruhi Su eigene Lieder mit denen eines bekannten
oder eines anonymenVolksdichters, die er selber singt und manchmal im Text leicht
verändert. 488 Er stellt diese Kompositionen unter einen thematischen Gesichtspunkt. So
kombiniert er auf der Schallplatte mit dem Titel „Die fremden Tore“ (El Kapıları) das
Leiden der Zurückgebliebenen während des Jemenkriegs mit den Leidenserfahrungen
derer, die unter den Folgen des Exodus der Gastarbeiter nach Deutschland litten. Das
Gewebe aus Kritik an den Herrschaftsverhältnissen und der existenziellen Erfahrung der
Verlassenheit erweist sich als ein die Jahrhunderte überdauerndes Phänomen, dem sich
Volksdichter gewidmet haben.
488
Nicht alle die auf den elf Schallplatten befindlichen Lieder werden hier unter Kapitel 9 behandelt,
sondern der Verfasser wählt Lieder aus jeder Schallplatte, die hier am angegebenen Ort besprochen werden.
Auf nicht behandelte Lieder wird im jeweiligen Kapitel verwiesen.
Die Texte aller Lieder Ruhi Sus sind zu finden in: AYDOĞAN, Karabey : Ruhi Su Türküleri (2000).
169
9.1
Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf /
Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı (1970)
Die Lieder auf der Vorderseite der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und
das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı) 489
handeln von der Mobilmachung des Ersten Weltkriegs und dem Befreiungskampf unter
Mustafa Kemal. Ruhi Su wollte derart zeigen, dass das Volk, welches einen Teil dieser
Lieder schuf, auch selbst für die Sache des Befreiungskampfes gestritten hat. Die
Rückseite enthält Volkslieder, die immer wieder von liebenden und leidenden Menschen
sprechen. 490
489
Die Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen von S. Pleyl, A.
Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten Schallplatte „Volklieder
über den Krieg - Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı), Pläne,
1986.
Auf dieser Schallplatte befinden sich, außer den hier behandelten Liedern, noch „Das Lied des Reiters”
(Süvarinin Türküsü, siehe oben Kap. 6.7.1); „Kiziroğlu” (Kiziroğlu); „Gespräch” (Söyleşi); „Gazellen”
(Cerenler, siehe oben Kap. 6.2.1) und „Ein Türkü aus Çamşıhı” (Bir Çamşıhı Türküsü).
490
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
170
9.1.1
„Das Klagelied Çanakkale“
„Çanakkale Ağıdı“
Als die Mobilmachung ausgerufen wurde,
İpti seferberlik ilân olanda,
Fiel ein Feuer, jeder und die Welt weinte.
Bir od düştü, cümle cihan ağladı.
In Çanakkale ein Basar mit Spiegeln.
Çanakkale içinde aynalı çarşı.
Mutter, ich gehe gegen den Feind.
Anne ben gidiyorum düşmana karşı.
Oh weh, meine Jugend!
Of, gençliğim eyvah!
In Çanakkale eine hohe Zypresse,
Çanakkale içinde bir uzun selvi.
Einige von uns sind verlobt, einige verheiratet.
Kimimiz nişanlı, kimimiz evli.
Oh weh, meine Jugend!
Of, gençliğim eyvah!
In Çanakkale wurde ich angeschossen,
Çanakkale içinde vurdular beni.
Sie begruben mich, bevor ich starb.
Ölmeden mezara koydular beni.
Oh weh, meine Jugend!
Of, gençliğim eyvah!
Volkslied
Halk Türküsü
In diesem Lied interpretiert Ruhi Su die Klagen eines einfachen Soldaten im
Ersten Weltkrieg. Es ist ein bekanntes Volkslied, dem Ruhi Su durch seine Darstellung
einen besonderen Ausdruck verleiht. Es bezieht sich auf die Konfrontation der Deutschen
und Türken mit den Allierten. Ruhi Su wertet das Leiden des einfachen Soldaten in einem
fremdbestimmten Krieg zwischen Staaten anders als das Leiden im Befreiungskampf.
Dieser Soldat ist verbittert darüber, wie kurz wahrscheinlich seine Jugend sein wird. Der
Tod droht aber nicht nur den Jungen, sondern auch den schon Verlobten und
Verheirateten. Wie grässlich er sein kann, zeigt die Strophe, in welcher der Soldat als ein
Lebender aus dem Grabe heraus spricht, obwohl er inzwischen gestorben ist. In Anatolien
singen die Klagenden ihre Klagelieder mit dem Munde der Toten.
171
9.1.2
„Sarıkamış“
Der Feldzug nach Sarıkamış in Ostanatolien vom 22. Dezember 1914 bis zum 5.
Januar 1915 entwickelte sich für das Osmanische Heer zu einer Tragödie. Diese in der
Geschichte beispiellose Niederlage für die 150.000 Mann starke Dritte Osmanische
Armee auf den 3150 m hohen Allahu-Ekber-Bergen (Allahuekber Dağları) wurde zu
einem weißen Grab, ohne dass sie einen einzigen Schuss abfeuerte. 491
Die Berichterstattung über die Geschehnisse bei Sarıkamış ist ein deutliches
Beispiel für die damalige Verschleierung. Die Verantwortlichen für die 90.000 erfrorenen
Soldaten wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Jedoch hatte sich schon früh im Volk
die Wahrheit durchgesetzt. Enver Paşa, der Hauptverantwortliche, der trotz der
gewaltigen Gebietsverluste des Osmanischen Reiches erneut ein Großtürkisches Reich
schaffen wollte, sah sich durch die Unterstützung des Deutschen Reiches ermutigt, die
Russen im Kaukasus anzugreifen, um die osmanischen Gebiete nach Zentralasien hinein
zu erweitern. Diese Strategie veranlasste die russische Armee, Soldaten von der
Westfront abzuziehen, was den Deutschen zugute kam.
Die Tragödie vom Tod Tausender junger Soldaten wurde vom Volk in
Klageliedern besungen. In der Sammlung der Türküs über die Mobilmachung von Ruhi
Su hat das Klagelied von „Sarıkamış“ ebenfalls seinen Platz bekommen. Ruhi Su will die
Aufmerksamkeit auf die Katastrophe von Sarıkamış richten, von der es lediglich
russische Aufzeichnungen gibt. Er bringt damit das Verbrechen auch an die politische
Öffentlichkeit, denn in den Köpfen des einfachen Volkes war das Verbrechen von
Sarıkamış immer gegenwärtig.
Vgl. ALTAN, Mehmet: Doksan bin Türk’ten özre de karşı mısınız?, Star (23. Dez. 2008); BARDAKÇI,
Murat: Sarıkamış Şehitlerinin Gizli Kalmış Günlüğü,Hürriyet (26. Dez. 2004). In:
http://www.hurriyetim.com.tr/yazarlar/yazar/0,,authorid~28@sid~9@tarih~2004-12-26t@nvid~515548,00.asp. Abgerufen am 10. Mai 2013; KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet
(2002): 21; BENAZUS, Hanri: Sarıkamış Faciası (2006) sowie BİLGİN, İsmail: Sarıkamış-Beyaz Hüzün
(2006).
491
172
„Sarıkamış“
„Sarıkamış“
Von Oltu gingen wir nach Sarıkamış.
Oltu'dan girdik de Sarıkamış'a,
Unbegreiflich die dort liegenden Leichen,
Akıl ermez orda yatan üleşe,
Die Soldaten hat Enver Paşa verdorben,
Askeri kırdıran Enveri Paşa,
Die Türen waren verschlossen, der Ort weinte.
Kitlendi kapılar, mekân ağladı.
Hauptmänner, Hauptmänner,
Yüzbaşılar yüzbaşılar,
Bataillon steht gegen Bataillon,
Tabur tabura karşılar,
Nach dem Regen wechselt der Tag,
Yağmur yağıp gün değişir,
Die ruhenden Veteranen leuchten.
Yatan şehitler ışılar.
Der Kokon meiner Seidenfäden,
İbrişimin kozaları,
Verloren waren die Avşar-Gebiete,
Battın Avşar kazaları,
In Sarıkamış waren zerstört
Sarıkamış'ta kırıldı
Die frischen Rosenknospen.
Gonca gülün tazeleri.
Volkslied
Halk Türküsü
Ruhi Su übernahm den Text des Volksliedes und bearbeitete seine Melodie auf
seine Art. Das Lied spricht von Menschen, die auf das Schlachtfeld kommen und von
Entsetzen über die Leichenberge gepackt werden. Das Entsetzen schlägt um in die
bitterste Beschuldigung des Soldatenverderbers Enver Paşa. Das Leben hatte sich
zurückgezogen. Die Türen waren geschlossen, der Ort weinte in seiner Auswegslosigkeit.
In den Augen des Volkes haben die Leichen der Veteranen einen himmlischen Glanz
angenommen. Neben den Verlust heimatlicher Gebiete tritt der Verlust des Schönsten,
was das Volk sich vorstellen kann, der blühenden Jugend. Das Gedicht drückt dieses
Gefühl in dem hochpoetischen Bild von den frischen Rosenknospen aus.
173
9.1.3
„Unsere Frauen“
Das Gedicht „Unsere Frauen” (Kadınlarımız) spricht von der aktiven Teilnahme
der Frauen am Befreiungskrieg von 1919 bis 1922. Es zeichnet die ungewöhnliche
Sichtweise eines Mannes auf die Frauen nach, der genau und mit lyrischer Intensität ihre
Wanderung und ihr Schicksal schildert.
Es fuhren Ochsenkarren unter dem Mond,
Ochsenkarren fuhren über Akşehir in Richtung Afyon.
Der Weg war so unendlich,
Die Berge so weit,
Als würden die, die unterwegs waren,
Niemals irgendein Ziel erreichen.
Die Ochsenkarren liefen mit ihren Rädern aus Eichenholz,
Und sie waren
Die ersten Räder, die sich unter dem Mond drehten.
Unter dem Mond waren die Ochsen
So winzig und kurz,
Als kämen sie von einer anderen und sehr kleinen Welt,
Und es lag Glanz auf ihren kranken, gebrochenen Hörnern,
Und was unter ihren Füßen floss, war Erde
Erde
Und Erde.
Die Nacht war hell und warm,
Und auf den Holzbetten der Ochsenkarren lagen die dunkelblauen Granaten
Vollkommen nackt.
Und die Frauen,
Sich voreinander verbergend,
Sahen unter dem Mond
Auf die Ochsen- und Räderleichen,
Die von vorhergegangenen Zügen übrig geblieben waren.
Und die Frauen,
Unsere Frauen:
Mit ihren Angst verbreitenden und gesegneten Händen,
174
Mit ihren zierlichen, kleinen Kinnen,
Ihren großen Augen,
Unsere Mütter, unsere Weiber, unsere Geliebten,
Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten,
Und deren Platz am Esstisch erst nach unseren Ochsen kommt,
Und die wir auf die Berge entführen,
Derentwegen wir im Gefängnis sitzen,
Und die beim Getreide, beim Tabak, beim Holz und auf dem Markt sind,
Und die vor den Holzpflug gespannt werden,
Und die in den Koppeln
Im Licht der in die Erde gestoßenen Messer
Mit ihren geschmeidigen, schweren Hüften
Und ihrem Zierrat unser werden,
Unsere Frauen.
Jetzt unter dem Mond,
Hinter den Ochsenkarren und Kartuschen
Waren sie,
Als zögen sie Halme mit Ähren aus Bernstein auf den Dreschplatz,
In derselben Unbeschwertheit des Herzens,
In derselben müden Vertrautheit.
Und auf dem Stahl des 15-cm- Schrapnells
Schliefen Kinder mit dünnen Hälsen.
Und unter dem Mond
Liefen die Ochsenkarren über Akşehir in Richtung Afyon. 492
Nâzım Hikmet / Übersetzer Feridun Korkmaz
Die Frauen werden im Alltag der türkischen Gesellschaft nicht sonderlich
beachtet. Die Männer betrachten sie gegensätzlich, manchmal als sexuelle Objekte, die
sie entführen und deren wegen sie ins Gefängnis gelangen, und manchmal als
Arbeitsvieh; welches noch hinter dem Rindvieh rangiert. Hier aber rücken die Frauen
in ein ganz anderes Licht. Ohne ihre alltäglichen Pflichten zu vernachlässigen, nehmen
Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 232. Der Text wurde vom Verfasser leicht
bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.
492
175
sie während des Türkischen Befreiungskrieges eine bedeutende Rolle ein. Trotz ihrer
Schwäche und Müdigkeit sind sie die verlässlichen Helferinnen der Kämpfer, die
hinter der Front eine logistische Meisterleistung erbringen und dennoch ihre Kinder
nicht vergessen. Nâzım Hikmet prangerte Zeit seines Lebens die beklagenswerte
patriarchalische Denkweise an und hob immer wieder die Bedeutung der Frauen in der
türkischen Gesellschaft hervor.
Das Gedicht „Unsere Frauen” (Kadınlarımız) schildert eine Nachtszene. Sie
wird geprägt durch mehrere Gegensätze. Der Zug geht zur Front bei Afyon;
gleichzeitig erscheint er aber unendlich lang und wie ohne Ziel. Im Zuge stehen sich
uralte bäuerische Vehikel, die Ochsenkarren, mit ihren aus einem Baumstamm
gesägten Rädern, und die moderne Kriegstechnologie der Geschützgranaten
gegenüber. Selbst die Frauen sind von Gegensätzen erfüllt. Einerseits gehen sie mit
den Granaten wie mit nackten kleinen Kindern um, andererseits schlafen ihre Kinder
mit den dünnen Hälsen, als seien sie Teil der Granatenladung. Die Frauen selbst geben
den Männern Rätsel auf. Ihre Hände erregen sowohl Furcht als dass sie auch Segen
spenden. Sie sind Geschöpfe der Erde und arbeiten mit ihr. Gleichzeitig bieten sie den
Männern erotische Anziehung und Erfüllung. Die Ambivalenz der sozialen Stellung
der Frauen bleibt bis zum Ende des Textes erhalten. Sie sind unentbehrliche
Helferinnen im Krieg der Männer und ebenso, in einem sehr schroffen Bild,
erniedrigte Kreaturen, denn sie sterben ohne wirklich gelebt zu haben. Nâzım Hikmet
hat die Kraft, solche Oppositionen nicht gefällig aufzulösen.
Es ist kein Zufall, dass Ruhi Su aus den Tausenden von Gedichten Nâzım
Hikmets gerade auch dieses ausgewählt hat, um es zu vertonen. Ruhi Su vermeidet
bewusst das übliche pathetische Lob des Krieges und des männlichen Heldentums.
Ihm geht es um Anderes und Wahrhaftigeres: die Melancholie der jungen Soldaten, die
nicht mit der Rückkehr aus dem Krieg rechnen können, den schweigenden und
dennoch kraftvollen militärischen Einsatz der Frauen und schließlich ihre Ergebenheit
in das Schicksal, in einer von Männern beherrschten Gesellschaft einen niedrigen Platz
zu haben.
176
„Kadınlarımız”
Ayın altında kağnılar gidiyordu.
Kağnılar gidiyordu Akşehir üstünden Afyon’a doğru.
Toprak öyle bitip tükenmez,
dağlar öyle uzakta,
sanki gidenler, hiçbir zaman,
hiçbir menzile erişmeyecekti.
Kağnılar yürüyordu yekpare meşeden tekerlekleriyle.
Ve onlar
ayın altında dönen ilk tekerlekti.
Ayın altında öküzler,
başka ve çok küçük bir dünyadan gelmişler gibi
ufacık,
kısacıktılar,
ve pırıltılar vardı hasta kırık boynuzlarında,
ve ayakları altında akan
toprak
toprak
ve topraktı.
Gece aydınlık ve sıcak
ve kağnılarda tahta yataklarında,
koyu mavi humbaralar çırılçıplaktı.
Ve kadınlar,
birbirlerinden gizleyerek
bakıyorlardı ayın altında,
geçmiş kafilelerden kalan öküz ve tekerlek ölülerine.
Ve kadınlar
bizim kadınlarımız:
korkunç ve mübarek elleri,
ince küçük çeneleri, kocaman gözleriyle
anamız, avradımız, yârimiz,
ve sanki hiç yaşamamış gibi ölen
ve soframızdaki yeri
177
öküzümüzden sonra gelen,
ve dağlara kaçırıp uğrunda hapis yattığımız
ve ekinde, tütünde, odunda ve pazardaki
ve karasabana koşulan
ve ağıllarda,
ışıltısında yere saplı bıçakların,
oynak, ağır kalçaları ve zilleriyle bizim olan
kadınlar,
bizim kadınlarımız.
Şimdi ayın altında,
kağnıların ve hartuçların peşinde,
harman yerine kehribar başaklı sap çeker gibi,
aynı yürek ferahlığı,
aynı yorgun alışkanlık içindeydiler.
Ve on beşlik şarapnelin çeliğinde,
ince boyunlu çocuklar uyuyordu.
Ve ayın altında
kağnılar yürüyordu, Akşehir üstünden Afyon’a doğru.
Nâzım Hikmet
178
9.1.4
„Die schwarze Schlange“ (Karayılan)
Steigt aufs Pferd, die Zügel in der Hand,
An seiner Front kennt er keine Niederlage,
Innerhalb des Freischärler eine wilde schwarze Schlange.
Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!
Ich ziehe und ziehe die Zügel, das Zugpferd läuft nicht,
Die französischen Kugeln erreichen den Helden nicht,
Grüßt meine wehmütige Mutter von mir.
Die Mütter haben solche Kinder in die Welt gesetzt!
Schwarze Schlange sagt, lasset uns in den Kampf ziehen,
Lasset uns aus Kilis‘ Straßen Köpfe holen,
Lasset uns töten, wo es Feinde gibt.
Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!
Volkslied
179
„Karayılan”
Atına binmiş de elinde dizgin,
Vardığı cephede hiç olmaz bozgun,
Çeteler içinde Yılan’ım azgın.
Vurun Antepliler, namus günüdür!
Sürerim sürerim, gitmez kadana,
Fransız kurşunu değmez adama,
Benden selam söylen nazlı anama,
Analar da böyle yavru doğurmuş!
Karayılan der ki harbe oturak,
Kilis yollarından kelle getirek,
Nerde düşman varsa orda bitirek,
Vurun Antepliler namus günüdür!
Halk Türküsü
„Die schwarze Schlange“ (Karayılan) war einer der Helden des türkischen
Befreiungskrieges, der aus den Reihen des einfachen Volkes, möglicherweise der
Kurden,
493
kam. Er schloss sich nacheinander mehreren Guerillagruppen an, die gegen
die Besatzungsmächte kämpften. Seine Heldentaten wurden in einem anonymen
Volkslied besungen, welches Nâzım Hikmet in sein Buch aufnahm. 494 Traditionell
vollbringen solche Volkshelden, die oft sehr einfacher Herkunft sind und den Mut erst
beim Kämpfen erwerben, große Taten, zu welchen sie auch ihre Kampfgenossen
anfeuern. Traditionell ist auch ihre Unverwundbarkeit.
493
494
Vgl. oben Kap. 2.6.2 .
HİKMET, Nâzım: Kuvay-i Milliye Destanı (1986): 13-20.
180
9.1.5
„Die Große Offensive“
Eine der entscheidenden militärischen Operationen des Befreiungskrieges nimmt
Nâzım Hikmet zum Stoff eines bedeutenden Gedichtes, das auch wie kein anderes die
Person Mustafa Kemals feiert, der geradezu in die Gestalt eines mythischen Totemtieres
der Türken verwandelt wird, indem er ihn als blonden Wolf mit funkelnden blauen
Augen und überirdischer Sprungkraft zeichnet. Der militärische Hintergrund ist wie folgt:
Im August 1922 kam der Vormarsch der Griechen zum Stillstand und die türkische
Armee ging unter dem Oberbefehl von Mustafa Kemal in die Offensive. Ende August
gewannen die Türken Afyon zurück. Vernichtend geschlagen flohen die Griechen an die
Küste.
Zu
den
Liedern
über
den
Befreiungskampf
zählen
„Unsere
Frauen“
(Kadınlarımız), „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü) und „Die Große Offensive“
(Büyük Taarruz). Ruhi Su hat mit der Vertonung der „Großen Offensive“ versucht,
Nâzım Hikmet vom Ruf des Vaterlandsverräters zu befreien, den ihm die rechten Kräfte
und der Staat anzuhängen versuchten. Wie konnte ein Mensch Verräter sein, der sich über
den Befreiungskampf derart begeistert äußert, sein Land mit einem wertvollen Teppich
vergleicht und Mustafa Kemal glorifiziert? Wer so zu seinem Land und zu seiner
heroischen Geschichte steht, liebt die Türkei. Ruhi Su will offenbar den Ruhm des
Befreiungskampfes dem patriotischen Volk und nicht den nationalistischen Rechten
überlassen.
181
„Die Große Offensive“
In den Bergen brannten vereinzelt Feuer,
Und die Sterne waren derart überhell, derart fröhlich,
Dass der Mann mit dem Wollkalpak
An die schönen und ruhigen Tage glaubte,
Ohne zu wissen, wie und wann sie kommen würden
Und er stand mit seinem lachenden Schnurbart neben
seinem Mausergewehr.
Plötzlich sah er ihn fünf Schritte weiter rechts,
Die Generäle standen hinter ihm,
Er fragte nach der Zeit,
Die Generäle sagten „Drei Uhr.“
Er sah aus wie ein blonder Wolf
Und seine blauen Augen funkelten und funkelten,
Er lief bis an den Abgrund,
Beugte sich vor und blieb stehen.
Wenn man ihn ließe,
Würde er mit seinen schlanken Beinen federnd,
Und wie eine nächtliche Sternschnuppe fliegend,
Von Kocatepe in die Ebene von Afyon springen.
Nâzım Hikmet
182
„Büyük Taarruz”
Dağlarda tek
tek
ateşler yanıyordu.
Ve yıldızlar öyle ışıltılı, öyle ferahtılar ki
şayak kalpaklı adam,
nasıl ve ne zaman geleceğini bilmeden,
güzel, rahat günlere inanıyordu
ve gülen bıyıklarıyla duruyordu ki
mavzerinin yanında,
birdenbire beş adım sağında onu gördü.
Paşalar onun arkasındaydılar.
O saati sordu.
Paşalar: “Üç”, dediler.
Sarışın bir kurda benziyordu,
mavi gözleri çakmak çakmaktı.
Yürüdü uçurumun başına kadar,
eğildi, durdu.
Bıraksalar,
ince, uzun bacakları üstünde yaylanarak
ve karanlıkta akan bir yıldız gibi kayarak
Kocatepe’den Afyon ovasına atlayacaktı.
Nâzım Hikmet
183
9.2
Yunus Emre (1971)
9.2.1
Ruhi Sus Verständnis von Yunus Emre
Yunus Emre war der bedeutendste Dichter des mystischen Sufismus im Anatolien
des frühen 13. Jahrhunderts. Zur Wiederentdeckung Yunus Emres trug maßgeblich Fuad
Köprülü mit seiner Studie Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar (1919) bei, der eben den
Anteil des Dichters am Sufismus herausarbeitete. 495 Ruhi Su kannte diese Studie und
schätzte sie ebenso wie Aziz Nesins Untersuchung über Nasreddin Hoca, in welcher
dieser die Mystiker in zwei Kategorien unterteilt: nach außen gewandte wie Nasreddin
Hoca und nach innen gewandte wie Mevlânâ. Yunus Emre ist nicht so ironisch wie
Nasreddin Hoca, doch auch nicht so volksfern wie Mevlânâ. Ruhi Su zitiert Nesin und
empfindet Emres Volkstümlichkeit so stark, dass er behauptet, Yunus Emre würde immer
noch nach Volk riechen, selbst wenn man ihn vierzig Tage in Wasser koche. Vielleicht
sei Yunus Emre nur gegenüber Gott niemals rebellisch gewesen, aber er sei stets ein
Gegner von Herren und Tyrannen geblieben. 496 Su zitiert die Verse Yunus Emres:
Verschwunden war der Anstand der Herren,
Gitti Beyler mürveti
Sie saßen auf Pferden.
Binmişler birer atı.
Sie aßen das Fleisch des Armen,
Yediği yoksul eti,
So sei Blut ihr Getränk!
İçtiği kan olusalar!
Yunus Emre
Widerstand gegenüber den Herren und Tyrannen und Liebe zum Volk habe
immer schon als Straftat gegolten. Es habe Mollas gegeben, welche die Gedichte Yunus
Emres zerrissen wegen ihrer angeblichen Feindschaft gegenüber der Scharia, und auch
Nach Sabahattin Eyuboğlu ist Burhan Toprak der erste türkische Intellektuelle, der Yunus Emre ernst
nahm und ihn aus einer westlichen Perspektive der Lyrik gewürdigt hat. Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin:
Yunus Emre (1981):9.
Aus der reichen Literatur zu Yunus Emre siehe KÖPRÜLÜ, Fuad: Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar
(1966); TOPRAK, Burhan: Yunus Emre Divanı (1933); GÖLPINARLI, Abdülbaki: Yunus Emre Divanı
(1943-1948): ÇİÇEKLİ, Ali: Yunus Emre (1971); EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1972); YAĞCI,
Öner: Yunus Emre, Yaşamı ve Şiirleri (2006); ÖZTELLI, Cahit: Yunus Emre, Özgür Yayınları (2009):
KRAFT, Gisela: Yunus Emre – Pir Sultan, Mit Bergen Mit Steinen (1981); SCHIMMEL, Annemarie:
Yunus Emre (1991); ŞENOCAK, Zafer: Yunus Emre-Das Kummerrad (Ohne Jahresangabe); FUAT,
Memet: Yunus Emre (2001) sowie KUDRET, Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 1, Yunus Emre (2003).
Die Übersetzungen der Gedichte Yunus Emres stammen vom Verfasser mit Hilfe der hier genannten Bände
von Gisela Kraft, Annemarie Schimmel und Zafer Şenocak.
496
Vgl. SU Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, Auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“
(1971).
495
184
Personen, wie den obersten religiösen Führer der Muslime, Ebu Suud Efendi, welche eine
Todesfatwa erlassen hätten für die Sänger von Yunus Emres Liedern (ilâhi). Es sei nicht
verwunderlich, dass ein beim Volk derart beliebter Dichter Ärger bekommen habe.
Obwohl sein Name Aşık Yunus gewesen sei, der auf seine Volkstümlichkeit hingewiesen
habe, habe man von ihm behauptet, er sei kein Volkssänger gewesen und in der Kultur
der Medressen aufgewachsen; dies bedeute, dass die Größe und das Gewicht Yunus
Emres bloß aus seiner Bildung resultierten. Von den islamischen Gelehrten habe keiner
überdauert, doch Yunus lebe in den Herzen und in der Sprache der Menschen bis heute
weiter. Falls es wirklich einen vom Volk nicht verstandenen Yunus gegeben habe, so
habe dieser dennoch überdauert, weil es eine Anzahl von „Yunusen“, gegeben habe, die
vom Volk verstanden wurden. Sein Fortleben würden wir auch den unbekannten
Künstlern verdanken, die seine İlahis sangen. Es sei eines, den Sufismus mit seinen
Begriffen, Beschreibungen und Symbolen zu begreifen und ein anderes, den großen
Künstler und Dichter Yunus Emre zu verstehen. 497
Ruhi Su steht in seiner praktischen Lebenshaltung in der Tradition Yunus Emres.
Yunus trug jahrelang Holz in das Kloster, in dem er vierzig Jahre diente, und achtete
darauf, dass jedes Holz grade war. Schiefes Holz in das Derwischkloster zu tragen, kam
für ihn nicht in Frage. Ruhi Su führte ein ähnlich monastisches Leben, mit dem
bedeutenden Unterschied, dass er es keiner Gottheit, sondern seiner Kunst widmete. Er
trank weder einen Tropfen Alkohol, noch nahm er jemals eine Zigarette in den Mund. Er
vergaß seine Pflichten nicht, gleich wo er war. Mit seiner ganzen Identität und Kraft
diente er seiner Kunst. In seinen Augen war das Spielen der Saz und das Singen der
Türküs eine Art Gottesdienst. Die Türkü war für ihn ein Tempel und er war ein treuer
Diener. 498
Nicht nur in der Lebensweise, sondern auch in der Art, wie Türküs vorgetragen
wurden, ist eine Parallelität zwischen Ruhi Su und Yunus Emre unverkennbar. Ein Zitat
soll dies verdeutlichen: „Ruhi Su hat Yunus Emre aus der Luft, dem Wasser, dem Boden,
dem Feuer, den Sprachen und Herzen gesiebt, ihn ausgesucht und ausgelesen, ihn
gewaschen und gereinigt und ihn wie ein Stimmdenkmal aufgestellt. Man kann kaum
glauben, dass die Stimme eines Menschen so warm, so packend, beeindruckend und
treffend sein kann. In ‚Yunus Emre‘ ist nicht nur die Stimme Ruhi Sus kräftig und
vielseitig, sondern auch seine Saz. Ruhi Su, Yunus Emre oder Yunus Su, Ruhi Emre. Wie
497
Vgl. Ebd.
Vgl. ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 226 (März 1971): 7-12. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 59.
498
185
Yunus sagte: „Ich wickelte mich in Fleisch und Knochen / Zeigte mich als Yunus.“ (Ete,
kemiğe büründüm / Yunus diye göründüm) Der Satz kann auch so lauten: „Ich wickelte
mich in Saz und Stimme / Zeigte mich als Ruhi Su.“ (Saz’a, söze büründüm / Ruhi Su
diye göründüm) 499
Ruhi Su erklärt seine Auswahl der İlahis von Yunus Emre damit, dass er solche
nahm, die auf Türkisch verfasst waren und die vom Volk in der Art von Türküs gesungen
wurden. 500
Ruhi Su wusste sehr genau, dass bei Yunus Emre die Liebe und Schöpfungskraft
in einzigartiger Weise erkennbar sind. Beide werden in einer Ganzheit von Denken und
Glauben gesehen und in dem Thema „Mensch“ vereinigt. Die Auffassung, dass Yunus
Emre ausschließlich Vorkämpfer des Sufismus gewesen sei, mag man bestreiten.
Dennoch lässt sich behaupten, dass er vielmehr die Idee einer humanen aufgeklärten
Gesellschaft vertrat. Yunus Emre erinnert die Menschen an die Freundschaft und an die
Endlichkeit ihrer Welt :
Lasst uns Freunde werden
Gelin tanış olalım
Lasst uns die Arbeit leichter machen
İşi kolay kılalım
Lasst uns lieben und geliebt werden
Sevelim sevilelim
Diese Welt bleibt niemandem
Bu dünya kimseye kalmaz
Yunus Emre
Er betrachtet den Hass als Feind und glaubt an die Brüderlichkeit und Gleichheit aller
Menschen:
Gegenüber niemandem hegen wir Groll
Biz kimseye kin tutmayız,
jeder Mensch ist gleich für uns.
Kamu alem birdir bize. 501
Yunus Emre
Er hält die Liebe und die Menschheit hoch und vergöttlicht sie. Gott holt er in das Herz
der Bescheidenen, der Menschheit und zu der Liebe herunter: 502
KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: Toplum (8. Nov. 1972). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya
Saygı (1986): 64.
500
SU, Ruhi: SU, Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“
(1971).
501
EYUBOĞLU, Sabahattin:Yunus Emre (1972): 29. Für das vollständige Gedicht siehe ebd. 102.
502
Vgl. Ebd.: 5.
499
186
Suchst du Gott, dann such ihn in deinem Herzen,
Ararsan Mevlâ’yı kendinde ara,
Er ist nicht in Jerusalem, Mekka oder der Hadsch.
Kudüs’te Mekke’de, Hac’da değildir. 503
Yunus Emre
Ruhi Su bevorzugte jenen Yunus Emre, der in der Sprache des Volkes lebte, der
Türkisch sprach und dessen Gedichte wie Türküs gesungen wurden. Er bewunderte ihn
als einen, der die Welt liebte und das Glück auf der Welt suchte, der die Brüderlichkeit
und Einheit innerhalb des Volkes sowie die „Gleichheit der 72 Nationen“ anstrebte. 504
Yunus Emre war für ihn ein kulturelles Erbe, das auf gar keinen Fall in die Hand der
Rechten fallen durfte.
Ruhi Su beginnt mit einem İlahi (Gebetshymne) Yunus Emres, das früher auch an
Schulfesten gesungen wurde: 505
9.2.2
„Die Flüsse dieses Paradieses“
„Şol Cennetin Irmakları“
Die Flüsse dieses Paradises
Şol cennetin ırmakları
Fließen und sagen stets „Allah.“
Akar „Allah“ deyu deyu.
Die Nachtigall des Islam
Çıkmış İslam bülbülleri
Singt und sagt stets „Allah.“
Öter „Allah“ deyu deyu.
Yunus Emre
9.2.3
„Deine Liebe nahm mich von mir“
„Aşkın Aldı Benden Beni“
Deine Liebe nahm mich von mir,
Aşkın aldı benden beni,
Dich brauche ich, dich.
Bana seni, gerek seni.
Ich brenne, gestern und heute,
Ben yanarım dünü, günü,
Dich brauche ich, dich.
Bana seni, gerek seni.
Ich bin nicht froh über den Reichtum,
Ne varlığa sevinirim
Bin nicht traurig über die Armut,
Ne yokluğa yerinirim,
Finde Trost in deiner Liebe,
Aşkın ile avunurum
Dich brauche ich, dich.
Bana seni, gerek seni.
503
Siehe unten Kap. 9.2.4.
Vgl. SU, Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“
(1971).
505
Vgl. Ebd.
504
187
Yunus ist mein Name,
Yunus’durur benim adım
Von Tag zu Tag vermehrt sich mein Feuer,
Gün geçtikçe artar odum,
Ich suche dich in zwei Welten,
İki cihanda maksudum,
Dich brauche ich, dich.
Bana seni, gerek seni.
Yunus Emre
Yunus Emre klagt, dass die Liebe Gottes die Einheit seines eigenen Menschseins
geteilt hat und dass er Gottes Hilfe braucht, um diese Einheit zurück zu gewinnen. Weder
Reichtum noch Armut kümmern ihn; die Sehnsucht nach Gott erfüllt ihn mit Feuer und
seine Suche treibt ihn durch Diesseits und Jenseits.
9.2.4
„Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf“
Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf und nicht in der Krone,
Feuer gibt die Wärme, nicht das Backblech.
Falls du das Herz eines Frommen brichst,
Werden deine Gebete nicht erhört.
Suchst du Gott, dann suche ihn in deinem Herzen,
Er ist nicht in Betlehem, Mekka oder der Hadsch.
Nimm die weisen Worte Yunus an,
Du wirst es rasch verstehen, es wird nicht zu spät sein.
Yunus Emre
„Dervişlik Baştadır“
Dervişlik baştadır, taçta değildir,
Isılık oddadır, sacda değildir.
Eğer bir müminin kalbin yıkarsan,
Hakka eylediğin secde değildir.
Ararsan Mevlâ’yı, kendinde ara,
Kudüs’te, Mekke’de, Hac’da değildir.
Kabul et Yunus’un ergen sözünü,
Tezcek gelir başa, geç de değildir.
(Yunus Emre)
188
Yunus Emre warnt ein menschliches Gegenüber vor der Überschätzung des
Äußeren. Wesentlich sind die inneren oder auch unsichtbaren Dinge: das Derwischtum
im Kopf, das Feuer unter dem Backblech, die Frömmigkeit im Herzen. Gott selbst soll er
nicht an traditionellen Pilgerstätten suchen, sondern in sich selbst. Solche Abkehr von der
äußeren Welt ist eine essentielle Haltung der Sufis.
9.2.5
„Ich bin der Anfang und das Ende“
„Evvel Benem Ahir Benem“
Ich bin der Anfang und das Ende,
Evvel benem, ahir benem,
Ich bin das Leben der Lebenden,
Canlara can olan benem,
Für alle Sünder auf dem Weg
Azıp yolda kalmışlara,
Bin ich die schnelle Hilfe.
Hızır medet eren benem.
Ich gab vielen Befehle,
Bir niceye verdim emir,
Verbrachte mein Leben an der Macht.
Devlet ile sürdüm ömür
Die brennende Kohle, das glühende Eisen
Yanan kömür, kızan demir
Bin ich, der den Hammer auf den Amboss schlägt.
Örse çekiç salan benem.
Es ist nicht Yunus, der dies sagt,
Yunus değil bunu diyen,
Das Wort ist es, das es sagt.
Kendiliğidir söyleyen,
Wer nicht glaubt, ist bestimmt ein Ketzer.
Mutlak kâfir inanmayan,
Ich bin der Anfang und das Ende.
Evvel ahir heman benem.
Yunus Emre
Das Lied spricht von einer Macht, welche Anfang und Ende umfasst, also ohne
Grenzen ist. Gleichzeitig ist diese Macht der Mittelpunkt der Menschen; sie gibt ihnen
Leben, sie rettet die Sünder. Die Macht übte Herrschaft und Kraft aus, wie das Bild von
der Schmiede andeutet. Man kann fragen, wer solche Aussagen macht. Yunus verleugnet
aus Bescheidenheit seine Autorenschaft und verweist auf das Wort selbst als Sprecher.
Rational ist das Wort als Sprecher nicht zu verstehen, sondern als mystische Sprechweise.
189
9.2.6
„Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst”
In dem Lied „Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst” (Ya İlâhi ger sual et sen
bana) klagt Yunus Emre Gott in der Figur des Padişah an: Yunus Emre fügt Gott kein
Leid zu, denn dessen Macht übertrifft die menschliche in allen irdischen Bereichen. Der
Dichter lehnt sich gegen Gott auf und fordert von ihm eine Art Rechenschaft für was ihm
widerfahren ist. In einem weltlichen Sinne fühlt und denkt Ruhi Su durchaus ähnlich:
Auch er kann sich mit dem Unrecht auf dieser Welt nicht zufrieden geben, sondern bis in
die von ihm komponierte Melodie und bis in eine rebellische Stimmführung hält er am
Protest fest.
Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst,
Dann sag’ich dir meine Antwort sofort.
Ich sündigte, tat mir selbst Grausames an,
Was aber tat ich dir Padişah?
Fehlt dir denn etwas an deiner Habe?
War meine Macht etwa größer als deine?
Aß ich dein täglich’Brot, ließ dich hungern?
Aß ich die Mahlzeit dein, ließ sie dir nicht?
Gar nichts kann Yunus dir antun,
Du erkennst das Verborgene klar.
Soviel Geschrei um ein bißchen Erde (die von uns bleibt)!
Wozu, ach wozu, ist das gut, großer Gott? 506
Yunus Emre
506
Übersetzung: REINHARD, Ursula und PINTO, Tiego de Oliveira: Sänger und Poeten mit der Laute,
Türkische Aşık und Ozan (1989): 15. Interpunktion des Verfasser.
190
„Ya İlâhi, Ger Sual Etsen Bana”
Ya İlâhi, ger sual etsen bana,
Cevabım işbu durur anda sana.
Ben bana zulmeyledim, ettim günah.
Neyledim nettim sana ey Padişah?
Nesne eksildi mi mülkünden senin?
Geçti mi hükmüm ya hükmünden senin?
Rızkını yeyip seni aç mı kodum?
Ya yeyip öynümü muhtaç mı kodum?
Hiç Yunus’tan değdi mi sana ziyan?
Sen bilirsin âşikâre vu nihân.
Bir avuç toprağa bunca kıyl-ü kaal!
Neye gerek, ey kerim ü zül-celâl?
Yunus Emre
191
9.2.7
„Warum seufzt du, Wasserrad?“
„Dolap Niçin İnilersin?“
Warum seufzst du, Wasserrad?
Dolap niçin inilersin?
Weil ich leide, muss ich seufzen.
Derdim vardır inilerim.
Ich habe mich in Gott verliebt,
Ben Mevlâ’ya aşık oldum,
Darum muss ich seufzen.
Anın için inilerim.
Mein Name ist Rad des Schmerzens,
Benim adım dertli dolap,
Strahlend rinnt mein Wasser,
Suyum akar yalap yalap,
So befohlen hat es Gott.
Böyle emreylemiş Çalap.
Weil ich leide, muss ich seufzen.
Derdim vardır inilerim.
Man fand mich auf einem Berg,
Beni bir dağda buldular,
Schnitt mir die Arme und Flügel ab,
Kolum kanadım yoldular,
Ich sei geeignet für ein Wasserrad.
Dolaba layık gördüler
Weil ich leide, muss ich seufzen.
Derdim vardır inilerim.
Man stutzte mir die Äste,
Dağdan kestiler hezenim,
Verdarb meine vielfältige Gestalt,
Bozuldu türlü düzenim,
Ich bin ein nimmermüder Dichter.
Ben bir usanmaz ozanım.
Weil ich leide, muss ich seufzen.
Derdim vardır inilerim.
Ich schaufle das Wasser von unten,
Suyum alçaktan çekerim,
Drehe und bringe es nach oben,
Dönüp yükseğe dökerim,
Schaut, was ich alles trage.
Görün ben neler çekerim.
Weil ich leide, muss ich seufzen.
Derdim vardır inilerim.
Yunus Emre
Auch in diesem Text bringt Yunus Emre zum Ausdruck, dass die Liebe zu Gott
viel Leid mit sich bringt, dass den Dichter aus ganzem Herzen seufzen lässt.
Metaphorisch kleidet er diese seelische Verfassung in das Bild eines hölzernen
Wasserrades, ein Bild, dass für dieses Gedicht konstitutiv ist. Er sieht sich als Dichter,
der wie ein Wasserrad eine große, aber auch stets erneuerte Last ans Licht bringt. Wie das
192
hölzerne Wasserrad hatte auch er eine frühere Existenz. Er war ein Baum, dessen Gestalt
für den neuen Dienst verstümmelt wurde, in dem er jetzt leidet und seufzt. 507
507
Dieses mehrdeutige Gedicht lässt viele Interprätationsmöglichkeiten zu, von denen der Verfasser eine
vorgestellt hat. Andere Ansätze finden sich bei KRAFT, Gisela: Yunus Emre / Pir Sultan Abdal, Dağlar ile
Taşlar ile / Mit Bergen mit Steinen (1981) und bei BAYKURT, Fakir: Dost Yüzleri (2002): 209.
Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Von Gott geschickter Trank”
(Haktan Gelen Şerbeti); „Komm zu einem Şah” (Gel Bir Şah’a); „Wem das Derwischtum geschenkt wird”
(Her Kime Kim Dervişlik Bağışlana); „Hey Du Bruder” (Be Hey Kardeş); „Du Aşık, ich habe dir ein Wort
zu sagen” (Aşık Sana Bir Sözum Var); „Unter der Erde der gelbe Ochse”(Yeraltında Sarı Öküz) und „Die
auf die trügerische Welt Kommenden und sie Verlassenden” (Yalancı Dünyaya Konup Göçenler).
193
9.3
Karacaoğlan (1972)
Ruhi Su wollte die Lieder Karacaoğlans möglichst vollständig sammeln. Auf
seiner Suche reiste er in den Südosten der Türkei, in die Gegenden von Antalya bis
Gaziantep, in den Taurus und vornehmlich nach Orten wie Kadirli, Osmaniye, Haruniye,
Feke und Saimbeyli. 508 Er spricht über seinen Umgang mit den aufgenommenen Liedern
wie folgt:
Niemals wollte ich, was Artikulation und Vortragsweise angeht, das Volk
nachahmen. Nachahmung verdirbt das Ursprüngliche. Genaue Nachahmung
bringt nichts ein und sie ist ohnehin nicht möglich. Das Volk verfährt auch so;
jeder fügt seinen Anteil hinzu. Ich füge auch meinen Anteil hinzu, er ist keine
neue Erfindung, er steht mir zu, denn ich bin auch Teil des Volkes.509
An dieser Stelle bezieht Ruhi Su sich auf Yaşar Kemal, der auch ein Sammler der
Gedichte Karacaoğlans war. Kemal betrachtet Karacaoğlan als einen der großen Meister
der türkischen Lyrik wie Yunus Emre und Pir Sultan Abdal. Vermutlich lebte er im 17.
Jahrhundert. Die Wurzeln Karacaoğlans gehen, nach Yaşar Kemal, noch weiter zurück,
nämlich in das 15. Jahrhundert, der Zeit der Entstehung des Epos „Dede Korkut.“ In
Yaşar Kemals Jugend habe es in der Çukurova vier junge Männer gegeben, die unter dem
Namen „Karacaoğlan“ Gedichte vortrugen und sangen. Das Volk habe alle von ihm
geliebten Gedichte Karacaoğlan zugeschrieben. Auch wenn wir heute die Gedichte
Karacaoğlans läsen, würden wir die Haltung des Volkes aus der Çukurova zu der Welt
erkennen. Wir würden alle Einstellungen zum Tod, der Grausamkeit, der Liebe, dem
Leid, der Freundschaft, der Trennung, der Armut, der Sehnsucht und der Fremde finden.
Große Persönlichkeiten, die mit dem Volk lebten, seien zum Sprachrohr des Volkes
geworden. Das Volk habe diese Dichter in sich aufgenommen. Auch in der Stimme Ruhi
Sus fände man alle menschlichen Gefühle, den Tod, die Trennung, die Liebe, die
Grausamkeit und die Naturschönheiten als neu erschaffene wieder. 510 Yaşar Kemal
verdeutlicht, dass Ruhi Su, der ebenso wie Karacaoğlan aus der Çukurova stammte, den
Gedichten Karacaoğlans einen ganz neuen Charakter gab.
SU, Ruhi im Gespräch mit MUTLUAY, Rauf: Ruhi Su’dan Karacaoğlan, Cumhuriyet (12. Dez. 1972).
In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 105-106.
509
Ebd.: 105.
510
Siehe KEMAL, Yaşar: Auf der inneren Seite der Hülle der Schallplatte „Karacaoğlan” (1972).
Siehe auch BAŞGÖZ, İlhan: Karacaoğlan: (1984) ; ÖZTELLİ, Cahit: Karacaoğlan (2012); KUDRET,
Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 3, Karacaoğlan (2003); YAĞCI, Öner: Karacaoğlan, Yaşamı ve Şiirleri
(2006) sowie BORATAV, Pertev Naili: Güney Şairleri. Ankara Üniversitesi Haftası, Hatay (1944). In
BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 19-39.
508
194
Ob er nun Liebeslieder Karacaoğlans oder Liedern dieser Art aus einer anderen
Region vortrug, immer konnte man ein schelmisches Lächeln Ruhi Sus sehen, das
vielleicht bedeutete, er habe sich selbst gern in der Rolle des Liebhabers gesehen. Diese
Art der Zuneigung zu Frauen reizte ihn, wie sie wohl auch Karacaoğlan gereizt hatte,
weil darin eine kleine Frechheit, aber auch eine Prise Humor lag.
Hüseyin Erdem zeichnet ein persönliches und freundschaftliches Bild des
Sängers. Wenn Ruhi Su begann, Türküs zu singen, hörten alle ehrfurchtvoll zu.
Insbesondere vergaßen die Frauen ihre anwesenden Männer; sie setzten sich sozusagen
auf die Flügel seiner Stimme und ließen sich davontragen. Dies war eine platonische
Liebe. Ruhi Su aber flüchtete vor den Frauen, weil er Zeit für seine Kunst brauchte. Er
liebte das Schöne und hatte Respekt vor ihm. Die Liebe in den Türküs genügte ihm.
Wenn in einem Türkü Schönes über eine Frau gesagt wurde, und eine Frau anwesend
war, dann schaute er in ihre Augen, während er sang. 511 Er war ein Charmeur, das war
nicht zu übersehen.
Ebenso wenig war zu übersehen, dass Ruhi Su in seinen Türküs indirekt auf
Themen anspielte, die zu den tatsächlichen Gegebenheiten des Lebens in der Türkei
gehörten, zu nennen sind etwa die Frühehe und die Zwangsheirat. Das Ansprechen dieser
Tabuthemen
wurde
freilich
im
Allgemeinen
von
den
Verantwortlichen
des
Staatsapparates als sittenwidrig betrachtet und daher, so weit wie möglich, unterbunden.
Im Gegensatz zu diesem prüden Konservatismus glaubte Ruhi Su an menschliche
Grundbedürfnisse, wie Zuneigung vor der Ehe, die man nicht einschränken dürfe, der
Preis werde ein umso größerer Drang zur Freiheit und einer gewissen Keckheit sein. Man
müsse sich nur einen jungen Menschen vorstellen, der seine Liebste verloren hat, weil sie
gezwungen war, einen anderen zu heiraten. Für Ruhi Su überwindet die Kraft der Liebe
alle Schranken und Zwänge. Dies war eine Wahrheit, die man nicht verstecken durfte. 512
Wenn soeben von der Neigung Ruhi Sus zu Freiheit im Umgang der Geschlechter
und einem gewissen Mut zum offenen Wort die Rede war, so findet man eine ähnliche
Haltung in Liebesliedern, welche anonym in der Weise Karacaoğlans oder von dem
frühen Dichter selbst verfasst wurden. Texte, die hier nur in Zitaten erscheinen, bezeugen
solche Ähnlichkeit: Im ersten Text liegt die Frechheit darin, dass die frisch verheiratete
Frau nicht ihren ihr ausgesuchten Ehemann im Kopf hat, sondern einen andern und ihn
grüßen lässt. Im zweiten Text verlangt ein Mann nach einem Gespräch mit einer Braut
kurz vor der Heirat, das seine Gedanken beruhigen soll. Die folgenden drei Texte werden
511
512
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008 in Köln.
Ebd.
195
im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt, weil sie nicht von Karacaoğlan selbst stammen,
sondern in seiner Manier verfasst sind.
a)
„Das kalte Wasser der Alm“
Das kalte Wasser der Alm durchbohrt meine Brust,
Ich bekam einen Gruß von der frisch verheirateten Frau.
Volkslied
„Yaylanın Soğuk Suyu“ 513
Yaylanın soğuk suyu deldi bağrımı deldi,
Üç günlük gelin iken bana selamı geldi.
Halk Türküsü
b)
„Die Braut, die Haselnüsse pflückt“
Die Braut, die Haselnüsse pflückt,
Die Haselnuss darf nicht am Ast bleiben.
Komm, lass uns ein wenig reden,
Damit meine Gedanken nicht immer bei dir sind.
Volkslied
„Fındık Toplayan Gelin”
Fındık toplayan gelin,
Fındık dalda kalmasın.
Gel biraz konuşalım,
Aklım sende kalmasın.
(Halk Türküsü)
Es gibt von dem Lied „Das kalte Wasser der Alm“ (Yaylanın Soğuk Suyu) keine Aufzeichnung.
Das Lied „Die Braut pflückt Haselnüsse“ (Fındık Toplayan Gelin) ist auf der CD mit dem Titel “Sie haben
meine Rose weggeworfen” (Gülüm Dermişler) zu finden, während das Lied „Das bestickte Leinenhemd“
(Keten Göynek Filfilli Nineler) auf einer anderen CD mit dem Titel “Aman Of” (Aman Of), die beide nach
Ruhi Sus Tod von Frau Sıdıka Su veröffentlicht wurden, vorhanden ist.
Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Ihr Herren, ich sah eine
Hübsche” (Ağalar Ben Bir Güzel Gördüm); „Am Strand ging ich zu einer Hübschen“ (Sahilde Uğradım
Ben Bir Güzele); „Heute bekam ich von der Geliebten eine Nachricht“ (Bugün Yardan Haber Geldi); „Hört
zu, ihr Herren“ (Dinleyin Ağalar); Die Reizende, deren gelb-braunen Augen ich liebe (Elâ Gözlerini
Sevdiğim Dilber); Die, ihre weißen Hände beim Laufen Schaukelnde (Ak Ellerini Sala Sala Yürüyen);
„Hallo Veteranen, Hallo Weggefährten (Be Gaziler Be Yoldaşlar) und „Hallo Herren, Hallo Gebildete“
(Bre Ağalar Bre Beyler).
513
196
Wenn Ruhi Su die beiden vorigen und das folgende Lied mit seinem Chor
einstudierte, waren die Chormitglieder sehr überrascht: Der sonst so ernsthafte Künstler
wollte mit lebensbejahenden Texten und fröhlichen Melodien sagen, dass auch in
politisch schlimmen Zeiten die Lebensfreude und sogar die Erotik ihren Platz behalten,
zumal für junge Menschen. Der Film über sein Konzert in Australien im Jahre 1981 zeigt
sehr schön, wie er nach dem Konzert seine Zuhörer in einem privaten Kreis dazu brachte,
Fröhlichkeit mit ihm zu teilen und dieses gemeinsame Singen als Höhepunkt zu
empfinden.
c)
„Das bestickte Leinenhemd“
„Keten Göynek Filfilli Nineler“
Verziertes Leinenhemd
Keten göynek filfilli nineler
Woher hast du diese Mundart?
Nerden aldın bu dili, nineler?
Diese Sprache ist nicht die hiesige Sprache,
Bu dil, buranın del,
Diese Sprache ist die Sprache İstanbuls.
Bu dil, İstanbul dili nineler.
Busen sind verschieden getönt,
Elvan elvan memeler,
Die Knöpfe lassen sich nicht zuknöpfen,
Gavşamıyor düğmeler,
Heute ist der Tag Dienstag,
Bugün günlerden Sali,
Meine Liebste ist eine Basilikumblüte
Yarim ireyhan dali.
Sagt “Maşallah” Brüder,
„Maşallah“ deyin ihvanlar,
Digi digi dav dav digi dav dav.
Digi digi dav dav digi dav dav.
Volkslied
Halk Türküsü
197
9.3.1
„Elif“
Aus dem Leben Karacaoğlans wird erzählt, dass er ein sehr gefühlvoller Dichter
war, ein Meister der Saz, mit der er sogar die stumpfesten Menschen begeistern konnte.
Als man ein Mädchen aus seinem Stamm, das er liebte, mit jemand anderem verheiratete,
ging er in die Fremde. Unterwegs traf er auf einen anderen Stamm, der ihn wegen seiner
meisterlichen Kunst aufnahm. Er verliebte sich in Elif, die Tochter des Stammesältesten.
Das Mädchen verliebte sich ebenfalls in ihn. Als der Älteste sich gegen diese Liebe
stellte, kamen die Stammesmitglieder den Liebenden zur Hilfe, weil sie Karacaoğlan sehr
in ihr Herz geschlossen hatten. Karacaoğlan wurde mit der hübschen Elif verheiratet.
Schon vor der Heirat hatte der Dichter den Stamm mit vielen Liebestürküs
überschüttet. 514 Die folgenden zwei Türküs sind Beispiele dafür.
„Elif“
„Elif“
Der Wind weht vom hohen Berg,
Yüce dağdan bir yel eser,
Weht und sagt „Elif, Elif.“
Eser „Elif Elif“ deyi.
Das wilde Herz hat sich verliebt,
Deli gönül abdal olmuş,
Es läuft umher und sagt „Elif, Elif.“
Gezer „Elif Elif“ deyi.
Elifs Gewand ist gestrickt,
Elif’in uğru nakışlı,
Ihre Blicke sind wie die einer jungen Rohrdommel,
Yavru balaban bakışlı,
Ihr Duft ist wie der einer Almblume,
Yayla çiçeği kokuşlu,
Sie duftet und sagt „Elif, Elif.“
Kokar „Elif Elif“ deyi.
Elif runzelt die Stirn,
Elif kaşlarını çatar,
Ihre Grübchen verletzen mein Herz,
Gamzesi sineme batar,
Ihre weißen Hände halten einen Stift,
Ak elleri kalem tutar,
Er schreibt und sagt „Elif, Elif.“
Yazar „Elif Elif“ deyi.
Die Vorlieben Karacaoğlans,
Karacaoğlan eğmeleri,
Das Herz liebt nicht das Gewöhnliche,
Gönül sevmez değmeleri,
Sie hat ihr Kleid zugeknöpft,
İliklemiş düğmeleri,
Er öffnet es und sagt „Elif, Elif.“
Çözer „Elif Elif“deyi.
Karacaoğlan
514
FUAT, Memet: Karacaoğlan (1977): 24.
198
In dem Lied über Elif sieht der junge Liebhaber Elif in Bildern der Natur, als
schön klingender junger Vogel, duftende Bergblume wie auch in ihren Utensilien, dem
Stift und ihrer Kleidung. Alle Bilder sprechen mit einer Stimme und immer wieder ihren
geliebten Namen Elif.
199
9.3.2
„Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen“
Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen,
Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.
Die Liebe zu ihnen hat mich meiner Sinne beraubt,
Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.
Die Liebe zu ihnen hat mich meiner Sinne beraubt.
Welche von ihnen soll ich jedoch meiden?
Das Haus der einen steht an dem Fels,
Das Haus der anderen steht außerhalb des Hofes,
Eine ist soeben fünfzehn Jahre alt,
Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.
Der Finger der einen ist vollbesetzt mit Ringen,
Der Arm der anderen ist voller Glasringe,
Liebe ich die Ältere, ist es schade um die Jüngere,
Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.
Der Kranich kommt über die Berge geflogen,
Die Ente kommt über Wiesen und Seen,
Es sitzen drei Hübsche und winken mir zu,
Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.
Karacaoğlan
200
„Ben Meylimi Üç Güzele Düşürdüm“
Ben meylimi üç güzele düşürdüm,
Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.
Onların aşkıyle aklım şaşırdım,
Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.
Onların aşkıyle aklım şaşırdım,
Hangisinden yâd eyleyim gönlümü.
Birinin evleri kaya başında,
Birinin evleri avlun duşunda,
Biri yeni değmiş on beş yaşında,
Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.
Birinin parmağı dopdolu yüzük ,
Birinin kolunda sırça bilezik,
Büyüğünü sevsem küçüğe yazık,
Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.
Turna gelir, yüce dağı yol eder,
Ördek gelir, çayır çimen göl eder,
Üç güzel oturmuş bana el eder,
Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif. 515
Karacaoğlan
Die Liebe des Dichters bleibt einerseits in einem merkwürdigen Schwebezustand,
der ihm die Sinne nimmt. Der Dichter findet Liebenswertes an den Mädchen Şemsi und
Kamer, Jugend, Schmuck und Besitz. Andererseits gehört seine wirkliche Liebe der
Schönsten, nämlich Elif, die, wenn man die Namen ihrer Rivalinnen wörtlich nimmt,
noch schöner ist als die Naturschönheiten der Sonne und des Monds.
515
Ruhi Su dieses Liebeslied derart bearbeitet, dass er zwar den ganzen Originaltext abdruckte, jedoch wie
bei auch sonst auf Schallplatten aufgenommenen Liedern aus Raumgründen eine verkürzte Fassung sang,
in diesem Falle eine um die letzte Strophe gekürzte. Ruhi Su setzt sich aus diesem eher technischen Grund
von den Volkssängern ab, die ihre Lieder vollständig sangen, denn, wie auch das Volk selbst glaubte, ein
gekürztes Lied sei so unzulässig wie ein gekürzter Koranvers. Siehe SU, Ruhi: Bir Açıklama, auf der
inneren Seite der Hülle der Schallplatte „Pir Sultan Abdal“ (1973).
201
Nach der Heirat ging es im wirklichen Leben, wie uns die Geschichte erzählt, so
weiter: Elif und Karacaoğlan liebten sich sehr. Eines Tages warf der Neffe des
Stammesältesten ein Auge auf Elif. Elif war empört und fühlte sich belästigt. Sie hatte
Angst vor ihm und sah ihre Ehe in Gefahr. Deshalb zog sie sich in ihr Zelt zurück, in dem
sie sich sicher fühlte. Eines Tages wurde Karacaoğlan zu einer Hochzeit geladen, auf der
er singen und Saz spielen sollte. Elif nutzte die Gunst der Stunde und ging zu dem Neffen
mit der Bitte, sie in Ruhe zu lassen. Dieser willigte unter einer Voraussetzung ein: Er
wollte eine Nacht in ihrem Zelt neben ihr im Bett verbringen, ohne sie jedoch
anzurühren. Dies versprach er ihr mit dem Schwur auf den Koran. Elif willigte ein, und
sie schliefen nebeneinander ein. Zur gleichen Zeit überfiel Karacaoğlan ein
beunruhigendes Gefühl. Obendrein riss eine Saite seiner Saz. Dies verstand er als
schlimmes Omen. Rasch machte er sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, sah
er einen Mann neben seiner Elif schlafen. Er war abgrundtief enttäuscht und verletzt. Er
zog sein Gewand aus und überdeckte damit beide. Dann machte er sich auf den Weg in
die Berge. Als am Morgen Elif aufwachte, merkte sie, dass Karacaoğlan da gewesen war.
Sie lief ihm hinterher, rief nach ihm, aber es war erfolglos. Der ganze Stamm suchte
überall nach Karacaoğlan, auch ohne Erfolg. Währenddessen kam Karacaoğlan nach
einem langen Marsch an einer Höhle an. Er setzte sich auf einen Stein und schüttete ihm
sein Herz aus. Er ging in die Höhle hinein und kam nie wieder heraus. Man sagt, dass nur
diejenigen, die ein reines Herz haben, heute, wenn sie an den Eingang der Höhle kommen
und hinein lauschen, die Türküs von Karacaoğlan hören. 516
Auffällig in der Erzählung vom geheimnisvollen Verschwinden Karacaoğlans ist
die strikte Gewaltlosigkeit des Dichters, der sich zweimal für die verlorene Liebe nicht
mit Gewalt rächt, sondern sich einfach zurückzieht. Ebenso fällt auf, dass Karacaoğlan
nicht nimmt, was er ersehnt hat, sondern als ein Gebender erscheint und die Menschen
mit Liebesliedern beschenkt. Ruhi Su teilt mit Karacaoğlan eine Vorliebe für das
folgende Hochzeitslied.
516
FUAT, Memet: Karacaoğlan (1977): 25.
202
9.3.3
„Ich drang in den Garten ein“
„Atladım Girdim Bağa“
Ich drang in den Garten ein,
Atladım girdim bağa,
Meine Stirn berührte das Blatt.
Alnım değdi yaprağa.
Wenn sie mir meine Geliebte geben,
Sevdiğimi verseler,
Gehe ich nicht in die schwarze Erde.
Girmem kara toprağa.
Können denn Felsen gespaltet werden?
Kayalar kertilir mi?
Können denn Leinenschuhe zerreißen?
Ağ terlik yırtılır mı?
Das reifende Mädchen, der unwissende Bursche,
Ergen kız, cahil oğlan,
Können sie denn der Verstellung entkommen?
İnkârdan kurtulur mu?
Ich stieg auf das Dach, um es fest zu walzen,
Çıktım dam loğlamaya,
Ich stieg hinab, um die Geliebte zu verabschieden. İndim yâr yollamaya,
Ist die Geliebte aus den Augen,
Yâr gedikten aşarken
Beginne ich zu weinen.
Başladım ağlamaya.
Hey ihr Bräute, hey ihr Mädchen!
Ey gelinler, ey kızlar!
Schlagt und bringt mich um,
Babalım (vebalim) boynunuza.
Oder nehmt mich in euer Gemach,
Vurun vurun öldürün,
Sonst übernehmt meine Sünden.
Ya alın koynunuza.
Karacaoğlan
Die Freizügigkeit der letzten Strophe, die Aufforderung des Dichters an die
Bräute, ihn zum Beischlaf einzuladen, ist erstaunlich, ebenso wie die Konsequenzen, falls
die Mädchen sich weigern. Die Themen in Ruhi Sus Türküs haben ein ähnlich weites
Spektrum: ihre Form ist zwar einfach, aber was sie über menschliche Grundbefindlichkeiten wie erfüllte oder unerfüllte Liebe aussagen, ist ähnlich radikal. Je mehr Menschen
eingeschränkt werden, desto stärker wird der Drang zu Frechheit und Freiheit..517
517
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln.
203
9.4
Pir Sultan Abdal (1973)
Pir Sultan Abdal gehört zu den „Sieben Heiligen Dichtern“ (Yedi Ulu Ozan) der
Aleviten. 518 Der wahre Name von Pir Sultan Abdal war Haydar. Er lebte nahe dem
mittelanatolischen Sivas, in dem Dorf Banaz. Seine Geburts- und Todesdaten sind nicht
bekannt, aber man nimmt an, dass er im 16. Jahrhundert gelebt hat.
Für Pir Sultan haben die Namen und Gestalten Ali und Hüseyin symbolischen
Charakter, weil ihnen in ihrer Zeit Unrecht widerfuhr und sie durch Mächtige umgebracht
wurden. Pir Sultan hat das Volk zu einem gerechten Krieg aufgerufen, in dem die
Kleinen sich gegen die Tyrannen erheben. Er sprach zum Volk durch die Person Alis: 519
Die Liebe zu Pir Sultan trägt immer die Ehrung des in KarbalÁ getöteten Hüseyin mit. Ihr
Märtyrertum wurde gleichgesetzt. Beide wurden Symbole für alle Menschen, denen
Unrecht getan wurde. 520
518
Zu dem Lebenslauf der „ Sieben Heiligen Dichter“ siehe oben Fußnote 120.
Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel
behandelte Lieder: „Ich ging hoch und betrachtete“ (Çıktım Yücesine Seyran Eyledim); „Der Kummer
deinetwegen, meine Schwarzlocke“ (Gam Elinden Benim Zülfü Siyahım); „Komm und sei das Heilmittel
für meinen Kummer“(Gel Benim Derdime Bir Derman Eyle); „Kommt Freunde, lasst uns eins werden“
(Gelin Canlar Bir Olalım, siehe oben Kap. 2.5) und „Ich fragte die gelbe Blume“ (Sordum Sarı Çiçeğe).
Zu Pir Sultan Abdal siehe GÖLPINARLI, Abdülbaki-BORATAV, Pertev Naili: Pir Sultan Abdal (2010);
ÖZTELLİ, Cahit: Pir Sultan Abdal (2012); KRAFT, Gisela: Yunus Emre. Pir Sultan Abdal. Mit Bergen
Mit Steinen (1981); FUAT, Memet: Pir Sultan Abdal (2012). EYUBOĞLU, Sabahatin: Pir Sultan Abdal
(1990); KUDRET, Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 2, Pir Sultan Abdal (2003); BEZİRCİ, Asım: Pir
Sultan (1986); AVCI: Ali Haydar: Bize de Banaz’da Pir Sultan Derler (2004); YAĞCI, Öner: Pir Sultan,
Yaşamı ve Şiirleri (2006); MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.):
Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 9-17; BAŞGÖZ, İlhan: Pir Sultan Abdal ve Pir Sultan Abdal
Geleneği. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998):19-65; BİRDOĞAN,
Nejat: Pir Sultan Abdal Üzerine, In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan
(1998): 67-95; BOZKURT, Fuat: Bir Söylencenin İzinde. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği
ve Pir Sultan Abdal (1998): 97-114; KORKMAZ, Esat: Pir Sultan’ın Kavgasına Katılmak. In: YILDIRIM,
Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998):115-140 sowie YILDIRIM, Ali: Yaşayan Pir
Sultan Abdal. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 141-194.
519
Nach ERDEM, Hüseyin: Yaşayan Pir Sultan, Yeni Ufuklar 21, 243 (Dez. 1973): 41-44.
520
Vgl. MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir
Sultan Abdal (1998): 17.
204
9.4.1
„Fließe wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich“
Fließe wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich,
Von Hama und Mardin komme nach Sivas,
Dein Pferd Düldül wurde aufgesattelt, nimm dein Schwert Zülfikâr,
Warum zögerst du, mein Ali? Deine Tage sind gekommen!
Pir Sultan Abdal
„Kızılırmak Gibi Bendinden Boşan”
Kızılırmak gibi bendinden boşan,
Hama’dan, Mardin’den Sivas’a döşen,
Düldül eğerlendi, Zülfikâr kuşan.
Alim ne yatarsın günlerin geldi.
Pir Sultan Abdal
Pir Sultan wurde zu einem Epos, sein Aufstand und seine Hinrichtung wurden je
nach gesellschaftlichen Lage immer wieder neu gesehen. Er wurde zum Volksheld und
seine Rebellion wird als eine Volksbewegung für die Verteidigung der Volksrechte und
für die Kämpfe gegen die Unterdrückung betrachtet. 521
Sabahattin Eyuboğlu beschreibt Pir Sultan als eine rote Rose, die im Herzen der
anatolischen Bevölkerung erblühte. Er war mit seinem Charakter und seinen Worten so
sehr mit der anatolischen Bevölkerung verwoben, dass man kaum festmachen kann, ob
das Gesagte ihm gehört oder dem Volk. 522 Ein Beispiel soll dies zeigen:
9.4.2
„Ich bin Moses, du bist Pharao“
„Ben Musa’yım Sen Firavun”
Ich bin Moses, du bist Pharao,
Ben Musa’yım sen Firavun,
Verdammter, ungeständiger Teufel,
İkrarsız şeytan-ı lain,
Es ist mein dritter Tod, du Heimtückischer,
Üçüncü ölmem bu hain,
Pir Sultan stirbt und lebt wieder auf.
Pir Sultan ölür dirilir. 523
Pir Sultan Abdal
Vgl. MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir
Sultan Abdal (1998): 13.
522
Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Pir Sultan’a Selam, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte “Pir
Sultan Abdal” (1973).
523
Aus dem Lied “Verschwinde Hızır Paşa!” (Yürü Bre Hızır Paşa!).
521
205
Es ist offensichtlich, dass Pir Sultan auf dem Weg zum Galgen diese Worte nicht
gesagt haben kann. Die Zeilen zeigen, wie das Volk sich zu ihm hingezogen fühlte und
diese Worte nach seinem Tode prägte. Ganz gleich, ob er sie aussprach oder nicht, diese
Verse kann man unter die seinen einreihen, sie sprechen nämlich von seiner
Persönlichkeit, seinen Gedanken und seiner Art zu singen. 524
In einem andern Lied lässt der Dichter seine Tochter sprechen und den Tod des
Vaters beklagen. So vorzugehen ist in der türkischen Totenklage nicht ungewöhnlich. Es
gehört bis heute zur Tradition dieser Klagen (ağıt), Zwiegespräche zwischen dem Toten
und trauernden Personen wiederzugeben und auch den Toten sein Leid ausdrücken zu
lassen, als würde er noch leben:
9.4.3
„Klagelied - In meinem Traum gestern Nacht” 525
In meinem Traum gestern Nacht
Weint mein Traum und sagt: “Pir Sultan”
In meiner Phantasie am Tag und nachts im Traum
Weinen meine Träume und sagen: “Pir Sultan”.
Ach mein Dede war groß und wohlgebaut,
Seine Alm ist Yıldız, sein Dorf ist Banaz.
Im Sommer und im Frühling trüben sich die Wasser,
Die Wasser weinen und sagen:“Pir Sultan”.
Ich war die Tochter Pir Sultans, ich war auch in Banaz,
Ich weinte Blut im Frühling und im Herbst,
Mein starker Vater wurde gehängt im blutigen Sivas.
Die Galgen weinen und sagen: “Pir Sultan”.
Pir Sultan Abdal
Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Pir Sultan’a Selam, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte “Pir
Sultan Abdal” (1973).
525
Vgl. REINHARD, Ursula und PINTO, Tiego de Oliveira: Sänger und Poeten mit der Laute, Türkische
Aşık und Ozan (1989): 19. Die Übersetzung wurde vom Verfasser leicht bearbeitet und interpungiert. Die
Stadt Sivas spielt in der alevitischen Kultur eine traurige Rolle. Nicht nur, dass Pir Sultan dort hingerichtet
wurde, im Jahre 1993 veranstalteten die Aleviten ein Festival zu Ehren Pir Sultans, auf dem eine
aufgehetzte Menge das Hotel, in dem die eingeladenen Künstler untergebracht waren, in Brand steckte. Es
gab 35 Todesopfer. Siehe dazu YILDIRIM, Ali: Ateşte Semaha Durmak (1996).
524
206
„Ağıt - Dün Gece Seyrim İçinde”
Dün gece (Dost) seyrim içinde.
Seyrim ağlar, (Dost hey Dost), “Pir Sultan” deyi
Gündüz hayalimde, gece düşümde,
Düşler ağlar, (Hey Dost), “Pir Sultan” deyi
Uzundu, usuldu Dede’min boyu,
Yıldız’dır yaylası, Banaz’dır köyü.
Yaz bahar ayında bulanır suyu,
Sular da ağlaşır “Pir Sultan” deyi
Pir Sultan kızıydım, ben de Banaz’da,
Kanlı yaş akıttım, baharda, güzde,
Koç babam astılar, kanlı Sivas’ta,
Darağacı ağlar “Pir Sultan” deyi.
Pir Sultan Abdal
Die im Türkischen in Klammern gesetzten Textteile sind Zusätze Ruhi Sus, die
den Charakter des gesamten Gedichts als Türkü begründen, dazu gehört eine
Abschwächung des religiösen Elements und die Einführung des gesellschaftlichen
Elements. So ist der Begriff “Dost” mit “Herzensfreund” zu übersetzen. 526
Ruhi Su fühlte sich zu Pir Sultan hingezogen, weil dieser einen rebellischen
Charakter hatte. Beide übten gehörige Kritik an Staat und Gesellschaft. Beide waren sich
auch ähnlich in ihrem Wagemut und ihrer Kompromisslosigkeit gegenüber den
Herrschenden. In einer Zeit, in der das Bekenntnis zum Alevitentum fast strafbar war,
sang Ruhi Su Lieder alevitischer Volksdichter. Solche Lieder enthielten für die
alevitische Jugend eine Hoffnung, sich zu ihrem Glauben bekennen zu können, Recht zu
finden und der Unterdrückung zu entgehen. 527
Das nächste Gedicht spricht von einem ablehnenden Staat und ablehnenden
Weggefährten, denen Pir Sultan und Ruhi Su zu ihren Lebzeiten ausgesetzt waren:
526
527
Siehe oben Kap. 6.7.1 und 6.7.2.
Siehe oben Kap. 2.5 und 2.5.1.
207
9.4.4
„Die Taten des blutrünstigen Bösen“
Die Taten des blutrünstigen Bösen
Lassen mich weinen wie eine einsame Nachtigall,
Steine regnen auf mich hernieder,
Die leichte Berührung eines Freundes verletzt mich.
Am schlechten Tag erkannte ich Freund und Feind,
Nun habe ich fünfzigfaches Leid statt zehnfachem.
Das Todesurteil umschlingt mich,
Gleich ob ich hängen oder erschlagen werde.
Ich bin Pir Sultan Abdal und die Seele passt nicht in den Himmel,
Ohne die Worte Gottes gäbe es keinen Segen,
Die Hände dieser Steine berühren mich nicht,
Nur die Rose des Freundes verletzt mich.
Pir Sultan Abdal
„Şu Kanlı Zalimin Ettiği İşler“
Şu kanlı zalimin ettiği işler,
Garip bülbül gibi zareler beni.
Yağmur gibi yağar başıma taşlar,
Dostun bir fiskesi pareler beni.
Dar günümde dost düşmanım belloldu,
On derdim var ise şimdi ell’oldu.
Ecel fermanı boynuma takıldı,
Gerek asa, gerek vuralar beni.
Pir Sultan Abdal’ım, can göğe sığmaz,
Hak’tan emrolmazsa ırahmet yağmaz,
Şu illerin taşı hiç bana değmez,
İlle dostun gülü yareler beni.
Pir Sultan Abdal
208
Als Pir Sultan Abdal öffentlich gehängt werden sollte, wurde allen Anwesenden
befohlen, ihn zu steinigen. In der Menge war auch ein guter Freund. Er jedoch entschied
sich für eine Rose und warf sie auf Pir Sultan. Dieser war dem Werfenden nicht dankbar,
sondern empfand über die Rose mehr Schmerz als über die Steine. Er war gekränkt, weil
sich der Freund dem Befehl der Obrigkeit nicht offen widersetzte, sondern gefügig tat,
was man ihm befahl. Pir Sultan Abdal wurde vor seinem Galgentod die Möglichkeit
gegeben, ein Gedicht zu schreiben, in dem er das Wort „Şah“ nicht in den Mund nehmen
durfte, weil zum einen dieser Titel einer Anzahl von bedeutenden Religionsführern, wie
Ali und Hüseyin, zukommt, und weil die Osmanen im engeren Sinne dem safawidischen
Şah İsmail feindlich gesinnt waren. Auf diese Weise sollte er dem Şah und somit seinem
Glauben abschwören. Im Gegenzug würde er dann begnadigt werden. Pir Sultan Abdal
schrieb aber ein Gedicht, indem er mehrfach den Titel „Şah“ verwandte und widersetzte
sich damit deutlich der Aufforderung der Obrigkeit. 528
Parallelen zwischen Ruhi Su und Pir Sultan Abdal sind durchaus zu ziehen. Wie
Pir Sultan bis heute als Kämpfer für eine große Sache und Vorbild einer tapferen und
unbeugsamen Denkweise weiterlebt, so ist auch Ruhi Su ein kontinuierlicher Ruhm
sicher. Hinzuweisen ist hier auf Pir Sultans Absage an die Obrigkeit:
9.4.5
„Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig“
Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig,
Sie soll meine Sache bleiben, sie soll zurückbleiben für Gott.
Pir Sultan Abdal
„Dünya Kadısına Ben Sorulmazam“ 529
Dünya kadısına ben sorulmazam,
Kalsın benim davam divana kalsın.
Pir Sultan Abdal
Durch eine Anpassung an staatliche Forderungen hätte sich auch Ruhi Su das
Leben eines gefeierten Musiktalents mit allen materiellen Privilegien verschaffen können.
528
Siehe oben Kap. 6.7.2.
Nach ERDEM, Hüseyin: Yaşayan Pir Sultan, Yeni Ufuklar 21, 243 (Dez. 1973): 41-44.
Aus dem Lied „Ich kam auf diese Welt in Ruhe“ (Ben de Şu Dünyaya Geldim Sakinim).
529
209
9.5
Gedichte und Türküs / Şiirler, Türküler (1974)
Ruhi Su hat auf dieser Schallplatte neben eigenen Gedichten, Gedichte von
Mevlânâ, Nâzım Hikmet und Melih Cevdet Anday vertont. Daneben wurden auch
anonyme Gedichte aufgenommen. 530 Ruhi Su schien es notwendig, alle Schallplatten mit
Erläuterungen zu versehen, um seinen Hörern seine Arbeit begreiflich zu machen. Denn,
so sagt er, „ein Künstler muss seine Arbeit wie ein Bauer oder ein Schmied erklären
können. Mit seiner Sprache und seiner Fertigkeit muss er in seiner eigenen Gesellschaft
sein Brot verdienen können. Wie bei meinen vorigen Schallplatten habe ich den Weg der
Volkssänger eingeschlagen, in dem ich manche Texte mit ihren originalen Melodien
sang. Manchmal gab ich Texten anonyme Melodien oder habe für Texte, wie solche von
Mevlânâ, Nâzım, Melih Cevdet und das Lied „Hasan Berg“ (Hasan Dağı), neue
Melodien komponiert.“ 531
Darüber hinaus sind die Liedertexte auch hilfreich, um Aufschluss über Ruhi Sus
Verhältnis zu seinen Vorbildern zu erhalten. Der Text des Liedes „Der Feind spricht
unsinnige Worte“ (Düşman Saçma Sapan Laflar Eder) stammt von Mevlânâ, der seinen
Kritikern, die ihm Zagheit gegenüber Gegnern vorwerfen, entgegenhält, es sei seine Art,
menschlich und sanft zu bleiben und Attacken nicht mit gleicher Härte zu begegnen.
Indem Ruhi Su bewusst diese Worte zur Vertonung wählt, stellt er sich geistig neben
Mevlâna, der ein bedeutender Vertreter des humanistisch-sufistischen Denkens im
Mittelalter war. 532
530
Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel
behandelte Lieder: „Ein Soldatenlied” (Bir Asker Türküsü, siehe oben Kap. 2.6.2); „Mein roter Kranich“
(Allı Turnam); „Der Berg Hasan“ (Hasan Dağı, siehe oben Kap. 7.1.1) und „Ein besonderer Ort“ (Mahsus
Mahal, siehe oben Kap. 7.1.2).
Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen von
S. Pleyl, A. Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten Schallplatte
„Liebe dem Menschen, dem Leben Liebe“ (Şiirler Türküler), Pläne, 1986.
531
SU, Ruhi: Auf der Innenseite der Hülle der Schallplatte „Gedichte und Türküs“ (Şiirler, Türküler,1974).
532
Die Ansicht der linken Intellektuellen über Mevlâna läßt sich an einer Aussage Aziz Nesins ablesen:
Mevlâna ist volksfern und er wendet sich mehr nach innen als nach außen. (Siehe oben Kap. 9.2.1).
Sabahattin Eyuboğlu dagegen sagt, dass was Mevlâna vom Volk trennte, war seine Sprache. Obwohl er in
Persisch schrieb, in dem er aufwuchs, sprach er doch das Volk an und stand auf seiner Seite. Wäre Mevlâna
gegen das Volk gewesen, hätte sein Sohn Sultan Veled nicht versucht, die Auffasung seines Vaters in
Türkisch auszudrücken. Burhan Toprak Ausführungen ziehen einen Vergleich zwischen Yunus Emre und
Mevlâna. Mevlâna spricht so über Yunus Emre: „An welchen geistigen Häusern ich auch angekommen bin,
sah ich bereits die Spuren eines Türkmenen. Ich konnte ihn nicht überholen.“ (Mânevi konakların hangisine
vardıysam bir Türkmen kocasının izini önümde buldum, onu geçemedim) Yunus Emre spricht über
Mevlâna, als die beiden sich treffen: „Du hast die Mesnevi sehr ausführlich verfasst. Wäre ich an deiner
Stelle, hätte ich alles in wenigen Zeilen gesagt: Ich wickelte mich in Fleisch und Knochen / Zeigte mich als
Yunus Emre (S.185) (Ete kemiğe büründüm / Yunus diye göründüm). Die Gedichte Yunus Emres jedoch
verehren Mevlâna: „Seitdem Mevlâna uns gesegnet hat, / ist sein himmlischer Segen Spiegel unseres
Herzens geworden.“ (Mevlâna Hudâvendigâr bize nazar kılalı / Onun görklü nazarı gönlümüz aynasıdır).
Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1981):17-19.
210
9.5.1.
Ausgewählte Gedichte aus A.Kadirs Übersetzungswerk Mevlâna in heutiger
Sprache / Bugünün Diliyle Mevlâna
9.5.1.1
„Der Feind spricht unsinnige Worte“
Der Feind spricht unsinnige Worte,
Das hören meine lieben Ohren.
Er denkt Schlechtes über mich,
Das sehen meine lieben Augen.
Er hetzt seinen Hund auf mich,
Der Hund beißt mich ins Bein.
Ich erleide große Schmerzen,
Ich bin kein Hund, kann ihn nicht beißen,
Beiße mir in die Lippe,
Ich bin eingeweiht in die Geheimnisse großer Menschen,
Ich kann trotzdem nicht sehr prahlen,
Ich habe alle Schandtaten getan, aber
Es muss irgendetwas getan werden,
Um die Herzensfreunde zu erreichen,
Denn das Zurückbleiben kann ich nicht ertragen.
Mevlâna
Weiterführende Literatur zu Mevlâna GÖLPINARLI, Abdülbaki (Hrsg.): Mevlâna (1973); ÖNDER,
Mehmet (Hrsg.): Mevlâna (1971); UZUNCA, Suphi (Hrsg. und Übersetzer): Mevlâna -Verse der Liebe
(2000); ARAZ, Nezihe: Aşk Peygamberi (2004).
211
„Düşman Saçmasapan Lâflar
Eder“ 533
Düşman saçmasapan lâflar eder,
duyar can kulağım.
Hakkımda kötü şeyler düşünür,
görür can gözüm.
Üzerime köpeğini salar,
ısırır köpek ayağımı,
çok acılar çekerim, çok acılar.
Köpek değilim, onu ısıramam,
ısırırım dudağımı.
Büyük kişilerin sırlarına ortağım,
gene de nâh şu kadar övünemem.
Bütün ayıplar bende ama,
ne yapıp yapmalı,
ulaşmalı dostlara,
geride kalmayı kendime yediremem.
Mevlâna
533
MERİÇBOYU, A. Kadir: Bugünün diliyle Mevlâna (1966): 62.
212
9.5.1.2
„Klagelied-Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte“
Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte,
Wenn das Schicksal den Aufschrei doch gehört hätte,
Wenn der Henker doch Mitleid gehabt hätte,
Hätte Zaloğlu um den Krieg und die Tapferkeit geweint,
Hätte das Schicksal sich selbst angeschaut und um sich geweint,
Hätte der Henker, der Unbarmherzige, geweint.
Mevlâna
„Ağıt - Zaloğlu Bu Zulmü Görseydi“ 534
Zaloğlu bu zulmü görseydi,
ecel bu feryadı duysaydı,
celladın yüreği olsaydı;
Zaloğlu savaşa, yiğitliğe ağlardı,
ecel bakardı kendine ağlardı,
cellat, yüreği olsa ağlardı. 535
Mevlâna
Zaloğlu (Rüstem), ein persischer legendärer Kriegsheld, erscheint in diesem Text
als ein Mann, der von Trauer um die Tugend der Tapferkeit erfüllt gewesen wäre, wenn
über die Grausamkeit in der Welt Tränen geflossen wären. Diese Menschlichkeit hat sich
jedoch nicht gefunden. Ruhi Su sieht in dem Geschehen mit großer Wahrscheinlichkeit
eine Parallele zu einem unmenschlichen Geschehen seiner Tage, nämlich der Hinrichtung
dreier Studenten am 6. Mai 1972, bei welcher der Henker ebenfalls keine Tränen fand.
534
535
Ebd. 53.
Siehe dazu Hüseyin Erdems Kommentar unten in Kap. 9.5.7.
213
9.5.1.3
„Sie stecken in Dornen“
„Diken İçindeler“ 536
Sie stecken in Dornen,
Diken içindeler,
Sind jedoch wie Rosen.
ama gül gibiler.
Sie sind im Gefängnis,
Hapisteler,
Sind jedoch wie Wein.
ama şarap gibiler.
Sie sind im Schlamm,
Balçık içindeler,
Sind jedoch wie Seelen.
ama gönül gibiler.
Sie sind in der Nacht,
Gece içindeler,
Sind jedoch wie der Morgen.
ama sabah gibiler.
Mevlâna
Mit einer geradezu erschreckenden Genauigkeit beschreibt Mevlânâ den Kampf
der Bösen gegen die Guten, einen Kampf seiner Zeit, der jedoch bis in die Einzelheiten
den Kampf der Mächtigen gegen die Unschuldigen der Jahre Ruhi Sus gleicht. Das
Verfahren ist kontrastiv: die Unterdrückten leiden, sind jedoch rein, kostbar und an der
Zukunft ausgerichtet.
536
MERİÇBOYU, A. Kadir: Bugünün Diliyle Mevlâna (1966): 85-86.
214
9.5.1.4
„Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln“
Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln,
Wie schön ist es, jeden Tag irgendwo anzukommen,
Wie schön zu fließen, ohne Trübung und ohne Eis zu werden.
Mir sind mit dem Gestern, mein Lieber,
Alle Worte des gestrigen Tages ausgegangen,
Man muss jetzt von neuen Dingen erzählen.
Mevlâna
„Her Gün Bir Yerden Göçmek Ne İyi“
537
Her gün bir yerden göçmek ne iyi.
Her gün bir yere konmak ne güzel.
Bulanmadan, donmadan akmak ne hoş.
Dünle beraber gitti cancağzım;
ne kadar söz varsa düne ait.
Şimdi yeni şeyler söylemek lazım.
Mevlâna
Schmerz, Leid, Greuel, Folter, Hinrichtungen, Widerstand und Gefängnis sind
Dinge, die Ruhi Su und seine Freunde über sich haben ergehen lassen müssen. Wie
Mevlânâ lässt Ruhi Su sich nicht von Rachegefühlen für vergangene Verbrechen
beherrschen, sondern glaubt an neue und reinere Verhältnisse. Ihm sind der geduldige
und bescheidene Mevlânâ ebenso wie dessen Texte seelenverwandt. Wenn man nicht
wüsste, dass es sich um Texte Mevlânâs handelt, würde man sie für solche von Ruhi Su
halten.
537
Ebd. 105.
215
9.5.2
„Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ 538
„Yaratan Bizleri İnsan Yarattı“
Das von Ruhi Su selbst geschriebene und vertonte Gedicht, „Der Schöpfer schuf
uns als Menschen“ (Yaratan Bizleri İnsan Yarattı), das zum ersten Mal am 5. 3. 1977 in
der Tageszeitung Cumhuriyet veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den
Gedanken, dass die Liebe zu anderen Menschen den Menschen ausmacht. Genauer
gesagt, er fordert eine spirituelle Liebe, welche auf die Seele des Gegenübers ausgeht;
körperliche Eigenheiten, wie Hautfarbe, spielen keine Rolle.
Der Schöpfer schuf uns als Menschen.
Yaratan bizleri insan yarattı,
Liebe den Menschen, liebe seine Seele,
Muhabbet insana, cana muhabbet.
Schätzte ihn über alle Lebewesen,
Cümle mahlukatın üstünde tuttu,
Liebe den Menschen, liebe seine Seele.
Muhabbet insana, cana muhabbet.
Welch ein Glück, Mensch geworden zu sein.
Ne mutlu ki bize insan olmuşuz,
Menschenliebe sehen wir als wahre Liebe,
İnsan sevgisini gerçek bilmişiz,
Am Aste des Menschen blühen und lachen wir,
İnsanın dalında açıp gülmüşüz,
Liebe den Menschen, den, der Mensch ist.
Muhabbet insana, insan olana.
Wer Mensch ist, soll kommen.
İnsan olan insan gelsin beriye,
Manche sind schwarz, manche gelb,
Kimi kara, kimi çalar sarıya,
Das Leben zählt, nicht die Hautfarbe,
Aslolan hayattır bakma deriye,
Liebe den Menschen, liebe seine Seele.
Muhabbet insana, cana muhabbet.
Welch ein Glück, Mensch geworden zu sein.
Ne mutlu ki bize insan olmuşuz,
Menschenliebe sehen wir als wahre Liebe,
İnsan sevgisini gerçek bilmişiz,
Am Aste des Menschen blühen und lachen wir,
İnsanın dalında açıp gülmüşüz ,
Liebe den Menschen, den, der Mensch ist.
Muhabbet insana, insan olana.
Ruhi Su
538
Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in
Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer
nicht genannt werden.
216
Ruhi Sus universalistische Menschenliebe erinnert, wenn auch entfernt, an Zeilen aus
Schillers „An die Freude“:
Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium!
Wir betreten feuertrunken, Himmlische, Dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt,
alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.
…
Sen ey Tanrılar alevi, ey Eliziyum kızı,
Biz mabedine gireriz, mest olmuş halde senin.
Adetin ayırdığı şeyler, hep sihrinde birleşir,
Daima kardeş olur insanlar, gölgende senin.
…
So weit entfernt ist Ruhi Su doch nicht von Schiller, denn er ließ seinen Chor diese Ode
in türkischer Sprache und in der Vertonung Beethovens oft singen.
217
9.5.3
„Wiegenlied - Merhaba Baby Dursun”
„Ninni - Merhaba Dursun Bebek”
Merhaba, Baby Dursun,
Merhaba, Dursun Bebek,
Merhaba!
Merhaba!
Hier ist das Wasser,
İşte su,
Hier ist das Licht,
İşte ışık,
Hier ist die Luft.
İşte hava.
Das ist unsere Welt, Baby Dursun.
İşte Dursun Bebek, bizim dünya.
Dandini dandini dastana.
Dandini dandini dastana.
Schlaf, Baby Dursun, schlaf!
Dursun Bebek uyusun,
Es soll schlafen und schnell groß werden,
Uyusun da aman çabuk büyüsün,
Das Vieh schlich in den Obstgarten,
Danalar girmiş bostana.
Noch gibt es vieles, noch vieles mehr.
Daha neler var, neler var daha,
Hier ist die Falle,
İşte kundak,
Hier ist der Kerker,
İşte hapis,
Hier ist der Kampf,
İşte kavga,
Hier ist unsere Welt, Baby Dursun.
İşte Dursun Bebek bizim dünya.
Dandini dandini dastana,
Dandini dandini dastana,
Baby Dursun soll schlafen,
Dursun Bebek uyusun,
Es soll schlafen und schnell groß werden,
Uyusun da aman çabuk büyüsün,
Das Vieh schlich in den Obstgarten.
Danalar girmiş bostana.
Melih Cevdet Anday
Das hier besungene Baby Dursun ist der Sohn von Behice Boran, die es im
Gefängnis zur Welt bringen musste. Sie war eine fortschrittlich denkende Frau. Auf
Grund ihrer linksgerichteten Weltanschauung wurde sie im Jahre 1948 von ihrem Posten
als Dozentin der Soziologie enthoben. Als 1950 der Verein der Friedensliebenden
(Barışseverler Cemiyeti), dessen Mitbegründerin und Vorsitzende sie war, eine Erklärung
veröffentlichte, die die Entsendung von Soldaten in den Koreakrieg durch die Regierung
Menderes verurteilte, wurde sie zu fünfzehn Monaten Haft verurteilt. 539 Der Dichter
Melih Cevdet Anday hat als Freund Borans das Gedicht „Wiegenlied” (Ninni)
geschrieben. Ruhi Su, der Weggefährte Behice Borans, vertonte es und nahm es in sein
Repertoire auf. Das Gedicht stellt die Güte der Elemente Wasser, Licht, Luft heraus, die
539
Siehe dazu oben Kap. 2.6.1 und 2.8.
218
dem Kind wie ein Erbe geschenkt sind. Dem gegenüber stehen von Menschen produzierte
Dinge wie Falle und Gefängnis, denen ein ständiger Kampf angesagt ist. So schrecken die
Regierenden nicht davor zurück, Kinder an menschenunwürdigen Orten wie
Gefängnissen zur Welt kommen und groß werden zu lassen. Beide Qualitäten, gute wie
schlechte, kommen in dieser Welt vor, das Baby Dursun muss mit beiden fertig werden,
doch seine Zeit ist knapp, – das Vieh hat sich schon in den Obstgarten geschlichen und
ihn verwüstet. Dursun soll schnell wachsen.
219
9.5.4
„Drei Mädchen und eine Mutter“
„Üç Kız Bir Ana“
Sie sind von ihrer Alm hinab,
Yaylasından inmişler,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Üç kız bir ana.
Sie sind hinab, ach, sie weinen,
İnmişler aman,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Ağlarlar yana yana.
Sie haben sich schwarz gekleidet,
Karaları giymişler,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Üç kız bir ana.
Sie haben sich so gekleidet, ach,
Giymişler aman,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Ağlarlar yana yana.
Ich habe mich ihnen vorsichtig genähert,
Sokuldum yanlarına,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Üç kız bir ana.
Sie sagen mir nichts, sie weinen,
Demezler bana,
Drei Mädchen und eine Mutter.
Ağlarlar yana yana.
Volkslied
Halk Türküsü
Hier geht es um eine Mutter und drei Töchter, die nach der Tradition den Sommer
auf der Alm verbrachten, während der Vater krank im Dorf verblieb. Noch vor dem
Abstieg von der Alm erfahren sie vom Tod des Vaters. 540 Inhaltlich hat dieses Klagelied
mit dem folgenden, von Ruhi Su vertonten, Gedicht Nâzım Hikmets „Die drei
Zypressen“ (Üç Selvi) zu tun. Durch die Zusammenstellung dieser beiden Gedichte wird
das Motiv der in Trauer schwarz gekleideten Gestalten betont, das auf einen
gemeinsamen Sinnzusammenhang verweist. Man erkennt in besonderer Weise die
künstlerische Arbeitsweise Ruhi Sus. Seine politische Kritik äußert er nicht plakativ,
sondern er gibt in seinen Liedern durch Verweise politische Urteile ab. Er erklärt zudem
seine indirekte Methode, Gefühle durch Türküs zu zeigen:
Die Dinge, über die ich mich freue, ärgere, die ich mag und hasse sowie über die
ich traurig bin, teile ich mit Hilfe der Türküs mit. 541
540
http://www.turkudostlari.net/hikaye.asp?turku=992. Abgerufen am 13. Juli 2009.
SU, Ruhi im Gespräch mit KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: Bir Yerde Türküler Ne Kadar Gelişmişse,
Anlatım Gücü Ne Kadar Artmışsa, Oradaki Koşullar O Oranda Ağır Demektir, Forum 336 (1. Apr. 1968).
In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 97.
541
220
Im folgenden Gedicht wird diese Indirektheit in den letzten Zeilen: „In einem
Marmorofen liegen sie zerstückelt und brennen / Drei Zypressen“ (Kanlı bir baltayı
aydınlatıyor / Üç selvi) sehr deutlich: Das Feuer, das aus der Verbrennung der Zypressen
im Kamin entsteht, wirft ein erhellendes Licht auf die blutige Axt. Eine weitere
Verbindung der Gedichte entsteht durch die gemeinsame Form des Klagelieds. So wird
durch Verknüpfung der Dreizahl, von Bildern und Motiven eine gesellschaftskritische
Bedeutungsebene geschaffen, welche indirekt von den drei hingerichteten Studenten
spricht. 542
542
Siehe dazu Hüseyin Erdems Kommentar unten in Kap. 9.5.7.
221
9.5.5
„Die drei Zypressen“
Vor meiner Türen standen drei Zypressen,
drei Zypressen.
Sie wiegten sich im Wind,
drei Zypressen.
Ihre Wurzeln waren im Boden, ihre Köpfe in den Sternen,
drei Zypressen.
Im Wind wiegten sich die Zypressen,
drei Zypressen.
Eines Nachts überfiel der Feind das Haus,
drei Zypressen.
Ich wurde getötet in meinem Bett,
drei Zypressen.
Abgeschnitten wurden den Zypressen ihre Wurzeln,
drei Zypressen.
Nun sind weder ihre Wurzeln im Boden, noch ihre Köpfe in den Sternen,
drei Zypressen.
Die Zypressen wiegen sich nicht mehr im Wind,
drei Zypressen.
In einem Marmorofen liegen sie zerstückelt und brennen,
drei Zypressen.
Sie erhellen ein blutiges Beil,
drei Zypressen.
Nâzım Hikmet
222
„Üç Selvi“
Kapımın önünde üç selvi vardı,
üç selvi.
Selviler rüzgârda sallanırlardı,
üç selvi.
Kökleri yerde, başları yıldızlarda,
üç selvi.
Selviler sallanırlardı rüzgârda,
üç selvi.
Bir gece düşman bastı evi,
üç selvi.
Yatağımda öldürüldüm ben,
üç selvi.
Kesildi selviler köklerinden,
üç selvi.
Artık ne kökleri yerde, başları yıldızlarda,
üç selvi.
Selviler sallanmıyorlar rüzgârda,
üç selvi.
Mermer bir ocakta parçalanmış yatıyor,
üç selvi.
Kanlı bir baltayı aydınlatıyor,
üç selvi.
Nâzım Hikmet
223
9.5.6
„Aus dem „Epos Scheich Bedreddin“ 543
„Şeyh Bedreddin Destanı“ndan”
Es nieselt,
Yağmur çiseliyor,
Im Handwerkerviertel von Serez.
Serez’in esnaf çarşısında,
Es nieselt,
yağmur çiseliyor,
Ängstlich,
korkak,
Mit leiser Stimme,
yavaş sesle,
Wie ein verräterisches Gespräch,
bir ihanet konuşması gibi.
Es nieselt.
Yağmur çiseliyor,
Wie die weißen und nackten abtrünnigen Füße,
beyaz ve çıplak mürtet ayaklarının,
Auf der nassen und dunklen Erde
ıslak ve karanlık toprağın üstünde
Laufen .
koşması gibi.
Es nieselt
Yağmur çiseliyor,
Im Handwerkerviertel von Serez.
Serez‘in esnaf çarsında,
Gegenüber einem Kupferhandwerker
bir bakırcı dükkânının karşısında,
Hängt mein Bedreddin am Baum.
Bedreddin‘im bir ağaca asılı.
Es nieselt,
Yağmur çiseliyor.
Es ist die Zeit der späten und sternenlosen Nacht. Gecenin geç ve yıldızsız bir saatidir.
Und es ist das nackte Fleisch meines Şeyhs,
Ve yağmurda ıslanan,
Welches im Regen nass wird
yapraksız bir dalda sallanan,
Und am laublosen Ast baumelt.
Şeyhim‘in çırılçıplak etidir.
Es nieselt,
Yağmur çiseliyor.
Sprachlos das Handwerkerviertel von Serez,
Serez çarşısı dilsiz,
Blind das Handwerkerviertel von Serez.
Serez çarşısı kör.
In der Luft die Traurigkeit
Havada konuşmamanın, görmemenin
Der Sprachlosigkeit und Blindheit.
kahrolası hüznü.
Und das Handwerkerviertel von Serez
Ve Serez çarşısı kapatmış elleriyle
Verdeckt sein Gesicht mit der Hand.
yüzünü.
Es nieselt.
Yağmur çiseliyor.
Nâzım Hikmet
543
Siehe ferner die Übersetzung von KRAFT, Gisela in: Bleib dran, Löwe (1984) und in: ihren letzten
Band über HİKMET, Nâzım, Die Namen der Sehnsucht (2008): 61-135 sowie die Übersetzung von
PAZARKAYA, Yüksel in: Das Epos von Scheich Bedreddin, Sohn des Kadis von Simavne (1982).
224
Şeyh Bedreddin, ein Mitglied der Einheit des Seins (Vaḥdet-i Vücūd), 544 und ein
Islamgelehrter ist knapp historisch einzuordnen. Şeyh Bedreddin wurde vermutlich um
das Jahr 1358 in der Nähe von Edirne, in Simavna geboren. Ursprünglich stammte er
väterlicherseits von seldschukischen Herrschern ab. Wegen des väterlichen Berufs wurde
er auch als Richtersohn von Simavna (Simavna Kadısı Oğlu) bezeichnet. Er wurde von
vielen Wissenschaftlern und Religionslehrern in verschiedenen Teilen des Landes und in
großen Kulturzentren wie Damaskus, Jerusalem, Kairo und Mekka unterrichtet. Seine
Erziehung beendete er dann in Kairo bei Şeyh Hüseyin Ahlati und übernahm nach dessen
Tod das Amt des Şeyhs. Als er später nach Anatolien übersiedelte, lernte er Börklüce
Mustafa und Torlak Kemal kennen. Als Yıldırım Bayezit gegen Timurlang die Schlacht
von Ankara, 1402 verlor, fiel der osmanische Staat in eine Krise, die sogenannte FetretZeit (Fetret Devri, 1402-1413). Unter den Söhnen Bayezits begann ein Kampf um den
Thron. Musa Çelebi nahm Edirne ein, worauf er Şeyh Bedreddin als Heeresrichter
(Kazasker) einsetzte und damit in das politische Leben eingegliederte. Als später Musa
Çelebis Bruder Mehmed Çelebi die Macht in Edirne übernahm, wurde 1413 Şeyh
Bedreddin nach İznik verbannt.
In der Zwischenzeit zettelten seine beiden Schüler Börklüce Mustafa und Torlak
Kemal in Aydın und Manisa einen Aufstand an. Dieser wurde jedoch blutig
niedergeschlagen, worauf Börklüce Mustafa in Karaburun und Torlak Kemal in Manisa
hingerichtet wurden. Sultan Mehmet ließ Şeyh Bedreddin, den er als Spitze dieser
Aufstände ansah, verhaften, bevor dieser nach Edirne gelangte. Er richtete ihn in Serez
hin, wo 1420 der Şeyh nackt aufgehängt wurde. Die Kenntnis seines Lebens basiert auf
der Schrift „Menakıbname“ seines Enkels Hafız Halil. Sein Gedankengut wurde in den
Büchern Vâridat und Teshil gesammelt. 545
In einer Zeit, in der die Nachfahren der Sultane das Land unter sich aufteilten und
die landlosen Bauern als Leibeigene auf den Feldern ausnutzten, gingen Şeyh Bedreddin
und seine Schüler unter das Volk und predigten, dass die Felder denen gehörten, die sie
bewirtschaften, und dass die Menschen, gleich welcher Religion, Brüder seien. So
versammelte er um sich ein buntes Gemisch aus Türken, Griechen, Armeniern, Moslems,
Diese Lehre wird auf Muḥyī ad-Dīn b. ʿArabī (1165-1240) zurückgeführt.
Hierzu siehe İslam Ansiklopedisi 8 (2001): 533-555. Weiterführende Literatur: KALELİ, Lütfi: Vahdet-i
Vücut Nedir? In: KALELİ, Lütfi: Alevi-Sünni İnancında Mevlâna-Yunus ve Hacı Bektaş Gerçeği
(1994):71-72; ERTUĞRUL, İsmail Fenni: Vahdet-i Vücud ve Ibn Arabi(1997); KONEVİ, Sadreddin:
Vahdet-i Vücud ve Esasları (2008); HANÇERLİOĞLU, Orhan: İslam İnançları Sözlüğü (1994): 688-690
sowie DÜNDAR, Ali (Hrsg.): Muhyiddin-i Arabi’den Altın Öğütler (2005).
545
Vgl. BABINGER, Franz,: Schejch Bedr Ed-Din, der Sohn des Richters von Simaw (1921): 19-26;
GÖLPINARLI, Abdülbaki - SUNGURBEY, İsmet: Sımavna Kadısıoğlu Şeyh Bedreddin Manakıbı (1967)
und GÜZEL, Süha Halil: Şeyh Bedreddin İsyanı, Halk Bilimi 3 (1997): 25-33.
544
225
Juden und Christen und erhielt ihre Unterstützung. Das Volk sah Şeyh Bedreddin als
einen Hoffnungsträger an. Şeyh Bedreddins Leben und Ziele besaßen eine große
Bedeutung für Nâzım Hikmet wie auch für Ruhi Su. Nâzım Hikmet begegnete dem
Namen Şeyh Bedreddin zum ersten Mal im Gefängnis von Bursa (1936), als er die
Abhandlung “Simavne Kadısı Oğlu Bedreddin”, des Professors der theologischen
Fakultät der Darülfünün, Mehemmed Şerefeddin, las. Dort berichtet der Genuese Dukas
von einem einfachen Bauern, der die Ansicht vertritt, dass alles auf der Welt,
ausgenommen
die
Frauen,
ein
Gesamtbesitz
der
Menschheit
sei. 546
Diese
Schlüsselpassage brachte Nâzım Hikmet dazu das Epos von Bedreddin in vierzehn
Kapiteln während seiner Zeit im Gefängnis zu schreiben. Ruhi Su seinerseits vertonte das
letzte Kapitel. 547 Er wählte aus dem überlangen Şeyh Bedreddin Epos den letzten Teil
aus, weil dort die revolutionären Ansichten des Şeyhs geschildert werden, aufgrund derer
er gehängt wurde. Nâzım Hikmets Verse, in denen er von einer kommunistischen
Gemeinsamkeit in allen Lebensformen und von einer utopischen Zukunft spricht,
entsprechen völlig den Anschauungen Ruhi Sus.
Die stummen und feigen Menschen zeigen im Epos nach der Erhängung des
Şeyhs ein Schamgefühl und eine Trauer, da sie sich für seinen Tod mitverantwortlich
fühlen. Diese Scham ist jedoch, wenn man auf die moderne Parallele blickt, bei den
Verantwortlichen für die Morde an den drei Studentenführern, Deniz Gezmiş, Yusuf
Aslan und Hüseyin İnan, nicht zu erkennen. Es folgt ein Text von Nâzım Hikmet, der die
Gedanken des Şeyh Bedreddin verdeutlicht, den Ruhi Su alledings nicht gesungen hat.
…
Gemeinsam wie mit einem Mund Türküs singen,
Hep bir ağızdan türkü söyleyip
Gemeinsam das Netz aus dem Wasser ziehen,
hep beraber sulardan çekmek ağı,
Gemeinsam das Eisen hauchdünn schlagen,
demiri oya gibi işleyip hep beraber,
Gemeinsam den Boden pflügen,
hep beraber sürebilmek toprağı,
Gemeinsam die honigsüßen Feigen essen,
ballı incirleri yiyebilmek hep beraber.
Gemeinsam ist aber nicht die Wange der Geliebten.
Yârin yanağından gayri her şeyde,
Um an allen Orten
her yerde,
“Gemeinsam”
hep beraber
Sagen zu können,
diyebilmek için,
on binler verdi sekiz binini.548
Opferten Zehntausend ihre Achttausend.
Nâzım Hikmet
HIKMET, Nâzım: Simavne Kadısı Oğlu Şeyh Bedreddin Destanı (1977): 7.
Ebd. 51-52. Siehe auch oben 9.5.6.
548
Vgl. HİKMET, Nâzım: Simavne Kadısı Oğlu Şeyh Bedreddin Destanı (1977): 58.
546
547
226
Bei
aller
pathetischen
Gemeinsamkeit
und
Brüderlichkeit
kommt
die
humoristische Note gerade recht, dass die Wange der Geliebten für die Brüder Tabu
bleibt. Die letzte Zeile erklärt, dass in dem Aufstand des Şeyh Bedreddin von
Zehntausend Kämpfern Achttausend ihr Leben freiwillig opferten.
227
9.5.7
„Ein Türkü von Kul Hüseyin”
Heutzutage darf einem bloß nichts zustoßen,
Ein wahrhaft vertrauter Gefährte ist nicht geblieben.
Den verräterischen Gefährten nenne ich nicht Freund, Gott bewahre!
Was soll’s, dem Verräter fehlt die Fürsorge.
Ich wünsche mir zutiefst eine Geliebte,
Sie soll mir geben, was immer sie kann.
Sie soll mich beschützen vor Feinden und Fremden,
Eine Geliebte, die jeden anlächelt, ist mir gleichgültig.
Hüseyin, höre auf, unnötig zu weinen.
Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.
Dies wird Welt genannt, alles geht vorbei,
Welchen Tag hast du gesehen, der nicht zum Abend wurde?
Kul Hüseyin
Hier sind vor allem die Bezüge zu Ruhi Sus Leben wichtig. Der Wunsch nach
wahren Freunden und der Zorn auf sogenannte Freunde sind ganz deutlich zu erkennen.
Als Ruhi Su aus dem Gefängnis entlassen wurde, mieden ihn die Freunde seiner eigenen
Generation aus politischen Gründen (diese Tür schloß sich), 549 während die jüngere
Generation ein herzliches Verhältnis zu ihm aufbaute (jene Tür öffnete sich), indem sie
seine Lieder sangen und sich an Ehrungen für ihn beteiligten.
549
Nachdem Ruhi SU aus dem Gefängnis entlassen wurde, blieben ihm die Türen des Staates verschlossen.
Nach fünf Jahren ging er zum erstenmal ins Theater. Das Spiel hieß „Der Tod eines Handlungsreisenden“
(Satıcının Ölümü) “ von Arthur Miller. Am Ende der Vorführung war Ruhi Su sehr aufgeregt. Er wollte den
Schauspielern gratulieren und ging in die Kulisse. Aber er war enttäuscht, denn er sah wie sein ehemaliger
Kollege Cüneyt Gökçer sich von ihm abwandte. Vgl. AKA TLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001)17-18.
228
„Kul Hüseyin’den Bir Türkü”
Zamanede bir hal, gelmesin başa,
Ahdı bütün bir sadık yâr kalmamış.
Kalleş yâr olana, dost demem haşa!
N’olacak muhannet, meydan görmemiş.
Ben bir yâr isterem, derûn-u dilden,
Sarfede varını, geldikçe elden,
Beni setreyleye, âdudan elden,
Her yüze gülen yâr, olmuş olmamış.
Hüseyin beyhude ah etme, nâçar,
Bir kapın örterse, birin açar,
Buna dünya derler, hepisi geçer,
Hangi günü gördün, akşam olmamış.
Kul Hüseyin
Nach diesen Türkü singt er auf der Schallplatte zwei weitere, das eine ist “Das
Soldatenlied” (Bir Asker Türküsü)
550
und das andere “Mein roter Kranich “(Allı
Turnam)”. Das zweite ist ein sehr bekanntes Türkü. In dem Lied geht es um Heimweh. Es
folgen zwei selbst geschriebene und vertonte Lieder mit den Namen “Der Berg Hasan”
(Hasan Dağı)
551
und “Ein besonderer Ort” (Mahsus Mahal),
552
in denen er seine
Bedrückung wie seine Hoffnung offenbart. In “Ein besonderer Ort” spricht er vom
Glauben an eine bessere Zukunft. Eine derartige innere Haltung trieb ihn immer wieder
an, seine Arbeit zu vollenden und zu vervollkommnen. Ruhi Su setzt Hoffnung bewußt
ein als den Schlußstein von “Gedichten und Türküs” (Şiirler-Türküler).
Zum Verständnis der Türküs, mit denen Ruhi Su arbeitete, ist es förderlich, wenn
eine verwandte, doch auch in wesentlichen Punkten andere Sichtweise angeführt wird.
Hüseyin Erdem gibt eher sein Gesamtbild als Einzelinterpretationen. Er ist dazu in
besonderem Maße befähigt und berechtigt, weil er zu einem engem Freund geworden
war, dem Ruhi Su alles erzählen und anvertrauen konnte.
550
Siehe oben Kap. 2.6.2.
Siehe oben Kap. 7.1.1.
552
Siehe oben Kap. 7.1.2.
551
229
Über die Schallplatte „Gedichte und Türküs” (Şiirler, Türküler) äußert sich Erdem
wie folgt. Ruhi Su beabsichtige, das Leiden und den Schmerz der 68er Generation mit
kämpferischen Augen zu sehen und diese Generation in einem humanistischen Licht zu
zeigen, sodass ein gesellschaftlicher und philosophischer Vorblick und Rückblick
möglich werde. Diese Schallplatte habe eine zentrale Stellung. Die Zahl Drei erreiche
hier ihren symbolischen Höhepunkt, wie bei dem Gedicht „Die drei Zypressen“(Üç
Selvi). Damit seien die drei hingerichteten Studentenführer, Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan
und Hüseyin İnan gemeint. Indem die drei Zypressen Licht auf ein blutiges Beil würfen,
zeigten sie, dass der Mensch dem Menschen selbst alle Untaten zufüge, wie die Axt aus
Holz dem Holzstamm der Zypresse Leid zukommen ließe. Ruhi Su sei jemand gewesen,
der eine Sache nicht einfach erzählt habe. Er habe die feine und sensible Art der
Vermittlung vorgezogen und so die Menschen die Sache selbst erkennen lassen. Die
Schallplatte enthalte das Volksklagelied „Drei Mädchen und eine Mutter“ (Üç Kız Bir
Ana). Im ursprünglichen Kontext erhalten eine Mutter und ihre drei Töchter die Nachricht
vom Tode des Vaters, worauf sie von der Alm in das Dorf trauernd herabsteigen. Die
Sinngebung änderte Ruhi Su dahingehend, dass, wie Hüseyin Erdem ausführt, die Mutter
Nazife Cemgil darstelle, die Mutter von Sinan Cemgil, einem der ermordeten Führer der
68er Generation. 553 Der Grund, warum Ruhi Su dieses Lied aufgenommen habe, sei
gewesen, dass er mit den drei Mädchen die Geliebten der ermordeten Studentenführer
Sinan Cemgil, Kadir Manga und Alpaslan Özdoğan symbolisieren wollte, weshalb sie
auch wie die Mädchen des Volkslieds trauern. Diese Menschen seien in Freundschaft mit
Ruhi Su aufgewachsen, da er bereits mit ihren Eltern befreundet gewesen sei. 554
In seinen Mevlânâ Gedichten ginge Ruhi Su fünfhundert Jahre zurück. Die Worte
Mevlânâs „Mir sind mit dem Gestern, mein Lieber / Alle Worte des gestrigen Tages
ausgegangen / Man muss jetzt von neuen Dinge erzählen“ (Dünle beraber gitti,
cancağızım / ne kadar söz varsa düne ait / Şimdi yeni şeyler söylemek lazım),555
bedeuteten, dass man die drei jungen Menschen nicht habe hängen dürfen, es gehe nicht
553
Sinan Cemgil wurde am 31. Mai 1971 vom Militär ermordet, als er versuchte, mit zwei weiteren
Studentenführern die ansässigen Dörfler zu einem Aufstand zu bewegen. Vgl.
http://tr.wikipedia.org/wiki/Sinan_Cemgil. Abgerufen am 3. März 2012. Als seine Mutter sein Leichnahm
abholen wollte, verlangte sie auch die anderen beiden Leichen, da sie nunmehr auch ihre Söhne seien, nach
Hüseyin Erdem im Gespräch mit dem Verfasser am 31. Aug. 2011 in Köln.
554
Vgl. das Foto von Ruhi Su und Sinan Cemgil in AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 50.
Sinan Cemgil war der Sohn von Ruhi Sus Freund Adnan Cemgil, der zusammen mit Behice Boran den
„Verein der Friedensliebenden“ (Barışseverler Cemiyeti) gegründet hatte. Siehe oben Kap. 2.6.1.
555
Siehe oben Kap. 9.5.1.4.
230
an, sie sozusagen als Rache für die Hinrichtung Adnan Menderes 556 und zweier seiner
Minister zu töten: dies sei ein Fehler damals wie jetzt.
Bei der Analyse der Geschichte ist Ruhi Su, der sein Leben lang unterdrückt
wurde,
sehr
sensibel
vorgegangen.
Er
und
seine
Freunde
leisteten
gegen
Ungerechtigkeiten Widerstand. Sie bissen auf ihre Lippen und wandten sich jeden Tag
dem Neuen zu, ohne sich von der Vergangenheit zu trennen.
Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte,
Wenn das Schicksal den Aufschrei doch gehört hätte,
Wenn der Henker doch Mitleid gehabt hätte,
Hätte Zaloğlu um den Krieg und um die Tapferkeit geweint,
Hätte das Schicksal sich angeschaut und um sich geweint,
Hätte der Henker, der Unbarmherzige, geweint. 557
Diese Worte zeigten sehr deutlich die Tyrannei der Militärjunta von 1971. Auf
diese Willkür gebe Ruhi Su eine Antwort: „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“
(Yaratan Bizleri İnsan Yarattı) 558 Er hinterfragt zwischenmenschliche Probleme. So bei
der Geschichte Behice Borans, die sich in dem Lied ‚Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun“
(Ninni-Merhaba Dursun Bebek) 559 wiederfindet. Hier wird kritisiert, dass man Boran ins
Gefängnis gesteckt hat und sie ihr Kind dort auf die Welt bringen musste.
Erdem betont, diese Schallplatte sei ein sehr aktuelles Werk gewesen, das einen
Rückblick auf die Vergangenheit schaffe, aber auch Licht auf den Weg in die Zukunft
werfe. Es würden Geschichten über die Menschen erzählt. Schmerzen und Leid hätten die
Jugendlichen der 68er Generation und ihre Familien ertragen. Doch auch in der
Vergangenheit habe es ähnliche Schicksale gegeben, wie diejenigen des Şeyhs Bedreddin
oder Nâzım Hikmets. In dem Lied von Kul Hüseyin hieße es, auch wenn man endlos
Schmerzen erleide, gäbe es immer noch einen Ausweg. Man dürfe nicht aufgeben, eine
Lösung sei immer zu finden. Durchlebte Schmerzen würden hier auf ein historischgesellschaftliches Fundament gestellt. 560
556
Menderes war der erste aus freien Wahlen hervorgegangene Ministerpräsident der Türkei. Er regierte
von 1950-1960 und wurde am 27. Mai 1960 durch das Militär gestürzt und am 17. September 1961
zusammen mit zwei seiner Minister hingerichtet. Siehe wikipedia: Adnan Menderes.
557
Siehe auch oben Kap 9.5.1.2.
558
Siehe oben Kap. 9.5.2.
559
Siehe oben Kap. 9.5.3.
560
Aus dem Interview mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. Erdem merkt an, dass Ruhi Su das
Material der Schallplatte mit ihm diskutiert habe, bevor er sie herausgab.
231
Erdems Ausführungen entkräften entscheidend den Vorwurf, Ruhi Su habe die
Generation von 1968 nicht thematisiert.
232
9.6
Köroğlu (1975)
Über Köroğlu gibt es eine weitverbreitete Sage. Sie erzählt die Taten eines
Mannes, der Räuber und Held zugleich ist, einer Art von anatolischem Robin Hood. Er
nimmt den Reichen und gibt den Armen. Tapferkeit, Mut, Ehre und Stolz sind seine
Tugenden. Der historische Köroğlu des 16. Jahrhunderts gehörte der Celali Bewegung an,
das heißt, er kämpfte gegen die Ausbeutung durch die osmanischen Autoritäten. Sein
Leben und Wirken haben im Volksgedächtnis tiefe Spuren hinterlassen und wurden das
Thema des Köroğlu Epos. Unter Yavuz Sultan Selim (1512-1520) wurde 1519 der
Aufstand des Yozgatlı Celal und seiner Tausenden von Anhängern zu einem großen
Problem. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, doch man bezeichnet alle folgenden
Aufstände als Celali Aufstände (Celali İsyanları). 561
Von einem möglichen anderen Köroğlu berichtet der Reisende Evliya Çelebi im
dem 17. Jahrhundert. Er nennt Köroğlu auch einen Volksdichter. Seine Gedichte sind
insbesondere als Aufruf zum Kampf gegen die Feinde der Osmanen zu verstehen, als
Yeniçeri schreibt er von Kriegen und Kämpfen. Köroğlu zieht in den Krieg gegen den
Iran und besingt die Heldentaten des osmanischen Paşas Osman (Özdemiroğlu). 562 In der
Volksdichtung existieren mehr Versionen über Köroğlu als in den Liedern. Er wurde
sogar zum Helden eines Epos. Unter vielen türkischen Stämmen von Sibirien bis
Thrakien, selbst bei Armeniern und Georgiern, die mit Türken kulturellen Kontakt hatten,
rankten sich um seine Persönlichkeit Epen und Geschichten. 563
Eine dieser Geschichten lautet: Als Ruşen Ali ein kleiner Junge war, wird sein
Vater, ein Pferdezüchter, von seinem Landesherrn bestraft, weil zwei von ihm
ausgesuchte Fohlen vom Herrn als mit Fehlern behaftet beurteilt werden. Zur Strafe
werden dem Vater beide Augen ausgestochen, daher kommt der Name Köroğlu, der Sohn
des Blinden. Ali wird erwachsen und zieht beide Fohlen, die seinem Vater zum
Verhängnis wurden, groß. Aus einem dieser Fohlen wird schließlich der berühmte
Schimmel Kırat. Ali sattelt dieses einzigartige Pferd und zieht in die Berge, um seinen
Vater zu rächen. Er lässt sich in Çamlıbel, dem heutigen Bolu, nieder. Durch seinen
561
Vgl. SHAW, Stanford J.: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey I (1976): 185-186.
Weiterführend siehe BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu Destanı (1984); AVCI, A. Haydar: Köroğlu
Ayalanması (1994); YAĞCI, Öner: Köroğlu, Yaşamı ve Şiirleri (2006); BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu
Kimdir. Yurt ve Dünya 20, (20. Aug. 1942). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2
(1982):236-240.
562
Evliya Çelebi Seyahatnamesi. In: ÖZTELLİ, Cahit: Köroğlu ve Dadaloğlu (1977): 3.
563
Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu Hakkında, Oluş (16. Apr. 1939). In: BORATAV, Pertev
Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 229-235.
233
Wagemut und seine Heldentaten wird er rasch berühmt. Mit den Männern, die sich um
ihn teils freiwillig, teils unfreiwillig scharen, wird er zu einer Macht, welche die Paşas
und Herren in Angst und Schrecken versetzt. Alle, die vor den Grausamkeiten und
Verfolgungen der Obrigkeit flüchten, finden bei ihm Schutz. Er ist nicht nur ein Bandit,
sondern Beschützer der Schwachen und Richter der Gerechtigkeit. Seine Herrschaft in
Çamlıbel, sagt der Volksmund, dauert bis zur Erfindung des Gewehrs. Als er die
Eisenstange mit dem durchlaufenden Loch zum ersten Mal sieht und erkennt, dass dieses
Gerät töten kann, verschwindet er von der Erde und wird zu einem Rätsel:
Das Gewehr wurde geboren, die Tapferkeit ist gestorben,
Das krumme Schwert muss nun im Schaft rosten.
Köroğlu
Tüfek icad oldu, mertlik bozuldu,
Eğri kılıç kında paslanmalıdır. 564
Köroğlu
Die Frage stellt sich, weshalb Ruhi Su sich für Köroğlu als Thema entschied. Er
selbst sagt, dass ihn Ruşen Ali, der Sohn eines Pferdezüchters, als Individuum nicht
interessiere. Er nähere sich Köroğlu nicht wie Historiker, die ihn als Banditen, Dichter
oder Celali ansähen, sondern er sähe ihn als Symbol des Kampfes für Gerechtigkeit in
seiner Zeit, als einen epischen Helden. Er habe alles, was Köroğlu hinterlassen habe und
was heute noch bestehe vom Volk und dessen Dichtern gelernt. Köroğlu ist für Ruhi Su
ein tapferer Mann, der sich gegen die Despoten richtet, die Schwachen schützt, den
gierigen Reichen schlaflose Nächte bereitet und den Leidenden Rat gibt. Ruhi Su
erkannte, dass das Volk Mut fasste, als es die Lieder und Geschichten über Köroğlu
hörte. Das Volk fühlte sich so sicher als wenn es einen Retter gefunden hätte. Auf
Hochzeiten wurden Lieder über Köroğlu um die Wette gesungen. Daraus übernahmen sie
die Funktion von Heldenliedern. So sei es auch gekommen, dass er, Ruhi Su, in dem
Charakter Köroğlus die gesellschaftliche Funktion des Helden im Dienste der Armen
gesehen habe. Diese Funktion sei für ihn die eigentliche Realität Köroğlus. Er gebe
Köroğlu mit seinen eigenen Sehnsüchten, Empfindungen und Erlebnissen wieder, wie das
Volk und seine Dichter. Dabei denke er stets an den tapferen, einfühlsamen und
menschlichen Köroğlu. 565
564
565
Ebd. 229-230.
SU, Ruhi: Köroğlu’nun Kimliği, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Köroğlu“ (1975).
234
Ruhi Su beginnt sein Köroğlu Album mit einem kurzen Prolog, in dem er auf die
Missstände in der Gesellschaft und die ungerechte Verteilung des Besitzes aufmerksam
macht:
9.6.1
„Prolog“
Wenn sich eine Nomadensippe auf den Weg machte,
Fingen die Glocken der Tiere an zu sprechen.
Die Glocke des vorderen Kamels läutete:
„Mein Herr ist reich, mein Herr ist reich.“
Die Glocke des mittleren Kamels läutete:
„Weshalb, weshalb, weshalb, weshalb?“
Und die Glocke des hinteren Kamels läutete:
„Von ihm, von dem, von ihm, von dem.“
Diese unsere Dichtersprache, unsere wahrhaftig klingende Saz, spricht die Wahrheit aus,
seit den Gebeten des Schamanen, die den Leidenden Kraft verleihen. So nahm der
Schamanenlehrer, der Prediger der Berge und Flüsse seine Saz in die Hand, und schauen
wir mal, was er sagt:
„Allah! Bismillah!
Oh, Allmächtiger, hilf mir, wenn ich mich irren sollte!
Oh, meine Saz, sieh und sage das Richtige!.
Meine aus der Wurzel eines Baumes geschnitzte Saz, meine Saz, deren Bundstäbe ich aus
dem Rotbusch arbeitete, meine Saz, deren Saiten ich aus dem Schwanz des
Nomadenpferdes spannte, sieh und sage das Richtige!
Falls nicht, ziehe ich an deinen Ohren und zwirbele sie
oder werfe dich zu Boden!
Dies ist der Augenblick, in dem ich spiele und singe.
Ich nahm meine Saz in die Hand, schlich umher wie eine Wasserschlange.“ Dann brach
er ab.
235
Die Beine eines Pferdes sind schnell, die Zunge eines Dichters ist spitz, sagt man.
Lasst uns von Dedem Korkut, dem Sohn Kara Hocas, sprechen. Danach gehen wir über
zum Helden Köroğlu. Einer der vierzig Mutigen aus Çamlıbel, Yusufs Sohn Köroğlu,
nahm seine Saz in die Hand und schauen wir mal, was er sagt und welchen Rat er gab:
Ruhi Su
„Prolog“
Bir oba kalkıp da yola koyuldumu,
hayvanların çanları başlarmış konuşmaya!
Önde giden devenin çanı:
-Benim Ağam zengindir, benim Ağam zengindir!
Diye ötermiş.
Ortada giden devenin çanı:
-Neden, neden, neden, neden?
Diye ötermiş.
Arkadan gelen devenin çanı da:
-Ondan bundan, ondan bundan, ondan bundan!
Diye ötermiş.
Bizim bu ozan dilimiz, doğru gören, doğru söyleyen sazımız, dertlilere derman arayan
Şaman dualarından beri böyle yargılayıp geliyor. Aldı alaca dağın, kara dağın ve akan
suların âyincisi, hem âyincisi hem de oyuncusu olan Şaman kocası, bakalım ne dedi:
„Allah! Bismillah!
Ey Tanrım! Yanıldığımda bana yardım et!
Ey kopuzum! Doğru gör, doğru söyle!
Üyengi ağacının kökünden oyarak aldığım kopuzum!Kızıl çalı tobulgadan perdelerini
yaptığım kopuzum! Yürük atın kuyruğundan tel yaptığım kopuzum! Doğru gör, doğru
söyle!
Söylenene uymazsan kulaklarını burarım!
Seni yere çalarım!
Oynayıp durduğum andır bu an!
Çam kopuzumu elime aldım, su yılanı gibi dolandım döndüm…“
Deyip kesti.
236
At ayağı çabuk, ozan dili çevik olur derler. Biz gelelim Kara Hoca’nın oğlu Dedem
Korkut’a. Dedem Korkut’tan bir yiğit damar sürüp getirelim Köroğlu’na.
Aldı çardaklı Çamlıbel’in kırk delisinden biri, Yusuf’un oğlu, Koç Köroğlu.
Bakalım o da nasıl bir öğüt verdi, ne söyledi:
Ruhi Su
Der Prolog hat märchenhafte Züge: die Glocken der Kamele üben Sozialkritik, die
ebenso wahr ist wie die Sprache des Dichters, welche mit den Gebeten des Schamanen
verwandt ist. Es geht überhaupt um Wahrheit und Rat in sozialen Nöten, wie sie anfangs
die Nomaden erleiden. Der Dichter spricht von einem Prediger der großen Naturformen,
welcher Allah anfleht, ihn vor Irrtum zu bewahren. Das gleiche Flehen richtet er an sein
Musikinstrument, das er mit handwerklicher Zuneigung selbst gebaut hatte. Im
Augenblick des Singens spricht er einerseits von sich selbst in der Ichform, andererseits
von Dichtertum überhaupt und schließt mit der Aufforderung Köroğlu, der stets Rat
wusste, die Ehre zu erweisen. Der Rat folgt im nächsten Gedicht:
237
9.6.2
„Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz“
Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz,
Beladet die Karawane und bündelt alles fest .
Wenn du den Kampfplatz betrittst,
Gürtet eure Schwerter um und kämpft gegen die Jüngeren.
Ich ritt auf den Feind zu
Und bin ohne Rückkehr; der Tod ist nah.
Verletzt die Armen und Schwachen nicht,
Achtet auf die Habgierigen, die Reichen.
Köroğlu wählt immer den Kampfplatz.
Ich weiß, was Gut und Böse ist,
Vergebt dem, der euch um Erbarmen bittet,
Kümmert euch um den Kummer der Leidenden.
Köroğlu
„Dinle Sözlerimi Han Oğlum Ayvaz“
Dinle sözlerimi Han oğlum Ayvaz!
Yükletin kervanı dengine bakın.
Erlik meydanına girdiğin zaman,
Kuşanın kılıncı gencine bakın.
Düşmanın üstüne eyledim akın,
Dönüşüm yok zamanım yakın.
Fakir fukarayı incitmen sakın,
Mal yemez tamahkâr zengine bakın.
Köroğlu her zaman kurdu meydanı,
Ben bilirim yahşi ile yamanı.
Aman dileyenden kesme amanı,
Dertli olanların derdine bakın.
Köroğlu
238
Ayvaz ist der Sohn des Metzgers des Herren von Bolu. Man sagt, dass Köroğlu
von seiner Schönheit hörte, ihn entführte und an Sohnes statt annahm. Auffällig ist der
Wechsel der Ansprechpartner des lyrischen Ichs. Die Worte Köroğlus gelten nicht nur
seinem Sohn Ayvaz, sondern allen, die ihm zuhören. Er will, dass alle gemeinsam
handeln und gegen das Schlechte kämpfen.
Für Ruhi Su ist das Besondere an den Worten Köroğlus, dass dieser ein sozialer
Kämpfer war, der nie gegen die Schwachen, Alten und Armen kämpfte, sondern stets
gegen die Starken, Jüngeren und Reichen. Auch Ruhi Su kämpfte Zeit seines Lebens mit
seinen Liedern gegen das Unrecht in der Gesellschaft. Als moderner Dichter fühlte er
sich mit Yunus Emre, Karacaoğlan, Pir Sultan, Dadaloğlu und Köroğlu brüderlich
verbunden. Auch er erhob, wo immer er konnte, seine Stimme und nannte die Dinge beim
Namen. Er wollte seine Zuhörer nicht nur künstlerisch unterhalten, sondern sie zum
Nachdenken bewegen. Das folgende Gedicht passt zu diesen Leitgedanken.
239
9.6.3
„Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet“
Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet,
Es donnert auf dem Kampfplatz,
Der Herrscher aller Herrscher ruft den Rat zusammen,
Der Rat donnert gewaltig.
Wenn sich der Mutige selbst preist,
Wenn der Morgenstern den Schutzschild trifft,
Wenn die Pfeile auf ihre Ziele schlagen,
Donnert der Schutzschild gewaltig.
Der Pfeil wird aus der Burg geschossen,
Gott bewahre vor seinem Unheil.
Von Köroğlus lauten Rufen
Donnert es überall gewaltig.
Köroğlu
„Mert Dayanır Namert Kaçar“
Mert dayanır namert kaçar,
Meydan gümbür gümbürlenir.
Şahlar Şahı divan açar,
Divan gümbür gümbürlenir.
Yiğit kendini öğende,
Şeşber kalkana değende,
Oklar menzili döğende,
Kalkan gümbür gümbürlenir.
Ok atılır kal'asından,
Hak saklasın belâsından,
Köroğlu'nun nârâsından,
Her yan gümbür gümbürlenir.
Köroğlu
240
In sein „Köroğlu“ Album nimmt Ruhi Su ebenfalls das Gedicht mit dem Titel
„Ein Klagelied über Hoylus Tod“ (Hoylu’nun Ölümü Üzerine Ağıt) auf, worin die
Geschichte eines jungen Kämpfers aus Köroğlus Truppe erzählt wird, der in den Krieg
nach Bagdad zieht und nicht wieder zurückkehrt. Dieses Gedicht nimmt die Form eines
Gesprächs zwischen Köroğlu und seiner Frau Döne an, in dem er seine Sehnsucht nach
Hoylu zum Ausdruck bringt. Gepriesen wird in weiteren Gedichten nicht nur der
Kämpfer, sondern auch sein geliebter Schimmel Kırat, der mit ihm in jeden Krieg zieht.
Schließlich wird in den letzten Gedichten des Albums von seinem Lebensabend als
gebrechlicher alter Mann gesprochen.
Ruhi Su nimmt am Schluss der Schallplatte Gedanken des Prologs auf und spricht
davon, dass von den Schamanengebeten über Dedem Korkut, Köroğlu, Yunus Emre, Pir
Sultan Abdal, Karacaoğlan, Dadaloğlu hin und zu den großen Dichtern seiner Zeit, diese
schöne Sprache der Poesie, der Koran sozusagen mit Saiten, 566 immer das Richtige
gesehen und ausgesprochen habe. Die Dichter hätten die Menschen nicht nur dazu
gebracht, die Welt zu lieben. Sie hätten voraus gesagt, dass eine glücklichere und
gerechtere Welt kommen werde. Sie sangen jedoch so, als ob sie diese Welt schon erlebt
hätten. 567 Ruhi Su stand den Volksdichtern nicht nach. Er glaubte auch an eine bessere
und glücklichere Zukunft.
566
Hier ist die Saz gemeint. Ruhi Su waren solche Gedanken zutiefst vertraut. Auch er erblickte in dem
Instrument der Saz den wichtigsten Begleiter seiner Gesänge.
567
Vgl. SU. Ruhi: In AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri ( 2000): 46.
Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Kocabey“ (Kocabey);
„Klagelied über den Tod Hoylums“ (Hoylu’nun Ölümü Üzerine Ağıt); „Hinter den mit Schnee bedeckten
Bergen“ (Karlı Dağların Ardından); „Geliebter Grauschimmel, meine Seelenschimmel“ (Aman Kırat
Canım Kırat); „Wenn man sich auf den Grauschimmel setzt“ (Kırata Binince) und „Ich sah ein Pferd“ (Bir
At Gördüm).
241
9.7
Die fremden Tore / El Kapıları (1976) 568
In den vorhergegangenen sechs Langschallplatten war Ruhi Su ohne Chor
aufgetreten. Nun mehr, in der siebten, stellt er sich einer neuen Herausforderung, nämlich
mit seinem Chor zu singen. An dieser Praxis hielt er auch auf den beiden nächsten
Schallplatten „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var) und „Die Samahs"
(Semahlar) fest. 569
Ruhi Sus Album „Die fremden Tore“ (El Kapıları) schildert zwei Epochen und
ihre sozioökonomischen Gegebenheiten. Zwei Märsche stehen für diese Epochen. „Der
Sewastopol-Marsch“ (Sivastopol Marşı) lässt an die Zeit des Niedergangs des
Osmanischen Reiches denken. Die Melodie des „Marsches zum 10. Jahrestag der
Republik“ (Onuncu Yıl Marşı) verweist auf die Zeit der Republik. Eine Gemeinsamkeit
beider Epochen besteht darin, dass sich aus Anatolien Menschenmassen in Bewegung
gesetzt haben, zum einen in Richtung auf die jemenitische Wüste und zum anderen,
später, nach Deutschland. Eine weitere Gemeinsamkeit bilden die damit verbundenen
negativen persönliche Ereignisse und Gefühle wie Trennung und Schmerz. Ruhi Su
betont, dass die Geschehnisse um den Jemenfeldzug vom Volk und nicht so sehr von
intellektuellen Künstlern rezipiert wurden, während die Migration nach Deutschland
intellektuelle Künstler viel stärker zu Liedern, Büchern und Filmen anregte. Er wollte in
einem Album beide Sichtweisen vereinen. 570
Auf der ersten Seite dieser Schallplatte stellt Ruhi Su das Drama der Soldaten vor,
die in einen endlosen und dadurch zum Symbol für Weg ohne Rückkehr überhaupt
gewordenen Jemenkrieg geschickt wurden. In dieser Zeit befand sich das Land voller
verwaister Kinder und verwitweter Frauen. Hier ist von den Klagen der Frauen die Rede,
deren Männer im Ersten Weltkrieg zum Schutz der heiligen Städte des Islam in den
Jemen geschickt wurden und nicht mehr zurückkamen. Die zweite Seite der Platte
568
Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen
von S. Pleyl, A. Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten
Schallplatte „Fremde Türen“ (El Kapıları), Pläne, 1986.
569
Hüseyin Erdem führt in dem Gespräch vom 31.Aug. 2011 mit dem Verfasser in Köln aus: „Die
Chortätigkeit entsprach jedoch dem damaligen politischen Zeitgeist. Das gemeinsame Singen und das
gemeinsame Arbeiten standen im Vordergrund. Sabahattin Eyuboğlu nannte ihn „Chorleiter“. Der
klassische Ruhi Su veränderte sich im Chor. Nach den 16 kleinen Schallplatten war er nunmehr nicht mehr
der türkische Schaljapin, sondern wurde zur eigentlichen Stimme Anatoliens.“ Ruhi Su spricht im Gespräch
mit Atilla Özkırımlı 1978 allerdings von seiner Sehnsucht, in Zukunft auch wieder als Solist zu arbeiten,
welche zu den zwei Schallplatten „Kinder, Migrationen, Fische" (Çocuklar, Göçler, Balıklar, 1979) und
„Die Zeybeks" (Zeybekler, 1980) führte.
570
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı:“ El Kapıları“. In: Su, Ruhi:
Ezgili Yürek (1985): 110.
242
beschäftigt sich mit Ereignissen innerhalb der türkischen Republik. Die Probleme der
türkischen Migranten in Westeuropa fasst das ursprünglich aus Trabzon stammende Lied
„Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya Acı Vatan) zusammen. Die Darstellung
konzentriert sich auf die Arbeiter, die auf dem Weg sind von einer rückständigen
Agrargesellschaft zu einer entwickelten Industriegesellschaft. Auf der ersten Seite ist von
der „gesetzlichen Zwangsrekrutierung“ der Soldaten die Rede. Die zweite Seite spricht
von denen, die in den 60er Jahren, in deren Verlauf der Gastarbeiterexodus stattfand,
trotz ihrer politischen Freiheit aus wirtschaftlichen Gründen emigrieren mussten, da man
für ihre Probleme in der Türkei keine Lösungen fand. Es sind in beiden Fällen die
Auswirkungen von Zuständen, die die Herrschenden zu verantworten haben. 571
Soziologisch sind die gerade genannten Zustände so zu fassen, dass beim Vergleich
dieser beiden Ereignisse Ruhi Su nicht nur die Rolle eines Beschreibenden und
Darstellenden übernommen hat, sondern gleichzeitig die des Vergleichenden, Wertenden
und Kritikers. 572
571
Ebd. 110-111.
Vgl. TÜTENGİL, Cavit Orhan: Ruhi Su ve El Kapıları. In: AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri,
(2000): 49. Tütengil wurde in den Wirren der 70er-Jahre auf offener Straße umgebracht.
572
243
9.7.1
„Der Sewastopolmarsch”
Die vor Sewastopol liegenden Schiffe
Schießen ihre fürchterlich donnernden Kanonen ab,
Die Sieben und die Vierzig 573 stehen uns zur Seite.
Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen,
Ansonst wirf uns ins Meer.
Vor Sewastopol ein eingestürztes Minarett,
Der Feind hat kein Mitleid,
Die Heiligen eilen herbei in unserer Not.
Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen,
Ansonst wirf uns ins Meer.
Mehtermarsch
„Sivastopol Marşı”
Sivastopol önünde yatan gemiler,
Atar da nizam topunu, yer gök iniler,
Yardımcıdır bize kırklar yediler.
Aman da Padişahım izin ver bize,
İzin de vermez isen dök bizi denize.
Sivastopol önünde yıkık minare,
Düşman dedikleri gelmez imane,
Erenler geliyor bize imdade.
Aman da Padişahım izin ver bize,
İzin de vermez isen dök bizi denize.
Mehter Marşı
573
Das sind die „Vierziger” und die „Sieben Heiligen Dichter“ im alevitischen Glauben, die in Notzeiten
den Menschen zur Hilfe eilen. Siehe unten Kap. 9.9 und oben Fußnote 120.
244
Der Sewastopol-Marsch schildert die Verzweiflung der osmanischen Matrosen,
die der Kämpfe überdrüssig sind. Der Sultan jedoch verweigert ihnen die Entlassung.
Selbst die Hilfe der Heiligen lindert die Not nicht, welche so groß ist, das die Matrosen
ihrem Herrscher freiwillig ihr Leben anbieten.
Nach dem Sewastopol-Marsch geht Ruhi Su über zu einem Klagelied eines
gefallenen Soldaten. Er möchte nicht, dass die Trauer seiner Mutter fortdauert, es ist ihm
geradezu lieber, dass sie von seinem Tod erfährt, und die Trauer ein Ende nimmt.
245
9.7.2
„Klagelied - Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr schaut”
Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr ausschaut
Und Bündel ihrer Haare ausreißt,
Wenn sie fragt, „Wo bleibt mein Junge?”
Verheimlicht es ihr nicht und sagt, dass er tot ist.
Volkslied
„Ağıt - Aman, Anam Benim de Ulu Yola Durursa”
Aman, anam benim de ulu yola durursa,
Ak saçıını da kelep kelep yolarsa,
„Hani benim oğlum” diye sorarsa,
Saklaman, gizlemen, „öldü” den varın.
Halk Türküsü
Nachdem fast alle jungen Männer, selbst die Reservisten in den Krieg gezogen waren,
klagt eine Frau über die laute Trauer der einsamen Bräute, welche ihr fortwährend die
Ruhe nimmt. Die Frau beklagt sich im Grunde nicht über sich selbst, sondern sie zeigt
tiefes Mitgefühl mit den Bräuten.
9.7.3
„Das Kaman-Klagelied”
„Kaman Ağıdı”
In Kaman blieben keine Jungen mehr,
Kaman’da uşak kalmadı,
Viele Reservisten gingen fort
Redif gitti sürüyünen.
.
Ich kann nicht schlafen, weder am Tage noch in der Nacht,
Yatamıyom gece gündüz,
Wegen der klagenden Stimmen der Bräute.
Gelinlerin zarıyınan.
Volkslied
246
Halk Türküsü
9.7.4
„Das Jemenlied I”
Keine Wolken am Himmel, woher kommt dieser Rauch?
Keine Toten im Viertel, woher kommt diese Klage?
Diese Jemen-Gebiete, wie schrecklich sie sind.
Mutter! Es ist Jemen,
Seine Rose ist scharfer Brei,
Niemand kehrt heim.
Warum ist das so?
Hier ist Muş 574
Seine Wege sind abschüssig.
Niemand kehrt heim.
Warum ist das so?
Vor der Kaserne lärmen die Reservisten,
Schaut nach, was der Soldat in seinem Tornister hat,
Er hat ein paar Schuhe und seinen Fes.
Mutter! Es ist Jemen,
Seine Rose ist scharfer Brei,
Niemand kehrt heim.
Warum ist das so?
Hier ist Muş
Seine Wege sind abschüssig.
Niemand kehrt heim.
Warum ist das so?
Volkslied
574
Als der Sultan aufrief, man solle gegen reichliche Entlohnung freiwillig in den jemenitischen Krieg
ziehen, meldete sich ein armes anatolisches Dorf, das zur Provinz Muş gehörte. Der Sultan rechnete
offensichtlich mit der bedingungslosen Hilfsbereitschaft der Soldatet, weil sie zum allergrößten Teil
miteinander verwandt und verschwägert waren. Vgl. ARSLAN, Osman: Muş Türküsünün Hikayesi. In:
http://osmanalarslan.blogcu.com/mus-turkusunun-hikayesi/995342. Abgerufen am 15. März 2012.
247
„Yemen
Türküsü I“
Havada bulut yok, bu ne dumandır?
Mahlede ölen yok, bu ne figandır?
Şu Yemen elleri ne de yamandır.
Ano Yemen’dir,
Gülü çemendir,
Giden gelmiyor,
Acep nedendir?
Burası Muş’tur,
Yolu yokuştur,
Giden gelmiyor,
Acep ne iştir?
Kışlanın önünde redif sesi var,
Bakın çantasında acep nesi var,
Bir çift kundurayla bir de fesi var.
Ano Yemen’dir,
Gülü çemendir,
Giden gelmiyor,
Acep nedendir?
Burası Muş’tur,
Yolu yokuştur,
Giden gelmiyor,
Acep ne iştir?
Halk Türküsü
In dem „Jemenlied I“ hören wir mehrere Stimmen. Die Anzeichen des Krieges bleiben
am Anfang rätselhaft, bis die Stimme der Trauenden mit dem Wort „Mutter“ die
verzweifelte Lage kundtut und den Jemen nennt. Gleichwohl gehen die wiederholten
Fragen nach dem Sinn des Einsatzes und dem Grund, aus dem niemand von der Front
zurückkehrt, nach Muş zurück, wo die Kaserne ein armseliges Bild der Reservisten und
eines Soldaten bietet.
248
Das Jemenlied I wird in der Türkei häufig gesungen in dem schleppenden,
traurigen Ton der Wehklage. Durch Betonung der Fragen gab Ruhi Su dem Lied den
Charakter der provozierenden Anklage. Die letzten zwei Zeilen des Teils „Niemand kert
heim / Warum ist das so?“ (Giden gelmiyor / Acep ne iştir ?) ließ Ruhi Su vom Chor,
getrennt nach den tiefen Männer- und hohen Frauenstimmen, singen, während die
nächsten Zeilen von der Solistin Sümeyra Çakır vorgetragen wurden. Die Schlusszeile
„ Meine Gebieter, deinen Tod fasse ich nicht“ (Ağam, öldüğüne inanamiram) gewinnt
dadurch ihre besondere Wucht, dass sie von allen Sängern zweistimmig gesungen wird.
Diese Doppelung der Stimmführung sollte das Publikum an eine vorsichtige
Mehrstimmigkeit gewöhnen.
Die Kapelle spielt, dachtest du an eine Hochzeit?
Eine rotgrüne Fahne, dachtest du an eine Braut?
Jemand geht nach Jemen, dachtest du an seine Wiederkehr?
Komm wieder zurück, mein Gebieter, ich ertrage es nicht länger.
Mich überkommt Schläfrigkeit, ich erwache nicht mehr,
Mein Gebieter, deinen Tod fasse ich nicht.
Volkslied
Mızıka çalınır, düğün mü sandın?
Al yeşil bayrağı, gelin mi sandın?
Yemen’e gideni, gelir mi sandın?
Dön gel Ağam, dön gel, dayanamiram,
Uyku gaflet basmış, uyanamiram,
Ağam, öldüğüne inanamiram!
Halk Türküsü
Der Text dieses Liedes ist zweiteilig. Die ersten drei Fragen richten sich wohl an
eine Braut, welche sich die Umstände ihrer Hochzeit vorstellt und an der möglichen
Rückkehr ihres Geliebten festhält. Im Gegensatz dazu spricht wohl auch diese Frau
anschließend mit großer Bitterkeit, wobei sie trotz der angedeuteten Todesnachricht die
Rückkehr ersehnt. Die letzte Zeile dieses Liedes gestaltete Ruhi Su in einem aggressiven
Ton; auch hier wird seine kritische Absicht deutlich.
249
9.7.5
„Das
Jemenlied II”
Die unbarmherzigen Sultane
Lassen die Soldaten in Hicaz zehn Jahre warten.
Als ich jung war, verlor ich meinen Mann und wurde alt.
Verdammter Jemen, er nahm all unsere Tapferen.
Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es,
Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen.
Sagt jetzt dem Sultan, er solle meinen Liebsten zu mir schicken,
Er soll dieses Gesetz, diese Anordnung ändern,
Diese zehn Jahre auf eines herabsetzen.
Hat er denn gar kein Erbarmen, der Sultan Aziz? 575
Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es,
Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen.
Meine Brautzeit ist vorüber, ich verderbe,
Grau wurden meine Haare, die ich kämme,
Ich warte seit zehn Jahren auf die Rückkehr des Soldaten.
Grau wurden meine Haare und das Augenlicht schwächer.
Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es,
Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen.
Volkslied
575
Abdülaziz (1830-1876) war der 32. Sultan der Osmanen.
250
„Yemen
Türküsü II”
Merhametsiz padişahlar, askeri
On sene bekletiyorlar Hicaz‘da.
Genç iken kocadım, yitirdim yâri.
Soyka Yemen, yiğit koymadı bizde.
Ne olur karlı dağlar, ne olur,
Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur.
Padişaha söylen yâri göndersin,
Bu kanunu bu zakonu döndersin,
On seneyi bir seneye indirsin,
Hiç mi merhamet yok Sultan Aziz’de.
Ne olur karlı dağlar, ne olur,
Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur,
Gelin ömrüm geçti, ben mozuluyom,
Kara saçıma ağ’ördürdüm düzlüyom,
On senedir asker yolu gözlüyom,
Saçım ağardı, fer kalmadı gözde.
Ne olur karlı dağlar, ne olur.
Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur
Halk Türküsü
Im zweiten Jemenlied geht es wieder um den Verlust des Ehemannes, weil der
Sultan kein Einsehen zeigt und seine Soldaten in einem zehnjährigen Krieg sozusagen
verheizt. An der klagenden Frau ist ihre Jugend vorüber gegangen, und die Zeichen des
Alters sind an ihr zu sehen. Dennoch ist ihre Leidenschaft für ihren „liebsten Soldaten“ so
jung wie je. Das Alleinsein bedrückt sie so sehr, dass sie die Bergwelt Anatoliens zur
ihren Zuhörern macht. Ihr Wünschen findet kein Ende.
251
9.7.6
„Das
Jemen-Lied III”
„Yemen
Türküsü III”
Jemen, Jemen, glorreicher Jemen,
Yemen Yemen, şanlı Yemen,
Blutüberströmter Jemen,
Toprakları kanlı Yemen.
Ich ertrage den Jemen nicht,
Ben Yemen’e dayanamam,
Ich ertrage die Trennung von meiner Liebsten nicht.
Nazlı yârdan ayrılamam.
Geh’ nicht zum Jemen, dem Jemen,
Gitme Yemen’e Yemen’e,
Der Jemen ist so heiß, du erträgst es nicht.
Yemen sıcak dayanaman.
Wenn der Morgenappell ertönt,
Tan borusu çalınınca,
Bist noch klein, kannst nicht aufstehn.
Sen küçüksün uyanaman.
Volkslied von Nimetullah Hafız überliefert.
Im dritten Jemenlied erhebt ein Soldat Anklage gegen dieses Land, das ihn von
seiner Liebsten fernhält. Wenn der Jemen gleichzeitig
als „glorreich“ und
„blutüberströmt“ angesprochen wird, so verrät das zweite Adjektiv die bittere Ironie des
ersten. Die Mutter spricht in der zweiten Strophe eine Warnung vor der Wüste aus und
suggeriert eine verständliche Regression des Soldaten in das Kindesalter.
252
9.7.7
„Der Berg Ala“
„Aladağ“
Am Fuße des Aladağ
Aladağ’ın eteği,
Schlugen die Herren ihre Zelte auf.
Beyler kurmuş otağı.
Das Schicksal ist auf ihrer Seite,
Felek onlardan yana,
Uns schlägt immer das Schicksal.
Bize atar köteği.
Die ziehende Karawane wird stets müde,
Giden kervan yorulur,
Das schmutzige Wasser wird stets sauber,
Bulanan su durulur,
Die Mühle des Lebens läuft so nicht weiter,
Bu devran böyle gitmez,
Einst kommt der Tag der Abrechnung.
Bir gün hesap sorulur.
Volkslied aus Ömer Polats Theaterstück „ Mıho aus Aladağ“ (Aladağlı Mıho).
In diesem Gedicht sprechen die Unterdrückten über die anscheinende
Ungerechtigkeit des Schicksals, welches die Hochstehenden bevorzugt. Dennoch
sprechen sie auch mit Hoffnung, weil sich die Dinge in der Natur und im Menschenleben
immer zum Besseren korrigieren und eines Tages die Abrechnung mit den Herren
kommen wird.
Ruhi Su thematisiert große historische Ereignisse, die die Gesellschaft
beeinflussten und somit den Weg in die Volkslieder und in die Kunst der Intellektuellen
fanden. In den Klageliedern erfahren wir von den Tränen der Frauen, deren Männer in
den Jemen zogen und nicht zurückkamen. Das zweite historische Ereignis ist die
Migration der Männer nach Deutschland in den 60er und 70er Jahren. Die Männer ziehen
nicht in den Krieg, sondern nach Deutschland, um ein besseres Leben zu führen. Jedoch
sind die Folgen für die Frauen ebenso schlimm wie in einem Krieg, denn ihre Männer
kehren der Heimat für Jahre den Rücken zu und kommen zum Teil nicht mehr zurück. So
erklärt sich auch Ruhi Sus Feststellung, dass die einfachen Menschen unglücklich sind
und deshalb die Lieder klagend und bitter. 576
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: „El Kapıları“. In: SU, Ruhi:
Ezgili Yürek (1985): 110.
576
253
9.7.8
„Oh weh,
ich weine“
„O Vay Beni Ağlarım“
Oh weh, ich weine,
O vay beni ağlarım,
Ich weine bitterlich,
Ağlarım yana yana.
Ich schütte mein Herz aus
Derdimi diyeceğim,
Dem, der keine Sorgen hat.
Hiç derdi olmayana.
Oh, du, Schwarzes Meer,
Hey gidi Karadeniz,
Wie dunkel ist dein Gewässer!
Suların ne karadır.
Ist dein Herz auch gebrochen,
Senin de benim gibi,
Wie mein Herz?
Yüreğin mi yaradır?
Nähern sich die Schiffe nicht?
Gemiler yanaşmaz mı?
Fahren die Boote nicht umher?
Sandallar dolaşmaz mı?
Wisch deine Tränen ab,
Sil gözünün yaşını,
Kommen Getrennte denn nicht wieder zusammen?
Ayrılan kavuşmaz mı?
Die Schiffe nach Deutschland!
Almanya gemileri,
Eines fährt und es kommt wieder.
Bir ileri bir geri.
Verflucht soll es sein, das Deutschland,
Kör olsun Alamanya,
Es hat die Bräute zum Weinen gebracht.
Ağlattı gelinleri.
Volklied
Halk Türküsü
Auch dieses Lied nimmt das Thema auf von einer Frau, deren Herz über der
Trennung von ihrem Mann gebrochen ist. Freilich ist der große Rahmen der Natur, den
sie mit ihrer Klage füllt, ein anderer als in dem Jemenlied II. Wurden dort die
schneebedeckten Berge Teilhaber ihres Kummers, so ist es jetzt das Schwarze Meer.
Auch die geographische Pointierung der Jemenlieder im allgemeinen findet ihre
Entsprechung in der Zeile “Verflucht soll es sein, das Deutschland” (Kör olsun
Alamanya), es wird also dort wie hier ein Land als Ursache des Leides verdammt und
verflucht.
254
9.7.9
„Deutschland, bittere Heimat“
„Almanya Acı Vatan“
Deutschland, bittere Heimat!
Almanya acı vatan,
Es lacht einen niemals an,
Adama hiç gülmeyi.
Ich weiß nicht warum,
Nedendir bilemedim,
Einige kehren nicht zurück.
Bazıları gelmeyi.
Drei Mädchen und zwei Jungen,
Üçü kız, iki oğlan,
Wem hast du sie hinterlassen?
Kime bırakıp gittin.
So ein schönes Nest
Böyle güzel yuvayı,
Hast du dem Feuer übergeben.
Ateşe yakıp gittin.
Du bist nach Deutschland gegangen,
Almanya’ya gitmişsin,
Hast, wie man sagt, dort geheiratet.
Orada evlenmişsin.
Ganze sieben Jahre sind es geworden,
Tam yedi sene oldu,
Seit denen du nicht nach Hause kamst.
Evine gelmemişsin.
Du schickst mehr oder weniger Geld,
Az çok para yollarsın,
Wozu nützt dieses Geld?
Bu para neye yarar,
Deine fünf Kinder und deine Ehefrau
Beş çocukla ailen,
Halten stets Ausschau nach dir.
Hepisi seni arar.
Volkslied von Haydar Gedikoğlu aus Akçaabat / Trabzon überliefert.
Die Frage ist, wer für diese Trennung die Schuld trägt, der Ehemann oder die
neuen, fremden und sicherlich auch anreizenden Beziehungen in der deutschen
Gesellschaft. Die Kritik an dem Ehemann verschweigt nicht, dass er Frau und Kinder
vernachlässigt, obwohl es ihm mit seiner Familie und in seinem Heim gut ging. Das
wenige überwiesene Geld ist der Ehefrau nicht wichtig. Der Zusammenbruch der Familie,
an dem doch auch die neue deutsche Heimat ihren Anteil hat, bleibt ihr unverständlich.
Der Zusammenbruch ist ein nicht seltenes Phänomen und macht sie bitter.
Dieses Lied wird oft so unbedacht gesungen, dass man manchmal dazu tanzt. Ruhi Su
nimmt den ursprünglichen Sinn des Liedes beim Wort und gibt dem ihm den anklagenden
Charakter zurück.
255
9.7.10
„Unsere Müllmänner in Deutschland“
Wie bist du nur durch die graue, trübe Flut gekommen?
Hast du meine Nachricht vom wehenden Wind bekommen?
Kamst du als Erinnerung aus unserer Heimat?
Du hast wie die Basilikumblüte geduftet, mein Freund,
Du hast wie die Basilikumblüte geduftet, mein Freund,
Sobald der Tag hell wird, blinkt die Schrift des Schicksals auf unserer Stirn auf.
Es ist keine Stirnschrift, sondern eine Handschrift, verdammt nochmal.
Wir können sie nicht lesen,
Wir haben nicht einmal das Licht der Grundschule gesehen,
Wir, die glücklosen Leute der schmutzigen Regierenden.
Wir fegen die Straßen der Fremde, schmutzige Hand, schmutziges Herz!
Obwohl ich große Vorfahren habe,
Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor den Toren der Fremde.
Noch vor dreihundert Jahren trugen wir auf unseren Schultern die großen Fahnen,
Verbeugten sich die Fahnen dieser Länder vor unserer Zivilisation,
Jetzt gibt es drei Kinder dort in Bünyan, ihre Münder so groß vor Hunger,
Jetzt gibt es vier Kinder dort in Ereğli, ihre Augen so groß vor Hunger,
Sie nehmen den schweren Bissen, den ich ihnen aus der Dunkelheit zuschicke.
Obwohl ich große Vorfahren habe,
Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor denToren der Fremde.
Mein Bruder, warum stehen wir herum? Monatlich tausend grüne Mark!
Gehen und verstreuen wir uns vom Adler Anatolien in die Welt!
Die Herren wachen aus ihren goldenen Träumen auf. Los, lasst uns ihre Wege säubern,
Ohne uns vor der roten Sonne zu schämen, schmutzige Hand, schmutziges Herz!
Obwohl ich große Vorfahren habe,
Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor den Toren der Fremde.
Fazıl Hüsnü Dağlarca
256
„Almanya’da Çöpçülerimiz“
Nasıl geçtin de boz bulanık sellerden?
Haberin mi aldın esen yellerden?
Yadigar mı da geldin bizim ellerden?
Gül-ü reyhan gibi koktun birader,
Gül-ü reyhan misali koktun birader.
Gün ışır ışımaz, alın yazımız parlar.
Ne alın yazısı, el yazısı be!
Sökemeyiz ki biz ilkokul aydınlığı bile gösterilmeyenler,
Biz, pis yöneticilerin mutsuz kişileri.
Süpürürüz yaban ellerin sokaklarını, pis el, pis yürek!
Sığmazken atalarım güne, yarına,
Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben el kapılarına.
Daha üç yüzyıl evvel, omuzlarımızda gök yarısı bayraklar,
Eğilirdi bu ülkelerin burçları uygarlığımıza.
Şimdi ta Bünyan’daki üç çocuk, ağızları açlıkla büyümüş,
Şimdi ta Ereğli’deki dört çocuk, gözleri açlıkla iri iri.
Alır karanlıklar karanlıklar ardından gönderdiğim kara lokmasını.
Sığmazken atalarım güne, yarına,
Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben el kapılarına.
Ne duruyoruz be kardeş, aylık bin yeşil mark!
Varalım dağılalım, Kartal Anadolu’dan yeryüzüne.
Beyler altın uykularından uyanmak üzere, haydi yollarını temizleyelim,
Al güneşten bile utanmadan, pis el, pis yürek!
Sığmazken atalarım güne, yarına,
Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben, el kapılarına.
Fazıl Hüsnü Dağlarca
Ruhi Su hat neben Nâzım Hikmet auch andere Lyriker, darunter Fazıl Hüsnü
Dağlarca, vertont. Dem obigen Gedicht Dağlarcas hat Ruhi Su eine Melodie gegeben
ohne sich von dem doch recht patriotischen Inhalt abhalten zu lassen. Die Berufung auf
257
die glanzvolle Vergangenheit in osmanischer Zeit entspricht eigentlich nicht den
politischen Vorstellungen Ruhi Sus, dem falsche Heroisierungen und ein Lob der Ehre
fremd waren. Es ging ihm um eine anklagende Beschreibung der sozialen Not im
Ausland. Er übt Kritik an den Regierenden, die türkische Emigranten in solch eine
schmähliche Situation gebracht haben. Wäre das Land besser regiert worden, hätte es
diese Schmach nicht gegeben. Die Bitterkeit der türkischen Männer in Deutschland ist die
gleiche wie in den früher zitierten Gedichten, „Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya
Acı Vatan) und „Oh weh, ich weine“ (O Vay Beni Ağlarım). Der Fall der Männer ist nicht
nur der in einen gesellschaftlich wenig angesehenen Beruf, sondern auch in die Position
eines Außenseiters, eines Menschen, der „vor den Toren der Fremde“ existiert.
258
9.7.11
„Die fremden Tore“
„El Kapıları“
Der Mond geht auf, voll und voller,
Ay doğar bedir bedir,
Der Wind weht langsam, sehr langsam,
Yel eser ılgıt ılgıt,
Die fremden Tore grinsen Reihe um Reihe unverschämt, Sırıtır sıram sıram, el kapıları.
Die fremden Tore sind Tore der Sklaverei.
El kapıları da kölelik kapıları.
Versklavt wird der Tapfere,
Kul olur yiğit,
Versklavt wird der Mutige.
Kul olur yiğit.
Der Mond geht auf, mehr und mehr Halbmond,
Ay doğar hilâl hilâl,
Der Tag erwacht, neu und revolutionär,
Gün doğar devrim devrim,
Die fremden Tore stürzen Reihe um Reihe um,
Yıkılır sıram sıram el kapıları,
Die fremden Tore sind Tore der Sklaverei.
El kapıları da kölelik kapıları.
Gerettet wird der Tapfere,
Kurtulur yiğit,
Gerettet wird der Mutige.
Kurtulur yiğit.
Hasan Hüseyin Korkmazgil
Melodie: Tahsin İncirci
Dieses Gedicht, von Hasan Hüseyin geschrieben und von Tahsin İncirci vertont,
hat Ruhi Su vom „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) singen lassen. Es geht um den
Auszug der türkischen Arbeiter nach Deutschland, wo sie als Arbeitssklaven leben. Die
Bildlichkeit von monströsenToren und Mond macht die Bedrohung der Menschen durch
die unwürdigen Arbeitsverhältnisse sehr eindringlich.
Zum Ausdruck kommt aber auch ein großes Vertrauen auf die Kraft zur
Überwindung der Sklaverei, auf Sieg und Rettung der Mutigen. Dass „Die fremden Tore“
(El Kapıları) umfallen werden, heißt, dass die Menschen in der Zukunft nicht mehr in
Massen fortziehen müssen. Die alten Systeme brachten dem Volk langwierige Probleme
wie Kriege und Armut. Was nottut ist eine zeitgenössische Theorie, welche solche
Probleme beseitigt. Wann diese glücklichere Zeit kommt und wie sie kommt und wie die
Lösung solcher Probleme aussieht, lässt sich an dem folgenden Gedicht Nâzım Hikmets
ablesen, dass er in sein Album aufgenommen und vertont hat. 577 Die Deutung der
SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: „El Kapıları“. In: SU, Ruhi:
Ezgili Yürek (1985): 111.
577
259
„Sklaverei“ als den Auszug der türkischen Arbeiter nach Deutschland erscheint zunächst
nicht offensichtlich. Sie ist aber zwingend, wenn man bedenkt, dass alle Gedichte und
Lieder auf einer Schallpattenseite sich mit der Gastarbeiterproblematik und der Migration
überhaupt beschäftigen.
260
9.7.12
„Sie“
„Onlar ki“
Sie, die zahlreich sind
Onlar ki
toprakta karınca,
Wie Ameisen auf der Erde,
suda balık,
Fische im Wasser,
havada kuş kadar çokturlar;
Vögel in der Luft,
Die feige,
korkak,
Tapfer,
cesur,
Unwissend,
cahil,
Entscheidend
hakim,
Und kindlich sind.
Vernichtende
ve çocukturlar.
Kahreden
Und Erschaffende sind sie.
ve yaratan ki onlardır,
Nur ihre Abenteuer stehen in unserem Epos.
destanımızda yalnız onların maceraları
vardır.
Sie, die ihre Fahnen aus der Hand fallen lassen,
Bestochen durch die List des Verräters,
Onlar ki uyup hainin iğvasına,
sancaklarını elden yere düşürürler
ve düşmanı meydanda koyup
Und, den Feind auf dem Feld hinter sich,
In ihre Häuser fliehen.
kaçarlar evlerine
Sie zücken gegen so manchen Renegaten das Messer, ve bir nice mürtede hançer üşürürler
ve yeşil bir ağaç gibi gülen
Die wie ein grüner Baum lachen
Und ohne Feierlichkeit weinen
ve merasimsiz ağlayan
Und fluchen wie ein Heide.
ve ana avrat küfreden ki onlardır,
Nur ihre Abenteuer stehen in unserem Epos.
destanımızda yalnız onların maceraları
vardır.
Das Eisen,
Demir
Die Kohle
kömür
ve şeker
Und der Zucker
Und das rote Kupfer
ve kırmızı bakır
Und die Webereien
ve mensucat
Und die Liebe und die Grausamkeit und das Leben
ve sevda ve zulüm ve hayat
Und sämtliche Industriezweige
ve bilcümle sanayi kollarının
Und der Himmel
ve gökyüzü
Und die Wüste
ve sahra
261
Und der blaue Ozean
ve mavi okyanus
ve kederli nehir yollarının,
Und die traurigen Flussbetten
Und das Schicksal des bebauten Ackers und der Städte sürülmüş tarlaların ve şehirlerin bahtı,
Werden in einem Morgengrauen sich ändern
bir şafak vakti değişmiş olur,
Und in einem Morgengrauen , am Rande des Dunkels, bir şafak vakti karanlığın kenarından,
Ihre schweren Hände auf die Erde drücken,
onlar ağır ellerini toprağa basıp
doğruldukları zaman.
Um sich aufzurichten.
Sie sind es,
En bilgin aynalara,
en renkli şekilleri
Die auf die wissenden Spiegel
aksettiren onlardır.
die farbigsten Formen werfen.
Sie siegten und wurden besiegt in diesem Jahrhundert, Asırda onlar yendi, onlar yenildi.
und man sagte von ihnen:
Çok sözler edildi onlara dair
ve onlar için:
„Zincirlerinden başka kaybedecek
„Sie haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“
şeyleri yoktur!“ denildi. 578
Nâzım Hikmet / Übersetzer Feridun Korkmaz
Nâzım Hikmet zieht einen sehr weiten Themenkreis. Er schildert die Arbeiter mit
ihren Stärken und ihren entgegengesetzten Schwächen. Er geht aber auch auf die Kräfte
der Natur: Himmel, Wüste, Ozean und der Industrie ein: die Kohle, den Zucker, die
Webereien. Zu Beginn scheint es, dass diese Menschen so wenig Bewußtsein haben wie
Ameisen, Fische und Vögel: sie scheinen nur Masse zu sein. Die fortschreitende
Industrialisierung lässt sie ein Bewußtsein entwickeln. Aus einer Masse wird die
Arbeiterklasse. Dass sie siegen wird, ist unbezweifelbar: sie wird sich aufrichten am
Rande eines Morgens. Wie stark das Gedicht von kommunistisch-utopischen Ideen
geprägt ist, zeigt das abschließende Marxzitat: „Sie haben nichts zu verlieren als ihre
Ketten.“ (Zincirlerinden başka kaybedecek şeyleri yoktur ). Ruhi Sus Wahl gerade dieses
Gedichtes war ein sehr bewusster Schritt auf Nâzım Hikmet zu und die von ihm
vertretene universale Ideologie.
Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 6. Der Text wurde vom Verfasser leicht
bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.
578
262
9.8
Der Morgen hat einen Besitzer / Sabahın Sahibi Var (1977)
9.8.1
„Merhaba“
„Merhaba“
Ihr, die ich nicht einmal im Jahr sehe,
Senede bir görmediğim
Ihr Lieben, Merhaba Merhaba!
Canlar, merhaba merhaba!
Meine nicht zu bündelnden Rosen,
Deste deste dermediğim
Ihr Rosen, Merhaba Merhaba!
Güller, merhaba merhaba!
Meine Hoffnungen wurden zur Lüge ,
Umutlarım oldu yalan,
Diese Liebste richtete mich zugrunde.
O yâr beni, etti talan,
Die ihr euren Kopf von Stein zu Stein schlagt,
Başın taştan taşa çalan
Ihr Fluten, Merhaba, Merhaba!
Seller, merhaba merhaba!
Ich bin Yetimi, welches mich kränkt,
Yetimi’yim belim büken,
Geblieben sind weder eine Rose noch ein Dorn.
Ne gül kaldı, ne bir diken,
Die ihr die Nachtigall schweigend ertragt,
Bülbülü sineye çeken
Ihr Äste, Merhaba Merhaba!.
Dallar, merhaba merhaba!
Yetimi
Ruhi Su begann fast alle seine Konzerte mit diesem Lied. Es war eine Begrüßung
des Publikums, die auf der Schallplatte fortgesetzt wird. 579 Das Gedicht wird getragen von
einem leichten Ton der Enttäuschung. Ohnehin sieht er seinen Freundeskreis zu selten,
nicht einmal jedes Jahr. Sein Wunsch ist es zwar, die Freunde, angesprochen in der
traditionell weiblichen Gestalt der Rosen, zusammen zu bringen, aber es gelingt ihm
nicht. Was daraus resultiert, ist die Erschöpfung und die Aufgabe der Hoffnung. Ruhi Su
wäre nicht Ruhi Su, wenn er gegen Schluss nicht doch eine bescheidene Hoffnung äußern
würde. Als Dichter im Verhältnis zum Publikum sieht er sich in der traditionellen Figur
der klagenden Nachtigall, welche ertragen wird, wenn auch schweigend.
579
Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel
behandelte Lieder: „Der Jugend-Marsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen “ (Gençlik Marşı- Dağ başını
duman almış, siehe oben Kap. 6.7.3); „Meine Mutter hat mich aufgezogen“ (Annem beni yetiştirdi, siehe
oben Kap. 6.7.4); „Drei Mädchen auf dem Şişliplatz“ (Şişli Meydanında Üç Kız, siehe oben Kap.7.1.3);
„Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern ?“ (Bu Nasıl İstanbul Zindan İçinde, siehe oben Kap. 2.7);
„Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal, siehe oben Kap. 7.1.2) und „Hat euch euer Weg zu uns geführt?“
(Bizim ele uğradı mı yolunuz?).
263
8.2
„Das Sprichwort“580
„Atasözü“
In diesem von ihm selbst geschriebenen und vertonten Lied „Das Sprichwort“
(Atasözü) drückt Ruhi Su seine Überzeugung von einer besseren Welt aus. Er macht auf
die große Kluft zwischen Reichen und Armen aufmerksam. Gleichwohl sei die Welt für
alle da, und es gäbe auch genügend Brot. Der Text ist in politischer Hinsicht mehrdeutig.
Zum einen spricht er von einem sozialen Gegensatz, aus dem der Weltuntergang
erwachsen wird, das heißt, soziale Gegensätze haben eine politische Sprengkraft. Noch
schärfer formuliert: Er vertritt einen revolutionären, vielleicht sogar klassenkämpferischen Standpunkt. Dieser Lesart steht zum andern das deutlich ausgleichende
Ende des Textes entgegen:
Hört zu Freunde,
Dinleyin arkadaşlar,
Wir haben ein Sprichwort:
Bir atasözümüz var:
Wenn jemand isst, während der andere zuschaut,
Biri yer biri bakar,
Tritt dadurch der Weltuntergang ein.
Kıyamet ondan kopar,
Der angesprochene Weltuntergang
Kıyamet dedikleri,
Wird bald eintreten.
Ha koptu ha kopacak.
Eine neue Welt wird errichtet werden
Yoksuldan, halktan yana,
Zu Gunsten der Armen und des Volkes.
Bir dünya kurulacak.
Unsere Vorfahren haben
Görmüşler ileriyi,
Die Zukunft vorausgesehen.
Atalarımız demek.
Für jeden reicht die Welt,
Herkese yeter dünya,
Für jeden reicht das Brot.
Herkese yeter ekmek.
Ruhi Su
1976 hat „Der Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) diesen Marsch mit seiner
Sehnsucht nach einer besseren Zukunft zusammen mit den Zuhörern euphorisch
vorgetragen. Ruhi Sus Intention, eine bessere Menschheit zu schaffen, und seine Praxis
diese Hoffnung auf ein Sprichwort zu gründen, fand eine enthusiastische Aufnahme bei
580
Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in
Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer
nicht genannt werden.
264
den Demonstranten. So wurde dieser Marsch auch auf der Maidemonstration von 1977 in
İstanbul gesungen. Fast fünfhunderttausend Menschen nahmen Teil. Der Chor
marschierte von Beşiktaş nach Taksim. Allen voran ging Ruhi Su als Chorleiter.
Während des Demonstrationszuges wurde der Marsch ständig wiederholt.
265
9.8.3
„Demirc’oğlu“
„Demirc’oğlu“ 581
In einen Morgenschlaf
Bir sabah uykusunda
Ließen sie die Polizei stürmen.
Polisi saldırdılar.
Demirc’oğlu Vedat
Demircioğlu Vedat‘ı
Brachten sie mit Knüppeln um;
Coplarla öldürdüler.
Mit Knüppeln und Fäusten
Coplarla, yumruklarla
Schlugen und mordeten sie.
Vurdular, öldürdüler.
Sie waren blutjunge Burschen,
Gencecik çocuklardı,
Vielleicht haben Sie es auch gesehen,
Belki siz de gördünüz.
Mit Transparenten in ihren Händen
Ellerinde pankartlar
Gingen sie auf der Straße,
Yolda gidiyorlardı,
Sie wollten Freiheit,
Özgürlük istiyorlar,
Sprachen von Freiheit,
„Özgürlük“ diyorlardı,
Mit Transparenten in ihren Händen,
Ellerinde pankartlar,
Sprachen von Freiheit.
„Özgürlük“ diyorlardı.
Man nennt sie die 6. Flotte.
Altıncı Filo derler
Vielleicht haben Sie es auch gesehen,
Belki siz de gördünüz
Auf Zypern stand sie vor uns,
Kıbrıs’ta karşımıza
Stoppte uns,
Çıktılar, durdurdular
Am Bosporus stand sie vor uns,
Boğaz’da karşımıza
Mordete uns
Çıktılar, öldürdüler
Im Befreiungskampf.
Kurtuluş savaşında
Vielleicht haben Sie es auch gesehen.
Belki siz de gördünüz
Demircioğlu ist nicht nur einer,
Demircioğlu bir değil
Er ist wie unser Volk die große Menge.
Halkımız gibi çoğul
Es kommt rauschend,
Geliyor çağıl çağıl
Kommt rauschend.
Geliyor çağıl çağıl
581
(Ruhi Su)
Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern
Ruhi Sus“ behandelt.
266
Vedat Demircioğlu war das erste Opfer der türkischen 68er-Studentenbewegung.
Als am 15. Juli 1968 die 6. Kriegsflotte der USA in İstanbul anlegte, protestierten viele
Studenten. Zwei Tage später stürmte die Polizei das Studentenwohnheim der
Technischen Universität (İstanbul Teknik Üniversitesi) und nahm Studenten fest. Bei
dieser Aktion wurden viele Studenten verletzt und der junge Vedat Demircioğlu aus dem
Fenster gestoßen, der dann einige Tage später an den Folgen des Sturzes starb. Der Name
Vedat Demircioğlu wurde zu einem Symbol des Kampfes gegen die amerikanische
Präsenz in der Türkei und gegen die imperialistische Ideologie. Ihm zu Ehren schrieb
Ruhi Su später das oben zitierte Gedicht.
Dieses Lied ist ein Beweis dafür, dass Ruhi Su sich für die 68er-Bewegung
eingesetzt hat. Dennoch verstummten die Anschuldigungen der sogenannten radikalen
Revolutionäre nicht. Für sie war Ruhi Su nicht radikal und agitatorisch genug. Ihm waren
aber platte Agitationssprüche zuwider, weil er in seiner Arbeit die Ästhetik des
Ausdrucks niemals aus den Augen verlor. Das Lied „Demirc’oğlu“ ist ein Mittelding
zwischen einem Marsch und einem Klagelied. Es steht in der Tradition des Protestes vom
türkischen Befreiungskrieg bis hin zum heutigen Zypernkonflikt.
Am Sonntag, den 16. Februar 1969, wollten mehr als 30.000 Arbeiter und
Studenten am Taksim-Platz gegen die 6. Kriegsflotte der USA protestieren. Viele
rechtsgerichtete Studenten organisierten eine Gegendemonstration mit dem Ziel, der
linken Bewegung im Land entgegen zu treten. In der Demonstration ein Jahr zuvor starb,
wie bereits erwähnt, der Student Vedat Demircioğlu. Dieses Mal gab es einen Kampf
zwischen den rechten und linken Demonstranten, bei dem zwei Menschen starben. Dieser
Tag ging in Anlehnung an die vorrevolutionären Unruhen in Russland im Jahr 1905 als
„Blutiger Sonntag“ in die Geschichte der türkischen Linken ein 582
Im nun folgenden Lied, dessen Text und Musik Ruhi Sus verfasst hat, thematisiert
er diesen Tag. Er bringt darin seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die politisierten
Jugendlichen vom Lande und aus den Städten sich solidarisieren und die
Herrschaftsverhältnisse umstürzen werden.
Vgl. den Petersburger Blutsonntag von 1905 und den nach ihm benannten 16. Februar 1969 in İstanbul:
http://de.wikipedia.org/wiki/Petersburger_Blutsonntag sowie
http://de.wikipedia.org/wiki/Blutiger_Sonntag_(T%C3%BCrkei). Beide abgerufen am 6. 3. 2012.
582
267
9.8.4
„Transparente in ihren Händen“
„Ellerinde Pankartlar“ 583
Transparente in ihren Händen,
Ellerinde pankartlar,
Marschieren diese Jugendlichen.
Gidiyor bu çocuklar.
Stehet auf, stehet auf!
Kalkın ayağa, kalkın,
Marschieren diese Jugendlichen.
Gidiyor bu çocuklar.
Dieser Sonntag, ist ein blutiger Sonntag,
Bu pazar, kanlı pazar,
Er schreibt Leid, schreibt Heilung.
Dert yazar, derman yazar.
Stehet auf, stehet auf!
Kalkın ayağa, kalkın,
Marschieren diese Jugendlichen.
Gidiyor bu çocuklar.
Dieser Platz ist ein blutiger Platz,
Bu meydan, kanlı meydan,
Alle Pfeile sind verschossen,
Ok fırladı, çıktı yaydan,
Stehet auf, stehet auf!
Kalkın ayağa, kalkın,
Wir aus den Städten, ihr vom Lande.
Biz şehirden, siz köyden.
Ruhi Su
583
Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern
Ruhi Sus“ behandelt.
268
9.8.5
„Lass den Kopf nicht hängen“
„Başın Öne Eğilmesin“
Lass den Kopf nicht hängen,
Başın öne eğilmesin,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Dein Weinen soll nicht gehört werden,
Ağladığın duyulmasın,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Draußen die wütenden Wellen
Dışarda azgın dalgalar,
Kommen und streichen um die Wand.
Gelir duvarları yalar,
Dich trösten ihre Klänge,
Seni bu sesler oyalar,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Wenn Deine Leiden wachsen,
Dertlerin kalkınca şaha,
Schicke eine Klage zu Allah,
Bir sitem yolla Allah'a,
Es gibt noch Tage zu erleben,
Görecek günler var daha,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Wenn Du das Meer sehen willst,
Görmek istersen denizi,
Hebe dein Gesicht empor,
Yukarıya çevir yüzü,
Der Himmel ist wie das Meer,
Deniz gibidir gökyüzü,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Die Kugeln gehen ans durch Schüsse,
Kurşun, ata ata biter,
Die Wege enden durch Gehen,
Yollar, gide gide biter,
Die Strafe endet durch Absitzen,
Ceza, yata yata biter,
Bewahre die Fassung, mein Herz!
Aldırma gönül, aldırma!
Sabahattin Ali / Musik: Kerem Güney
Weder der Text noch die Musik des oben zitierten Liedes gehören Ruhi Su.
Geschrieben hat das Gedicht ein bekannter und wichtiger Schriftsteller der türkischen
Literatur, Sabahattin Ali. 584 Die Melodie dazu schrieb Kerem Güney. Das Lied war nicht
584
Sabahattin Ali setzte sich stets kritisch mit den Gegebenheiten in Politik und Gesellschaft auseinander.
Er wurde 1948 ermordet. Der Mord wurde nie ganz aufgeklärt. Der (angebliche) Mörder wurde zwar
269
wegzudenkender Bestandteil linker Veranstaltungen. Es verkörperte das Lebensgefühl
und die Vorstellungen der Sozialisten in den 70er Jahren. An der Vortragsweise dieses
äußerst populären Liedes lässt sich Ruhi Sus besondere Art des Ausdrucks erkennen. Es
wurde durch populäre Sänger oft mit einer sehr fröhlichen Grundstimmung vorgetragen,
welche dem Inhalt deutlich widerspricht. Ruhi Su aber gebrauchte eine regelrecht scharfe
Artikulation und hob und senkte seine Stimme merklich. So konnte der Zuhörer
Gefängnis, Verfolgung und Leid nachvollziehen, aber eben auch Widerstandgeist
entwickeln. Der Dichter trumpft auf mit einer Hoffnung auf die Zukunft, die eine bessere
Welt bringen soll. Auf der Schallplatte singt er das Lied begleitet durch den „Chor der
Freunde“ (Dostlar Korosu).
gefasst, aber die Umstände nicht näher erläutert. Vgl. TOPUZ, Hıfzı: Başın Öne Eğilmesin (2006) und
derselbe Eski Dostlar (2000): 11-48 sowie BEZİRCİ, Asım: Sabahattin Ali (1974).
270
9.8.6
„Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“
„Boşa Didinmek Fayda Vermez“
Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen,
Boşa didinmek fayda vermez,
Jeder vergangene Tag ist schlimmer als gestern.
Her geçen gün daha beter dünden.
So war es, aber so kann es nicht weitergehen,
Böyle gelmiş, böyle gitmez,
Ausbeute, Grausamkeit können nicht andauern.
Sömürü zulüm devam etmez.
Solange wir unsere Häupter nicht erheben,
Kaldırmadıkça başlarımızı,
Findet unser Elend kein Ende.
Sefaletimiz bitmez.
Der leere Topf in deinen Händen,
Elindeki bu boş tencere,
Würde er sich von selbst füllen,
Dolar mı kendi kendine?
Wenn Du einverstanden bist mit
Eğer razı olursan sen
Deinem schlechten Schicksal?
Kendi kötü kaderine?
Solange wir unsere Häupter nicht erheben,
Kaldırmadıkça başlarımızı,
Findet unser Elend kein Ende.
Sefaletimiz bitmez.
Bertolt Brecht 585,
Musik: Sarper Özsan
Aus dem Theaterstück „Mutter“ (Ana) nach Gorki
Ruhi Su hat nicht nur zeitgenössische türkische Dichtung gesungen. Das Album
„Der Morgen hat seinen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) setzt einen wichtigen
Schlusspunkt mit der türkischen Fassung „Ana“ aus Bertolt Brechts Theaterstück
„Mutter“, welches auf Maxim Gorkis Roman „Mutter“ fußt. Brecht war für Ruhi Su und
die türkische linke Bewegung überhaupt ein ideologischer Mitstreiter und Mitdenker. Er
fasst die Position des politischen Lyrikers so zusammen:
Wir müssen nicht nur Spiegel sein, welche die Wahrheit außer uns reflektieren.
Wenn wir den Gegenstand in uns aufgenommen haben, muss etwas von uns dazu
kommen, bevor er wieder aus uns herausgeht, nämlich Kritik, gute und schlechte,
welche der Gegenstand vom Standpunkt der Gesellschaft aus erfahren muss. So
dass was aus uns herausgeht durchaus Persönliches enthält, freilich von der
zwiespältigen Art, die dadurch entsteht, dass wir uns auf den Standpunkt der
Gesellschaft stellten. (50er Jahre) 586
585
Der deutsche Text ist aus dem türkischen von dem Verfasser übersetzt worden. Der Originaltext findet
sich nicht in BRECHT, Bertolt, Die Mutter, Mundus, Basel (1946). Es ist anzunehmen, dass der türkische
Text eine freie Bearbeitung ist.
586
BRECHT, Bertolt: Über Lyrik (1971): 73.
271
In seinem Gedicht „Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“ (Boşa Didinmek Fayda
Vermez) ist von Aufbruch und Widerstand die Rede, das einfache Volk soll gegen die
Obrigkeit aufstehen, um ein besseres und gerechteres Leben führen zu können.
Gleichzeitig steckt in ihm eine Kritik an denjenigen, die nicht gegen die Ungerechtigkeit
und Ausbeutung kämpfen, sondern sie klagend hinnehmen. Denn ohne Kampfeswillen
und Widerstand wird sich der „leere Topf“ nicht füllen, und die Lebensumstände werden
sich nicht bessern.
Dieses Gedicht ist das letzte Stück auf der Schallplatte „Der Morgen hat seinen
Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) und wurde in den Konzerten als letztes Stück gesungen.
Ruhi Su sah sich in seiner Rolle als intellektueller Künstler als Erzieher, der den
Menschen ganz unten mit seinen Texten Lebensmut und Kampfeswillen für den Alltag
geben wollte.
In der Türkei machte Yılmaz Onay den Begriff „Episches Theater“ und Bertolt
Brecht bekannt. 587 Viele von Brechts Gedichten und Theaterstücken wurden unter
sozialistisch Denkenden sehr beliebt.
Brechts episches Theater kommt in den Werken der türkischen Autoren erst in
den 60er Jahren zur Geltung. Die Begegnung der türkischen Rezipienten mit den Werken
von Brecht begann in der gleichen Zeit. Seine Werke wie „Die Gewehre der Frau
Carrar“(Carrar Ananın Silahları) wurde zum ersten Mal 1960 durch eine AmateurTheatergruppe aufgeführt. Es folgen weitere von Amateuren aufgeführten Stücke wie
„Die Ausnahme und die Regel“ (Kural ve Kuraldışı), „Die Kleinbürgerhochzeit“ (Küçük
Burjuva Düğünü)’’. Im Jahre 1962 fand Brecht zum ersten Mal durch die Inszenierung
des Stücks „ Der gute Mensch von Sezuan“ (Sezuan’ın İyi İnsanı) im Stadttheater von
İstanbul seinen Platz in der türkischen Theaterwelt. 588
587
Onays Übersetzungen umfassen:
„Die Bibel“ (İncil); Baal (Baal); Trommeln in der Nacht (Gecede Trampet Sesleri); Die Hochzeit (Düğün);
Der Bettler oder der tote Hund (Dilenci veya Ölü Köpek); Er treibt einen Teufel aus (Şeytan Kovma); Lux
in Tenebris (Karanlıkta Işık); Der Fischzug (Balık Avı); Die Prärie (Ova); Im Dickicht (Vahşi Ormanda);
Im Dickicht der Städte (Kentlerin Vahşi Ormanında); Mann ist Mann 1926 (Adam Adamdır 1926); Mann
ist Mann 1938 (Adam Adamdır 1938); Die heilige Johanna der Schlachthöfe (Mezbahaların Kutsal
Johanna'sı); Die sieben Todsünden der Kleinbürger (Küçük Burjuvanın Yedi Ölümcül Günahı); Die
Horatier und die Kroatier (Horasyalılar Kuriasyalılar); Die Gewehre der Frau Carrar (Carrar Ananın
Silahları); Furcht und Elend des Dritten Reiches (III.Reich'ın Korku ve Sefaleti); Herr Puntila und sein
Knecht Matti (Puntila Ağa ile Uşağı Matti); Der kaukasische Kreidekreis (Kafkas Tebeşir Dairesi) und Die
Rundköpfe und die Spitzköpfe (Sivri Kafalılar ve Yuvarlak Kafalılar / Yuvarlak Kafalılar ve Sivri
Kafalılar) Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Y%C4%B1lmaz_Onay. Abgerufen am 31. Mai 2013
588
Zitiert nach İPŞİROĞLU, Zehra: Tiyatroda Yeni Arayışlar, Düzlem Yayınları, İstanbul (1992):20. In:
Doğan,Âbide: International Periodikal (!)For the Languages, Literature and History of Turkish and Turkic
Volume 4 / 1-1 Winter 2009, Türk Tiyatrosunda Brecht ve Etkisi (2009): 413-414. In:
http://turkoloji.cu.edu.tr/YENI%20TURK%20EDEBIYATI/abide_dogan_turk_tiyatrosunda_brecht_etkisi.
pdf. Abgerufen am 28.5.2013.
272
Vor allem die Autoren, wie Haldun Taner, Vasıf Öngören und Sermet Çağan,
haben das epische Theater Brechts mit dem türkischen traditionellen Theater
zusammengeführt und sie machten ein eigenständiges neues Theater daraus. Die
Theaterstücke wie „Das Epos von Ali aus Keşan“ (Keşanlı Ali Destanı), „Ich schließe
meine Augen und tue meine Pflicht“ (Gözlerimi Kaparım Vazifemi Yaparım), „Die
schlaue Frau des dummen Mannes“ (Sersem Kocanın Kurnaz Karısı), „Der Schatten des
Esels“ (Eşeğin Gölgesi), „Die juchzende Zarife“ (Zilli Zarife) und „Tumult unter dem
Mondlicht“ (Ayışığında Şamata) von Haldun Taner; „Wie rettet man Asiye“ (Asiye Nasıl
Kurtulur), „Das Heft Deutschlands“ (Almanya Defteri) von Vasıf Öngören; „Die Fabrik
der Füße und Beine“ (Ayak-Bacak Fabrikası) von Sermet Çağan; und „Die nutzlose
Welt“ (Nafile Dünya) von Oktay Arayıcı zählt man als erfolgreiche Aufführungen dieser
Art. Später werden Stücke wie „Das kaukasische Kreidekreis“ (Kafkas Tebeşir Dairesi) ,
„Die siebenTodsünden“ (Yedi Ölüm Günahı), „Schweyk im zweiten Weltkrieg“ (Şvayk,
İkinci Dünya Savaşında), „Leben des Galilei“ (Galilei’nin Yaşamı), „Herr Puntila und
sein Knecht Matti“ (Bay Puntila ve Uşağı) und „Dreigroschenoper“ (Üç Kuruşluk Opera)
in der Türkei hauptsächlich von „Dostlar-Theater“ (Dostlar Tiyatrosu) aufgeführt. 589
Zitiert nach ŞENER, Sevda: Cumhuriyet Dönemi Tiyatro Yazarlığı- Oyundan Düşünceye, Gündoğan
Yayınları, Ankara (1993):126. In: Doğan, Âbide: International Periodikal For the Languages, Literature and
History of Turkish and Turkic Volume 4 / 1-1 Winter 2009, Türk Tiyatrosunda Brecht ve Etkisi (2009):
413-414.
In:http://turkoloji.cu.edu.tr/YENI%20TURK%20EDEBIYATI/abide_dogan_turk_tiyatrosunda_brecht_etki
si.pdf. Abgerufen am 28. Mai 2013.
589
273
9.9
Die Samahs / Semahlar 590 (1978)
Der Samah ist ein wichtiger Bestandteil des Cem, des alevitischen Gottesdienstes.
Der rituelle Tanz wird zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein Zeichen des geistlichen
Dede zur Begleitung von Sazmusik ausgeführt. Er stellt eine religiöse Zeremonie dar, in
der Frauen und Männer gleichberechtigt in einem Versammlungshaus (Cemevi) zur
Rezitation von Gedichten, dem Singen von Liedern und zum Tanz zusammenkommen.591
Ruhi Su stellt fest: Der Samah ist eine der zwölf Pflichten innerhalb des Cem. Die im
Samah zu volkstümlichen Liedern tanzenden und sich drehenden Männer und Frauen
geraten in eine Offenheit zum Leben, in der die Liebe zu Gott, dem Kosmos und den
Mitmenschen zu einem Höhepunkt kommt. Die Begleitmusik stammt von der Saz. Bei
den Mevlevis gerät dieser Höhepunkt zu einer verinnerlichten mystischen Trance,
außerdem tanzen die Männer schweigend, die Musik stammt aus der Traditionellen
Kunstmusik und wird von einem Orchester gespielt. Der Samah wird bei den Tanzenden
Derwischen von Konya als “Semâ” bezeichnet. Darin ist nur der Tanz von Bedeutung. Es
gibt keinen Text im Sinne der Türkü, sondern nur eine kleine Stelle (Naat), an der eine
Anspielung auf die Taten Mohammed erfolgt. Die Taten Mohammeds werden damit
gepriesen. 592
Ruhi Su war, wie schon erwähnt, der erste Künstler in der Türkei, der der
alevitischen Musik das Tor zur Öffentlichkeit geöffnet hat. Er hat den Mut bewiesen,
Lieder alevitischer Volksdichter wie Pir Sultan Abdal oder Ali İzzet zu singen in einer
Zeit, in der schon das Wort “Alevit” nicht in den Mund genommen werden durfte. Er hat
nicht nur ihre Musik neu interpretiert, sondern hat auch ihre Inhalte an die Öffentlichkeit
gebracht, um für ein besseres Verständnis unter Andersgläubigen zu sorgen.
Der Überlieferung nach liegt der Ursprung der Samah in der Zusammenkunft des
Propheten Mohammed mit dem Rat der Vierziger. Als Mohammed von seiner
Himmelsfahrt zurückkommt, klopft er an eine Tür. Zunächst öffnet man ihm nicht und
590
Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel
behandelte Lieder: „Steh auf, mein Herz, lass uns ins Vergnügen stürzen“ (Kalk Gönül Çıkalım Seyrana
Doğru); „Unsere Herren weinen über die vielfarbige Rose“ (Beylerimiz Elvan Gülün Üstüne ağlar); „Wäre
ich zu seiner Quelle hinaufgestiegen“ (Çıka idim Pınarının Başına); „Klagelied“(Ağıt); „Einheit 1“ (Tevhit
1); „Ratschläge” (Öğütler,siehe oben 6.1.1); „Einheit 2“ (Tevhit 2, siehe oben Kap. 6.7.5); „Die
Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief“ (Uyurken Üstüme Gelen Yoldaşlar, siehe oben
Kap. 2.5.1) und „Fürbitte“ (Gülbenk, siehe oben Kap. 6.7.6).
591
Literatur zu Samah siehe ONATÇA, Neşe Ayışıt: Alevi Bektaşi Kültüründe Kırklar Semahı (2007);
ERSEVEN, İlhan Cem: Alevilerde Semah (1996); BOZKURT, Fuat: Semahlar (2000) sowie TANSES,
Hamdi: Ozanların Dili, Notalarıyla Deyişler, Nefesler, Semahlar (2000).
592
Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit Atilla Özkırımlı: Ruhi Su ile „Semahlar” Üzerine Söyleşi,
Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In : SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 130-132.
274
weist ihn ab, weil er sich als Propheten ausgibt. Er klopft erneut und gibt sich nun als
einen einfachen Menschen zu erkennen. Daraufhin wird ihm die Tür geöffnet, weil er
sich nunmehr zu seinesgleichen bekennt. Die Menschen im Raum stellen sich als Rat der
Vierziger vor. Dieser besteht aus siebzehn Frauen und zweiundzwanzig Männern.
Mohammed sieht jedoch, dass eine Person fehlt und fragt, wo denn die vierzigste Person
sei. Daraufhin wird ihm geantwortet, dass Salmān, der Perser (Salmān al-Fārisī), zwar
unterwegs sei, aber allzeit bereit sei, zurückzukommen. Mohammed möchte einen
Beweis sehen. Ali, der Schwiegersohn Mohammeds, streckt seinen Arm aus, und eine
Person schneidet ihm in den Arm. Als er zu bluten beginnt, blutet ebenfalls allen anderen
Mitgliedern der Arm, auch Salmān al-Fārisī, dessen Blut durch das Fenster in die Mitte
des Raumes tropft. Schließlich wird der Arm Alis verbunden. Gleichzeitig hört die
Blutung bei allen anderen auf, selbst bei Salmān al-Fārisī, der in dem Moment durch die
Tür hereinkommt. Nun erfolgt die Prüfung von der anderen Seite. Mohammed, der sich
als Diener der Armen (ËÁdimÙl FÙqÁra), ausgibt, soll eine einzige Weintraube, die von
Salmān mitgebracht wurde, unter die vierzig Mitglieder des Rates aufteilen. Gott eilt ihm
zur Hilfe. Mohammed presst die Weintraube aus und teilt ihren Saft unter dem Rat auf.
Diese trinken und werden trunken vor Freude. Sie erheben sich und tanzen den Samah. 593
Der alevitische Kulturverein in Bochum beruft sich auf weitere Quellen und
schreibt auf seiner Homepage der Samah sei „ein Relikt aus voralevitischen,
schamanistischen Religionen, die von den Aleviten in den Frühislam eingebettet
wurden“ 594
Wo immer der Ursprung des Samahs auch liegen mag, er war für Ruhi Su von
großer Bedeutung. Er wollte sich mit den Aleviten solidarisieren und Verfolgung und
Erniedrigung mit ihnen teilen. Darüber hinaus interessierte er sich für den Samah, weil
dieser tanzend und vor allem singend vollzogen wurde. Wie Ruhi Su selbst sagte, waren
für ihn die Samah-Lieder ein wichtiger Bestandteil in seinem Lebenswerk der
Vgl. ZELYUT, Rıza: Aleviler ne yapmalı? (1993): 194-198 sowie KALELİ, Lütfi: Alevilik Aklidir,
Ahlâki ve İnsanidir (2004): 21-24.
Eine knappe Kommentierung erscheint notwendig. Erstens, die Zahl der siebzehn Frauen im Rat der
Vierziger ist bedeutsam groß und in einer islamischen Gesellschaft nicht ohne weiteres zu erwarten.
Zweitens, die Gestalt Muhammeds muss erst ihres Prophetentums entkleidet werden, bevor er
aufgenommen wird. Nur als Helfer der Armen ist er willkommen.
Die Vierziger (Kırklar) kommen auch bei Sabahattin Eyuboğlu vor. Dort erscheinen sie als Derwische.
Siehe EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1981): 45-46.
594
Siehe Der Semah. In: http://www.alevibochum.de/index.php?option=com_content&view=article&id=55&Itemid=87. Abgerufen am 10.07.2009.
Weiterführend siehe ERSEVEN, İlhan Cem: Alevilerde Semah (1996): 19-20 sowie EROĞLU, Musa :
Halk Müziği ve Halk Kültürü Üzerine . In: AYDIN, Ayhan: Alevilik Bektaşilik Söyleşileri (1997): 291292.
593
275
“Volksklassiker”. Er erkannte, dass der Samah eine Struktur und einen in sich
geschlossenen und vollkommenen Aufbau hat und widmete ihm ein Album mit gleichem
Titel. Der Samah folgt nämlich bestimmten Regeln und einer stringenten Regelmäßigkeit.
Mit den Türküs innerhalb des Samahs gibt man Anleitungen für das Leben und ruft zur
Einigkeit auf. Am Ende wird immer zum Gebet aufgefordert, in dem man für die Zukunft
Glück und Frieden wünscht. Darüber hinaus erkannte und schätzte Ruhi Su auch die
laizistischen Komponenten der alevitischen Musik. 595 Neben der spirituellen Kraft des
Samah ist seine Bedeutung im gesellschaftlichen Miteinander sehr groß. Die alevitische
Gesellschaft musste jahrhundertelang gegen Unterdrückung und Diskriminierung
ankämpfen, sodass ihr Zusammenhalt ungewöhnlich stark ist. Der Samah ist für sie eine
Möglichkeit negative Gefühle wie Wut und Trauer zu artikulieren als auch Wünsche und
Vorstellungen von einer besseren und gerechteren Zukunft.
Ruhi Su gibt durch eine eigene Anordnung den Texten seinen eigenen Sinn. So
eröffnet das Gebet „Dein Bild ist immer in meinem Sinn“ (Daima Fikrimde Zikrin) das
Album, und damit sozusagen den Samah.
Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit Atilla Özkırımlı: Ruhi Su ile „Semahlar” Üzerine Söyleşi,
Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In : SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 131.
595
276
9.9.1
„Dein Bild ist immer in meinem Sinn“
„Daima Fikrimde Zikrin“
Dein Bild ist immer in meinem Sinn,
Daima fikrimde zikrin,
O Mohammed, O Ali!
Ya Muhammed, ya Ali!
Dein Lobpreis ist in meinem Herz,
Gönlümün evinde şükrün,
O Mohammed, O Ali!
Ya Muhammed, ya Ali!
Man kennt sich selbst nicht,
Tanıyamaz kendi özün,
Wenn man dir nicht nahe steht.
Seni yakın bilmeyen.
Du bist der Spiegel des Kosmos,
Alemin ayinesisin,
O Mohammed, O Ali!
Ya Muhammed , ya Ali
Hatayi
9.9.2
„Der Ruf des heiligen Şah“
„Hazreti Şah’ın Avazı“
Der Schrei des heiligen Şah
Hazreti Şah’ın avazı
Steckt in einem Vogel namens Kranich,
Turna derler bir kuştadır.
Sein Stab steckt im Nil,
Asası Nil deryasında,
Sein Gewand trägt ein Derwisch.
Hırkası bir derviştedir.
Wo ist mein Pir Sultan wo?
Nerde Pir Sultan’ım nerde?
Unser Selbst hängt am Galgen.
Özümüz asılı darda.
Dort weit weg hintern Jemen
Yemen’den öte bir yerde
Ist Düldül immer noch im Kampf.
Daha Düldül savaştadır.
Pir Sultan Abdal
Für die Aleviten nimmt Ali, den Pir Sultan Abdal hier den heiligen Şah nennt,
verschiedene Gestalten an. Er verkörpert ebenso den Vogel „Sehnsucht“, den Kranich,
wie auch den Propheten Moses, der aus dem Nil geborgen wurde. Tod und Kampf geht
für sie weiter: Alis Pferd „Düldül“ streitet immer noch.
277
9.9.3
„Samah Ali Nur“
„Ali Nur Semahı“
Ali ist ein Licht, Ali ist Licht,
Ali nurdur, Ali nur,
Mohammed ist Licht, Ali Licht.
Muhammed nur, Ali nur.
Seit so vielen Jahren, so vielen Jahren,
Bunca yıldır, bunca yıl,
ist Mohammed Licht, ist Ali Licht,
Muhammed nur, Ali nur.
Wird unser Volk erwachen?
Uyanır mı halkımız?
Es ist so, es bleibt so!
Böyle dur ha, böyle dur!
Hey Schwestern, Schwestern;
Ey bacılar, bacılar,
Sind die Schmerzen nicht genug?
Yetmez mi bu acılar?
Wer Kummer bereitet, gibt das Heilmittel nicht.
Derdi veren derman vermez.
Hofft es nicht Schwestern!
Beklemeyin bacılar.
Ruhi Su
Ruhi Sus Gedicht geht die Frage an, von wem ein Ende des Leids kommt.
Natürlich haben die großen Gestalten der Aleviten seit fast unzählbaren Jahren Licht, das
heißt hier: Erleuchtung, gespendet. Radikal geändert hat sich nichts. Sehr bezeichnend ist,
dass Ruhi Su die Frauen, und nicht die Männer, zum eigenständigen Tun aufruft; auf
Hilfe von außen dürften sie nicht hoffen.
278
9.9.4
„Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt”
Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt.
Schmerzt das Herz, wenn die Lebenskraft abhanden kommt?
Liebster Ali, liebster Ali, schmerzt das Herz?
Wer hat dieses System aufgebaut, lass es uns wissen.
Sprich, Liebster, sprich, die Freunde sollen es hören.
Pir Sultan Abdal
„Dünyanın Üzerinde Kurulu Direk”
Dünyanın üzerinde kurulu direk.
Emek zay'olmadan sızlar mı yürek?
Ali yâr, Ali yâr, sızlar mı yürek?
Bu düzeni kim kurmuş, bizler de bilek.
Söyle canım söyle, dinlesin canlar.
Pir Sultan Abdal
Ruhi Su hat von einigen der sieben Dichter, die für die Aleviten heilig sind, Texte
und Musik aufgenommen und sie für diese Platte neu interpretiert. Lieder von Hatayi, Pir
Sultan und Virani wurden teilweise neu formuliert. So ist der Hinweis auf das
Gesellschaftssystem sicherlich modern und stammt von Ruhi Su. Er wollte mit solchen
Verknüpfungen den eigenen Texten die Eigenschaft des Samahs geben. Dies geschah
dadurch, dass er vorhandene aber anonyme Samahmelodien mit den eigenen Texten
verband. So begab er sich selbst in die Rolle des Dede, der als gleicher seinesgleichen
Ratschläge gibt. 596
596
Auf diesen Text „Ratschläge” (Öğütler) wird oben im Kap. 6.1.1 ausführlich eingegangen.
279
9.9.5
„Frauen aus Mürselek”
„Mürselekli Kadınlar”
Ruhi Su hat neben den Texten der für die Aleviten heiligen Dichter auch die der
zeitgenössischen Dichter verwendet. Das Gedicht des Dorfinstitutlers Ali Yüce ist ein
Beispiel dafür, dass Ruhi Su anonyme Samahmelodien einsetzte:
Wir aus Mürselek,
Biz Mürselekli kadınlar,
Wir Frauen aus Mürselek,
Mürselekli kadınlar,
Reihen nachts
Hep geceleri
Immer Tabak aneinander,
Tütün dizerik,
Reihen unsere Schmerzen an die Leine.
Acılarımızı dizerik ipe.
Bah, unsere Schmerzen
Acılarımızı abovv !
Reihen die Dunkelheit,
Karanlığı dizerik,
Bah die Dunkelheit.
Karanlığı abovv!
Wir reißen die Wurzel aus, die Wurzel,
Kök sökerik, kök,
In unserem Tageslicht,
Gündüzlerimizde,
In den Nächten die Kohle
Geceleri kömür,
Wir verbrennen die Kohle,
Kömür yakarık,
Wir verbrennen die Dunkelheit,
Karanlığı yakarık,
Bah, die Dunkelheit.
Karanlığı abovv!
Unsere Bäume bekommen Angst,
Ağaçlarımız ürker,
Angst vor der Nacht.
Ürker geceden,
Bah, wir haben keine Angst .
Biz ürkmezik abovv!
Wir aus Mürselek,
Biz Mürselekli,
Wir Frauen aus Mürselek,
Mürselekli kadınlar,
Wir hacken mit der Hacke,
Kazma kazarık,
Wir pflügen auch,
Çüt de sürerik,
Wir pflanzen die Müdigkeit,
Yorgunluk ekerik,
Die Müdigkeit in den Boden.
Yorgunluk toprağa.
Mit tosendem Lärm
Gürültüye bata çıka
Fliegt über uns ein Flugzeug,
Bir uçak geçer,
Fliegt über uns,
Geçer üstümüzden,
280
Es kann uns nicht hören,
Duyamaz bizi o,
Bah, es kann uns nicht hören.
Duyamaz abovv!
Wir aus Mürselek,
Biz Mürselekli,
Wir Frauen aus Mürselek,
Mürselekli kadınlar,
Auch wir leben,
Biz de yaşarık,
Bah, leben auch.
Yaşarık abovv!
Wir werden zur Braut und
Gelin olur gider
Bauen ein neues Heim auf,
Evler döşerik,
Bah, wir bauen auf.
Döşerik abovv!
Mein Ali Yüce brennt
Yanar Ali Yüce’m,
Brennt und erleuchtet,
Yanar ışıtır,
Bah, erleuchtet.
Işıtır abovv!
Ali Yüce
Ruhi Su hat nie die zeitgenössischen Probleme der Menschen aus den Augen
verloren, vor allem nicht die der Frauen. Im obigen Gedicht beschreibt er die Arbeit der
anatolischen Frauen, die den Großteil der familiären Last tragen müssen. Neben der
Arbeit im Haus und der Erziehung der Kinder leisten sie für den Lebensunterhalt auch
schwere Feldarbeit. Die Frauen beklagen ihr Los, jedoch die Klage bringt ihnen nicht
viel. Ruhi Su kritisiert indirekt die Männner. Seine Nähe zum Volk zeigt seine starke
Sensibilität für die Probleme und Missstände auf dem Lande. Es ist ein wichtiger
Bestandteil der Schallplatte, dass er sie mit einer “Fürbitte” (Gülbenk) 597 beendet, wie sie
für den Samah charakteristisch ist. Sehr menschlich ist auch, dass er seinem Freund Ali
Yüce in den letzten drei Zeilen ein geradezu mystisches Lob zollt.
597
Siehe oben Kap. 6.7.6.
281
9.10
Kinder, Migrationen, Fische / Çocuklar, Göçler, Balıklar (1979) 598
In diesem Album singt Ruhi Su von den in dem Titel angesprochenen drei
Themenkreisen. Von Kindern und Fischen handelt die folgende Auswahl; Texte über die
Migration werden ausgespart, beziehungsweise nur kurz erwähnt. So erzählt das Gedicht
von Dedemoğlu mit dem Titel „Migration” (Göç) von der Immigration der Türken aus
Horasan, dem heutigen Iran, nach Anatolien: „Die Silberkanne” (Gümüş İbrik) von Aşık
Garip beklagt das Leid der Menschen, die nach der Immigration in die Hände eines
Ungerechten gefallen sind. Das Gedicht „Ansiedlung” (İskân) von Dadaloğlu erzählt von
der Zwangsansiedlung eines türkischen Stammes durch die Osmanen und dem heroischen
Widerstand dieses Stammes. Am Ende des Albums geht Ruhi Su nochmals auf die
anfängliche Thematik der Lieder über Kinder ein.
Ruhi Su beginnt das Album mit dem Lied „Eingangsformel” (Tekerleme) eines
anonymen Verfasser, dass aus dem Privatarchiv Oğuz Tansels stammt. Er will auf den
folgenden Text von Nâzım Hikmet mit dem Titel „Märchen aller Märchen” (Masalların
Masalı) vorbereiten:
598
Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Sie steckten uns hinter
Gitter (Şebekeye Uğrattılar Yolumuz); „Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun (Ninni-Merhaba Dursun
Bebek), welches Ruhi Su auch auf der Schallplatte „Gedichte Lieder“ (Şiirler Türküler) sang.
282
9.10.1
„Eingangsformel”
„Tekerleme”
Wo kommst du her?
Nerden gelirsin?
Aus der Zick-Zack-Burg.
Warum gehst du umher?
Zikzak kalesinden.
Ne gezersin?
Açlık belasından.
Wegen der Hungerplage.
Wo schliefst du?
Nerde yattın?
Beyin konağında.
Im Hofe des Herren.
Was legte man dir als Unterlage?
Altına ne serdiler?
Ein Laken.
Perde.
Also auf dem harten Boden.
Desene kupkuru yerde.
Warum ist an deinem Schnurrbart Fett?
Bıyıkların neden yağ oldu?
Bıldırcın eti yedim.
Habe Wachtelfleisch gegessen.
War die Wachtel fett?
Bıldırcın yağlı mıydı?
Habe sie beim Fliegen gesehen.
Warum sind deine Haare grau geworden?
Gökte uçarken gördüm.
Saçların neden ağardı?
Değirmenden geldim.
Kam von der Mühle.
Dreht sich die Mühle?
Değirmen dönüyor mu?
Zımbırtısını duydum.
Habe ihr Knarren gehört.
Wie sind deine Füße nass geworden?
Ayakların neden ıslandı?
Ich bin durch den Bach gelaufen.
War der Bach tief?
Çaydan geçtim.
Çay derin miydi?
Ich bin über die Brücke gegangen.
Köprüyü dolaştım.
Und so kam und erreichte ich dich.
İşte geldim sana ulaştım.
Aus dem Privatarchiv Oğuz Tansels
„Eingangsformel” (Tekerleme) soll eigentlich der Aufheiterung des Zuhörers oder
Lesers dienen. Jedoch waren Eingangsformeln für Ruhi Su auch eine Möglichkeit, auf
gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Oben ist von Hunger und Leid die Rede,
indem jemand nach seiner Vorgeschichte von jemand anderem gefragt wird. Die
Antworten sind so strukturiert, dass jede positive Aussage von einer folgenden
untergraben wird. In Wirklichkeit muss er überall gegen Probleme und Hindernisse
kämpfen. Obwohl er vor der Hungersnot flüchtet, ereilt ihn diese immer dort, wo er zur
283
Zeit verweilt. Er will auf zweifache Art sowohl komisch als auch ernsthaft wirken.
Obwohl er vorgibt, auf einem Laken im Hofe des Herren geschlafen zu haben und
obwohl das köstliche Fett der Wachteln noch in seinem Schnurrbart klebt, sind diese
Behauptungen nichts als pure Ironie: es ist nie so gewesen. Dieser Misere entkommt er
erst am Ende mit Hilfe der Brücke.
284
9.10.2
„Das Märchen aller Märchen” 599
Wir stehen vor dem Wasser,
Die Platane und ich.
Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten,
Die der Platane und meine.
Das Glitzern des Wassers trifft uns,
Die Platane und mich.
Wir stehen vor dem Wasser,
die Platane, ich und die Katze.
Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten,
Die der Platane, meine und die der Katze.
Das Glitzern des Wassers trifft uns,
Die Platane, mich und die Katze.
Wir stehen vor dem Wasser,
Die Platane, ich, die Katze und die Sonne.
Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten,
Die der Platane, meine, die der Katze und die der Sonne.
Das Glitzern des Wassers trifft uns,
Die Platane, mich, die Katze und die Sonne.
Wir stehen vor dem Wasser,
Die Platane, ich, die Katze und die Sonne
Und unser Leben.
Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten,
Die der Platane, meine, die der Katze, die der Sonne
Und die unseres Lebens.
Das Glitzern des Wassers trifft uns,
Die Platane, mich, die Katze, die Sonne
Und unser Leben.
Vgl. ferner die Übersetzung von Annemarie Bostroem. In: HİKMET, Nâzım: Ich liebe mein Land, (ohne
Erscheinungsjahr): 174-175.
599
285
Wir stehen vor dem Wasser,
Erst wird die Katze gehen,
Und ihre Silhouette im Wasser verschwinden.
Danach werde ich gehen,
Und meine Silhouette im Wasser verschwinden.
Danach wird die Platane gehen,
Und ihre Silhouette im Wasser verschwinden.
Danach wird das Wasser gehen,
Die Sonne wird bleiben,
Danach geht sie auch.
Wir stehen vor dem Wasser.
Das Wasser ist kühl,
Die Platane ist riesengroß,
Ich schreibe ein Gedicht,
Die Katze schlummert,
Die Sonne ist heiß,
Gott sei Dank, wir leben.
Das Glitzern des Wassers trifft uns,
Die Platane, mich, die Katze, die Sonne
Und unser Leben.
Nâzım Hikmet
286
„Masalların Masalı”
Su başında durmuşuz,
çınarla ben.
Suda suretimiz çıkıyor,
çınarla benim.
Suyun şavkı vuruyor bize,
çınarla bana.
Su başında durmuşuz,
çınarla ben, bir de kedi.
Suda suretimiz çıkıyor,
çınarla benim, bir de kedinin.
Suyun şavkı vuruyor bize,
çınara, bana, bir de kediye.
Su başında durmuşuz,
çınar, ben, kedi, bir de güneş.
Suda suretimiz çıkıyor,
çınarın, benim, kedinin, bir de güneşin.
Suyun şavkı vuruyor bize,
çınara, bana, kediye, bir de güneşe.
Su başında durmuşuz,
çınar, ben, kedi, güneş,
bir de ömrümüz.
Suda suretimiz çıkıyor,
çınarın, benim, kedinin, güneşin,
bir de ömrümüzün.
Suyun şavkı vuruyor bize,
çınara, bana, kediye, güneşe,
bir de ömrümüze.
287
Su başında durmuşuz.
Önce kedi gidecek,
kaybolacak suda sureti.
Sonra ben gideceğim,
kaybolacak suda suretim.
Sonra çınar gidecek,
kaybolacak suda sureti.
Sonra su gidecek,
güneş kalacak,
sonra o da gidecek.
Su başında durmuşuz.
Su serin,
çınar ulu.
Ben şiir yazıyorum,
kedi uyukluyor,
güneş sıcak,
çok şükür yaşıyoruz.
Suyun şavkı vuruyor bize,
çınara, bana, kediye, güneşe
bir de ömrümüze.
Nâzım Hikmet
Nâzım Hikmet philosophiert in diesem Gedicht über die schönen und zugleich
einfachen Dinge des Lebens, welche Glück bedeuten können. Das Gedicht handelt von
belebten und unbelebten Schöpfungen der Natur wie Wasser, Bäume, Tier und Mensch.
In dem Gedicht haben alle diese ein Leben und sind einander ebenbürtig. Bäume, Tiere,
Mensch und Sonne stehen einem Spiegel, dem Wasser gegenüber. Sie betrachten das
Wasser schweigend und es scheint sich zu nähern und ihnen Glanz zu verleihen. Es
scheint sogar, dass wie in einem Märchen die Betrachter sich wiedererkennen. Das
„Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) zeigt eine stille und geradezu
bewegungslose Natur. Die Teilnehmer, mit Ausnahme des Wassers, kommen nicht heran,
sie stehen einfach da. Was das Märchen vor der Deutung als eines übergroßen Stilllebens
bewahrt, ist, dass ab der vierten Strophe Leben in es eintritt, Tätigkeiten ermöglicht und
288
so große Bedeutung gewinnt, dass der Lyriker den Ausruf tut: „Gott sei Dank, wir
leben!”
Formal weitet sich das Gedicht zunächst aus, indem die Glieder sich vermehren,
und dann wieder schwinden. Die letzte Strophe spiegelt eine große und allgemeine Ruhe,
welche auch alles Lebendige, Bäume, Tiere und Menschen, umfaßt. Es bleibt ein Gefühl
der gottverdankten Freude.
289
9.10.3
„Hätte ich doch bloß nur einen Sohn”
Hätte ich doch bloß nur einen Sohn, der zum Lehrer geht
Und übend das Schreiben und Lesen erlernt.
Kämen doch nur Boten zu uns nach Hause.
Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen?
Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt?
Käme doch nur ein Siebmacher, damit ich mir ein Sieb kaufe,
Damit ich schüttelnd und rüttelnd Erde siebe,
Und sie in Baumwolle, Stoffe und Laken wickle.
Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen?
Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt?
Die Mutterziege kommt und verlangt nach ihrem Zicklein,
Allmächtiger Gott, gib uns auch einen Sprössling!
Seht es uns nach, Freunde, wenn wir ohne einen Sprössling von dannen gehen.
Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen?
Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt?
Volkslied
290
„Bir Oğlum Olsa”
Bir oğlum olsa da gitse Hoca’ya,
Okuya okuya çıksa da heceye.
Muştucular gelse bizim bacıya.
Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim?
Nenni demedik dilleri neyleyim?
Bir elekçi gelse de bir elek alsam,
Sallana hulana toprak da elesem,
Kutnuya kumaşa beze belesem.
Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim?
Nenni demedik dilleri neyleyim?
Gök keçi de gelmiş oğlağın ister,
Kadir Mevlâm bize de bir evlât göster.
Evlatsız göçersek kınaman dostlar.
Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim?
Nenni demedik dilleri neyleyim?
Halk Türküsü
Hier ist auf einfachste und reinste Weise das grenzenlose Leid einer Frau
geschildert, die kein Kind bekommt. Sie sieht in einem Leben ohne Kind, schlimmer
noch: ohne Sohn, keine Bedeutung. Das Problem dieser Frau spiegelt zugleich die
Tatsache, dass eine Frau Wertschätzung in der anatolischen Gesellschaft nur durch einen
eigenen Sohn erringen kann. Die Frau hat als menschliches Wesen wenig eigenen Wert
und auch nur schwer Zugang zu Bildung und Nachbarn. Selbst die Ziege lebt erfüllter.
Für Ruhi Su steht hier aber sicher das Leid der Frau im Vordergrund.
291
9.10.4
„Dummes
Lied”
„Aptal
Şarkı”
Mutter, Mutter,
Ana ana,
Ich möchte Silber werden.
gümüş olmak istiyorum.
Sohn, Sohn,
Oğul oğul,
Dann wirst Du frieren.
çok üşürsün sonra.
Mutter, Mutter,
Ana ana,
Ich möchte Wasser werden.
Su olmak istiyorum.
Sohn, Sohn,
Oğul oğul,
Dann wirst Du frieren.
çok üşürsün sonra.
Mutter, Mutter,
Ana ana,
Sticke mich in Dein Kissen.
yastığına işle beni.
Sohn, Sohn,
Oğul oğul,
Gut, sofort jetzt.
olur hemen şimdi.
Federico Garcia Lorca
Übersetzung ins Türkische: Said Maden
Hier ist von der übertriebenen Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn die Rede, die
ihm fürsorgliche und hingebungsvolle Ratschläge gibt. Weil sie den Sohn für sich
behalten will, sind diese Ratschläge zugleich eine Behinderung des Sohnes in der
Auseinandersetzung mit der rauhen Wirklichkeit. Die Wünsche des Sohnes sind
märchenhaft. Was will er denn: Zu Silber werden, zu Wasser, zu einen bestickten Kissen.
Dies alles ist in der realen Welt nicht möglich, doch die letzte Strophe offenbart eine
übermässige Beflissenheit der Mutter. Das Gedicht deutet sowohl die Sehnsucht des
Sohnes nach Mutterliebe und zugleich Kritik am Egoismus der Frau an.
292
9.10.5
„Das kleine tote Mädchen“ 600
„Kız Çocuğu“
Ich klopfe an die Türen an,
Kapıları çalan benim,
An allen Türen nacheinander. –
kapıları birer birer.
Doch kann mich keiner sehen;
Gözünüze görünemem,
denn die Toten sind unsichtbar.
göze görünmez ölüler.
Seitdem ich in Hiroshima starb,
Hiroşima’da öleli,
Ist es zehn Jahre her.
oluyur bir on yıl kadar.
Ich bin ein Mädchen von sieben Jahren,
Yedi yaşında bir kızım,
Tote Kinder wachsen nicht mehr.
büyümez ölü çocuklar.
Zuerst fing mein Haar Feuer,
Saçlarım tutuştu önce,
Dann sind mir die Augen verbrannt,
gözlerim yandı kavruldu.
Ich bin zu einer Handvoll Asche geworden,
Bir avuç kül oluverdim,
Die in die Luft gestiegen ist.
külüm havaya savruldu.
Ich möchte nichts von euch,
Benim sizden kendim için,
Nichts, gar nichts, möchte ich.
hiçbir şey istediğim yok.
Selbst Bonbons ißt es nicht mehr,
Şeker bile yiyemez ki,
Das wie Papier brennende Kind.
kâât gibi yanan çocuk
Ich klopfe an eure Türen,
Çalıyorum kapınızı,
Tante, Onkel gebt mir eure Unterschrift
teyze, amca bir imza ver.
Dass nie mehr Kinder getötet werden,
Çocuklar öldürülmesin,
Und dass sie Bonbons essen können.
şeker de yiyebilsinler .
Nâzım Hikmet / Übersetzer nicht angegeben
In dem Gedicht spricht die Leiche eines jungen Mädchen, das nach dem Abwurf
der Atombombe auf Hiroshima von ihrem unvollendeten Leben berichtet. Selbst ihre
kindlichen Freuden hat sie nicht auskosten können. Die Schrecklichkeit wächst von
Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 241. Der Text wurde vom Verfasser leicht
bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.
600
293
Strophe zu Strophe. Die Intention Hikmets ist jedoch, dass solcher Schrecken einer
explodierenden Atombombe nie mehr wiederkehrt. Er lässt daher die Seele des Kindes
einen moralischen Aufruf an die Erwachsenen machen, indem sie sich eine
Unterschriftenliste anschließen. Gespenstig bleibt dennoch, dass niemand die kleine
Bittstellerin sehen kann.
294
9.10.6
„Glasauge”
Ruhi Su hat, wie er selbst angibt, das Gedicht „Glasauge” (Camgöz) aus Aziz
Nesins Buch “Märchen für Erwachsene” entnommen. 601 Zunächst hat das Gedicht einen
humoristischen Ton, der jedoch einen ernsthaften Sinn nicht verbirgt. Es geht um die
Gefahr, welche der erfundene Räuber Glasaugenfisch für die Sardinen darstellt. Wenn
diese zusammenhalten, sind sie, auch bei einem Opfer der Schuppen, sicher, und der
Räuber wird selbst zur Beute der Fischer. Es ist von Einheit die Rede, durch die man fast
unschlagbar wird. Auch gegen einen vermeintlich starken und übermächtigen Gegner gibt
es ein Mittel, nämlich den Zusammenhalt.
Kommen wir nun zu der Geschichte der Fische.
Kennt ihr den Glasaugenfisch?
Ein kleines Seeungeheuer, etwas kleiner als der weiße Hai.
Sardinen soll er lieben.
Die Sardinen merken das Nähern des Glasauges, sei es
Durch seinen Geruch, sei es durch die Bewegung des Wassers.
Sie kommen sofort zusammen und
Bilden nebeneinander und Rücken an Rücken eine Wand.
Wenn das Glasauge schleichend näher und näher kommt,
Schütteln die Sardinen plötzlich ihre Schuppen ab
Und schwimmen davon.
Wenn dann die Schuppen auf der Wasseroberfläche schimmern,
“Hier gibt es ein Glasauge,” sagen die Fischer und werfen ihreNetze aus.
Aziz Nesin
601
SU, Ruhi: Auf der inneren Seite der Hülle der Schallplatte “Kinder, Migrationen, Fische” (Çocuklar,
Göçler, Balıklar, 1979).
295
„Camgöz”
Gelelim balıkların öyküsüne,
Camgöz balığını bilir misiniz?
Köpek balığından biraz küçük bir deniz canavarı.
Sardalya balıklarına bayılırmış.
Sardalya balıkları, camgözün yaklaşmakta olduğunu
Kokusundan mı, denizin kıpırtısından mı nasılsa anlarlar,
Hemen bir araya gelir, birleşir,yanyana, sırtsırta bir duvar oluştururlarmış.
Camgöz gelir gelir gelir, iyice sokuldumu,
Sardalya balıkları birden
Pullarını silkeleyip kaçarlarmış.
Sonra bu pullar denizin üzerinde pırıldamaya başladımı
Balıkçılar, „burada camgöz var” deyip,
Ağlarını atar, kazıklarını çakarlarmış.
Aziz Nesin
296
9.10.7
„Fischsprache”
Dies ist die Geschichte eines Schwertfisches.
Sie hätte nicht unbedingt niedergeschrieben werden müssen.
Der Strom ist versiegt, der uns in neue Gewässer bringen sollte.
Wir gingen auf Makrelenjagd.
Ich war auch in dem Schwarm,
Auf meinem Rücken war die Wunde einer Harpune.
Ich war eigentlich glücklich,
Ich weiß nicht warum,
Die Rufe “Vorsicht, Netze” gingen mir nicht aus den Ohren.
Die Meerjungfrau bleibt in meinem Sinn,
Ich werde einfach nicht vernünftig.
Nur der Thunfisch kann Herr der Fangnetze werden.
Wenn das Fangnetz enger wird, gebe ich schnell auf,
Selbst ein Kind könnte mich in das Boot ziehen,
Wäre ich nicht so schwer.
Lebensfreude macht mich so beweglich,
Entlang den Kanal, zur einen Seite und dann wieder zur anderen.
Oh ihr lieblichen Meereslämmchen!
Ich durchschnitt mit meinem Schwert die Dunkelheit der Tiefe,
Das Meeresleuchten, das ich aufscheinen ließ,
Oh, alles, was geschieht, geschieht in mondlosen Nächten.
Auf meinem Rücken ist die Wunde einer Harpune,
Werft mich in ein violettes Boot und bringt mich fort,
Kummer liegt in meinen großen Augen,
Schwermut in meinem Schwert.
Verkauft mich, verkauft mich!
Trinkt Raki!
Halim Şefik Güzelson
297
„Balık
Ağzı”
Bu bir kılıçbalığının öyküsü.
Yazılmasa da olurdu.
Ama bizi yeni sulara götürecek akıntı durdu.
Uskumrunun arkasından gidiyorduk.
Sürünün içinde ben de vardım,
Sırtımda bir zıpkın yarası.
Mutlu olmasına mutluydum,
Nedense gitmiyordu
Kulağımdan, bir türlü o "ağ var" sesleri
Deniz kızı girmiş düşünceme,
Ben iflâh olmam.
Dalyanları birbirine katmak orkinosların harcı.
Dolanınca ağa, çok geçmeden küserim.
Bir çocuk bile çeker sandala beni,
Bu kadar ağır olmasam.
Beni böyle koşturan yaşama sevinci.
Kanal boyunca, bir o yana bir bu yana.
Siz yok musunuz siz, derya kuzuları!
Kestim kılıcımla karanlığını dibin,
Yakamoz içinde bıraktım suları.
Ah aysız gecelerde olur ne olursa.
Sırtımda bir zıpkın yarası,
Atın beni mor kuşaklı bir takaya götürün.
İri gözlerimde keder,
Kılıcımda hüzün.
Satın beni, satın beni!
Rakı için!
Halim Şefik Güzelson
298
Die sowohl märchenhafte wie mythologische Metaphorik dieses Gedichtes spielt
auf ein Lebensgefühl an. Der Schwertfisch genießt sein Element, das Wasser, er ist aber
auch ständig von Stärkeren bedroht und trägt eine schwere Wunde, wie er auch der
Anziehungskraft der Sirene ausgeliefert ist. Der Ton des Gedichtes wird immer dunkler
und todeserfüllter und endet in einer gewissen Schicksalsergebenheit, der nur noch die
letzte Aufforderung “Trinkt Raki!” entgegen steht.
299
9.10.8
„Säugling” (Wiegenlied)
„Bebek” (Ninni)
Ich habe Kamel an Kamel gebunden,
Deveyi deveye çattım,
Nenni nenni nenni nenni oy,
Nenni nenni nenni nenni oy,
Ich warf ihnen ein Halfterseil um den Hals,
Çılbırın boynuna attım,
Nenni de nenni de nenni de nenni.
Nenni de nenni de nenni de nenni.
Ich schäme mich vor meinem Schwiegervater,
Kaynatamdan hicap ettim,
Nenni nenni nenni nenni oy,
Nenni nenni nenni nenni oy,
Nenni mein Kleinstes,
Nenni benim küçücüğüm,
Nenni de nenni de nenni de nenni.
Nenni de nenni de nenni de nenni.
Steh auf mein schwarzes Kamel, steh auf,
Yekin kara devem yekin,
Zieh deine Glocken und Schellen an,
Çanını zilini takın,
Schütze mein Baby vor den Ästen,
Bebeğimi daldan sakın,
Nenni mein Kleinstes,
Nenni benim küçücüğüm.
Die Hunde heulen in den Bergen,
Köpekler dağda uluşur,
Meine Schwägerin lächelt im Zelt,
Eltim çadırda gülüşür,
Die schwarzen Raben teilen sich das Baby,
Kuzgunlar bebek üleşir,
Nenni mein Kleinstes,
Nenni benim küçücüğüm.
Die Felsen von Harmancık,
Harmancık’ın kayaları,
Die Glocken der Kühe läuten,
Çan çalıyor mayaları,
Taten sie denn sehr weh, oh mein Baby,
Pek mi değdi a bebeğim
Die Krallen des schwarzen Vogels?
Karakuşun sayaları?
Volkslied
Halk Türküsü
Das Thema stammt aus einer Volkserzählung. Der Sohn eines Stammesführers
bekommt erst acht Jahre nach seiner Hochzeit ein Kind, was seiner Frau den Spott der
Schwägerin einbringt. Als das Kind ungefähr sechs Monate alt ist, zieht die Familie auf
die Alm. Unterwegs bleibt die Wiege, die auf einem Kamel festgebunden ist, an einem
Tannenast hängen. Niemand außer der Mutter sieht, dass die Wiege am Ast
hängengeblieben ist. Sie kann aber den vor ihr gehenden Schwiegervater nicht warnen,
weil sie mit ihm der Sitte nach nicht reden darf. In Anatolien gibt es nämlich einen
300
Brauch für die Schwiegertochter . Sie darf mit dem Schwiegervater, der Schwiegermutter
und den Verwandten ihres Mannes nicht sprechen. Auf ihre Fragen kann sie lediglich mit
dem Kopf nicken oder ihn schütteln. Man versteht das Reden der Schwiegertochter mit
ihren Schwiegereltern als eine Respektlosigkeit. Sie spricht aber in aller Eile mit ihrem
vorweg wandernden Mann darüber. Als beide zurückeilen, sehen sie, dass die wilden
Vögel die Augen des Babys ausgekratzt haben. Daraufhin klagt die Frau über das
Unglück
602
.
Ruhi Su will mit der Wahl dieses hochdramatischen Themas darauf hinweisen,
dass nicht jeder Volksbrauch ehrwürdig und zu befolgend ist, sondern auch zur
Unmenschlichkeit und Tragödie führen kann.
602
SU, Ruhi: Beiheft zu İmece Plakları II (1967): 3.
301
9.11
Die Zeybeks / Zeybekler (1980) 603
„Zeybeks” (Zeybekler) ist der Titel der letzten Schallplatte, die Ruhi Su zu
Lebzeiten herausgebracht hat. Der Begriff „Zeybek“ wird im Türkischen erstens für einen
Tanz benutzt und zum zweiten für ein Lied. Drittens ist er der Name eines ägäischen
Jungens. 604
Ruhi Su gibt, wie auf allen anderen Platten, eine Einführung. Er stellt fest, dass
die Geschichte der Zeybeks mehr oder weniger unbekannt ist. Sagen und Erzählungen
über sie reichen zurück bis zum Gott Dionysos, über die Ahi 605 bis hin zu Jägerritualen.
Die Zeybeks bezeichnen sich als eine Gemeinschaft, die ihre eigene Tradition, Kleidung
und Rangordnung sowie ihren eigenen Tanz haben. Sie ist zumeist eine illegale
Organisation gewesen, anfänglich vielleicht eine Zunft. Mit der Zeit ist der
Zusammenschluss degeneriert. Ein Teil ist zu Banditen geworden und ein anderer, dem
auch Yürük Ali Efe und Demirci Efe angehören, hat sich am Nationalen Befreiungskrieg
beteiligt, der die Zeybeks legal machte. Heute dient der Zusammenschluss der Zeybeks
lediglich einem
folkloristischen Zweck. Dies ist im großen und ganzen alles, was
einheitlich in den Quellen über ihre Vergangenheit berichtet wird. Entgegen der
allgemeinen Meinung ist die Zeybektradition nicht nur an der Ägais verbreitet. Sie reicht
über Eskişehir und Ankara bis nach Konya. 606 Soweit Ruhi Sus Information.
Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder „Kerimoğlu“ (Kerimoğlu);
„Ich fühle mich wieder fremd“ (Yine Bir Gariplik Düştü Serime); „Es regnet“ (Yağmur Yağar);
„Menteschaner“ (Menteşeli); „Zeybek aus Isparta“ (Isparta Zeybeği); „Çakıcı“ (Çakıcı); „Zeybek
Tanzende“ (Serenler) und „Zeybek und Yürük“ (Zeybek ile Yürük).
604
Vgl. AYVERDİ, İlhan: Misalli Büyük Türkçe Sözlük ( 2010):1386.
605
Die Ahi waren eine anatolische mittelalterliche Gemeinschaft, die sich aus Handwerkern,
Gewerbetreibenden und Bauern zusammensetzte und kollektive wirtschaftliche und kulturelle Ziele
verfolgte. Vgl. http// www. Kultur. gov.tr. Abgerufen am 17.Juli. 2009.
606
Vgl. SU, Ruhi : Zeybekler. In: Akdeniz Kitabevi (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (1997): 80.
Weiterführend siehe AVCI, Ali Haydar: Zeybeklik ve Zeybekler Tarihi (2012); ÖZTÜRK, Okan Murat:
Zeybek Kültürü ve Müziği (2006).
603
302
9.11.1
„Öndeyiş”
„Prolog”
Im ersten Teil der Schallplatte lässt Ruhi Su die Zeybeks selbst in einem
Zwiegespräch über ihr Dasein sprechen, bevor er mit ihren Liedern beginnt. Er führt aus,
dass manche über die Zeybeks sagen, sie seien die Überreste eines alten Volkes; andere,
sie verdankten ihre Gründung den Seldschuken; andere wiederum, sie seien Banditen
gewesen. Die Zeybeks sprechen von ihren Traditionen. Sie sind die Herren der Berge,
haben Mut und Gelassenheit gegenüber dem Tod. Sie glauben an Satan als ihren Helfer
und verraten damit, dass sie keine orthodoxen Muslime sein wollen. Ruhi Su urteilt im
Grunde positiv über die Zeybeks: Sie haben Schrecken verbreitet, jedoch auch
nachahmenswerte Spuren hinterlassen. 607
Daraufhin beginnt er mit dem Prolog. Auf Fragen an die Zeybeks antwortet Ruhi
Su an ihrer Stelle:
Wer ist der Herr dieser Berge?
Bu dağların sahibi kim?
Der Onkel.
Emmi.
Wer wird tapfer genannt?
Yiğit kime derler?
Der sein Wort hält.
Sözünde durana.
Wozu kommt der Mensch auf dieseWelt?
İnsan bu dünyaya niçin gelir?
Um zu sterben.
Ölmek için.
Glaubst Du an den Teufel?
Şeytana inanır mısın?
Er ist unser Helfer.
Yardımcımızdır.
Ruhi Su
607
Vgl. SU, Ruhi: Zeybekler: In: AYDOĞAN, Karabey (Hrsg): Ruhi Su Türküleri (2000): 77.
303
9.11.2
Hier werden lediglich zwei Lieder besprochen, die sich mit den Zeybeks
beschäftigen. Das eine Lied handelt von Yürük Ali, einem Zeybek, der sich im
Nationalen Befreiungskrieg einen Namen gemacht hatte:
„Yürük
Ali Efe” 608
„Yürük
Ali Efe”
Bist du durch Dalama gegangen,
Şu Dalama’dan geçtin mi,
Hast du kaltes Wasser getrunken,
Soğuk sular içtin mi,
Unter den jungen Kerlen,
Efelerin içinde
Hast du Yürük Ali erkannt?
Yürük Ali’yi seçtin mi?
Hey, der junge Kerl aller Kerle,
Hey gidinin efesi,
Der junge Kerl aller Kerle!
Efelerin efesi!
Dieser Brunnen von Dalama,
Şu Dalama’nın çeşmesi,
Wie schön ist es aus ihm zu trinken.
Ne hoş olur içmesi.
Falls du nach Yürük Ali fragst,
Yürük Ali’yi sorarsan,
Er ist der Auserwählte der jungen Kerle.
Efelerin seçmesi.
Hey, der junge Kerl aller Kerle,
Hey gidinin efesi,
Der junge Kerl aller Kerle!
Efelerin efesi!
Die Ärmel seiner Jacke
Cepkeninin kolları,
Glänzen vor Pailletten.
Parıldıyor pulları.
Yürük Ali kommt,
Yürük de Ali geliyor,
Öffnet die Wege von Aydın.
Açıl Aydın yolları.
Hey, der junge Kerl aller Kerle,
Hey gidinin efesi,
Der junge Kerl aller Kerle!
Efelerin efesi!
Man hat die Berge von Aydın durchbohrt
Aydın Dağı’n oydular,
Und in den Busch das Gewehr gelegt.
Çalıya da martin koydular.
Den Namen von Yürük Ali
Yürük Ali’nin adını,
In heiligen Ali umbenannt.
Hazreti Ali koydular.
608
Die Zeybek wurden, wie bereits erwähnt, auch mit dem Namen „Efe“, junger Kerle aus Westanatolien,
bezeichnet.
304
Hey, der junge Kerl aller Kerle,
Hey gidinin efesi,
Der junge Kerl aller Kerle!
Efelerin efesi!
Volkslied
Halk Türküsü
Offensichtlich ist das Lied ein Loblied auf die Heldenrolle des Yürük Ali im
Befreiungskrieg, dem sich alle Wege öffnen, als er nach Aydın kommt. Sein Gewehr
wird ihm als Gabe gewidmet. Yürük Ali ist die Personifikation der Efe, der “junge Kerl”
schlechthin. Auffällig ist der Teil, in dem Yürük Ali mit Ali, dem Schwiegersohn und
Neffen Mohammeds, gleichgesetzt wird. Er ist für seine Anhänger so wichtig, dass sie
seine Taten mit denen Alis gleichsetzen. Der im Namen Gottes kämpfende Ali ist für
seine Anhänger der Löwe Gottes. Yürük Ali ist wahrscheinlich der Löwe des Volkes.
Ruhi Su nimmt ein traditionelles Volkslied und verleiht ihm durch die letzte Zeile
Heiliger Ali eine alevitische Note.
305
9.11.3
Der zweite Text beschäftigt sich mit İnce Mehmet, der durch den Roman
„Memed, mein Falke” (İnce Memed) von Yaşar Kemal berühmt wurde. Jedoch ist der
Mehmet in diesem Lied nicht der große Held, der Wagemut und Kampfeswillen zeigt,
wie in Yaşar Kemals Werk. Er ist vielmehr ein hinterhältiger und verräterischer Kerl. 609
Für Ruhi Su ist der Verrat der Freundschaft auch im eigenen Leben eine der bösesten
Taten. 610
Ruhi Su erklärt im Vorspann zu diesem Lied: In den ersten Jahren der Republik
lebte, so sagt das Volk, der Räuber Koca Mustafa zwischen Kütahya und Denizli. İnce
Mehmet war sein bester Freund. Dieser Koca Mustafa gerät durch Verrat Mehmets in
einen Hinterhalt und wird erschossen. Das Türkü macht Mehmet durch den Mund Koca
Mustafas Vorwürfe. 611
„Mehmet,
mein Falke” 612
Was habe ich dir getan, İnce Mehmet?
Ich habe dich zweimal mit dem Geld meiner Tasche verheiratet.
Hätte man dich an meiner Stelle erschossen,
Hätte ich aus Kummer bis zum Tode keinen Schlaf.
Die Männer mit dem Weihrauch 613 kamen Schar um Schar,
Oh weh, sie durchlöcherten meine Brust,
Sie machten vor dem Rathaus ein Bild von mir.
Lernt mich auf dem weißen Papier erkennen.
Diese Weidenbäume von Dinar,
Ihre Blätter wuchsen, als wir vorbeigingen,
Die Männer mit dem Weihrauch waren klein und wuchsen.
Oh weh, Ince Mehmet ließ mich erschießen!
(Volkslied)
Nach der Vermutung Boratavs hat Yaşar Kemal seinen Roman „İnce Memed“ genannt, inspiriert durch
Ruhi Sus gleichnahmiges Lied, das während des Zweiten Weltkriegs durch ihn populär wurde. Siehe
BORATAV, Pertev Naili: Yaşar Kemal’in Yörük Kilimindeki Nakışlar, Bilim ve Sanat (1982). In:
BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 1(1982):411- 423.
610
SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır , Gösteri
(16. März 1982). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 164.
611
SU, Ruhi. In: AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri (2000): 79.
612
Diese Überschrift gehört zu Horst Wilfried Brands Übersetzung, der das Werk “İnce Memed” Yaşar
Kemals ins Deutsche übersetzt hat.
613
Ruhi Su spielt mit dem Terminus Buhurcular auf ein berufssprachliches Wort der Zeybeks an, das wohl
mit Leichenzeremonien zu tun haben soll. Auch in großen Wörterbüchern findet es sich nicht.
609
306
„İnce Mehmet”
İnce Mehmet ne yaptıydım ben sana?
İki kere everdiydim kesemden.
Eğer yerlerime sen vurulaydın,
Ölesiye yatamazdım tasamdan.
Buhurcular bölük bölük geldiler,
Ak göğsümü delik delik deldiler,
Konağın önünde resmim aldılar.
Ak kâğıt üstünde tanıyın beni.
Şu Dinar’ın sıra sıra söğüdü,
Biz geçerken yapracığı göğüdü,
Buhurcular küçük idi büyüdü.
İnce Mehmet eyvah vurdurdu beni.
Halk Türküsü
307
9.12
Die postumen Langspielplatten, die CDs und die Musikkassetten
Die oben genannten 11 Langspielplatten sowie weitere 16 45er Spielplatten
machen Ruhi Sus künstlerische Leistung aus 614
Sein Lebenswerk bleibt allerdings
unvollendet, denn in der großen Sammlung “Album der Volksklassiker” (Halk Klasikleri
Albümü) hat er den letzten Band über Dadaloğlu nicht mehr bearbeiten können. Wenn
man ihn und seine Kunst kennenlernen möchte, sollte man sich jene Schallplatten
anhören, die unter seiner Leitung aufgenommen wurden. Nach seinem Tod sah seine Frau
Sıdıka Su die Archivierung seiner Werke als ihre Lebensaufgabe an. Für sie war es
wichtig, dass sein gesamtes Lebenswerk für die nächsten Generationen bereitstehen
sollte. Dennoch erntete die von ihr initiierte Aufnahme neuer CDs mit mehr oder weniger
zufällig entstandenen und akustisch schlechten Aufnahmen von Liedervorträgen unter
Freunden wegen der oft dilettantischen Ausführung von vielen Seiten Kritik. Auch wenn
die erneute Herausgabe als Dokumentation vorbereitet wurde, wäre es besser gewesen,
sie in einen thematischen Rahmen zu stellen. 615 Ruhi Su war der Gedanke vollkommen
fremd, die Lieder einzeln, ohne jegliche Verbindung zueinander, zu singen. Frau Sus
Verdienst ist aber sicherlich, viele Lieder Ruhi Sus für die Nachwelt gerettet zu haben,
deren Rohaufnahmen sonst verloren gegangen wären.
Die folgenden Schallplatten, mit Ausnahme der beiden Erstgenannten, sind von
Ruhi Su nicht autorisiert worden:
„Singendes Herz” (Ezgili Yürek); „Von Pir Sultan bis Levni” (Pir Sultan’dan Levni’ye);
„Ich war Saat und wurde gedroschen” (Ekin İdim Oldum Harman); „Das Konzert im
Theater-Kadıköy I und II” (Kadıköy Tiyatrosu Konseri I ve II); „Der Gipfel des Berges
Bey” (Beydağı’nın Başı); „Dadaloğlu und sein Umfeld” (Dadaloğlu ve Çevresi); „Der
Phönix und die Satire” (Huma Kuşu ve Taşlamalar); „Der Fluss Sultan” (Sultan Suyu);
„Konzert im Theater Dostlar” (Dostlar Tiyatrosu Konseri); „Sieh den Stein von Ankara”
(Ankara’nın Taşına Bak); „Sie weckten uns, während wir schliefen” (Uyur İken
Uyardılar); „Beieinander” (Barabar); „Aman Of” (Aman Of); „Ausgewählte Türküs und
Türküs aus dem Gefängnis” (Seçmeler ve Hapishane Türküleri); „Sie haben meine Rose
weggeworfen” (Gülüm Dermişler). 616
614
Im Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. August 2008 in Köln erzählte dieser dem Verfasser, dass Ruhi
Su nur die elf Langspielplatten als sein Werk ansieht. Die sechzehn 45er, die er zuvor herausgebracht hatte,
beinhalteten Lieder, die er nachher in die Langspielplatten aufgenommen hatte.
615
Vgl. GÜNDOĞAR, Sinan: Muhalif Müzik (2005): 81.
616
Für die Texte auf dieser Schallplatten siehe AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri (2000).
308
10.
Ruhi Sus Gedichte 617
10.1
Themen in den Gedichten Ruhi Sus
Ruhi Su war ein vielseitiger Künstler, nicht nur ein Sänger, der lediglich singen
wollte, sondern auch ein guter Zeichner 618 und vorzüglicher Lehrer. Natürlich stand die
Musik im Mittelpunkt seines Lebens. Er schrieb und komponierte Märsche und Türküs,
doch verfasste er auch Gedichte, denen er keine Melodie unterlegte. Von letzteren Texten
ist hier erstmals systematisierend die Rede, denn die Kritiker haben sich bisher
hauptsächlich seinem musikalischen Schaffen zugewandt. Özkırımlı fragte sich immer,
ob das Hören und Erleben der Schönheit seiner Türküs nicht mit seinem dichterischen
Charakter zusammen hänge? Ob ein Türkü, das durch seine Saz und seine Stimme eine
neue Seele bekomme, nicht mit seiner dichterischen Schöpfungskraft zu tun habe? Wie
könne man sonst seine Aussage erklären, dass ein Türkü zu singen für ihn eine Ekstase
sei. Er habe wenige Gedichte geschrieben. Dennoch sei es ihm gelungen, in diesen
wenigen Gedichten sein ganzes Leben, seine Lebens -und Weltanschauung, seine Liebe
zum Volk, seine Wertschätzung der Menschen und seine Achtung für das arbeitende
Volk zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund sei es nicht falsch zu behaupten, um
Ruhi Su kennenzulernen, müsse man seine Gedichte kennen. 619
Was zunächst auf eine eher abstrakte Weise zu beschreiben ist, ist die thematische
Eigenart der Gedichte. Der Akzent liegt daher nicht auf den Einzelanalysen, welche unten
folgen, sondern auf den Komplexen, die sich mehr oder weniger deutlich durch Ruhi Sus
Lyrik ziehen. Abkürzend gesagt: Es geht um seine individuelle Sinnfigur, die sich in fünf
Komplexe gliedert, und denen die autobiographische Komponente fast überall sichtbar
wird. Zu benennen sind diese Komplexe, die natürlich zu mehreren in einem Text
auftreten können, wie folgt:
(1) Krieg und Kindheit;
(2) Liebe zwischen Mann und Frau sowie in der Familie zu Kindern;
(3) Das türkische Land und seine Natur;
(4) Politik und soziale Gerechtigkeit, bestehende Ungerechtigkeit und utopische
617
Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su
blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die
Übersetzer nicht genannt werden.
618
Für Zeichnungen Ruhi Sus siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 36-41.
619
ÖZKIRIMLI, Atilla: Ezgili Yürek ve Ruhi Su, Cumhuriyet (1. Mai. 1986). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986):
299.
309
Aufklärung;
(5) Rolle und Wert der Kunst, insbesondere der von Ruhi Su vertretenen Liedkunst.
Die Gedichte folgen nach ihrem thematischen Schwerpunkt. Zu Komplex (1) ist „Die
Mobilmachung“ (Seferberlik) zu zählen.
310
10.1.1
„Die Mobilmachung“
Es war das Voranschreiten mit der Waffe in der Hand,
Ach, das unglückliche Los der Landwehr.
Unter den Instrumenten gibt es wie bei den Menschen einige,
Die einen störenden Klang haben,
Einige, die nur lallen.
.
Ich wurde wach von der Trommelstimme,
Von der fanatischen Stimme der Trommel und der Trompete,
Der Freudenbotschaft des gespannten Trommelfells.
Konnte man nicht widerstehen,
Weil es die Mobilmachung war.
Ich hatte nur eine Stimme.
Was wäre denn, wenn ich tausend Stimmen hätte?
Mit der Stimme der Kinder erschießt man niemand.
Wer brachte diesen Krieg in das Weiß des Brotes?
Ich erinnere mich, als ob es jetzt wäre,
Die Brote sahen aus wie neugeborene Zwillinge,
Gebacken auf brennendem Heidekraut.
Dieses Kraut duftete nach Honig,
Uns sättigt seit eh und je das Brot,
Und ich erinnere mich nun an meine Kindheit.
Ist nur die Armut von Kriegen übrig geblieben?
„Mobilmachung“, sagte man, und ich war mittendrin.
Eichenbrotbaum,
Johannesbrot war Sirup und Honigbaum für uns,
Kinder gab es entweder wenige, oder sie weinten wenig,
Oder sie hatten wenig Zeit zu weinen.
Die Krankheit war Fleckfieber,
Das Medikament war Chinarinde.
Meine Kindheit soll verschwinden und nicht zurückkommen;
Ich erinnere mich an meine Kindheit.
311
„Seferberlik“ 620
Eli silah tutanların gidişiydi bu,
Rediflerin, vay anam kur’asının.
Çalgıların da insanlar gibi
Zort zort edeni var,
Zom zom gideni var.
Uyandım davulun bağnazlığına,
Davulun, trampetin,
Gerilmiş derilerin muştusuna.
Seferberlikti bu, karşı durulmaz.
Bir sesim vardı benim.
Bin sesim olsa n’olacak?
Çocukların sesiyle adam vurulmaz.
Kim getirdi bu savaşı ekmeğin beyazlığına?
Şimdilerdeki gibi anımsarım,
İkiz bebeklere benzerdi ekmekler.
Püren çalısında pişer,
Püren balı gibi kokardı.
Biz oldum olası ekmekle doyarız da
Çocukluğum geldi aklıma.
Hep savaşlardan mı kaldı bu yoksulluk?
Seferberlik derlerdi, ben de bulundum içinde.
Pelit, ekmek ağacı,
Harnup, pekmez ağacı, bal ağacıydı bizim Güney‘de.
Çocuklar ya çok azdı, ya çok ağlamazdı.
Ya da ağlamaya vakit kalmazdı.
Hastalık lekeli humma,
İlaç kınakınaydı.
Gitsin, gitsin de gelmesin;
Çocukluğum geliyor aklıma.
620
Ersterscheinung Cumhuriyet (5. Feb. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 13.
312
Zu Anfang der Studie ist das Gedicht von der Mobilmachung in einen
biographischen Kontext gestellt worden. 621 Hier soll es nun erneut behandelt werden mit
Hinblick auf seine poetische Machart. Als Erwachsener erinnert er sich an die Nöte seiner
Kindheit während des Ersten Weltkriegs, welche so drückend waren, dass ihm diese
Erinnerung höchst schmerzhaft ist. Die Kriegsmusik der Instrumente, wenn man denn
von Musik reden kann, war übermächtig fanatisch und rief junge Soldaten in den Tod.
Der Dichter hatte nur seine schwache Kinderstimme dem Kriegslärm entgegen zu setzen,
doch selbst tausend Kinderstimmen hätten wenig ausgemacht. Wenig und armselig war
auch seine Nahrung. Das früher gegessene kostbare weiße Brot setzt er in einen Kontrast
zum Johannesbrot. Schließlich kontrastiert er eine glückliche Kindheit, die nie
Wirklichkeit wurde, mit den allgemeinen, tränenreichen Jahren seiner kindlichen
Generation. Nochmals: Die Erinnerung bleibt bitter, so sehr, dass er nicht mehr an eine
Kindheit, die geprägt war vom Schrecken, erinnert werden möchte.
621
Siehe oben Kap. 2.1.
313
Zu Komplex (2) wird „Das Wiegenlied“ (Ninni) gestellt.
10.1.2
„Das Wiegenlied”
„Ninni”622
Deins ist in mir verschlossen,
Seninki bende kilitli,
Meins ist in dir verschlossen,
Benimki sende kilitli,
Anahtarlarını atalım suya!
Werfen wir die Schlüssel ins Wasser!
Mag eine goldene Kuh das Wasser trinken,
İster bir altın inek içsin,
Mag es durch die Städte fließen,
İster şehirlerden geçsin su,
Kilitler varınca uykuya.
Während die Schlösser einschlafen.
Der Sommer soll kommen, um es aufzulösen,
Yaz gelsin, çözsün,
Der Winter soll kommen, um es zu umarmen,
Kış gelsin, sarsın,
Der Wind soll alle vergangenen Tage wegfegen,
Rüzgâr, geçen günleri koparsın,
Und einen Kalender hängen wir an die Tür.
Bir de takvim asalım kapıya.
Das Gedicht „Das Wiegenlied“ (Ninni) spricht von der innigen Liebe zwischen
zwei Menschen. Es geht um die Liebe zwischen Mutter und Kind und den Wunsch der
Mutter, mit der Kraft der Jahreszeiten sich von der Vergangenheit zu befreien.
Das Motiv von den verschlossenen und dann weggeworfenen Schlüsseln ist nicht
nur in der türkischen Lyrik traditionell. Dem mittelalterlichen deutschen Minnesänger
Walther von der Vogelweide werden diese Zeilen zugeschrieben, die von einem
Liebespaar von Mann und Frau sprechen:
du bist min ich bin din
des solt du gewis sin.
du bist beslozzen
in minem Herzen
verlorn ist daz Slüzzelin
du muost immer drinne sin 623
Dieses märchenhafte Motiv geht bei Ruhi Su, der sich auf seiner Art den
Minnesängern des türkischen Volkslieds nähert, in den Bereich der Natur, nämlich der
622
623
Ersterscheinung Varlık (15. Juni 1940). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 11.
In: AVENARIUS, (Ferdinand): Hausbuch deutscher Lyrik (ohne Jahreszahl): 115.
314
Jahreszeiten, über. So löst sich der Schlüssel zum Kästchen, in dem die Liebe zwischen
Mutter und Kind verborgen ist, wie selbstverständlich in der Natur auf.
Zu Komplex (3) gehört „Das Grenzlied” (Serhat Türküsü).
10.1.3
„Das Grenzlied”
Weder unrein gestorben,
Noch Muslim geworden,
Ohne Schwert, ohne Schild,
Deckten sie eine Tafel.
Die Olive brachte die Olive,
Die Feige die Feige,
Die Traube den Saft.
Jeder brachte etwas mit,
Manche ihre Früchte,
Manche ihre Schatten.
Wir schulden es weder den vierhundert Löwen,
Noch Şehmuz, dem Löwen,
Wir verdanken diese Erde
Tamarisken und Schilfen
Und der Wermutpflanze.
315
„Serhat Türküsü” 624
Ne murdar öldüler,
Ne müslüman oldular,
Kılıçsız, kalkansız,
Bir sofra kurdular.
Zeytin, zeytini getirdi,
İncir, inciri getirdi,
Şerbeti, üzüm getirdi.
Her biri bir şey getirdi,
Kimi, meyvesini canım,
Kimi, gölgesini getirdi.
Ne dörtyüz arslana borçluyuz,
Ne Şehmuz Aslan`a.
Ilgınlara, sazlara borçluyuz
Biz bu toprakları.
Bir de yavşana.
Das Gedicht lässt sich als eine Absage an eine heroisierte türkische Geschichte
verstehen. Die traditionellen Helden, die vierhundert Löwen und der angebliche
Überlöwe Şehmuz, haben dem türkischen Land nichts gegeben. Auch seine Religionen
haben keine Grenzen. Es ist im Gegenteil die Friedfertigkeit der Pflanzen, welche die
Heimat beschenkt, wenn auch nur mit geringen Gaben. Ein Gastmahl, das keine Waffen
kennt, ist es selbst dann geworden, wenn Gäste mit leeren Händen kamen und nur ihre
Schatten mitbrachten. Ruhi Su zeichnet so mit sehr einfachen Worten eine heitere
bukolische Welt.
624
Ersterscheinung Cumhuriyet (1975). Keine genauere Angabe. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 12.
316
Zu Komplex (4) sind vier Gedichte zu stellen: „Wir sind gekommen” (Geldik), „Das
Sichtbare” (Görünen), „Der Fluss” (Irmak) und “Es soll anfangen” (Başlasın).
10.1.4
„Wir sind
„Geldik“ 625
gekommen“
Wir waren alle an verschiedenen Orten
Hepimiz bir yerlerdeydik
Und kamen dann an einen anderen Ort.
Başka bir yere geldik.
Im Lauf der sich verändernden Welt
Değişen dünyanın sürecinde
Kamen wir aus tiefen Gewässern.
Karanlık bir sudan geldik.
Die Rose ist jetzt weder die alte Rose,
Ne gül eski güldür şimdi,
Noch ist das Pferd das alte Pferd.
Ne beygir eski beygir.
Ohne zu verletzen und zu kränken,
Kırmadan, incitmeden,
Wurden wir vom Affen zum Menschen.
Maymundan insana geldik.
Schaut nicht hin auf diesen selbstsüchtigen,
Bakmayın siz bu bencil,
Diesen tierischen Streit.
Bu hayvansal kavgaya.
Im Lauf der sich verändernden Welt
Değişen dünyanın içinde
Sind wir gerade erst zum Menschen geworden.
İnsana biz yeni geldik.
Die Schwierigkeit der Deutung von Ruhi Sus Gedichten zeigt sich besonders in
dem Text “Wir sind gekommen” (Geldik). In einer für Ruhi Su charakteristischen Art
geht es um die Schnittstelle von Beschreibung und einen letzlich moralischen Appell an
seine Zeitgenossen. Die Rede ist von Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich verändert
an einem neuen Ort treffen. Diese Aussagen lassen sich auf die Evolutionsgeschichte
beziehen, welche das menschliche Wesen aus dem Meer geführt hat. Im Gedicht ist
dieser Prozeß der Menschwerdung von Millionen Jahren gerade erst zu Ende gegangen.
Es spricht aber auch von dem Traum eines neuen verständigen Wesens, das nicht Feind
der Natur ist. Das Risiko, vor dem es warnt, besteht allerdings, dass die Menschen auf der
Stufe des tierischen Kampfes stehen bleiben.
625
Ersterscheinung Cumhuriyet (5. März 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 14.
317
10.1.5
„Das Sichtbare”
In Deutschland ist die Erde
dieselbe wie bei uns.
Die Bäume sind ungebildet,
Sie kennen weder Beethoven noch Spartakisten.
Wo sind die Platanen, die bei uns
wachsen solange die Welt besteht?
In Frankfurt sah ich einen Mann
unter dem Christbaum stehen,
Seine Mütze am Boden vor sich anschauend,
Im Gesicht die Scham der Armut genau wie bei uns.
Die Arbeiter umarmten uns wie ein geliebtes Land.
Einer weinte heimlich an meine Schulter gelehnt,
Von Müdigkeit gezeichnet war sein Gesicht,
Sein Schnurrbart war derselbe wie unserer.
Hände und Füße wie meine fand ich,
Nichts hat mich überrascht.
Warum lässt mich der Gedanke nicht los
an unsere Kinder in Deutschland?
Nur die Namen waren übrig geblieben,
die wie bei uns gerufen werden.
318
„Görünen” 626
Almanya'da topraklar
Aynı bizimki gibi.
Ağaçları görgüsüz, cahil.
Ne Beethoven'i bilen var, ne Spartakistler'i.
Nerde dünya durdukça duran
Çınarlar bizimki gibi?
Bir adam gördüm Frankfurt'ta,
Noel ağacının dibinde.
Kasketini açmıştı, gözleri yerde.
Yoksulluğun utancı aynı bizimki gibi.
Memleketim diye kucakladı işçilerimiz bizi.
Biri ağladı usul usul, boynumda durdu.
Uykuda kaymış da sanki yüzleri,
Bıyıkları aynı bizimki gibi.
Ellerim ayaklarım gibi buldum.
Hiçbir şeye şaşmadım da
Neden takılıp kaldı aklım
Bizim bebelere Almanya’da?
Adları kalmış ancak,
Söylenen bizimki gibi.
Der Anlass für dieses Gedicht war Ruhi Sus Besuch in Deutschland ebenfalls
im Jahre 1977, auf dem er Konzerte gab. Die Erkenntnisse, die er damals gewann,
prägen die Bilder seines Gedichtes. Der Grundgedanke ist, dass es Türken in
Deutschland und der Türkei gleich schlecht geht; mehr noch: dass sie sich eher in
Deutschland in noch größerer seelischen Not befinden, weil ihnen die Heimat fehlt, die
türkische Identität schwindet und allenfalls die türkischen Namen ihrer Kinder an die
Heimat erinnern. Ihn berührt tief, dass an der Erde, den Bäumen, der kulturellen
626
Ersterscheinung Cumhuriyet (17. Dez. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 17.
319
Unwissenheit und den Körpern der türkischen Arbeiter die Spuren der Heimat noch
sichtbar sind. Sprachlich betont er diese Empfindung durch die wiederholte Phrase
“Wie bei uns” (Bizdeki gibi). Gleichzeitig dehnt er die Parallelen auf Deutschland aus.
Auch in diesem Land kennen die symbolischen Bäume weder Beethoven noch
Spartakisten; auch dort findet er die “Scham der Armut” unter dem christlichen
Symbol des Weihnachtsbaumes.
320
10.1.6
„Der Fluss”
Der Baum sagte zur Axt,
Du hättest mich eigentlich nicht abholzen können.
Was soll ich tun, denn dein Stiel stammt aus mir.
Schau dir das Bewußtsein des Baumes an!
Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder.
So viele Mütter stehen da und weinen,
Der Fluß fließt hin zwischen den Windröschen.
Ob dieser blind oder taub ist?
Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder
An allen Orten war es so gewesen,
Sprechen ließ das Volk zuerst den Berg, den Stein, den Baum.
Am Ende, irgendwo in der Morgenzeit,
Erwachte der Fluss und erhob sich.
Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder.
321
„Irmak”627
Ağaç demiş ki baltaya,
Sen beni kesemezdin ama,
Ne yapayım ki sapın benden.
Bak şu ağacın bilincine sen!
Ölen ben, öldüren benden.
Bunca analar ağlayıp durur da,
Akıp gider gelinciklerden.
Kör müdür sağır mıdır bu ırmak?
Ölen ben, öldüren benden.
Her yerde böyle olmuş bu,
Önce dağa, taşa, ağaca söyletmiş halk.
Sonunda sabahın bir yerinden,
Uyanıp kalkmış ayağa ırmak.
Ölen ben, öldüren benden.
Ein sehr kunstvolles, wenngleich nicht leicht verständliches Gedicht trägt den
Titel “Der Fluss” (Irmak). Ein Baum beklagt sich, dass die Axt, deren Stiel doch
eigentlich aus dem Holze des Baumes geschnitten ist, ihn töten will. Erstaunt und hilflos
stellt er die Axt zur Rede. Als ebenso ohnmächtig erscheinen die Mütter, die den Tod
ihrer Kinder so beweinen, dass ein Fluss entsteht. Die Mütter gehören zu den
Unterdrückten; sie leben gemeinsam, teilen das gleiche Leid und sollten in Wahrheit sich
nicht gegenseitig bekämpfen, sondern sich solidarisieren. Auch der Baum zeigt
Empörung darüber, dass er von denen getötet wird, die aus seinem Holze sind, das heißt,
es besteht keine Solidarität zwischen ihm und der Axt, dem Opfer und dem Mörder. Im
übertragenen Sinn kann man seine Worte so verstehen, dass die einfachen Menschen
aufgehetzt wurden, ihresgleichen, sofern sie zu den Linken gehörten, zu töten. In der
letzten Strophe drückt sich die Prophezeiung aus, dass der Fluss einmal gewalttätig
werden wird, wenn die kollektiven Leiden des Volkes im Umgang mit den Naturkräften
überhand nehmen.
627
Ersterscheinung Sanat Emeği (1978). Keine genauere Angabe. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 18.
322
10.1.7
„Es soll anfangen”
„Başlasın”628
Komm auf die Welt,
Dünyaya gel,
Der Mensch soll beginnen.
İnsan başlasın.
Finde Gott,
Tanrıyı bul,
Die Angst soll beginnen,
Korku başlasın.
Die Stände, die Herrschaft,
Ağalık, beylik,
Sollen nach und nach beginnen.
Bir bir başlasın.
Tausend Jahre, zehntausend Jahre,
Bin yıl, on bin yıl,
So viel Mühe, so viele Jahre,
Bunca emek bunca yıl.
Krösus soll es beenden,
Karun bitirsin,
Salomon soll es beginnen.
Süleyman başlasın.
Wenn du die Welt zum Paradies machst,
Sen ki dünyayı cennete çevirdin,
Soll Deine Weltherrschaft beginnen.
Dünyaya hükmün başlasın.
Das Gedicht “Es soll anfangen” (Başlasın) enthält eine utopische Aufforderung.
Es beginnt mit der Feststellung dass der Mensch auf die Welt kommt, einen Gott sucht,
aber jahrhundertelang Angst findet. Schwierig ist zu erkennen, an wen die Aufforderung
geht, am ehesten noch an eine selbstbestimmte Menschheit, von der freilich
individualisierend im Singular gesprochen wird. Die beiden Namen von Mächtigen
heißen Krösus und Süleyman. Auf welchen Süleyman, der in der deutschen Übersetzung
mit Salomon biblisch platziert wird, ist der türkischen Fassung nicht leicht zu entnehmen.
Neben Süleyman dem Prächtigen (1494-1566) mag Ruhi Su auch den damaligen
Ministerpräsidenten Süleyman Demirel im Sinn gehabt haben, unter dem die Linken sehr
gelitten haben. In jedem Fall muss die Menschheit Jahrtausende gesellschaftlicher
Hierarchien durchleben, bevor ein Paradies, das heißt, ein Land ohne gesellschaftliche
Zwänge und Grenzen, machbar ist.
628
Ersterscheinung Sanat Emeği (April 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 19.
323
Zu Komplex (5) sind hier die Gedichte „Singendes Herz” (Ezgili Yürek), „Die Zyste”
(Kist) und „Mensch und Lohn der Mühe” (İnsan ve Emek) versammelt:
10.1.8
„Singendes Herz”
„Ezgili Yürek“ 629
Welchen Stein ich auch aufhebe,
Hangi taşı kaldırsam,
Meine Mutter und mein Vater,
Anamla babam.
Nach welchem Ast ich mich auch strecke,
Hangi dala uzansam,
Meine Familie und meine Verwandte,
Hısım akrabam.
Was für eine schöne Welt ist dies!
Ne güzel bir dünya bu!
Gut, dass ich gekommen bin
İyi ki geldim!
Mit einem Beutel voller Milch.
Süt dolu bir torbayla
Ich bin so hoch gekommen.
Şöylece çıkageldim.
Wem ich auch meine Hand reichte,
Kime elimi verdimse,
Zu wem auch ich mich drehte und ihn ansah,
Döndürüp yüzümü baktımsa,
Dann klopfte das Glück an die Tür,
Kısmet kapıyı çaldı,
Die trockene Quelle füllte sich mit Wasser.
Kör pınara su geldi.
Wenn ich singend da stehe,
Ben şakıyıp durdukça öyle,
Dann kam der Duft der Rose.
Gülün kokusu geldi.
Dem Kinderlosen,
Bebesi olmayana,
Dem verbittert dort Stehenden,
Bunalıp da kalmışa,
Dem schmerzbeladenen,
Acılarla yüklü
Und dem schmollenden Herzen
Dargın yüreklere,
Bin ich zu Hilfe geeilt.
Yetiştim geldim.
Gut, dass ich gekommen bin.
İyi ki geldim!
Der Dichter bringt aus einem glücklichen Herzen der Welt ein Loblied dar. Die
Bestandteile dieser Welt sind jedoch die einfachen Dinge, Steine, Äste, ein wenig Milch.
Sein Glück offenbart er seiner Familie, Vater, Mutter, Verwandten. Dann aber erweitert
er den Kreis des Glücks auf viele Menschen, die Natur in Gestalt von Quelle und Rose
und schließlich auf die Hilfe, die er den Glücklosen mit seiner Kunst zu spenden vermag.
Es wäre falsch, die letzte Zeile “Gut, dass ich gekommen bin” ironisch oder als Eigenlob
629
Ersterscheinung Cumhuriyet (23. Juli 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 15.
324
zu verstehen. Stolz auf sich selber, ist er schlicht überzeugt von seiner Fähigkeit seiner
Lieder, andere tatsächlich glücklich zu machen.
325
10.1.9
„Die Zyste”
Du hoffst und hoffst, aber
Keiner kommt hervor und sagt
Dies ist ein Junge, für ihn ist das nicht gut.
Genau so ist es, Mütterchen.
Die Zyste kam auf Seilbahnen,
Und setzte sich auf meinen rechten Hoden,
Warf ihre haarfeinen Äderchen aus,
Blaue, orangene, violette.
Schlangen umschlangen den Lebensspender,
Eile herbei, Doktor, mein Falke,
Rette meine Türküs!
Genau so ist es geschehen.
Auf einem Hügel in Samatya
Tauchte Ziya mit seinen weißen Engeln
In mein Samenhaus,
Trennte es ab und entnahm das Erzböse,
Und warf es zu Boden.
Ich wachte auf und sah
Meine Blumen in voller Freude.
Ich lief hinaus zu den Stränden,
Gelangte nach Kumbükü,
Das Meer ist voller Türküs.
Ich nahm sie auf,
Einmal sang ich,
Einmal sang das Meer,
Einmal sang ich,
Einmal sang das Meer.
Die Bitterorange ist voller Schweiß und Blut.
326
„Kist”630
Umarsın umarsın da hani
Biri çıkıp demez ki
„Oğlan çocuğudur bu, iyi olmaz.”
Hemi de öyle anacığım.
Fünikiler kist geldi,
Sağ yumurtamın üstüne oturdu.
Attı kılcal damarlarını,
Mavi, turuncu, eflatun,
Yılanlar sardı canlar evini.
Yetiş şahinim doktor yetiş,
Kurtar türkülerimi.
Hemi de öyle oldu.
Samatya'da bir tepede,
Beyaz melekleriyle Ziya
Daldı döl evime.
Söktü çıkardı ifriti,
Attı yere.
Uyandım baktım ki
Çiçeklerim sevinç içinde.
Koştum, gittim kıyılara,
Kumbükü'ne vardım.
Deniz türküler içinde
Aldım
Bir ben söyledim,
Bir deniz söyledi,
Bir ben söyledim,
Bir deniz söyledi,
Turunç kan ter içinde.
630
Ersterscheinung Cumhuriyet (8. Okt. 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 16.
327
Das Gedicht „Die Zyste“(Kist) zeigt einmal mehr die für Ruhi Su
charakteristische Mischung von Autobiographie und Darstellung seiner Kunst.
Autobiographisch ist die böse, heimtückische Erkrankung seiner Hoden, die sein Leben
bedroht. Die Rettung durch den Chirurgen nimmt geradezu heroischen Charakter. Der
Arzt wird herbeigerufen mit dem Ehrennamen „Mein Falke“; Er kämpft mit seinen
weißgekleideten Mitarbeitern, die als Engel erscheinen, gegen die Krankheit, die nicht als
ein medizinisches Phänomen erscheint, sondern als ein moralisches: Das Erzböse
schlechthin. Gleichzeitig ist es ebenso schön wie von der eigenen Subjektivität absehend,
dass der Arzt nicht Ruhi Sus Leben, sondern seine Türküs retten soll. Dieser Gedanke
wird am Ende zu einem Preislied der Türküs verstärkt. Der Dichter singt im Duett mit
dem Meer, welches ebenfalls ein Meer der Lieder ist. So endet das Gedicht mit einem
Hochgesang auf die Türküs.
328
10.1.10
„Mensch und Lohn der Mühe”
„İnsan ve Emek” 631
Der Frühling kam mit einer Bilderschau,
Bir sergiyle geldi bahar.
Weder gibt es Frost, noch gibt es Früchte,
Ne don vurur, ne meyve verir,
Eine Art Blumentraum,
Öylece bir çiçek düşlemesi.
Welch schönes Spiel, mein Herz,
Ne güzel bir oyundur canım,
Das Auge, das in Steinen die Blumen erblickt.
Taşlara bakan gözün çiçeği görmesi.
In meiner Heimat kostet heute
Benim memleketimde bugün,
Der Quadratmeter eines Bildes
Kırk elli bin liradır,
Etwa vierzig- bis fünfzigtausend Lira.
Resmin metrekaresi.
Jeder spricht darüber, mein Herz,
Ve dillere destandır canım,
Das Blau von Bodrum und das Weiß Turan Erols.
Turan Erol beyazıyle Bodrum’un mavisi.
In einem Nachtclub heute
Bir gece kulübünde bugün
Kostet ein Konzert Zeki Mürens
Kırk bin, elli bin liradır
Etwa vierzig- bis fünfzigtausend Lira.
Bir Zeki Müren dinletisi.
Und natürlich ist er schön, mein Herz,
Ve elbette güzeldir canım,
Der Lohn der Mühe.
Emeğin değerlendirilmesi.
Doch in meiner Heimat heute
Ama benim memleketimde bugün
Ist das Blut des Menschen billiger als Wasser.
İnsan kanı sudan ucuz.
Aber der schönste Lohn der Mühe ist der Mensch selbst.Oysa en güzel emek, insanın kendisi.
Ist es denn leicht aus Alpträumen zu erwachen
Kolay mı kan uykularda kalkıp
Und Wiegenlieder zu singen?
Ninniler söylemesi?
Vielleicht aus diesem Grunde, schade,
Belki bu nedenle, yazık,
Hängen sie wie hingerichtet,
Asılmış gibi durur,
Hingerichtet wegen ihrer Trauer,
Asılmış gibi kederinden,
Die Bilder an meinen Wänden,
Duvarlarımda resim,
Die Musik in meinen Instrumenten.
Çalgılarımda müzik.
Das Gedicht stellt eine Meditation über den Lohn der Mühe dar und gleitet von
einem natürlichen, unpolitischen Phänomen, nämlich den spielerischen Bildern des
Frühlings immer tiefer in zunächst kulturelle, dann politische und schließlich
autobiographische Bereiche, wobei gleichzeitig die Stimmung mehr und mehr von Trauer
631
Ersterscheinung Sanat Emeği (Mai 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 20.
329
geprägt wird. Natürlich, gibt der Dichter zu, sind Bilderausstellungen und Konzerte
schöne Dinge, wenn auch überaus teure. Stellt man sie jedoch vor einen politischen
Hintergrund des allgemeinen Blutvergießens, werden sie fragwürdig. Die Ambivalenz
von scheinbarer kultureller Wohlhabenheit und der offenen politischen Unterdrückung in
der Türkei wird sichtbar. An dieser Stelle kehrt Ruhi Su zu seinem unverrückbaren
Glauben an den Wert des Menschen und des einfachen Lebens zurück. Erfüllt wird dieser
Glaube zur Zeit nicht, was ihn und die ihn umgebenden Kunstwerke mit Trauer erfüllt,
einer Trauer, welche die Bilder von Hinrichtungen aufnimmt und welche so eine Kritik
ausspricht an jenen Kritikern, die ihm eine ständige Bitterkeit vorwerfen.
330
10.1.11
Die poetische Machart von Ruhi Sus Gedichten
Nach der thematischen Gesamt- und Einzelanalyse wird nun versucht, die
poetische Machart seiner Gedichte zu verdeutlichen. Ruhi Su verwendet in den vertonten
Texten die sogenannte Liedstrophe, also eine Strophe mit vier Zeilen gleicher Länge. Sie
erinnert auch in ihrem Reflexionsgehalt an traditionelle deutsche Kunst- und Volkslieder.
Seine nicht vertonten Gedichte verzichten auf die von anderen türkischen Lyrikern
benutzten Reime. Gleichwohl weisen sie eine Fülle von Stilmitteln auf: sprachliche
Korrespondenzen,
Alliterationen
Verweisungszusammenhang
und
bilden,
Parallelismen,
der
aber
auch
die
einen
harte
sehr
dichten
Kontraste
und
Überraschungsmomente enthält.
Die Gestaltungsmöglichkeiten sind im Türkischen andere als im Deutschen.
Die häufige Verwendung sprachlicher Bilder verleiht den Gedichten mehrere
Bedeutungsebenen, setzt aber zumeist voraus, dass die Zuhörer die ursprünglichen
Kontexte der Bilder, Anspielungen und Verweise kennen oder die Bedeutung
entschlüsseln können. Es ist für Ruhi Su eigentümlich, dass die Bilder manchmal eine
symbolische Bedeutung annehmen, die allerdings konventionell nur schwer erklärbar ist.
Ein Beispiel sind die vierhundert Löwen und der Löwe Şehmuz in „Das Grenzlied“
(Serhat Türküsü). Gleichwohl wurde den Zuhörern der Vorträge Ruhi Sus ein besonderes
Zusammengehörigkeitsgefühl bewusst. Die syntaktische Eigenart der häufigen Appelle
und Hortative hängt zusammen mit seinem weitgehend gesellschaftspolitischen Impetus,
der plakative Aussagen vermeidet.
Ruhi Sus Lyrik hat eine starke surrealistische Komponente. Die Überspielung des
normalen Satzbaus, Eigenwilligkeit der Satzkonstruktionen, häufig auch Ellipsen und
lakonische Sätze, Parallelismen, Wortspielereien und besondere sprachliche Fügungen
zwingen den Zuhörer ständig zum Mit- und Nachdenken. Seine Bilder stammen aus den
verschiedensten Traditionen. Augenscheinlich ist zunächst seine Vertrautheit mit den
Volksliedern seines Landes, hinzu kommen Märchenmotive und, in der Nähe zu Nâzım
Hikmets Bildersprache, modernistische Prägungen, welch letztere den Sinn gelegentlich
nicht einfach zu entschlüsseln machen. Die Schwierigkeit der Deutung von Ruhi Sus
Bildern zeigt auch sich in dem Text „Wir sind gekommen” (Geldik) . Die Bilder handeln
von Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich verändert an einem neuen Ort treffen. Sie
lassen sich auf die Evolutionsgeschichte beziehen, aber auch auf den Traum von einer
Entwicklung des Menschen zu einem neuen verständigen Wesen, das nicht Feind der
331
Natur ist. Sehr kunstvolle, wenn auch ambivalente Bilder finden sich in dem Gedicht
„Der Fluss” (Irmak). Ein Baum beklagt sich, dass die Axt, deren Stiel doch eigentlich aus
dem Holze des Baumes geschnitten ist, ihn töten will. Erstaunt und hilflos stellt er die
Axt zur Rede. Das Problem ist, dass eine ursprüngliche Einheit der Natur durch die
Entzweiung in Naturding (Baum) und von Menschen geschaffenen Ding (Axt) zerstört
und in eine beiden unverständliche tödliche Feindschaft umgewandelt wird. Als ebenso
ohnmächtig erscheinen die Mütter, die den Tod ihrer Kinder so beweinen und so einen
Fluss vom Tränen entstehen lassen. Die Bildersprache wechselt zwischen der
menschlichen und der rein natürlichen Sphäre hin und her, verläßt jedoch auch hier eine
gewisse Dunkelheit der Oppositionen nicht.
In einigen Gedichten verweist die Begrifflichkeit auf existenzielle Fragen nach
Gott und der Sinnhaftigkeit der Welt. So versucht er in dem Gedicht „Es soll anfangen“
(Başlasın) mit den Begriffen, Angst, Gott, Welt und Mensch sich der Frage der
Verantwortlichkeit von Gott und Mensch zu nähern. Wie bei den meisten seiner Gedichte
steht die Pointe, der Appell oder die Schlussfolgerung auch hier am Ende des Gedichtes:
„Du hast die Welt zum Paradies gemacht / dein Weltreich soll anfangen“ (Sen ki dünyayı
cennete çevirdin/ Dünyaya hükmün başlasın) In den Gedichten geht es oft um das Lob
des einfachen Lebens. So bringt er in dem Gedicht „Das Grenzlied” (Serhat Türküsü)
zum Ausdruck, dass die Menschen nicht den Mächtigen etwas schulden, sondern den
unscheinbaren Pflanzen ihrer Heimat. Die Verbundenheit mit der Pflanzenwelt
korrespondiert mit der Wertschätzung des einfachen Menschen vom Lande. Wichtig ist
das einfache ländliche Leben, wenn die Früchte des Feldes und der Arbeit geteilt werden
und jeder tatkräftig mitarbeitet. In dem Gedicht „Das Wiegenlied“ (Ninni) geht der
menschliche Bereich unmerklich in den Bereich der Natur über, so dass beide als von
gleicher Art erscheinen. Überhaupt geht es Ruhi Su um die Auflösung von Grenzen, seien
sie zwischen Religionen oder zwischen Kriegslustigen und Friedfertigen.
332
11.
Gedichte über Ruhi Su
Von den verschiedenen Lyrikern, die Gedichte über Ruhi Su geschrieben haben,
werden hier Arif Damar, Tahsin Saraç, Hasan Hüseyin Korkmazgil, Ali Yüce und
Mehmet Karabulut in einer Auswahl vorgestellt. Sie alle haben eine hohe Meinung von
seiner
politischen
Aufklärung,
seiner
künstlerischen
Art
und
seiner
großen
Menschlichkeit. Ihre Gedichte spiegeln die ausdruckskräftige und bildhafte Sprache Ruhi
Sus. Sie nehmen seine Motive auf (angeführt seien nur die Çukurova, die Gazelle und das
Wasser) und verdichten sie zu einem Netzwerk von Anspielungen auf Dichter
verschiedener Generationen wie Yunus Emre, Karacaoğlan, Pir Sultan und Dadaloğlu.
Ihre Annäherung sowohl an die Kunst früherer Generationen als auch an Ruhi Su geht so
weit, dass sie nicht selten ihre Identität als Dichter auf diese beiden Quellen beziehen. Sie
stellen sich, wie er, in die kämpferische oder poetische Tradition türkischer Dichter.
333
11.1
„Das Lob an Türküs, die mit einer
intellektuellen Stimme gesungen werden”
„Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği 632
Türkülere Övgü”
Wir hörten Türküs
Türküler dinlerdik
In seiner Stimme.
Sesinden.
Wir wurden zu hohen Bergen,
Dağ olurduk yücesinden,
Wurden zu Steppen und Wüsten,
Ova olurduk, çöl olurduk.
Flossen gemeinsam in die Meere,
Denizlere akardık birlikte,
Wurden zu Gewässern. 633
Sular olur.
Wir hörten Türküs
Türküler dinlerdik
In seiner Stimme.
Sesinden.
Mauern fielen von selbst um,
Duvarlar yıkılırdı kendiliğinden.
Einige von uns schlossen sich Köroğlu an,
Kimimiz Köroğlu’na katılırdık,
Einige an Dadaloğlu,
Kimimiz Dadaloğlu’na.
Einige von uns blieben in Jemen.
Yemen’de kalanımız olurdu.
Wir hörten Türküs
Türküler dinlerdik
In seiner Stimme.
Sesinden.
Drei von uns wurden, hey,
Üçümüz oy,
Zu Karacaoğlan,
Karacaoğlan,
Fünf von uns zu Pir Sultan Abdal,
Beşimiz Pir Sultan Abdal,
Hey!
Hey!
Arif Damar
Der Lyriker Arif Damar, der Mitgefangener Ruhi Sus im Militärgefängnis von
Harbiye war, stellt in dem Gedicht „Ein Lob über die Türküs einer intellektuellen
Stimme“ (Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği Türkülere Övgü) Ruhi Su in die Tradition der
großen türkischen Volksdichter Karacaoğlan, Pir Sultan oder Dadaloğlu. Diese suchten,
die Sorgen und Nöte des Volkes in Gedichten, Liedern und Taten zu lindern. Viele
einfache Menschen ließen sich inspirieren und bekamen neuen Lebensmut.
632
Ersterscheinung Yön (10. Juni 1966). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 31.
Die Zeile „Sular olur“ enthält ein Wortspiel. „Wasser“ bedeutet im Türkischen „su“ und die Mehrzahl
„sular“, also Gewässer. „Wir wurden zu Gewässern“ heißt dann hier, zu seinen Söhnen geworden sein, die
seinen Nachnamen (im Plural, versteht sich) tragen.
633
334
Eine nicht mindere Rolle spielt Ruhi Su in der Gegenwart. Zwei charakteristische
Beispiele sind einmal sein lindernder und mutbringender Einfluss auf die Mithäftlinge
während seiner Gefängniszeit. Arif Damar wird in seinem Gedicht nicht müde darauf zu
insistieren, dass Ruhi Sus Liederwelt sie aus dem elenden Gefängnis forttrug in eine
grandiose Natur der Türkei und in eine grandiose dichterische Tradition, und dass die
Lieder dies mit solcher Intensität taten, dass ihnen, den Gefangenen, die Identifikation
und die Findung eines neuen Selbst wunderbar leicht fiel. 634 Zum andern war in den 60er
und 70er Jahren der neue Mut linker Studenten unverkennbar, der sie nach einem Konzert
Ruhi Sus erfüllte. Zu solchen Zeitzeugen darf sich der Verfasser auch selbst zählen.
634
Ein weiterer Mitgefangener Ruhi Sus, Balkar Yekebaş, kommt zu den gleichen Aussagen.
335
11.2
„Zum Türkü werden mit Ruhi Su“
Wenn die Çukurova sich dem Frühling zuwendet,
Wickeln die Fremdarbeiter früh ihren Schlaf in die Decken,
Sie machen sich überall auf den Weg,
Geduckt und hungrig
Nach alter Tradition gingen die Gazellen zum Wasser.
Eine schmerzhafte Türkü aus dem trockenen Bach zu machen,
Den Schmerz zur Türkü zu machen, an einem abgelegenen Ort.
Der Raubvogel kreist umher,
Wenn sich die Erde mit Müdigkeit mischt,
Ein Hauch von Liebe in den Nasenflügeln.
Weil er sich dem Volk zugewandt hat,
Heult die dunkle Kraft nach Blut,
Ruhi Su steht unter Arrest.
Die Nacht zur Türkü machen und dem Schlaf Handschellen anlegen.
Das kosmische Auge einer weisen Quelle,
Er zieht sich in die Länge, Yunus‘ göttlicher Atem,
Eine besondere Elif-Schönheit ist Karacaoğlan im Süden.
Massaker, Schlachten, Mobilmachung: eine Vielzahl verlorener Seelen
Und graue, trübe Schmerzen.
Eine Wolke ballt sich zusammen, als Lohn der Mühe, Pir Sultan aus Sivas.
Eine Hoffnung zur Türkü machen, welche die Zeit der Einsamkeit umstürzt.
Die weiße Rose zu der roten Liebe stellen,
Den schweren Kampf für immer fortsetzen,
Mit der Stimme den Tod töten,
Zum Türkü werden mit Ruhi Su.
Tahsin Saraç
336
„Ruhi Su’da Türkülenmek“ 635
Çukurova bahara yüz dönende,
Uykularını yorganlarına dürüp erkenden,
Gurbetçiler sökün eder dört bir yöreden,
İki büklüm bir açlık, eski töreden.
Cerenler suya inende,
Bir sızılı uzunhava susuz dereden,
Acıyı bir sapsağır kuytuda türkülenmek.
Alıcıkuş dönenip durur,
Bulanırken toprak bir yorgunluğu,
Bir ıtır sevgi burun kanadında.
Halkına yönelmiştir ya,
Kara güç kan uluşur.
Ruhi Su dam altında.
Geceyi bir kelepçe uykuda türkülemek.
Evren gözü bakan bir bilge pınar,
Uzar Tanrıcak bir soluk Yunus’tan,
En Elif güzelliktir güneyde Karacaoğlan.
Kırım, kıyım, seferberlik, yiten sayısız can.
Ve boz bulanık acılar.
Bir bulut kaynar emekten, Sivas’taki Pir Sultan.
Yalnızlığı çağdeviren bir umudu türkülemek.
Al sevgiye ak gül durmak,
Ve kavgayı bin dağ sürmek,
Sesle ölümleri vurmak,
Ruhi Su’da türkülenmek.
Tahsin Saraç
Tahsin Saraçs Gedicht sollte man von dem Titel und der letzten Zeile her zu
verstehen suchen, weil dort von der vollständigen Identifikation eines linken
635
Ersterscheinung Köken (Dez. 1974). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 36.
337
Intellektuellen mit dem Türkü Ruhi Sus gesprochen wird. Die Identifikation umschließt
sowohl den Volkston „Die weiße Rose zu der roten Liebe stellen“ (Al sevgiye ak gül
durmak) wie auch die bekannten lyrischen Vorbilder (Karacaoğlan, Yunus Emre und Pir
Sultan Abdal) und, selbstverständlich, den politischen Kampf (Den schweren Kampf für
immer fortsetzen) des Meisters.
338
11.3
„Ruhi Su singt in der Nacht“
„Sie erschossen mich vor meiner Entlassung,“
„Von nun an wurde das Leben sehr schwer“,
„Dachtest du, dass Töten ein Spiel ist?“
„Hauptmänner, Hauptmänner,“
„Lasset meinen Prozess allein, lasset ihn für das jüngste Gericht.“
….
Ruhi Su singt in der Nacht,
Tische, Stühle singen,
Wände, Gemälde an den Wänden,
Farben in den Gemälden, Inhalte und Formen,
Blumen, Kronleuchter, Ornamente singen.
Ruhi Su singt in der Nacht,
In der Luft singen die geflügelten Hände,
Im Osten singt ein illegales Mausergewehr,
Im Westen singt ein Olivenast,
Bei Yunus singt der Hammer auf dem Amboss,
Bei Pir Sultan die Seide und die Rose.
Ruhi Su singt in der Nacht,
Es schweigt das Dunkel der alten Einsamkeit,
Die roten, die violetten Töne singen festlich.
Es reicht, hey, Ruhi Su,
Dies ist kein Taschentuch, sondern ein Herz.
Es erträgt so viel Erregung nicht,
Faust zu Faust geballt,
Es ging auf die Straße,
Singt wie die Wälder.
Hasan Hüseyin Korkmazgil
339
„Ruhi Su Söylüyor Gecede“ 636
„tezkeremden evvel vurdular beni“
„şimden sonra yaşaması güç oldu“
„adam öldürmeyi oyun mu sandın“
„yüzbaşılar yüzbaşılar“
„kalsın benim davam divana kalsın“
….
ruhi su söylüyor gecede
masalar, sandalyeler söylüyor
duvarlar, duvarlarda tablolar
tablolarda renkler, özler, biçimler
çiçekler, avizeler, süsler söylüyor
ruhi su söylüyor gecede
havada kanat kanat eller söylüyor
doğuda bir kaçak mavzer
batıda bir zeytin dalı söylüyor
yunus’ta örse çekiç
pir sultan’da ipek ve gül söylüyor
ruhi su söylüyor gecede
susuyor karası da ihtiyar yalnızlığın
allar morlar bayram bayram söylüyor
yeter artık hey ruhi su
mendil değil bu, yürek bu
götürmez bunca coşkuyu
sıkılmış yumruk yumruk
düşmüş caddeye
orman orman söylüyor
Hasan Hüseyin Korkmazgil 637
Wie Tahsin Saraç basiert auch Hasan Hüseyin Korkmazgil sein Preislied auf Ruhi
Su auf dessen eigenen Zeilen, schon so zu Beginn (Z. 1-5) und auf dessen Vorbildern
636
Ersterscheinung Koçero Vatan (Mai 1976). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 37.
Ruhi Su hatte eine enge Freundschaft mit Hasan Hüseyin Korkmazgil. Er vertonte neben anderen dessen
Gedicht „Die fremden Tore“ (El Kapıları), welchen Titel er auch einer seiner Schallplatten gab.
637
340
(Yunus Emre und Pir Sultan). Der Ton ist jedoch weniger politisch als vielmehr
emotional „ein Herz / Es erträgt so viel Erregung nicht“ (yürek bu / Götürmez bunca
coşkuyu), denn im Mittelpunkt steht ein nächtliches Konzert, welches alles (Tische,
Stühle … Wände, Gemälde) und jeden um den Sänger herum zum ekstatischen Mitsingen
bringt und mit Mut erfüllt (Faust zu Faust geballt).
341
11.4
„Ein Koran der Saiten“
„Telli Kur’an“ 638
Wir sind ein Koran der Saiten,
Biz ki telli Kur’anız,
Wir gaben euch Finger,
Parmak verdik size,
Gaben dir das Plektron, hey, Dichter,
Mızrap verdik, ey ozan,
Auf jeder Fingerkuppe
Her parmağın ucunda,
Gaben wir tausende Augen und Ohren.
Binlerce gözkulak verdik.
Wir stammen vom Volk ab,
Biz ki halk soyundanız,
Wir sind die Republik der Türküs,
Türküler cumhuriyetiyiz.
Gaben den Melodien einen Mund,
Ezgilere ağız verdik,
Gaben den Worten eine Zunge.
Dil verdik sözcüklere.
Sünde wurde ihr Tun genannt,
Günah kılınmıştır onlara
Das der Armeen, Kanonenkugeln, Gewehre,
Ordular, toplar, tüfekler,
Töten wurde ihre Schande.
Öldürmek ayıp kılınmıştır.
Weil sie keine Türküs kannten,
Onlar ki türkü bilmezler,
Wurden ihre Herzen steinern.
Yürekleri taş kılınmıştır.
Unsere Hände sind weit entfernt von ihren Händen,
Ellerimiz uzak ellerinden.
Wir sind der Koran der Saiten,
Biz ki telli Kur’anız,
Wir werden mit dem Finger gelesen.
Parmakla okunanız.
Sie wissen nicht,
Bilmezler mi ki
Dass wir jedem, der kommt, geben.
Biz her gelene vereniz,
Wir nehmen nichts von den Vorübergehenden,
Alan değiliz her geçenden.
Gaben Brot, als ihr hungrig wart,
Açsanız ekmek verdik.
Gaben Tuch, als ihr nackt wart,
Kumaş verdik çıplaksanız,
Gaben dem Vogel Flügel, dem Baum Blätter,
Kuşa kanat, ağaca yaprak verdik.
Sage ihnen ganz offen,
Apaçık de ki onlara,
Wir stammen von der Erde ab,
Biz toprak soyundanız,
Wir werden mit der Arbeitskraft gelesen.
Emekle okunanız.
Sage ihnen, hey, Ruhi,
De ki onlara, ey Ruhi
Wir haben niemandem den Hass beigebracht,
Nefreti öğretmedik kimseye,
Wir sind Liebende für immer,
Hiç usanmadan sevenleriz.
Wir sind der Koran der Saiten,
Biz ki telli Kur!anız,
638
Ersterscheinung Türk Dili (Jan. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 38-39.
342
Wir sind das Wahrste vom Wahren,
Doğruların doğrusuyuz.
Unsere Saiten sind unberührt von Lüge.
Yalan değmedi tellerimize.
Berichte ihnen ganz offen,
Apaçık bildir ki onlara,
Wir sind die Republik des Menschen,
Biz insan cumhuriyetiyiz,
Wir sind Stickerei, Türkü, Volk,
Nakışız, türküyüz, halkız,
Wir sind das universale „Merhaba“.
Evrensel merhabayız.
Ali Yüce639
Das Gedicht „Ein Koran der Saiten“ (Telli Kur’an) gibt der Saz und den auf ihr
gespielten Türküs eine geradezu theologische Bedeutung. Durch die Identifikation des
Instruments und der Musik mit dem Koran wird der Künstler Ruhi Su zu einer Art von
Propheten Gottes, der göttliche Botschaften verkündet. Eine dieser Botschaften heißt: die
Türküs sind Eigentum des Volkes, doch darüber hinaus eine menschliche Republik und
sogar ein universaler Gruß. Ihre Liebe ist rein und wahr; sie kennt weder Hass noch
Lüge; sie hat den Menschen in Not Brot und Tuch geschenkt; ihre Stärke kommt von der
Erde und der Arbeit. Bei aller Ernsthaftigkeit der Gedanken zeichnet sich dieses Gedicht
doch auch durch feine, witzige Formulierungen aus.
639
Ali Yüce ist ein bekannter Dichter und Absolvent des Dorfinstitutes Düziçi in Adana. Ali Yüce und
Ruhi Su fanden sich später zu einer Freundschaft zusammen. Ruhi Su hat eine Melodie zu einem Gedicht
Ali Yüces kreiert „Frauen aus Mürselek“ (Mürselekli Kadınlar). Siehe oben Kap. 9.9.5. Andererseits hat
Ali Yüce für Ruhi Su Gedichte wie das obige geschrieben.
343
11.5
„Während man Ruhi Su zuhört“
In einer silbrigen Perlmutternnacht
Wurde die Zeit zu Staub,
Die Wege verbanden sich,
Auf einem Weg kam der große Yunus,
Auf einem Weg kam Pir Sultan.
Sie kamen und setzten sich,
Lebendiger als fünfhundertmal Frühling,
Wärmer als fünfhundertmal Sommer.
Die Spuren des Seils an ihren Hälsen
Bleiben für immer sichtbar.
Ich blickte zum Mond, er stieg herab,
Wurde zur Augenbraue, dem Mädchen Elif,
Zwei Rosen auf der Brust,
Die Arme weit ausgebreitet.
Du, Elif, bist zu einem Vogel mit Flügeln geworden,
Doch Karacaoğlan geht zu Fuß.
Wenn es einen Ast gäbe, auf dessen Spitze
Du dich in den Sommermonaten setztest,
Würden sich die Äste nicht biegen?
Die Nomaden machten sich nachts auf den Weg,
Was ist das, hey, Dadaloğlu?
Die Freundschaft der Berge reichte nicht aus,
Wenn Freunde sterben, dann gehen sie, jedoch das Volk lebt.
Ist das vollkommen richtig?
Aus einem turkmenischen Kilim kommt an die Sonne,
Ein Heulen des Waldes,
Ein verlorenes Weinen.
Und Ruhi Su ist eine unendliche Liebe,
Mit jedem Atemzug
Schaufelt er Feuer in die Adern.
„Gehe und finde selbst das Wahre“, sagt er.
Mehmet Karabulut
344
„Ruhi Su‘yu Dinlerken“ 640
Sedef, gümüş gecede
Toz oldu zaman,
Cem oldu yollar.
Bir yoldan koca Yunus,
Bir yoldan Pir Sultan,
Geldiler, oturdular.
Beş yüz bahardan daha canlı,
Beş yüz yazdan daha sıcak.
Boyunlarında ip izleri
Besbelli hep kalacak.
Aya baktım yere inmiş,
Kaş olmuş Elif kıza.
Ak gerdan üstünde iki gül,
Kollar bir uzaktan bir uzağa.
Sen kanatlı kuş olmuşsun Elif, Karacaoğlan yaya.
Varsa dibine yaz aylarında
Konduğun dallar eğilmez mi?
Gece yarısı yola düştü obalar,
Bre bu ne iştir Dadaloğlu?
Yetmedi dağların dostluğu,
Giderse gitsin canlar, halk yaşar,
Bu tastamam doğru mu?
Türkmen kiliminden çıkmış güneşe
Bir orman uğultusu,
Bir yitik ağlama.
Ve bitmez tükenmez bir sevidir Ruhi Su.
Her solukta,
Bir kürek ateş atar damara,
„Var git, kendin bul“ der „doğruyu“
Mehmet Karabulut
640
Ersterscheinung Yeni Ufuklar (Apr. 1973). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 34.
345
Das Gedicht „Während man Ruhi Su zuhört“ (Ruhi Su‘yu Dinlerken) zeigt
ähnliche Motive wie die vorigen: den Verweis auf traditionelle Vorgänger und ihr
Schicksal und die Anspielung auf von Ruhi Su bearbeitete Lieder. Es betont am Ende,
stärker als die anderen, den Helfer Ruhi Su, der seine Freunde voller Liebe auf den
richtigen Weg weist, ohne fertige Denkmuster vorzugeben, und so Hilfe zur Selbsthilfe
gibt.
346
12.
Die pädagogische Bemühung Ruhi Sus um den Chorgesang, sowie "Der Chor der
Freunde" (Dostlar Korosu)
Ruhi Su konnte seinen Traum, Musiklehrer zu werden, nach erheblichen Mühen
verwirklichen. Ihm war es von großer Bedeutung, sein Wissen und Können mit Erfolg
weiterzugeben. Was er erlernt hatte, teilte er in Ankara seinen Schülern der Zweiten
Mittelschule (İkinci Ortaokul) und der Dorfinstitute bis zu seinem Inhaftierung von 1952
mit. Sein Ziel war auch, gemeinsam in einem Chor Türküs zu singen. In der
Musiklehrerschule gründete er 1936 mit seinen Mitschülern den Chor der
Musiklehrerschule. Seinen zweiten Chor gründete er in den Jahren 1944 -1947 an der
Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie (Dil Tarih ve Coğrafya Fakültesi) der
Universität Ankara. Auch im Gefängnis scharte er für eine kurze Zeit einen Chor um
sich. Außerdem bildete Ruhi Su nach 1960 spontan Chöre mit jenen Intellektuellen, die
sich zu der Zeit in den Wohnungen der Freunde trafen. An bestimmten Tagen in der
Woche sang Ruhi Su in bestimmten Wohnungen in İstanbul mit diesen Intellektuellen
Türküs, so in der Wohnung von Sabahattin Eyuboğlu in Maçka, in Gayrettepe bei Bertan
Onaran, in Azra Erhats Wohnung in Teşvikiye, in Kalamış bei Vedat Günyol, in
Büyükada bei Azra İnal, in Göztepe bei Ferit Celal Güven, in der Praxis von Türkan
Saylan in Şişli..641 Er gründete ebenfalls einen Chor am Robert College in İstanbul.
Der bedeutendste und wichtigste ist der „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu), der
innerhalb der Gruppe „Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu) gegründet wurde. Im
Jahre 1961 sollte Ruhi Su mit den Schauspielern des Kent–Theaters einen Lieder- und
Gedichtabend organisieren. Gedichte sollten von den Schauspielern vorgetragen und die
Lieder von ihm gesungen werden. Genco Erkal arbeitete damals auch am Kent-Theater.
Er lernte Ruhi Su durch diese Veranstaltung kennen. Ruhi Su übte mit ihnen, wie
Gedichte vorgetragen werden sollten. Er verzauberte sie mit seiner Hochachtung für seine
Arbeit, seiner Leidenschaft, seiner Genauigkeit und seiner Vorstellung von der
Interpretation der Volkslyrik. Erkal war zum ersten Mal Zuhörer seiner wunderbaren
Stimme. Später in den 70er Jahren organisierten Ruhi Su und Genco Erkal gemeinsam
ein Konzert am „Theater der Freunde“ (Dostlar Tiyatrosu) mit Liedern von Pir Sultan.
Sie übten einen Monat lang das Konzert wie ein Theaterstück ein. Die Schauspieler
trugen die Gedichte vor und begleiteten Ruhi Su als Chor. Sümeyra war in diesem
Konzert zum ersten Mal auf der Bühne. Der Gedanke, einen Chor zu gründen, entstand
641
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008 in Köln.
347
nach dem Erfolg dieser Konzerte. Das „Theater der Freunde“ suchte nach
Chormitgliedern. Es kamen viele. Nach einem Auswahlverfahren gründete man im
Dezember 1975 den „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu). 642
Türküliebhaber, Lehrer, Krankenschwestern, Anwälte und Studenten, also
Menschen aus allen Schichten und Berufen, die mit Ruhi Su Türküs singen wollten,
begannen mit der Chorarbeit unter seiner Leitung. Der Chor, der zunächst die Bühne des
„Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu) benutzte, setzte später seine Arbeit fort in
einer Wohnung in Osmanbey, darauf im städtischen Konservatorium und dann in einem
Gebäude des Rathauses von Beşiktaş und in der Architektenkammer. Ein Chormitglied
redet davon, ihr Lehrer habe ihnen beigebracht, dass sie die Türküs ohne Übertreibung,
zu dem Inhalt passend und richtig sängen. Außerdem habe er Wert darauf gelegt, dass sie
mehrstimmig sängen. Deshalb gab er ihnen zunächst Beispiele von zweistimmigen
Türküs. Die Jemen-Lieder sind ein gutes Beispiel für die unterste Stufe der
Mehrstimmigkeit. 643
Warum die Mehrstimmigkeit für Ruhi Su so wichtig war und welche Bedeutung
sie für sein Musikverständnis hatte, zeigen folgende Ausführungen. Er sagte einmal, dass
es in der türkischen Kultur eigentlich keine Polyphonie gebe:
In unserer Gesellschaft, die die Polyphonie gar nicht kennt, hat sie zweierlei
Nutzen für die Ausbildung des Volkes und der Musikkünstler. Einerseits wird es
viel interessanter für das Volk, in das Reich der polyphonischen Musik durch
seine eigenen Volkslieder zu gelangen, andererseits lehrt sie den Musikkünstler
im Rahmen ihrer Regeln in seiner eigenen Sprache zu denken. 644
Im Jahre 1976 antwortet er auf die Frage, was für ihn revolutionäre Musik sei:
Unter dem Begriff Revolution verstehe ich das Bemühen um Freiheit, Kultur und
Menschlichkeit. Kunst muss die gleichen Ziele haben. Ich verbinde für unser
Land revolutionäre Musik mit der mehrstimmigen Musik. 645
Schließlich trug die aufopferungsvolle und disziplinierte Arbeit mit dem “Chor
der Freunde” ihre ersten Früchte: Die Langspielplatte “Die fremden Tore” (El Kapıları)
kam 1976 heraus. Es war die erste Langspielplatte, die Ruhi Su mit der Solistin Sümeyra
Vgl. GÜRÇAY, Ercüment: Ruhi Su Dostlar Korosu 37. yılında yeni koristler arıyor, Demokrat Haber
(29. Jan. 2012). In: http://www.demokrathaber.net/kultur-sanat/ruhi-su-dostlar-korosu-37-yilinda-yenikoristler-ariyor-h6580.html. Abgerufen am 2. Apr. 2012.
643
Aus dem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010 in İstanbul.
644
Vgl. SU, Ruhi: Çokseslilik Üzerine, Orkestra 3, 26 (Mai 1965): 12-13. In: Türkischer Lehrerverein in
Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiceklenen Ruhi Su (1985): 95-96.
645
Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ŞUBEN, Reyhan: Devrimci Müzik Üzerine. Ebd. 119-121.
642
348
Çakır und dem „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu) aufnahm. In den nächsten Jahren
folgten „Der Morgen hat einen Besitzer” (Sabahın Sahibi Var), 1977 und „Die Samahs”
(Semahlar), 1978. Die Schallplatten und die Konzerte in İstanbul und in den anderen
Städten fanden große Zustimmung
Das erste Konzert gab der Chor im „Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu).
Die Musikkritikerin Filiz Ali, die Tochter des oppositionellen Schriftstellers Sabahattin
Ali (dessen Ermordung bis heute nicht aufgeklärt ist) schrieb am 29. Januar 1977 in der
Zeitung Politika eine Rezension dieses Konzertes, deren Hauptgedanken hier folgen. Sie
sei am 2. Januar 1977 Zeuge eines Musikereignisses geworden, das die Menschen
begeisterte. Ruhi Su habe mit einer völlig neuen Initiative den „Chor der Freunde”
(Dostlar Korosu) gegründet, welcher zum größten Teil aus Amateuren bestehe. Auch
wenn einige dieser Personen Berufsmusiker seien, seien es nur wenige. Sie hätten seit
einem Jahr mit Ruhi Su gearbeitet. Es sei offensichtlich, dass es eine disziplinierte,
genaue und detallierte Arbeit war. Die Farben der Frauen- und Männerstimmen seien
verfeinert worden und nun weich und aktiv. Niemand schreie, aber auch die mit einer
leisen Stimme gesungenen Türküs seien klangvoll, im ganzen Saal hörbar, entschieden
und kräftig. Der Text sei gut verständlich, denn der Ausdruck werde gut eingeübt, auf die
Betonungen werde Wert gelegt. Während des gesamten Konzertes habe sich die Stimme
des Chors vielleicht zwei bis drei Mal gehoben und so die bedeutsamen Gefühle und die
Melodie betont. Einen wichtigen Punkt wolle sie noch ansprechen. Es könne sein, dass
Ruhi Su alles mit Weitsicht, mit seiner persönlichen Begabung und mit jahrelanger
Erfahrung verwirklicht habe, jedoch gäbe es eine noch wichtigere Eigenschaft Ruhi Sus.
Er sei ein Meister seiner Technik. Wie komme die Stimme aus der Kehle des Menschen,
was seien die Aufgaben der Stimmbänder, wie werde die Farbe der Stimme weich
gemacht, von wo bis wo erstrecke sich die ungezwungen hervorgebrachte Stimme des
Menschen? Die Antworten gäbe Ruhi Su in ausgezeichneter Weise aufgrund seiner
professionellen musikalischen Ausbildung. Außerdem überlasse er nichts dem Zufall und
stelle Rhythmus, Betonung, Ausdruck und musikalische Balance perfekt ein. 646
Dieses Zeugnis einer Musikwissenschaftlerin ist ein zentraler Beleg für die
disziplinierte Arbeit Ruhi Sus.
An vielen Orten wurden Konzerte gegeben. Der Chor trat in İstanbul, Ankara
und Bursa bei den Veranstaltungen der linken Parteien und Gewerkschaften auf.
646
Vgl. ALİ, Filiz: Müzik ve Müziğimizin Sorunları (1987): 201-202.
349
Die Mitglieder des Chors waren, wie bereits erwähnt, fast alle Amateure, die keine Noten
lesen konnten; ihnen mussten Grundbegriffe der Musik erst beigebracht werden. Diese
Arbeit übernahm Sümeyra Çakır; sie übernahm den theoretischen Teil der Chortätigkeit
und Ruhi Su den Hauptteil, die Praxis.
Ein anderes Chormitglied, Hüseyin Başaran, erinnert sich. Der Schwerpunkt
habe Ruhi Su auf der Stimmausbildung gelegen. Bei jeder Übung habe er den Chor 15-20
Minuten Stimm- und Atemübungen durchführen lassen. Danach sei er zu Türküs mit
einfachen Melodien übergegangen. Er habe ihre Noten an die Tafel geschrieben und
vorgelesen. Auch habe er den Chor mit großer Geduld und Begeisterung Zeile für Zeile
des Textes auswendig lernen lassen. Mit ihm zu arbeiten sei schön gewesen, aber auch
schwer, denn er habe unerbittlich Disziplin und Aufopferung verlangt. 647
Talentierten Chormitgliedern gab er unentgeltlich in seinem winzigen
Arbeitszimmer in Nişantaşı / İstanbul Einzelunterricht. Ruhi Su hatte eine Eigenschaft,
die vielen Künstler fehlte: In seiner Kunst kannte er keine Eifersucht. Für seine Arbeit
jemanden zu gewinnen, war für ihn eine Freude. 648
Heutige Sänger, und es gibt kaum jemanden, der seiner Wirkung nichts verdankt,
sind in der glücklichen Lage, von Ruhi Su ein fertiges Repertoire übernehmen zu können;
leider sind manche nicht fähig, ihren Dank an den Lehrer und seinen Namen über die
Lippen zu bringen. Man kann der Ansicht sein, dieses Totschweigen sei eine noch
schlimmere Zensur als die staatliche.
Ruhi Su respektierte seine eigene Arbeit. Respekt erwartete er auch von seinen
Zuhörern. Die Veranstaltungen und Abende der Linken waren durch die lauten Zurufe
und Slogans der Fraktionen geprägt. Dieses Durcheinander fand jedoch immer ein Ende,
wenn Ruhi Su auftrat. Man kann sagen, dass er der türkischen Linken nicht nur die Liebe
zu Türküs beibrachte, sondern auch das Zuhören. Er war in jeder Körperhaltung ein
Erzieher, ob er nun saß, stand oder seine Saz festhielt.
Die Worte des Musikers Refik Saydams sind bezeichnend für das LehrerSchüler-Verhältnis: “Ich hätte es nur allzu gern gewollt, sein Schüler zu sein. Auch
außerhalb eines Unterrichtsraumes, war er für uns mit seiner Stimme, seiner Saz, seiner
Interpretation und seinen Vorstellung von der Musik ein Lehrer. 649 Seine pädagogische
BAŞARAN, Hüseyin: Sesi hep Kulağımızda: „Merhaba Canlar”. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi
Su’ya Saygı (1986): 255.
648
ARZIK, Nimet: 7 Gün (17. Jan. 1973). In: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 88.
649
SAYDAM, Refik: Ruhi Su Gür Sesiyle Kulağımızda ve Dilimizde Hep Yaşayacak, Öğretmen Dünyası
(Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 259.
647
350
Vorstellung erscheint geprägt von den Erfahrung mit seinen deutschen Lehrern, die
außerordentlichen Wert auf Diziplin, Leistung und Selbstbeherrschung legten.
Ruhi Su machte die Chormitglieder intensiv mit den Inhalten der Türküs
vertraut. Er lehrte sie, die gesungenen Türküs zu verinnerlichen. Er bezog den Text auf
die Wirklichkeit und sorgte dadurch für ein besseres Verständnis der in seinen Lieder
darstellten Realität. Er betonte immer wieder, dass neben der praktischen auch eine
theoretische musikalische Ausbildung unumgänglich sei, um als Sänger professionell zu
werden. Er gab den Mitgliedern des Chors ganz einfache, praktische Ratschläge für ein
erfolgreiches Musikerleben, von denen folgende erzählt werden:
Leute, versucht früh ins Bett zu gehen. Schaut keine spannenden Filme. Haltet
euch von scharfem und stark gewürztem Speisen fern. Ihr dürft kein Nachtleben
haben. Macht jeden Tag Stimmübungen. Wiederholt die Türküs mit leiser
Stimme. Während des Konzerts sollten eure Blicke auf mich gerichtet sein.
Lächelt, wenn ihr die Türküs singt. Seid an Konzerttagen vollzählig650.
Der Chor der Freunde (Dostlar Korosu) unterbrach infolge des Putsches am 12.
September 1980 seine Arbeit. Nach dem Tod Ruhi Sus 1985 übernahmen nacheinander
Künstler wie Timur Selçuk, Sarper Özsan, Cenan Akın, Öcal Öcalan, Cengiz Ünal,
İbrahim Güler, Ahter Destan, Ortaç Aydınoğlu, Hürdağ Aydın, Berktay Akyıldız sowie
ehemalige Mitglieder des Chors wie Refik Köksal und Hüseyin Tutkun die Leitung, so
dass der Chor seine Existenz bis heute bewahren konnte. Er trat regelmäßig an allen
Gedenkveranstaltungen zum Tod Ruhi Sus auf:
Das erste Konzert nach dem Tode Ruhi Sus fand unter der Leitung von Timur Selçuk
1986 im Kino Kızılırmak /Ankara statt, ebenso im gleichen Jahr unter dem gleichen
Dirigenten im Kino Şan / İstanbul.
Ein weiteres Konzert fand 1987 im Kino Konak / İstanbul statt. Es wurde inszeniert von
Genco Erkal und den Dirigenten Sarper Özsan und Timur Selçuk.
Neben den Gedenkveranstaltungen gab es OpenAir-Konzerte in Harbiye / İstanbul und
im Konzertsaal Cemal Reşit Rey in İstanbul. Auch an Gedenkveranstaltungen in Köln
und Frankfurt im Jahre 1991 nahm der Chor teil. Außerdem trat er bei den
Veranstaltungen
der
türkischen
Karikaturistenvereins in İstanbul auf.
Architektenkammer
und
des
türkischen
651
Außerdem sind folgende Aufführungen zu nennen:
Nach BAŞARAN, Hüseyin: Sesi hep Kulağımızda: „Merhaba Canlar”. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.):
Ruhi Su’ya Saygı (1986): 256-257.
651
Nach einem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010 in İstanbul.
650
351
25. September 1993: „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var)
Inszeniert von Rüştü Asyalı und dem Dirigenten Cengiz Ünal. Ort: Büyük Tiyatro,
Ankara.
26. August 1995 „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var)
Inszeniert von Gülsen Tuncer und dem Dirigenten Öcal Öcalan; Ort: Efes Odeon, İzmir.
7. Oktober 1995 „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var)
Inszeniert von Nevzat Şenol, Gülsen Tuncer und dem Dirigenten Öcal Öcalan; Ort:
Harbiye Açıkhava Tiyatrosu, İstanbul.
8. Juni 1996: Konzert mit dem „Ruhi Su-Chor der Freunde”. Dirigent Refik Köksal; Ort:
İstanbul Teknik Üniversitesi Maçka Salonu, İstanbul.
22. März 1997 Gründungskonzert der „Ruhi Su Kultur - und Kunststiftung“.
Dirigenten Refik Köksal und Timur Selçuk; Ort: İstanbul Teknik Üniversitesi Maçka
Salonu, İstanbul. 652
Obwohl die „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung“ (Ruhi Su Kültür ve Sanat
Vakfı) nicht mehr existiert, besteht der „Ruhi Su-Chor der Freunde“ (Ruhi Su Dostlar
Korosu) weiter. 653 An jedem Todestag Ruhi Sus und bei Anlässen wie dem 1. Mai gibt
der Chor Konzerte. Das Organisationskomitee der Feierlichkeiten zum 1. Mai 2011 gab
bekannt, dass die Maidemonstration am Taksim-Platz mit dem „Ruhi Su-Chor der
Freunde“ und weiteren Künstlern eröffnet werde. Zwei Tage zuvor teilte man mit, das
Motto der Demonstrationen laute „Der Morgen hat einen Besitzer“. Diesen Satz aus dem
Lied „Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz“ (Şişli Meydanında Üç Kız)
654
von Ruhi Su
zeigt, welche Wertschätzung er immer noch unter den Werktätigen genießt. Das Lied
spielt sowohl an auf die jungen Studentinnen, die am hellichten Tage am 24. April 1977
auf dem Şişli-Platz erschossen wurden als auch auf das Massaker am 1. Mai 1977, das
auf dem Taksim-Platz stattfand. Anlass zu dem Massaker war die Feier zum 1. Mai, an
der auch Ruhi Su mit seinem Chor teilnahm.
Es ist bemerkenswert, dass am 1. Mai 2011, 34 Jahre nach diesem Mord, seine
Schüler auf dem Taksim-Platz, der heute im Kopf des Volkes „1.Mai Platz“ genannt
wird, dieses Lied gesungen haben.
652
Verfasser verdankt diese Information Çiler Belen, welche bis heute, 2012, dem Chor der Freunde
angehört.
653
Zu Lebzeiten Ruhi Su hieß dieser Chor nur „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu). Nach seinem Tod
erhielt er den Beinamen „Ruhi Su“.
654
Siehe oben Kap. 7.1.3.
352
13.
Persönliche Erinnerungen an Ruhi Su
Die Strenge und Disziplin, die er stets bei der Arbeit hatte, konnte man in
seinem privaten Leben nicht erkennen. Er war immer gut gelaunt und legte es darauf an,
die Menschen um sich herum zum Lachen zu bringen. Er erzählte sehr gut Witze und
Anekdoten. Wie ein Schauspieler ahmte er auf lustige Weise Menschen nach. Er konnte
zwanglos mit einfachen Menschen reden. Er erzählte gern von sich selbst eine Anekdote:
In seinem Militärdienst war er der einzige, der die schwierig zu singende türkische
Nationalhymne richtig sang. Dies war auch dem kommandierenden Offizier aufgefallen.
Dieser lobte ihn und fragte: „Mein Junge, wie machst du das, dass du so schön singen
kannst?“ Er antwortete: „Ich bin ein Bassbariton.“ Daraufhin drehte sich der
Kommandant zur Gruppe und rief: „Alle müssen jetzt Bassbariton singen“ 655.
Der Verfasser bat einige Freunde aus der Zeit des „Chors der Freunde“ (Dostlar
Korosu) in İstanbul, ihm auf folgende Frage eine Antwort zu geben: „Welche Bedeutung
hat Ruhi Su für dich und welchen Einfluss hat er auf dich gehabt?“ Göksun Yener,
Mehmet Çapan, İrfan Ertel, Karabey Aydoğan, Canan Bilge, Çiler Belen und Hüseyin
Erdem schrieben oder sprachen mit ihm. Göksun Yener antwortete mit einem einzigen
Satz: „Disziplin, lachende Augen und Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit“. 656
Mehmet Çapan schrieb einen langen Brief, aus dem folgendes Zitat stammt:
Es war das Jahr 1974. Ich war Lehrer in der Provinz Tunceli. Eines Tages
besuchte ich einen Kollegen in einem anderen Dorf. Er legte eine Kassette in den
Kassettenspieler. Mir wurde sehr heiß im Gesicht. „Wer ist das, mein Freund?“
fragte ich. „Es singt Ruhi Su“, antwortete er. Ich singe seit meiner Kindheit
Türküs mit Leidenschaft. Ich imitiere Volksdichter wie Aşık Veysel oder Davut
Sulari. Die Stimme, die ich jetzt hörte, klang aber nicht so. Wie ruhig und
bestimmt er sang! Er war für mich eine Erleuchtung. Seit diesem Tag nahm ich
mir vor, Ruhi Su kennen zu lernen. Ich ließ mich nach İstanbul versetzen. Nach
seinem Konzert in der Irenenkirche ging ich zu ihm hin. Ich sagte ihm, dass ich in
seinen Chor wolle. Nach einigen Fragen nach meiner Herkunft, meinen Beruf und
meine Musikkenntnis willigte er ein. Ich war überglücklich. Seit diesem Tag
weisten mir das von ihm Erlernte den Weg. 657
Mehmet Çapan führt heute Ruhi Sus Gesangstradition in öffentlichen
Veranstaltungen in der Türkei und in Deutschland fort.
Aus dem Gespräch mit Talip Apaydın vom 15. Juli 2005 in Ören.
Göksun Yeners e-mail an den Verfasser vom 16. Jan. 2009.
657
Aus dem Brief Mehmet Çapans an den Verfasser vom 1. Nov. 2009.
655
656
353
İrfan Ertel lernte Ruhi Su kennen, als er Student im Fach Malerei an der
Akademie für Schöne Künste in İstanbul war. Ertel fühlte sich mehr durch Ruhi Su
gefördert als durch die Akademie: „Seine Vorschläge und Kritiken, was meine Malerei
anging, wurden für mich Anleitung und Wegfindung.“ İrfan Ertel, der die Hülle der
Langspielplatte „Zeybeks“ (Zeybekler) entwarf, erzählt:
Eines Tages rief Ruhi Su mich und ließ mich das vorläufige Konzept der
Langspielplatte „Zeybeks“ hören. Er sagte „Ich bereite das Album vor und du
wirst das Cover entwerfen!“ Unter denen, die zuvor diese Aufgabe übernommen
hatten, waren Meister wie Abidin Dino und Avni Arbaş. Ich war jedoch noch ein
Student. Wie sollte das gehen? „Konnte ich das schaffen?“ „Selbstverständlich,
du wirst es sehr gut machen, ich bin davon überzeugt; du musst lernen, dir selbst
zu vertrauen.“ Es verging etwa ein Monat, nach dem ich Ruhi Su den Entwurf
gegeben hatte. An der Tür des Grafikbüros in Cağaloğlu, in dem ich arbeitete,
klopfte es. Ich machte auf. Mein Meister stand vor mir! Er hatte eine leichte
Grippe, stieg die Treppen vier Stockwerke hoch und schwitzte. Ich wusste nicht,
was ich sagen sollte. Ich bat ihn herein. Er zeigt auf das Paket in seiner Hand und
sagte „Ich habe von der Druckerei unser Cover abgeholt. Es hat mir sehr gefallen
und ich wollte, dass du es als erster siehst. 658
Bei dem Interview sprach Ertel davon, wie sehr ihn Ruhi Su als Mensch geprägt habe:
Wir hatten uns eines Tages darauf geeinigt, am nächsten Tag mit meiner ganzen
Familie nach Yalova zu fahren. Als ich am nächsten Morgen an der Anlegestelle
der Fähre ankam, wartete er bereits auf uns. Auf die Frage, warum er schon so
früh hier sei, antwortete er, dass er nicht mitkommen könne, weil sein Sohn spät
abends vom Militärdienst zurückgekommen sei. Ich sagte, es sei doch nicht nötig
gewesen, wegen der Entschuldigung hierher zu kommen, bei der großen
Entfernung zu seiner Wohnung. Ich hätte ihn so oder so angerufen, falls er nicht
erschienen wäre. Er jedoch beteuerte: „Nein nein, man muss immer Bescheid
geben. 659
İrfan Ertel erklärte, dass er mit Ruhi Su über politische Themen sehr offen reden
konnte. Er habe ihn noch nie über jemand anderem schlecht reden hören. Dies sei
bezeichnend für seine sozialistische Anschauung:
Als ich ihm von Dingen erzählte, die mich störten, antwortete er bloß, dass sie
sich schon von selbst erledigen würden. Er war ein Mensch, der nie persönlich
wurde und nie ins bloße Schwatzen fiel. Er war ein äußerst respektvoller Mann
und brachte einem bei, wie man sich zu verhalten habe; gerade weil wir aus einer
Zeit kamen, in der jeder abfällig über andere sprach und viel Gerede gemacht
wurde. 660
Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel vom 27. Sept. 2010 in İstanbul.
Ebd.
660
Ebd.
658
659
354
Als Ertel studierte, organisierte er eine Ausstellung seiner Bilder im Foyer des
Vasıf-Öngören-Theaters, bei der er selbst auftrat. Er erinnerte sich, wie Ruhi Su die
Einladung für die Vernissage annahm und mit ihm gemeinsam dorthin ging:
Er nahm mich an die Hand und sagte „Na dann mal los“. Ich kann nicht
vergessen, was er damals über meine Ausstellung sagte. Er war so ermunternd
und motivierend. Er brachte viele gute Interpretationen ein und wies auf das hin,
worauf ich während des Malens nicht geachtet hatte. Eine besondere Gabe Ruhi
Sus war, dass er einen stolz und mutig machen konnte. Er war ein wahrer Lehrer.
Man stelle sich das mal vor: Die Kritik und das Lob, die ich eigentlich an der
Akademie erhalten sollte, erhielt ich von ihm. Sein Wort „Die Stille hat einen
Wert“ vergesse ich nie. Daraus habe ich gelernt, dass sogar eine leere Oberfläche
ihren Wert hat. Eines Tages sagte ich ihm, dass ich eine bis dahin noch nie
gehörte Türkü auswendig gelernt hätte. Er hörte sich mein Singen an und sagte,
dass die Türkü mit meiner Stimme eine Harmonie bilde. Hier wird wieder seine
ermunternde und aufbauende Zuwendung deutlich. 661
Karabey Aydoğan erzählte eine weitere Anekdote, die erkennen ließ, dass Ruhi Su Späße
selbst in politischen Notsituationen machte:
Während eines Ausnahmezustandes in den 70er-Jahren trafen wir uns zu
Chorarbeiten. Dabei begrüßten wir uns recht herzlich und gaben uns auch rechts
und links Küsse. Er sagte dabei „Küsst euch ruhig“ das allein ist noch nicht
verboten. 662
Karabey Aydoğan vergaß nie eine nur oberflächlich komische Gelegenheit, von der ihm
Ruhi Su erzählte:
Eines Tages ging ein Zuhörer auf Ruhi Su zu und sagte, der Sozialismus solle
doch endlich kommen, damit alle mal die Frauen tauschen könnten. Ruhi Su
lachte zwar, aber er wusste auch, dass ein Funke Wahrheit in der Forderung
steckte. Viele Männer verstanden den Sozialismus in der Tat als eine solche
Lizenz. 663
Aydoğan betonte, Ruhi Su sei ein Erzieher gewesen. In erster Linie habe er
versucht, seine Zuhörer zu erziehen. Seine Zuhörer hätten ihm achtsam zugehört, um am
Ende wie euphorisiert zu applaudieren. Karabey erklärte, warum er selbst bei den
damaligen Demonstrationen so stimmgewaltig gewesen sei:
Samstags brachte Ruhi Su zunächst mit Stimmübungen Feuer in unsere Lungen.
Überdies sangen wir noch zwei Stunden Türküs. Dann ging ich zu den
661
Ebd.
Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sept. 2010 in İstanbul.
663
Ebd.
662
355
Demonstrationen und schrie bis in den Abend. Während die Stimmen der anderen
schlapp machten, schrie ich weiter. Erst da merkte ich, wie wichtig die
Stimmübungen waren. 664
Canan Bilge, ein weiteres Chormitglied jener Tage, kam heimlich zu den
Chorübungen, weil ihre Eltern wegen der politischen Einstellung Ruhi Sus sich Sorgen
um sie machten. Als das Chor eines Tages ein Konzert außerhalb von İstanbul hatte,
konnte sie daran wegen ihrer Eltern nicht teilnehmen. Sie schilderte Ruhi Su die
Situation, worauf er sagte: „Mach dir keine Sorgen. Streite dich nicht wegen uns mit
deiner Familie. Wir werden dein Fehlen beim Konzert irgendwie schon kompensieren.
Hauptsache, du verlässt uns nicht.” In der Korrespondenz mit dem Verfasser bemerkte
sie:
Die Atmosphäre, die Ruhi Su mit seiner Chortätigkeit Ende 1975 schuf, war für
uns junge Menschen eine Oase, in der wir uns während der politischen
Spannungen des Landes sicher fühlten. Wir warteten ungeduldig auf die
Chorübungen. Während auf den Straßen politische Anhänger sich mit Waffen
bekämpften, brachte er uns mit seiner entschiedenen, ruhigen und toleranten Art
alle im Chor zusammen, auch wenn wir, obwohl wir dieselbe Grundeinstellung
hatten, im Einzelnen uneinig waren. Und damit hat er uns die Türen in andere
Welten geöffnet. In den fünf Jahren mit ihm lernten wir die Türküs dieses Landes
kennen und singen. Wir liebten unseren Lehrer und er liebte uns. Er gab uns
wichtige Ratschläge, wie man denkend und sehend auf das Leben schaut, wie
man zu einem mündigen Bürger wird. Wir wurden bei ihm erwachsen. Ohne uns
direkten Rat zu geben, ohne unsere Gedanken durcheinander zu bringen, gab er
uns viel Respekt und Liebe. Er ließ uns unsere Träume und Jugend ausleben.665
Çiler Belen erinnerte sich an eine Chorübung, in der sie zusammen mit Canan
Bilge die ganze Zeit unentwegt kicherten. Ruhi Su bemerkte es und ließ sie zunächst
gewähren. Nach der Übung ging er auf beide zu, umarmte sie und sagte: „Ihr habt viel
gelacht. Lachen ist etwas sehr Schönes, macht weiter.” Çiler Belen kommentierte: „Im
ersten Moment hatten wir Angst, dass er mit uns schimpfen würde. Aber das Gegenteil
passierte. Dies war eigentlich eine indirekte Kritik unseres Verhaltens. Er stellte uns
damit vor den anderen nicht bloß und brachte uns somit zum Nachdenken. Seine
liebenswerte Persönlichkeit spiegelte sich immer wieder in seiner Kritik.“ 666
664
Ebd.
Aus dem Gespräch mit Canan Bilge vom 25. Sept. .2010.
666
Aus dem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010.
665
356
Hüseyin Erdem erzählt:
Ruhi Su wurde manchmal zu großen Festessen eingeladen. Es wurde immer
vergessen, dass er bei diesen opulenten Festmahlen Türküs stets mit leerem
Magen singen wollte. Es ärgerte ihn sehr, wenn man ihn beharrlich zu Tisch bat
oder wenn er wenigstens mit seinen schönen Gesprächsbeiträgen denen
Gesellschaft leisten sollte, die mit großem Appetit aßen. In dieser Hinsicht
verstanden ihn außer „dem Kreis der blauen Reise“ 667 nicht einmal seine
kultiviertesten Freunde. Gleich, wer ihn einlud, unter dem Lärm des Geschirrs
und dem Schmatzen der Esser sang er niemals Türküs. Er sagte zu den Gästen
„Esst ihr ruhig, Ich bereite für euch die neuesten Stücke zusammen mit Hüseyin
vor“.
An solchen Veranstaltungen nahmen natürlich auch Kinder teil, die vorher
gespeist und in ein separates Zimmer gebracht worden waren. Hierbei aß ich
ebenfalls nichts. Wir gingen in das Zimmer der Kinder, Ruhi Su präsentierte
ihnen seine neuesten Türküs und wollte ihre Meinung hören. Die Kinder waren
wirklich unglaubliche Kritiker. Bei diesem Gedankenaustausch legte sich seine
Wut.
Wir stellten eine Reihenfolge der Stücke zusammen. Oder wir unterhielten uns
amüsiert über das Festessen. Am Ende sang er für die vom Essen müde
Gewordenen und vom Alkohol Gezeichneten Türküs und trug ihnen Gedichte
vor. Danach aßen wir entweder das für uns aufgehobene Essen oder flohen mit
der Begründung „Wir müssen ganz schnell irgendwo hin“, und aßen
Kleinigkeiten an einem Ort, der uns gefiel.668
Die "Blaue Reise" (Mavi Yolculuk) wurde unter der Initiative von Cevat Şakir Kabaağaç, der den
Spitznamen "Fischer aus Halikarnassos" trug, 1945 begonnen. Sie hatte den Zweck, die Zivilisationen des
Mittelmeers kennenzulernen. Schriftsteller und Künstler wie Sabahattin Eyüboğlu, Azra Erhat, Erol
Güney, Necati Cumalı, Bedri Rahmi Eyüboğlu, Sabahattin Ali, Fuat Ömer Keskinoğlu schlossen sich an..
668
Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln.
667
357
14.
Schluss
Der Schluss dieser Studie kehrt zu ihrem Anfang und ihren Zielen zurück.
Aufzuweisen waren:
Erstens, was war die Bedeutung des Sängers und Musiktheoretikers für die türkische
Volksmusik?
Zweitens, was bedeutet die Erneuerung solcher Musik durch Ruhi Sus innovative
Methode ihrer Verbindung mit westlicher Musik?
Drittens, wie vollzog sich das pädagogische Wirken Ruhi Sus und damit verbunden in der
Volksbildung?
Viertens, Welche Bedeutung hatte der politische Mensch Ruhi Su für rechte wie linke
Parteien und für das einfache Volk?
Darstellbar waren diese vier Fragestellungen, unter denen sich die wichtigsten
Ergebnisse dieser Untersuchung versammeln lassen, am ehesten, indem der Verfasser die
von Schicksalschlägen geprägte Existenz Ruhi Sus in einer an politischen Risiken nicht
armen Türkei ebenso wie sein stetiges Kunstwollen und Kunstschaffen nachzeichnete.
Geholfen hat ihm bei dieser Positionierung der Zugriff auf ein umfangreiches
biographisches Material, welches er der Familie, den Freunden und den Kritikern Ruhi
Sus verdankt.
Zum Ersten: Der Zustand, in dem Ruhi Su die Volksmusik vorfand, war nach
seinem Konzept ein erbarmungswürdiger, gekennzeichnet durch gedankenloses Trällern.
Was Ruhi Su von den Radiosängern unterschied, war die Qualität seiner Musik. Diese
Sänger gaben lediglich weiter, was sie in der Tradition fanden. Ruhi Su aber hat eine
völlig neue Volksmusik zum Vorschein gebracht, die auch in den Städten Anklang fand.
Seine Kritik fußte auf der allgemeinen Theorie, dass die Volksmusik, die am reinsten in
den Türküs verkörpert wird, gleichzeitig einen Schatz an Weisheit darstellt, den das
anatolische Volk über die Jahrhunderte zusammengetragen hat. Im Besonderen, will
sagen, in den Anforderungen an den Sänger der Türküs bestand er auf musiktechnischen
wie auf kulturanthropologischen Kenntnissen: Stimmausbildung und Beherrschung der
Musikregeln, Liebe zum Volk, Kenntnis der historischen und geographischen Genese der
Türküs, Vertrautheit mit der Sprache dieser Lieder. Dass er selbst vorbildlich vorging,
erwies seine unermüdliche Sammeltätigkeit, Vertonung und neue Sinngebung von
Türküs. Hinzuweisen war auch auf Ruhi Su als Essayisten und den Verfasser von
358
bedeutender Lyrik. Den Zeugnissen von Kennern und fortschrittlich denkenden
Liedermachern war daher allgemeine Zustimmung zu entnehmen.
Zum Zweiten: Innovation der türkischen Volksmusik war für Ruhi Su
gleichbedeutend mit ihrer Verknüpfung mit dem europäischen Liedgut in der Art
Schuberts. Seine musikalische Ausbildung, gerade auch unter westlichen Lehrern, und
seine Tätigkeit als Opernsänger waren ein Ansporn zu solcher Überlegung. Zudem
betrachtete er die Mehrstimmigkeit als ein, wenn auch schwierig zu handhabendes,
Werkzeug des Fortschritts der türkischen Gesellschaft. Andererseits sah er in der den
einzelnen Sänger begleitenden Saz ein Instrument, das seit Jahrhunderten Denker und
Kämpfer gegen Machtapparate wie, Pir Sultan Abdal, Köroğlu und Dadaloğlu benutzt
hatten. Wie sehr er in dieser Tradition einer gesellschaftlichen Erneuerung stand, zeigten
die vielen Texte seiner Vorgänger, welche er in sein Repertoire aufnahm und gelegentlich
modulierte. Ruhi Su interpretierte die Türküs mit großer Sensibilität und mit der Kenntnis
eines akademisch ausgebildeten Sängers ohne dabei die authentische Stimme der
Tradition aus dem Ohr zu verlieren.
Zum Dritten: Natürlich war auf seine Lehrtätigkeit, genauer gesagt, auf seinen
pädagogischen Eros einzugehen. Doch dies waren nur, wenn auch wichtige, Stationen auf
seinem Weg zumal sie in der offiziellen Welt nicht von Dauer waren und von
Berufsverboten abgelöst wurden. Die aufschlussreiche Fragestellung war dies jedoch
nicht. Sie, und ihre Antwort, lagen anderswo. Ruhi Su sah sich stets der alten ländlichen
Tradition des verpflichtet. Gemeint ist mit diesem Konzept eine gegenseitige Hilfe der
Dorfgemeinschaft, sei es bei der Ernte, bei Häuserbau, schließlich beim Bau der
Dorfinstitute. Ruhi Su übernahm die Vorstellung des İmece von Sabahattin Eyuboğlu, der
als Vater diese Vorstellung in moderne Zeit wieder belebt hatte. Praktiziert hat Ruhi Su
İmece auf vor allem zwei Weisen. Einmal, indem er selbst an Dorfinstituten lehrte,
gewiss aus einer Sympathie mit der Armen und unterdrückten Landbevölkerung, die
nicht zuletzt aus seinen eigenen ärmlichen Ursprüngen ihre Kraft zog. Ebenso gewiss
stärkte es seine Energie, dass er mit dem für die Dorfinstitute verantwortlichen İsmail
Hakkı Tonguç zusammenarbeitete, der seinerseits das pädagogische Ideal Georg
Kerschensteiners von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu verwirklichen suchte. Beide hatten,
schlagwortartig formuliert, ein anatolisches Herz und einen europäischen Kopf.
Dann übte er eine Art von musikalischer İmece aus. Er sang selbst in
Gefängnissen, um seine Mithäftlinge aufzurichten, er bildete Chöre und entdeckte und
unterstützte Talente im Land. Die Wichtigkeit des İmece für ihn wurde daraus ersichtlich,
359
dass er seinem Verlag, in dem er alle seine Schallplatten herausbrachte, auch diesen
Namen gab.
Zum Vierten: Ruhi Sus Sympathie für die Armen und Unterdrückten zeigte sich in
der Opposition zu einem rechtsgerichteten Staat. Seine in den Türküs enthaltene Kritik
war stets unerwünscht, und Unerwünschtheit übertrugen die Regierenden vom Lied auf
den Sänger. Zu ihren Grundideologemen gehörte, im Land war alles bestens, Kritik
grenzte an Beschmutzung der Nation; die angemessene Reaktion war ihrer Sicht nach
Berufsverbot und Haft, mit denen sie Ruhi Su denn auch belegten. Anfang der 40er Jahre
war Ruhi Sus Position noch völlig anders, denn er ermöglichte der urbanen
nationalistischen Elite eine Identifikation mit dem Volk und seine Kultur und gewann
weite Anerkennung. Das kemalistische Prinzip der Volkstümlichkeit (Halkçılık) wurde
von ihm in idealer Weise vertreten. Auf dem politischen Feld, das durch eine
entschiedene Wendung nach rechts gekennzeichnet ist, wurde später seine Position
immer schwächer. Seine Parteinahme für die Aleviten, an deren Musik er die moralische
Kraft, den Widerstand gegen Falschheit und Ungerechtigkeit schätzte, wurde ebenfalls
suspekt. Gleichwohl war zu differenzieren: Den Aleviten galt ihre Musik als
theologisches Phänomen, Ruhi Su hielt seiner säkularen Prägung fest. Sein Werk war
daher zu bezeichnen als einerseits ein Dokument des sozialen und politischen
Widerstands gegen rechte, konservative Ideologien. Anderseits konnte die Linke ihn
ebenfalls nicht für Parteipolitik vereinnahmen. Bei der parteipolitischen Führung traf
Ruhi Su auf ein ständiges Missverstehen. Als Sprachrohr sozialistischer Parolen war er
nützlich; seine künstlerische Leistung konnten sie schlechthin nicht wahrnehmen. Als
Integrationsfigur unter der zerstrittenen Linken war er dennoch kaum wegzudenken. Die
Würde des Menschen stand ihm über Parteipolitik. Seinem „Chor der Freunde“ (Dostlar
Korosu) brachte er kurdische, alevitische und armenische Lieder bei. Diese Tatsache
zeigte das differenzierte Verständnis seines Gründers für die Kultur in der Türkei. Das
einfache Volk liebte ihn, wie seine Reise nach Australien, die dortigen Konzerte und
seine Beerdigung zeigten. Seine Position wurde am ehesten als die eines idealistischen,
eines
menschlichen
Kommunisten
charakterisiert.
Zusammengefasst:
Ruhi
Su
ganzheitlich darzustellen hieß, ihn als künstlerische und zugleich als moralische Autorität
zu begreifen.
360
15.
Die Liste der Gesprächspartner
Sıdıka Su, in Herne, 21. April 2002
Talip Apaydın, in Ören, 15. Juli 2005
Abdullah Özkucur, in Ankara, 20. Juli 2005 und 6. Aug. 2009
Dr. med. Balkar Yekebaş, in Köln, 25 Mai 2006
Bertan Onaran, in İstanbul, 25. Juli 2007 und 23. Sep. 2010
Ilgın Su, in İstanbul, 28. Juli 2007
Hüseyin Erdem, in Köln, 5. Aug. 2008 und 31. Aug. 2011
Göksun Yener, e-mail aus Bursa, 16. Jan. 2009
Mehmet Çapan, Brief aus Reutlingen, 1. Nov. 2009
Canan Bilge, in İstanbul, 25. Sept. 2010
Çiler Belen, in İstanbul, 25. Sept. 2010
İfan Ertel, in İstanbul, 27. Sept. 2010
Karabey Aydoğan, in İstanbul, 27. Sept. 2010
İbrahim Yüksel, e-mail aus İstanbul, 28. Okt. 2010
361
16.
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Behcet Sovuksu wurde 1950 in Samandağ-Türkei geboren. Nach der Ausbildung für das
Lehramt an Grundschulen in Hatay und an Mittelschulen und Gymnasien an der
Pädagogischen Hochschule in Diyarbakır im Fach Türkisch, war er von 1971 bis 1980 als
Lehrer tätig. 1980 siedelte er nach Deutschland über und erwarb an der Universität
Freiburg 1981 das Zertifikat „Deutsch als Fremdsprache“. Von 1981-1984 arbeitete er in
Mülheim/Ruhr in einer „Maßnahme zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung
junger Ausländer.“ Seinen philologischen Beruf setzte er, ab 1983 nebenamtlich und
1984 hauptamtlich am Heisenberg-Gymnasium Gladbeck fort. Gleichzeitig studierte er in
den Fächern Islamwissenschaft, Orientalische Philologie und Pädagogik an der RuhrUniversität Bochum mit Magister-Abschluss im Jahre 2008. Seit 2010 befindet er sich im
Vorruhestand.
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