zum herunterladen als pdf - Garip Sultan, Ein Schicksal im

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GARIP SULTAN
EIN SCHICKSAL IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN
HEIMATLIEBE UND MENSCHENVERACHTENDEN DIKTATUREN
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Vorwort
Jahrzehnte lang sprach Garip Sultan davon, seine Memoiren schreiben zu wollen.
Er habe „den Text schon im Kopf“. In der Zeit seiner Berufstätigkeit blieb dafür
kaum Zeit, abgesehen von handschriftlichen Schlagworteintragungen in einen
alten Kalender.
Nach seiner Pensionierung verhinderten anfangs seine Krankheit das Vorhaben,
mit fortschreitender Zeit die Alltagspflichten, die er auf sich genommen hatte, vor
allem aber seine depressive Stimmung; er hatte nicht mehr die psychische Kraft
Neues zu beginnen.
Das Farbband seiner Schreibmaschine sei nicht mehr brauchbar, so sein Argument, wenn er gedrängt wurde sein Vorhaben endlich zu verwirklichen, er finde
nicht genug Zeit neben der Hausarbeit und ähnlich triviale Gründe mehr. Versuche ihn mit einem PC vertraut zu machen, schlugen fehl.
Noch anfangs 2010 hatte Garip Sultan einer Mitarbeiterin von Radio Liberty nach oftmaligem Drängen - ein Interview gewährt, einige Jahre zuvor Fauzia
Bayromowa Fragen über sein Leben beantwortet. Entstanden sind Schnappschüsse seiner Lebensgeschichte, weil er vermied irgend jemanden Einblicke in
sein Leben zu geben, die über das Berufliche hinaus gingen.
Nach mehr als 30 jähriger Bekanntschaft kannte ich ihn wahrscheinlich besser,
als jeder andere. Vor allem, was sein Privatleben betrifft. Über Jahrzehnte haben
wir immer wieder – in der jeweils knapp bemessenen Zeit, die zur Verfügung
stand – über sein Leben gesprochen. Viel Privates und auch Berufliches.
Als wegen seiner fortgeschrittenen Lebenszeit das Ende vorauszusehen war, habe
ich vorgeschlagen er möge seine Biographie auf ein von mir zur Verfügung gestelltes Diktiergerät sprechen. Auch das war nicht zu erreichen. Deshalb habe ich
seine Erzählungen verbal wiederholt und in seiner Anwesenheit schriftlich festgehalten. Unaufgefordert hat er mir dann zu der jeweils nächsten Sitzung Kopien
seiner Originaldokumente gebracht. Zu dieser Zeit hatte ich keinerlei konkrete
Pläne seine Biographie zu schreiben, die Aufzeichnung sollte dazu dienen die
publizierten Unwahrheiten über sein Leben – in der tatarisch-russischen Presse
im Hinblick auf Musa Dshalil, doch auch im Buch von Ian Johnson – richtig zu
stellen.
Die Teilnahme an den Begräbnisfeierlichkeiten war jedermann verwehrt geblieben. Ein halbes Jahr nach seinem Begräbnis lag noch immer der einzige Kranz
auf dem Grab, auch das Holzkreuz, das dem Friedhofsgärtner den Weg weist,
stak noch immer in der Erde. Keine frische Blume, kein Hinweis, daß das Grab
innerhalb der letzten Monate besucht worden wäre.
In diesem Augenblick stand mein Entschluß fest, die Biographie zu schreiben, die
er lebenslang geplant hatte. Wenigstens auf diesem Weg mögen sich jene an ihn
erinnern, die ihn gekannt und geschätzt haben.
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INHALTSVERZEICHNIS
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Elternhaus und Kindheit
2. Studium
3. Krieg
4. Exkurs Historisches
5. Gefangenschaft
6. Dolmetscher in Hitlers Diensten
7. Kriegsende
8. Wie weiter
9. Zeitgeschichtliche Hintergründe
10. Konstruierte Unsterblichkeit
11. Neuanfang
12. Nachkriegsaktivitäten
13. Welche Perspektiven?
14. Radio Liberty
15. Wieder in München
16. Leben nach Verlust des Lebensinhaltes
Bibliographie
Anhang
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Seite 1
Seite 2
Seite 3
Seite 4
Seite 17
Seite 19
Seite 23
Seite 27
Seite 33
Seite 37
Seite 43
Seite 47
Seite 48
Seite 58
Seite 60
Seite 63
Seite 68
Seite 76
Seite 80
Seite 85
Seite 87
1 Elternhaus und Kindheit
Die Sowjetunion war noch jung, als Garip Sultan am 25 September 1923
in einem kleinen Ort in Baschkirien, in Dzirgan/Agidel, geboren wurde.
Als drittes Kind, aber ältester Sohn eines tatarischen Fuhrwerksunternehmers und seiner Frau Zeynep Hanim.
Die Geburt des Stammhalters war ein Höhepunkt in der traditionell tatarischen Familie, in der die (muslimische) Religion keine große Rolle
spielte. Religionsausübung war unter den Sowjets untersagt, sogar unter
Strafe gestellt. Doch die überlieferten Werte blieben Leitfaden für das
Leben der Kinder.
Die Mutter entstammte einem tatarischen Adelsgeschlecht, das das traditionell hohe Bildungsniveau der Tataren auch deren Töchtern angedeihen ließ. Schon 1879 konnten mehr als 60% der Tataren lesen und
schreiben, im Vergleich zur russischen Bevölkerung, die zu dieser Zeit zu
90% aus Analphabeten bestand.
Der Beruf des Vaters Nigmetulla führte ihn weit über das tatarische
Siedlungsgebiet hinaus. Alle Waren, die in dem weitläufigen Gebiet gebraucht wurden – Getreide, Salz und Zucker- auch kostbare Textilien
fanden ihren Weg vom spärlich besiedelten Süden Baschkiriens über
Chelyabinsk und Kurgan bis nach Omsk. Acht Pferde mit entsprechenden Wagen besaß Nigmetulla zum Transport der Waren wie auch zum
Personentransport.
Auf dem Weg in die entlegenen Gebiete war er auch gern gesehener und
ungeduldig erwarteter Überbringer von Neuigkeiten. Er brachte tatarischsprachige Zeitungen aus Ufa, hergestellt in Tomsk, Taschkent, Tjumen, Moskau und St. Petersburg in die Siedlungen, obwohl nach 1927
periodische Druckwerke in tatarischer Sprache verboten waren. Doch
fanden sich immer Wege zu deren Herstellung und Verbreitung. Ein Radio besaßen nur wenige Menschen. Dieses Medium verbreitete ausschließlich Propagandaparolen der Sowjets, unglaubwürdig für die Menschen, die nach der Oktoberrevolution deren Versprechungen geglaubt
und bitter enttäuscht worden waren.
Die meiste Glaubwürdigkeit besaßen die von Mund zu Mund überbrachten Neuigkeiten, wenn auch viele Menschen, ob der unglaublichen Greueltaten, meinten, Vieles sei übertrieben. Auch Optimisten wie Nigmetulla Sultanow bewerteten diese Gerüchte skeptisch, wollten das Ausmaß
der kolportierten Repressalien nicht wirklich glauben. Weshalb sollte
Derartiges unbescholtenen Menschen passieren, die sich nichts hatten
zuschulden kommen lassen?
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Die Familie Sultanow lebte auf eigenem Grund und Boden, ererbt von
den Vorfahren, vergrößert durch Intelligenz und Fleiß. Die Mutter war
den Kindern ein Vorbild für Pünktlichkeit und Ordnung, und weckte in
ihnen die Liebe zur Literatur durch Erzählen von Sagen und Märchen mit
historischem Hintergrund.
In dem weitläufigen aus Ziegeln erbauten Haus bewohnten die beiden
Töchter zusammen ein Zimmer, der Sohn ein eigenes. Garip hatte reiten
gelernt, als er noch Windeln trug, besaß sein eigenes Pferd, das er liebevoll pflegte. Im Hof befanden sich der Vorratsspeicher und eine Hütte in
der im Sommer gekocht und Brot gebacken wurde. Auch ein Brunnen
befand sich innerhalb des Areals, ein Merkmal für Wohlhabenheit, das
nicht jeder sein eigen nannte.
Am Ufer des Agidel-Flusses (Belaja Fluß in russisch) besaß die Familie
eine Sauna mit Badegelegenheit. Sie stand allen Nachbarn zur Verfügung, auch Russen, die üblicherweise kein eigenes Bad besaßen. Die Liebe zur Sauna hat Garip sein ganzes Leben begleitet. Als er bereits hoch in
der 80igern war, sein Herz nicht mehr leistungsfähig –wenigstens einmal
wöchentlich mußte Sauna sein.
Wie die meisten Kinder war Garip sehr neugierig, konnte es kaum erwarten sieben Jahre alt zu werden, um zur Schule zu gehen. Er bettelte die
Mutter an, sie möge ihn das Lesen lehren.
Eines Tages wurde ihm seine ausgeprägte Neugierde zum Verhängnis.
Ein junger Mitarbeiter des Vaters hielt sich auffallend oft in der Nähe einer gutaussehenden jungen Frau auf, die im Haushalt tätig war. Er beschäftigte sich mit dem Mädchen, was in der tatarischen Öffentlichkeit
Anfang des 20. Jahrhunderts unüblich war. Was macht der da, dachte
der fünfjährige Garip?
Gegen Mittag verließ Fuad, so hieß der junge Mitarbeiter, das Haus mit
einem der Pferdewagen, um allerlei Dinge in die Umgebung zu liefern,
begleitet von der jungen Magd. Garip versteckte sich auf der Ladefläche
unter der Plane, er wollte doch sehen, wie sich die beiden weiter verhielten. Mit der Zeit wurde es langweilig, Garip streckte den Kopf heraus,
ohne daß er bemerkt wurde, die beiden lachten und scherzten. Es muß
schon früher Nachmittag gewesen sein, der Bub hatte Hunger und Durst,
als er näherkommendes Pferdegetrappel vernahm. Schnell versteckte er
sich wieder unter der Plane. Der Wagen hielt, die Plane wurde hochgehoben – Garip blickte in das Gesicht des Vaters. Wortlos hob er das Kind
vor sich auf den Sattel – sprach weiter kein Wort. Zu Hause angekommen erklärte er mit ernster Miene – so hatte ihn Garip noch nie gesehen
– welch große Sorgen er und Mutter sich gemacht hatten, als Garip verschwunden war. Sie hatten überall gesucht, die Nachbarn gefragt. Niemand hatte ihn gesehen. Die einzige Möglichkeit war – er mußte mit
Fuad mitgefahren sein. Die Mutter saß dabei, die Tränen rannen über ihr
Gesicht.
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„Zur Strafe wirst du die nächsten Stunden im Kartoffelkeller verbringen,
da kannst du ohne Abendbrot nachdenken, welchen Kummer du deinen
Eltern bereitet hast.“ In den Kartoffelkeller? Dorthin fiel kein Schimmer
von Licht, beim Betreten liefen die Mäuse wild durcheinander. Obwohl
ihn die Miene des Vaters und die Tränen der Mutter so sehr schmerzten,
daß es ihm körperlich weh tat, vergoß er keine Träne. Doch dann, in
schrecklicher Angst in dem finsteren Keller, liefen ihm lautlos die salzigen Tropfen über die Wangen.
Dort saß er nun, voller Angst man würde ihn vergessen, fürchtete hier
unten sterben zu müssen, weil sich niemand an ihn erinnerte. Nach endlos langer Zeit hörte er den Hund vor der Kellertür jaulen und schöpfte
Hoffnung, es werde doch jemand kommen. Das Jaulen verstummte, die
Kellertür wurde geöffnet. Die Mutter holte ihn heraus. „Ist es schon morgen“ fragte er. „Natürlich nicht, du warst weniger als eine Stunde da unten“. Abendbrot gab es nicht für ihn, doch er spürte keinen Hunger. Der
Schock über diese erste Bestrafung seines Lebens war zu groß. Dieses Ereignis vergaß Garip nie, noch im Greisenalter erzählte er von der Angst,
die er als Kind im Kartoffelkeller ausgestanden hatte.
Im Herbst 1929 erreichten die Gerüchte von Stalins Repressalien auch
die entlegenen Gebiete Baschkiriens. Obwohl Stalin erst danach, am 17.
Dezember desselben Jahres den Übergang zur Politik der „Liquidierung
des Kulakentums als Klasse“ verkündete, wurde sie schon lange davor
praktiziert.
Die Tataren hatten sich Jahrhunderte lang als hilf- und verteidigungslose
Sklaven innerhalb des Zarenreiches gefühlt. Die Oktoberrevolution 1917
wurde als Aufbruch in eine neue Zeit begrüßt. Lenin hatte die „Deklaration über das Recht der Völker der Sowjetunion zur Selbstbestimmung“
verkündet. Nun erwarteten sie, es könnte alles anders, alles besser werden. Auf diese Deklaration gestützt, riefen im Jahr 1918 Tataren und
Baschkiren den gemeinsamen Staat „Idel-Ural“ aus, und erwarteten, ihre
Angelegenheiten nun frei gestalten zu können.
Die Hoffnung wurde jäh begraben, als Stalin – in seiner Eigenschaft als
Kommissar für Nationalitätenfragen - entgegen Lenins Ankündigung,
große Teile der von Nichtrussen bewohnten Gebiete willkürlich in acht
Autonome Republiken teilte. Von Selbstbestimmung war keine Rede
mehr.
1919 wurde die baschkirische Autonome Republik gegründet, einerseits
um die Baschkiren von den „Weißen“ (vom Ausland unterstützte „Weiße
Armee“ , die aus Teilen des alten zaristischen Militärs und Freiwilligen
bestand) zu separieren, aber auch um die weniger aufmüpfigen Baschkiren von den rebellischen Tataren zu trennen, die beide für die Gründung
eines Tatar-Baschkirischen Staates eintraten, den Pan-Turkic IdelUralstaat. Die Grenze zwischen den beiden Autonomen Gebieten wurde
willkürlich gezogen, ohne Rücksicht auf angestammte Siedlungsgebiete
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und Eigentumsverhältnisse. Danach war Tatarstan zu mehr als der Hälfte
von Nichttataren und Russischsprachigen bewohnt, Baschkirien beherbergte eine Majorität von Tataren, die nächstgrößere Gruppe war russischsprachig, die Titularnation Minderheit im eigenen Land.
Bald darauf wurden Bauernwirtschaften zu Kolchosen zusammengefaßt.
In den muslimischen Ländern verfolgte die Kollektivierung noch ein anderes Ziel: die Zerschlagung oder zumindest Lockerung der Sippen- und
Stammesloyalität, die hier das Bewußtsein der Menschen wesentlich
stärker bestimmte als die Zugehörigkeit zu einer Nation, am wenigsten
zum Sowjetstaat. Bauern, die sich weigerten, in die Kolchose einzutreten,
wurden enteignet. Der Begriff „Kulak“ wandelte sich bald von einem sozialen zu einem politischen. Niemand war sicher, nicht als Kulak eingestuft zu werden. Die Aktion nahmen die Sowjets zum Anlaß, alle mißliebigen Personen als Kulaken zu diffamieren, die ihrer Meinung nach das
System bedrohten. Darunter Intellektuelle, selbständige Kaufleute, Geistliche, aber auch Personen, die lediglich Briefkontakt mit geflohenen Anhängern der „Weißen“ in der Türkei und China hatten.
Kulaken wurden in drei Kategorien eingeteilt, in jene der ersten wurden
Familien getrennt deportiert, der Vater erschossen oder ins Gefängnis
gebracht, in der zweiten Kategorie alle Familienmitglieder in weit entlegene Gebiete umgesiedelt, dort ohne Unterkunft oder Einkommensmöglichkeit zurück gelassen.
Garips Familie wurde offenbar zur dritten Kategorie der Kulaken gezählt. Ihr blieb die Deportation erspart, allerdings wurde sie von Haus
und Hof verjagt, ohne daß ihr eine andere Bleibe zugewiesen worden wäre.
In einer kalten Spätsommernacht des Jahres 1929 ereilte die Familie Sultanow das befürchtete Schicksal, an das Nigmetulla nicht hatte glauben
wollen. Das Haus lag im Dunklen und alle Bewohner schliefen, als unter
Geschrei und lautstarken Drohungen Einlaß begehrt wurde. Im Schein
der Petroleumlampe stand Nigmetulla zahlreichen Rotgardisten gegenüber. Mit vorgehaltener Waffe wurde er gezwungen, sich anzukleiden,
und mitsamt seiner Familie das Haus innerhalb einer halben Stunde zu
verlassen. Das Kulaken Gesindel dürfe nur einige Sachen des persönlichen Bedarfs mitnehmen, etwas Proviant, keine Wertgegenstände, kein
Geld, so die Bedingung. Die Rotgardisten Brigade bestand ausschließlich
aus Russen; Tataren oder Baschkiren waren nicht unter ihnen.
Die Familie war in den letzten Jahren auf 6 Personen angewachsen, einen kleinen Bruder hatte Garip bekommen, die Töchter im Volksschulalter, Garip 6 Jahre alt, ein Dreijähriger, ein weiteres Kind war unterwegs.
Mit zitternden Händen weckte die Mutter die schlaftrunkenen Kinder,
hieß sie sich ankleiden, nahm den Kleinsten an sich, während der Vater,
äußerlich ruhig, Kleidung für die Kinder, Fladenbrot und Dörrfleisch zusammenpackte. Während dessen rissen die Soldaten auf der Suche nach
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Geld und Wertgegenständen alle Schränke und Laden auf, diese Minuten
der Unaufmerksamkeit nutzte der Vater um einige Geldscheine in seinem
Stiefel zu verstecken. Keine Minute zu früh, er wurde zur Eile angetrieben, mit dem Gewehrkolben nachgeholfen. Inzwischen hatten die räuberischen Horden im Dienste des Sowjetstaates alles an sich gerissen, was
im Hause wertvoll schien, das vorhandene Bargeld an sich genommen.
Zur sicheren Aufbewahrung verschwand es in ihren Taschen. Frau und
Kinder wurden erbarmungslos in die kalte Dunkelheit nach draußen gejagt, Türen zu Haus und Hof versiegelt. Die Frage nach wohin, nach einer
anderen Bleibe wurde mit höhnischem Lachen beantwortet.
In der Nähe des Sultanow´schen Anwesens befand sich eine windschiefe
Holzhütte, Heubevorratung für den bevorstehenden Winter. Auch eine
kleine Droschke zu dessen Transport war untergestellt. Ein Geschenk des
Himmels. Der Wagen wurde mit den wenigen Habseligkeiten beladen,
die verschlafenen Kinder darauf gesetzt und festgebunden. Vater und
Mutter spannten sich selbst davor und verließen den Ort in dem Nigmetulla geboren und aufgewachsen, seine Heimat, in der seine Vorfahren
seit Jahrhunderten gelebt hatten und jeder Stein Freud und Leid der
Familie atmete.
Über das Wohin, wurde nicht gesprochen, es blieb nur die Richtung zum
Fluß. Jenseits des Flusses Agidel, am Rande des Dorfes Verchotorsk, einer kleinen tatarischen Siedlung mit 460 Einwohnern, besaß der Großvater Sultanow ausgedehnte Sonnenblumenfelder. Dort wurde Öl hergestellt, im ganzen südlichen Teil des Landes verkauft.
Der Weg zum Fluß wollte kein Ende zu nehmen, die Last der Droschke
wurde mit zunehmender Wegstrecke schwerer. Als der Morgen graute,
kletterten die beiden Mädchen vom Wagen, schoben mit an, um den Eltern die Last zu erleichtern. Sofort gesellte sich auch der sechsjährige Garip dazu. Mit vereinten Kräften ging es tatsächlich etwas rascher vorwärts, dem Flußufer zu. Das Geräusch der anschlagenden Wellen klang
den verängstigten Kindern wie Musik in den Ohren, die ersten Sonnenstrahlen im schmutzig grauen Fluß als Fingerzeig der entronnenen Gefahr. Keine unbekannten Geräusche durchbrachen die Stille, man war
ihnen nicht gefolgt.
Die Zille, der flache Transportkahn, schaukelte im Rhythmus des Flusses,
Frösche quakten, Vögel holten sich im Sturzflug ihr Frühstück. Eine beruhigende Stille lag über der Landschaft, als wäre nichts geschehen. Eine
Brücke gab es nicht, die einzige Transportmöglichkeit über den Fluß war
der Kahn. Er lag bereit, um Waren und Menschen auf das andere Ufer
über zusetzen. Zurück blieb die Kalesche als einzige Zeugin der Tragödie.
Die Fahrt dauerte lange, viel länger, als alle in Gerinnung hatten. Frühstückszeit war längst vorüber, die Kinder klagten über Hunger und Durst,
als sie am jenseitigen Ufer anlegten. Sobald das wenige Hab und Gut ins
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Trockene gebracht war, machte sich Nigmetulla auf, um nach Hilfe zu
suchen.
In Verchotorsk hofften sie im Hause des Großvaters Sultanow unterzukommen. Doch dort der nächste Schock. Nigmetullas Vater war kurz zuvor nach Sibirien deportiert worden, erfuhren sie. Seine ehemaligen
Lohnarbeiter hatten das Haus für sich beschlagnahmt, zeigten sich wenig
erfreut über den Zuzug, wagten aber nicht die Familie ihres vormaligen
Dienstgebers wegzuweisen. Zusammengepfercht in dem einzigen noch
unbewohnten Raum, doch glücklich, vorerst ein Dach über dem Kopf zu
haben, ruhten Eltern und Kinder nach dem Schreck und den Strapazen
vorerst aus.
Am nächsten Morgen war die kurzfristig euphorische Stimmung einer
tiefen Niedergeschlagenheit gewichen. Daß sie hier nicht würden bleiben
können war klar, ohne Verdienstmöglichkeit, mit dem wenigen Geld, das
hatte gerettet werden können. Nigmetulla mußte versuchen, im Ort noch
einmal nach Hilfe zu suchen. Länger als eine halbe Stunde im Umkreis
wagte er nicht sich zu entfernen, seine Familie ohne Schutz zurückzulassen.
Die darauffolgende Nacht brachte nur wenig Erholung. Der Dreijährige
war quengelig, verstand nicht, warum er nicht auf seinem bequemen Lager mit seinem Welpen im Arm schlafen durfte. Die größeren Kinder waren erstaunlich diszipliniert, litten aber sehr unter der Enge, Vater und
Mutter unter der aussichtslosen Situation. Wie lange konnten sie hier
bleiben? Die Abneigung der neuen Hausbesitzer war nicht zu übersehen.
Die Antwort erhielten sie bald darauf, offenbar war innerhalb der Hausgemeinschaft beraten worden, wie man die ungeliebten neuen Bewohner
wieder loswerden könnte. Eines Morgens erschien der im Nebenraum
wohnende Russe, forderte die Familie auf, das Haus wieder zu verlassen.
Wenn das nicht innerhalb des Tages geschehe würde man die Miliz zu
Hilfe rufen. Voller Angst, ihrem Ehemann Nigmetulla könnte es ebenso
ergehen wie seinem Vater, drängte die Mutter darauf, das Haus wieder
zu verlassen. Doch wohin? Es fand sich ein zweirädriger Karren, die wenigen Habseligkeiten waren rasch verstaut.
Ziellos wanderte die Familie umher, als die Dämmerung einfiel, waren
sie am Fluß Agidel angelangt. Wieder zurück nach Dzirgan? Das war zu
gefährlich. Mangels anderen Auswegs begannen Eltern und die größeren
Kinder Erdlöcher zu graben, um darin zu übernachten. Abgedeckt mit
Ästen und Laub zum Schutz vor nächtlicher Kälte und Tieren.
Eine Unterkunftsmöglichkeit die in vielen russisch bewohnten Dörfern
der damaligen Zeit nicht unüblich war, nicht aber in tatarischen oder
baschkirischen Ansiedlungen. In der Stalin-Ära „bewohnten“ zahlreiche
Menschen diese Art von Unterkunft, sie hatten keine andere Möglichkeit
im Staat der Arbeiter und Bauern.
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Die Tage rannen dahin, ohne Aussicht auf Änderung. Der Vater wagte es
allein, mehrmals über den Fluß zu setzen, um aus dem Haus in Dzirgan
allerlei Gebrauchsgegenstände, Kleider für die Kinder, Decken zum
Schutz gegen Kälte zu holen. Doch das Haus war nahezu leer, geplündert
von den Funktionären der Miliz. Doch auch das wenige, das die Plünderer verschmäht hatten, war in dieser Situation besser als nichts. Doch
auch dieses Haus war sehr bald von fremden Leuten in Besitz genommen, Ukrainer, die bisher behelfsmäßig gewohnt hatten, freuten sich
über die komfortable Unterkunft. Eine Rückkehr war danach nicht mehr
möglich und zu gefährlich. Die neuen Bewohner drohten die Miliz zu verständigen.
Die einzige Möglichkeit, die blieb war, in der Anonymität unterzutauchen. Irgendwohin, wo niemand die Familie kannte. Zu dieser Zeit zogen
viele Vertriebene umher oder auch Russen, die nach leer stehenden Häusern suchten. Die nächst größere Stadt war Ishimbai mit etwa 40.000
Einwohnern. Dort kannte nicht jeder Jeden. Doch wie dahin kommen?
Verzweifelt suchte Nigmetulla nach einem Ausweg. Es blieb nichts anderes übrig, er mußte auf den Markt, vielleicht fand er dort Hilfe bei Angehörigen seines eigenen Volkes oder bei Baschkiren.
Es war Mittag geworden, als der verzweifelte Mann auf dem Marktplatz
auftauchte. Gerade noch rechtzeitig, um zwei Tataren, die eben ihren
Stand zusammenpackten, noch anzutreffen. Jeder von ihnen benützte
einen zweiräderigen Karren für den Transport ihrer Erzeugnisse. Als sie
von der verzweifelten Lage ihres Landsmannes hörten, gab es kein langes
Überlegen: die verbliebenen Waren wurden auf einen Karren gepackt,
den leer geräumten mit verschiedenen Früchten und sonstigen Lebensmitteln übergaben sie Nigmetulla, um lautstark in russischer Sprache zu
schimpfen – damit es die Umstehenden ja hörten – er möge schneller
arbeiten, als bisher. Andernfalls würden sie einen anderen Lohnarbeiter
nehmen!
Ishimbai war etwa 40 Kilometer entfernt. Es würde eine lange Wanderung werden. Doch wenigstens hatten sie zu essen, am Dorfbrunnen
konnten sie noch einige Wasserflaschen füllen. Als die Dämmerung hereinbrach, machten sie sich auf den Weg.
Endlich, am späten Nachmittag des darauffolgenden Tage winkte von
weitem die glitzernde weiße Kuppel der Moschee von Ishimbai, umgeben
von hohen Gebäuden, deren Dächer im Licht der tiefstehenden Sonne
schimmerten. Daneben das hoch aufragende Minarett.
Trotz der Müdigkeit- großes Staunen der Kinder. Häuser, Häuser, aneinandergereiht wie eine Perlenschnur, eines wie das andere, manche mit
mehreren Stockwerken, viel höher als ihr schönes Wohnhaus in Dzirgan.
Weißes gestrichenes Mauerwerk, nicht Holz oder Lehm, wie im Dorf - für
die Kinder wie in „Tausend und eine Nacht“. Menschen auf den Straßen,
so viele wie im Dorf nur an Festtagen. Wagen, die mit Geknatter unter
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Ausstoßung schwarzen Rußes von allein fuhren, ohne von einem Esel oder Pferd gezogen zu werden. Garip lief hinter einem her, um zu sehen,
wer da anschob. Doch auch Eselskarren und gewohnte Pferdefuhrwerke.
Der Bub stand da, mit offenem Mund, bis ihn die große Schwester am
Ärmel weiter zog.
Inzwischen berieten die Eltern. Wohin konnten sie sich wenden? Wo Unterkunft finden für die Nacht? In der Stadt lebten Russen, Usbeken,
Baschkiren und Tataren. Unschwer fanden sie das tatarische Viertel.
Doch sie fanden kein bekanntes Gesicht darunter, und nach Freunden zu
fragen, wagten sie nicht.
Am Straßenrand wurden Schaschlik Spieße angeboten, Pilmeni über dem
Feuer gekocht, verschiedene süße Köstlichkeiten, die die Kinder schon
einige Tage entbehrt hatten. Hier konnten sie sich laben und etwas erholen von den Strapazen der vergangenen Tage. Die Stimmung hob sich –
doch danach?
Als die Dämmerung einfiel, wußten sie noch immer nicht, wohin. Ziellos
ging es langsam weiter, der sinkenden Sonne entgegen, als sie unvermutet am Flußufer standen. Der Agidel – ihr Fluß. Heller Sand breitete sich
am flachen Ufer aus. Das Vogelgezwitscher klang gedämpft, die meisten
Flattermänner hatten sich schon zur Ruhe begeben, nur die Frösche veranstalteten ihr Abendkonzert. Keine Menschenseele in der Nähe, das
Plätschern der ankommenden Wellen wirkte beruhigend. Die Kinder ließen sich in den warmen Sand fallen und erklärten hier bleiben zu wollen.
Sie wollten nicht weiter.
Doch wo schlafen, wie sich nachts vor Kälte und Tieren schützen? Wieder
blieb nur der Ausweg der Erdhöhlen. Hier vertrieb sie niemand, sie waren vor der Miliz sicher, die hier nicht nach Kulaken suchte.
Unter Anleitung des Vaters kam diese Unterkunft erstaunlich schnell zustande, sie hatten ja bereits Übung. Waschen konnte man sich notdürftig
im Fluß. Auch das Wasser schien sauber genug, um es zu trinken. Fische
gab es reichlich, am Spieß gebraten schmeckten sie köstlich, ließen kaum
Hunger aufkommen. Doch wie lange, und wie weiter? Die Jahreszeit ging
langsam auf den Winter zu, die beiden Mädchen mußten zur Schule, das
wenige Geld wurde immer knapper, ohne Verdienst des Vaters waren alle
dem Hunger- und Kältetod ausgesetzt.
Mit sorgenvollem Gesicht streifte Nigmetulla durch die Stadt. Die Tage
vergingen, ohne Lösung in Sicht. Innerhalb von sieben Tagen war es
Nigmetulla nur zweimal gelungen, als Markthelfer eine kleine Summe zu
verdienen.
Verzweifelt ließ er auf einen Baumstumpf nieder, den Kopf in die Hände
gestützt. Ein näherkommendes Pferdegetrappel wurde langsamer – dann
Stille. Als er den Kopf hob, eine Frage: Nigmetulla, Nigmetulla Sultanow?
Vor ihm stand Fanis, ein Baschkire, ehemaliger Lohnarbeiter, der ihn auf
seinen Geschäftsreisen über die Lande begleitet, sich vor längerer Zeit
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anders orientiert hatte. Was machst du da, dessen erste Frage und erstaunt taktvolle Blicke, ob des ungepflegten Aussehens seines ehemaligen
Brotgebers.
Die Situation war rasch erklärt. Fanis hatte die Zeichen der Zeit erkannt,
war aus opportunistischen Gründen Kommunist geworden. Anders würde er als teilweise selbständiger Unternehmer nicht überleben können.
Schon gar nicht als Baschkire. Ende der 20iger Jahre hatte man in dieser
Gegend Erdöl gefunden, langsam entwickelte sich die Rohölförderung.
Da die Stadt nur knapp 40.000 Einwohner zählte, wurden Arbeitskräfte
gesucht. Nun arbeitete Fanis als Transportunternehmer, beförderte allerlei Werkzeuge und Rohre und beschäftigte einige Mitarbeiter. Bei dem
Arbeitskräftemangel waren sogar ehemalige Kulaken willkommen. Einen
Kutscher zum Transport der Geräte konnte er gut gebrauchen. Damit
hatte Nigmetulla eine Arbeitsstelle und der Hungertod war fürs erste abgewendet.
Fanis bewohnte das ehemalige Haus eines Russen, der als Kulak deportiert worden war. Dort wurde bei Pfefferminztee und allerlei Gebäck sogleich die nächste Zukunft der Sultanows besprochen. Fanis war etwas
verlegen, weil er, der aus einfachsten Verhältnissen stammende, wenig
gebildete Mann, nun seinen ehemaligen Chef als Untergebenen haben
würde. Auch eine Bleibe für die Familie stellte er in Aussicht, wenn auch
nicht gleich verfügbar. Im Haus eines anderen Deportierten würde in
Kürze eine Hälfte frei werden. Eine Haushälfte bewohnte bereits eine
ebenfalls tatarische Familie, mit ähnlichem Hintergrund wie die Sultanows.
Das Aufatmen der Familie war beinahe hörbar, als die angekündigte Unterkunft frei wurde. Ein großes Zimmer, in der alle Platz fanden, der angrenzende zweite Raum, etwas größer, war in der kalten Jahreszeit als
Unterstand für Tiere genutzt worden. Jetzt stand an der linken Vorderseite ein großer Schlitten, Transportgerät im Winter, allerlei Gewürzstauden zum Trocknen an einer Raufe, verschiedenes Werkzeug lag herum, an der Rückseite war Brennholz aufgeschichtet. Eine Treppe in diesem Raum führte zu einer Erhöhung, auf der offenbar Menschen im Winter geschlafen hatten, um von den Tieren getrennt zu sein.
Die Eltern machten notdürftig das erste Zimmer sauber, die großen
Schwestern halfen dabei. Aus den mitgebrachten Decken wurde die
Ofenbank als Schlafplatz für die Kinder vorbereitet.
Am nächsten Morgen lachte die Sonne vom Himmel, waschen in einer
Schüssel, keine Lieblingsbeschäftigung Garips. Die Luft ließ den kommenden Winter ahnen, doch so tun, als ob sich zu waschen, ging nicht.
Die älteste Schwester paßte auf, „auch Ohren seien schmutzig“, meinte
sie. Schon im Morgengrauen hatte die Mutter Wasser geholt. Die Kleider
waren seit der Flucht nicht gewechselt worden, sie hatten damit in der
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Erdhöhle und auf dem Boden geschlafen. Nun hing alles im Hof auf einem Strick, die Sonne würde in einigen Stunden alles getrocknet haben.
Garip fand Zeit, nachzudenken. Schon lange hatte er ein eigenes Pferd
besessen. Schon im Alter von vier Jahren den alljährlichen Ritt der Kinder gewonnen. 30 km war die Strecke lang, zwei Erwachsene begleiteten
jeweils die wilde Horde, für alle Fälle. Doch nie passierte etwas. Auch mit
5 Jahren war er wieder der erste gewesen.
Doch nun, kein Pferd, kein eigenes Zimmer mehr, kein Garten in dem
man Fußball spielen konnte, kein Vorratskeller zum Verstecken. Auch
keine Freunde. Einsam und allein saß er in der Nähe des Toilettenhäuschens auf einem Baumstumpf, ein unbekanntes Ziehen in der Brust. War
er schlimm gewesen, war er vielleicht schuld daran, daß sie nicht mehr
nach Hause durften? Am liebsten hätte er geweint, doch das tun nur
Mädchen. Doch der Druck in der Brust, der wollte nicht weichen.
So traf ihn der Vater an, der ahnte, wie es in seinem ältesten Sohn aussah, auch wenn er nicht darüber sprach. Über Gefühle zu sprechen war
nicht üblich, schon gar nicht zwischen Vater und Sohn. Um das Kind abzulenken, sprach er davon, daß auch Garip bald zur Schule gehen würde.
Im Jahre 1930 standen in Baschkirien neben russischen vor allem tatarische Schulen zur Wahl. Anfangs wurden baschkirische zusammen mit
tatarischen Kindern unterrichtet, weil baschkirisch keine eigene Schriftsprache hatte, die beiden Sprachen einander sehr ähnlich, der Unterschied marginal. Erst als das baschkirische Alphabet eingeführt wurde,
wurden die Klassen getrennt unterrichtet.
Der Unterricht begann um acht, dauerte bis fünfzehn Uhr. Gegessen
wurde Mitgebrachtes. Schon am Aussehen der Kinder war zu erkennen,
wer aus kommunistischen, und wer aus traditionellen Familien stammte.
Erstere waren angemessen gekleidet und gut ernährt, letztere, zu ihnen
zählte Garip, trugen die ganze Woche dieselben Kleider, saßen mittags
etwas abseits, weil sie sich schämten, nur trockenes Brot zu essen.
Manchmal schwenkten die kommunistischen Abkömmlinge Wurst und
Käse vor der Nase der anderen, wollten provozieren, um sie um Kostproben betteln zu sehen. Der Ehrbegriff der Tataren war schon unter Kindern stark ausgeprägt, bei kommunistischen Kindern zu betteln, das fiel
niemand ein.
Im Grundschullehrplan bestand zu einem Drittel des Stoffes aus Verhaltensvorschriften. „Der Schüler soll gut lernen sich dabei LENIN und
STALIN zum Vorbild nehmen….wozu auch gehört, die eigenen Fehler
und die der Kameraden „kühn aufzudecken“. Da die Sportstunden zugunsten mathematisch-technischer Fächer reduziert worden waren,
wurden die Schüler zu einer zehnmüntigen Morgengymnastik angehalten, nachdem sie bereits zuhause hätten Frühgymnastik betreiben und
sich erst danach waschen und anziehen sollten. Durchgängiger Zweck
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des Sportunterrichtes war die Vorbereitung auf Arbeit und Verteidigung.
Die militärische Komponente wurde damit eingeführt, daß die Kinder
von der Grundschule an in sogenannten Ordnungsübungen die Anfangsgründe des Exerzierens lernten, in der Mittelschule kamen u.a. Spiele mit
Angriff und Verteidigung wie „Hände weg von der UdSSR“ hinzu. Ab
1933 erhielt der Sportunterricht mehr und mehr paramilitärischen Charakter, z.B. Exerzieren nach dem Reglement der Roten Armee. Das Werfen erfolgte mit (erleichterter) Granate, Laufen sollten die Schüler in gebückter Haltung, über Zäune bis 2,50 Höhe klettern und seitlich mit einem Stock kriechen, was wohl ein Gewehr ersetzen sollte. Die Schüler
der Oberstufe trugen Patronenkästen bis zu 32 kg oder sich gegenseitig,
was wohl dem Verwundetentransport entsprach.
Die Beeinflussung der Heranwachsenden durch den Schulunterricht und
Jugendorganisationen war wohl in allen Diktaturen ähnlich. Unvoreingenommene kindliche Geister waren leicht im Sinne Stalins zu manipulieren. Vor allem dann, wenn, wie in der Sowjetunion, eine andere Meinung in der Familie schon aus Gründen der eigenen und der Sicherheit
der Familie vermieden wurde.
So war auch Garip als Zehnjähriger begeisterter Fußballspieler, liebte die
Leichtathletik, war Mitglied einer Volkstanzgruppe und verband diese
Aktivitäten mit den Vorteilen des Systems, so lange, bis er begriff, was
seiner Familie angetan worden war. Ein vergleichbares Verhalten wie bei
den Jugendlichen in Hitlerdeutschland, auch sie waren begeistert von
den Aktivitäten, die ihrer Generation geboten wurde und der – angeblichen – Wertschätzung die ihnen als die „Zukunft Deutschlands“ entgegengebracht wurde.
Die Tätigkeit des Vaters auf dem Niveau eines ungelernten Arbeiters
schützte die Familie vor Hunger, doch satt essen konnten sie sich nur selten. Die Arbeit war physisch sehr anstrengend, der Lohn gering, es
reichte gerade zum Allernötigsten. Inzwischen war die Familie wieder
gewachsen. Ein neuer kleiner Bruder, Abdulchaj, war angekommen.
Fünf Kinder und die Eltern lebten in einem Zimmer, das zweite war nicht
zu heizen. Die Temperaturen fielen im Winter häufig unter minus zwanzig Grad, der Schnee lag manchmal meterhoch. Zu dieser Jahreszeit gelangte Garip nur auf Skiern zur Schule, Fußlappen in den abgetragenen
Schuhen verhinderten Frostschäden an den Füßen. Manchmal war es
noch, manchmal schon wieder dunkel wenn er sich auf den Weg machte.
Dann klang das Heulen der Wölfe ganz nah, vor allem aber wenn er nach
der Schule in den Wald mußte, um als Ältester für Brennholz zu sorgen.
Ein fester Stock, der am vorderen Ende in einer Gabel endete, und große
Angst begleiteten in stets. Den Stock sollte er angreifenden Wölfen in die
Augen stoßen, hatte ihm der Vater aufgetragen.
Auch einen anderen Rat des Vaters befolgte Garip vom ersten Schultag
an: „Du mußt einer der Besten sein, um studieren zu können, vielleicht
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bekommst du auch als Sohn eines Kulaken ein Stipendium“. Er wollte
alles tun, um seiner Familie wieder ein besseres Leben zu ermöglichen
und fühlte die Verantwortung als ältester Sohn für die jüngeren Geschwister. Diese von frühester Kindheit anerzogene Disziplin und Verantwortung für Familienangehörige prägte sein ganzes Leben bis ins
Greisenalter. Aus dieser Verantwortung entließ er sich später auch dann
nicht, wenn sie eine Person betraf, deren Verhalten eher Härte verlangt
hätte, um eine Änderung herbei zu führen.
Ab der dritten Grundschulklasse war Russisch Pflichtfach. Auch in dem
ungeliebten Fach schrieb er gute Noten. Wenn auch mit geringer Begeisterung, war diese Sprache doch Synonym für Menschen, die das Unglück
über seine Familie gebracht hatten. Doch Sport - Fußball, Leichtathletik
– Laufen, Hochsprung, Weitsprung – das war seine Welt. In der 5. Klasse
stand eine zweite Fremdsprache zur Wahl: deutsch oder französisch. Garip entschied sich für deutsch, nicht zuletzt wegen der attraktiven wolgadeutschen Lehrerin.
1933 war die Familie noch einmal gewachsen, ein dritter Bruder, Fanis,
war geboren worden, eine weitere finanzielle und räumliche Belastung
für die nun achtköpfige Familie. Trotz dieser armseligen Lebensumstände war die Atmosphäre innerhalb der Familie, wie sie immer gewesen.
Abends saßen alle zusammen, berichteten beim Schein der Petroleumlampe über ihren Tagesablauf, der von den Eltern liebevoll kommentiert
wurde. Kommentare, die ohne erhobenen Zeigefinger die Kinder Toleranz, Rücksicht und gute Manieren lehrte. Erziehungsmaßnahmen, die
die Mutter selbst in ihrer adeligen Familie erfahren hatte, sie brachte
gleichzeitig den Söhnen Achtung und Respekt gegenüber Frauen bei, die
Garip lebenslang praktizierte.
1940 traf ihn jäh und unerwartet der schrecklichste Schlag seines jungen
Lebens. Die gütige vielgeliebte Mutter, deren besondere Zuneigung ihrem erstgeborenen Sohn galt, wurde krank. Die Krankheit dauerte nur
kurz, sie wurde immer schwächer. Einen Arzt konnten sie sich nicht leisten. Ursache war vermutlich eine Krebserkrankung, Genaues stellte niemand fest.
Danach war nichts mehr wie vorher, die älteste Schwester, damals jung
verheiratet in Usbekistan, kam zurück, um die Familie mit den noch
kleinen Kindern zu versorgen.
Noch viele Jahre vermißte Garip schmerzlich die Mutter. War er spätabends nach Hause gekommen, nach Probeabenden vom Volkstanz oder
Theateraufführungen, immer hatte sie, bei Wind und Wetter auf der
obersten Stufe vor dem Haus auf ihn gewartet. Eine warme Suppe oder
Pilmeni – seine Lieblingsspeise – eine späte Mahlzeit war immer bereit.
Dabei wurde die Zeit für ein gutes Gespräch genützt, über seine Pläne,
Hoffnungen und Möglichkeiten der Verwirklichung. Diese liebevolle gütige Frau gab es nicht mehr.
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Trotz des sowjetischen Unterdrückungsstaates war Garips Begeisterung
für die paramilitärisch ausgerichtete schulische Erziehung nicht gebremst worden. Garips Jugend ähnelte den meisten anderen Schicksalen
seiner Generation: Die Eltern vermieden es, ihre Kinder dadurch in Gefahr zu bringen, daß sie zuhause über Repressalien der Sowjets und deren Politik diskutierten. Weder durch mehr Aufklärung noch durch systemfeindliche Äußerungen.
Die heranwachsende Jugend nach der Russischen Revolution 1917 kannte keine andere Gesellschaftsform als jene Stalins, die als die beste mögliche gepriesen wurde. Die überzeugende Propaganda stellte die Verhältnisse in der westlichen Welt als viel schlechter dar als jene im eigenen
Land. Die jungen Leute, die kein anderes System kannten, glaubten dies
auch. Die gleiche Methode die auch Hitler anwandte, um die Jugend für
sich zu gewinnen.
Die Geschichte ihres eigenen, des tatarischen Volkes, wurde in den Schulen verfälscht wieder gegeben, sodass die Kinder nichts über ihre eigene
historische Herkunft erfuhren. Erst mit Eintritt ins Erwachsenenalter
und entsprechender Wahrnehmung konnten sich hier wie da eigene
Meinungen bilden, eingeschränkt dadurch, daß sie von anderen Kulturen
hermetisch abgeschirmt waren. Das Bewußtsein und die Verhaltensweise
der Jugendlichen in der Sowjetunion vor 1940 muß deshalb im Kontext
des Zeitgeistes und der Indoktrination gesehen werden, in der Manipulation des kindlichen Intellekts.
Nach glänzend bestandenem Abitur, das in der Sowjetunion nach 10 Jahren erfolgte, hielt der Vater die Zeit für gekommen, dem ältesten Sohn
einiges über die Familiengeschichte zu erzählen.
Alle Mitglieder der Familie Sultanow hatten mit den Weißen sympathisiert, auch die Schwester der Mutter, Sophie Syrtlanov, geboren 1886.
Deren Mutter, die Großmutter Garips, war die Tochter des tatarischen
Gelehrten in St. Petersburg, Hüssein Feizhani, (1826-1866). Der Großvater, Sah Haidar, (geb. 1847) hatte Sophie zum Medizinstudium nach
Genf geschickt. Sie arbeitete danach beim Roten Halbmond in der zaristischen Armee und hatte Roman von Mende, (einen Onkel Dr. Gerhard
von Mendes) Arzt bzw. Augenarzt, kennengelernt und später geheiratet.1
Der Vater ermahnte ihn dann eindringlich, niemanden von dieser Verwandtschaft zu erzählen, sich den Gegebenheiten anzupassen, seine Meinung für sich zu behalten. Er sollte das Beste aus dieser Situation machen, um durch gute Leistungen in den Genuß von Bildungsvorteilen zu
kommen. Schon vor diesem Gespräch hatte ihm der Vater empfohlen,
um Aufnahme in den Komsomol, die kommunistische Jugendorganisation anzusuchen, um die Chance für ein Stipendium zu erhalten.
1
Privatarchiv Prof.Dr. Erling von Mende
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Nach angemessener Trauerzeit heiratete Nigmetulla wieder, eine Witwe,
die ihren Mann durch Deportation verloren und nie wieder etwas von
ihm gehört hatte. Sie brachte eine Tochter mit, die sich problemlos in die
Familie einlebte. Die jüngeren Kinder brauchten eine Mutter, der Mann
eine Frau, die sich um den Haushalt und die große Familie kümmerte.
Die älteste Tochter konnte nun mit gutem Gewissen wieder zu ihrem
Mann nach Usbekistan zurückkehren, um eine eigene Familie zu gründen.
2. Studium
Wie üblich in der Sowjetunion waren die Abiturienten mit einer Feier
verabschiedet worden, die Mädchen mit Schleifen im Haar. Verkleidet als
Erwachsene erschienen die 17-jährigen Burschen in schlecht geschnittenen dunklen Anzügen, Garip hatte einen Anzug von einem Freund geliehen, der ein Jahr vor ihm die Schule beendet hatte. Der Freund war
ein gutes Stück kleiner, viel schmaler in der Figur. Doch für einen eigenen Anzug fehlte das Geld. Nach wie vor arbeitete der Vater als Kutscher
für sehr geringen Lohn. Garip störte das nicht wirklich. Von klein auf gewöhnt, der am schlechtesten Gekleidete zu sein, doch im Wissen der Beste, hoffte er mit seinem Abgangszeugnis ein Stipendium für ein Studium
zu bekommen.
Trotz der Vergangenheit seines Vaters hatte man ihn als Komsomolze
akzeptiert, wohl auch auf Empfehlung der Schule. Die Mitgliedschaft in
dieser kommunistischen Jugendorganisation war Voraussetzung um zu
einem Studium zugelassen zu werden.
In Sterlitamak wurde in diesem Jahr, 1940, eine Pädagogische Akademie
zur Ausbildung tatarischer Lehrer eröffnet. Der eklatante Mangel muttersprachlicher Lehrer war nach wie vor spürbar, unter anderem auch
eine Folge der zahlreichen Deportationen und Vertreibungen, der viele
Intellektuelle zum Opfer gefallen waren.
Für diesen ersten Jahrgang standen vier Stipendien für bedürftige Schüler zur Verfügung. Die Entscheidung, an wen sie vergeben wurden, traf
eine Kommission. Einer der Kommissionmitglieder war der Bruder eines
Klassenkameraden Garips – ein Kommunist. Er stimmte nachdrücklich
für die Vergabe an Garip.
Ingenieur wollte der junge Tatar werden, doch dieser Wunsch, war vorerst nicht erfüllbar. In Sterlitamak, der vormaligen Hauptstadt Baschkiriens existierte keine technische Universität. Außerdem lehrten alle zur
Verfügung stehenden Fakultäten in russischer Sprache – keine Alternative für den überzeugten Tataren. Wenn schon nicht Technik, dann wollte
er seine Muttersprache, seine Liebe zur tatarischen Literatur und Geschichte an die nachkommende Generation weitergeben. Die einzige
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Möglichkeit war deshalb die Pädagogische Akademie, in der in tatarischer Sprache unterrichtet wurde.
Das Zimmer im Studentenheim teilte er mit drei anderen Kommilitonen,
spartanisch eingerichtet, für jeden ein Bett mit spärlich gefülltem Strohsack, auf dem die jungen Leute eher die Holzbretter spürten, als weich
gebettet zu sein. Für jeden standen ein kleiner Nachttisch für persönliche
Utensilien und ebenso ein winziger Tisch als Ablage für Studienunterlagen zur Verfügung.
Das größte Problem war die Verpflegung. Das Stipendium umfaßte den
freien Besuch der Lehranstalt, freies Wohnen und eine warme Mahlzeit
täglich. Für einen großgewachsenen Siebzehnjährigen reichte das nicht.
Der Vater konnte nichts zuschießen, dessen Einkommen schützte die
große Familie nur mit Mühe vor Hunger. Ein Ausweg bot sich, als Garip
das Angebot annahm, als Gegenwert für eine zweite Mahlzeit bei der Essensausgabe und Aufräumarbeiten zu helfen.
Das nächste große Problem war der Erwerb neuer Kleidung, die der Student dringend benötigte. Auch hier Abgelegtes von älteren Bekannten
oder in zweiter Hand Erworbenes.
Zum Wochenende, jeden Freitag, packte Garip zusammen mit einem
Kommilitonen, der ebenfalls aus Ishimbai stammte, seine wenigen Utensilien in eine Zeltplane, die er auf einen Stock gehängt über dem Rücken
trug und nach Hause wanderte. Nach Hause, das hieß etwa 26 km zu
Fuß, mit Abkürzung durch unwegsame Wälder, bei Regen, Sturm und
Kälte. Sobald die beiden das Stadtgebiet verlassen hatten, zog Garip seine
Schuhe aus, um die schon löchrigen Sohlen zu schonen. Barfuß über
Stock und Stein, im aufgeweichten Regenboden über allerlei Getier, auf
das man nicht achten konnte.2
Nach kurzem Einleben folgte rasch das zweite Semester. Garips Noten
unterschieden sich nicht wesentlich von jenen der Oberschule, er war
immer einer der Besten, doch der Inhalt des Studiums befriedigte ihn
nicht. Überall wurde gespart, was sich an ungeeigneten Räumen, überfüllten Klassenzimmern, Mangel an Geräten, Büchern und Mobiliar ausdrückte. Obwohl muttersprachliche Lehrer fehlten, wurde an deren Ausbildung wenig investiert. Auch die Lehrinhalte waren in jedem Fach
durchdrungen von kommunistischen Zielsetzungen, unverhohlener Indoktrination.
Zu Beginn des zweiten Semesters reifte ein Entschluß in Garip. Er wollte
versuchen, seinen ursprünglichen Wunsch, das Ingenieurstudium irgendwo in dem Riesenreich zu beginnen. Doch als Kulaken Sohn fand er
2 ( Sterlitamak ist etwa 25 km von Ishimbai entfernt. Der regelmäßige Wochenendbesuch nach Hause,
kein Problem für den jungen Mann. Doch ein Beleg dafür, dass das Pädagogische Institut von Sterlitamak der Studienort war und nicht wie an vielen Stellen angegeben die Stadt UFA. Ein Besuch dorthin zu Fuß am Wochenende – Entfernung 120 km von Ishimbai – wäre nicht möglich gewesen.Warum
er das gesagt hat? Möglicherweise, aber nicht zu belegen, weil in Sterlitamak eine Lehrerbildungsanstalt auf niedrigerem Niveau, als in UFA bestanden hat!?)
18
außerhalb seines Sprachraumes keine Unterstützung. Da konnten die
Noten noch so gut sein.
Doch soweit kam es nicht mehr….
3. Krieg
Die Katastrophe die sich im Sommer 1941 anbahnte, machte alle Zukunftspläne zunichte.
Sowohl in seinem Interview mit Radio Liberty vom 07.01.2010, wie auch
mit der Zeitschrift VARTAN und der tatarischen Aktivistin Fauzia Bayromowa berichtete Garip:
„Ich dachte daran, ein Metallurgie-Ingenieur zu werden. Aus der Ukraine kam ein Vertreter ans Institut, er rief die jungen Leute zur Fabrikarbeit. Im Sommer des Jahres 1941, als ich das erste Jahr des Pädagogischen Instituts beendet hatte, ging ich in die Stadt Dnjepropetrovsk. Ich
arbeitete in der Metallurgiefrabrik, aber Geld hatte ich kaum. Als ich zu
studieren begann, hatte ich den Wunsch, ins Metallurgie-Institut zu gehen und es anzusehen.“
An dieser Aussage hielt er zeitlebens fest, auch im privaten Umfeld. Tatsächlich sah sein Eintritt in die Rote Armee anders aus. Wie die Befragung durch die CIA anläßlich seines Antrages zur Emigration (vom 20.5.
1956) in die USA festhielt: 3
„Im Juli 1941 wurde ich in die Sowjetarmee eingegliedert und zum Offizierstraining nach Frolow, in der Nähe von Stalingrad geschickt. Nach
der Ausbildung zum Unterleutnant wurde ich der 272nd Infanterie Division der 36th Armee eingegliedert und sofort an die Front in die Nähe
von Charkow geschickt, wo ich gegen die Deutsche Armee zu kämpfen
hatte.“ 4
Da die reguläre Einberufung in die Rote Armee erst ab dem 19. Lebensjahr erfolgte konnte, 5 Garip Sultan im Juli 1941 noch nicht 18 Jahre alt
war, ist zu vermuten, daß diese Ausbildung auf freiwilliger Basis erfolgte,
bzw. den Komsomolzen nahegelegt wurde, sich freiwillig zu melden.
Sultan beschloß offenbar gegenüber der CIA bei der Wahrheit zu bleiben,
um nicht seine Chancen, im Hinblick auf die Übersiedlung nach den USA
zu verspielen.
Irgendwo in der Nähe von Charkow war sein erster Fronteinsatz. Die
jungen Leute hatten militärisch formatiert anzutreten, der amtierende
Politkommissar erläuterte den Grund ihres Hierseins sowie ihre Aufgabe:
Interview gegenüber CIA 1956 (Quelle:National Archives Trust Fund, NWCT-IF Room 14N-2 700.Penn Av.N.W. Washington,
D.C. 20408)
4 Ebda.
5 http://de.wikipedia.org/wiki/RoteArmee
3
19
„Die Deutschen sind bereits weit in unser Gebiet vorgedrungen, hier
werden wir sie aufhalten. Zu diesem Zweck werden wir vorerst das Unterholz bis zur Hüfthöhe lichten, Gräben anlegen, darin einen Schußtunnel nach vorn und nach der Seite anlegen. Damit haben wir einerseits
Tarnung, können von den deutschen Fliegern nicht erkannt werden und
zugleich ungehinderte Schußmöglichkeit. Zwanzig Meter dahinter graben
wir wieder Schützenlöcher, die von vorne nicht zu erkennen sind und nur
ein Schußfeld nach hinten haben. Jene Feinde, denen es gelungen sein
sollte den vorne liegenden Schußtunnel zu überwinden, die knallen wir
dann von hinten ab. Die Grabarbeiten übernehmen Häftlinge, die sich
freiwillig gemeldet hatten. Freiwillig? Garip entdeckte bei den neben
ihm Stehenden einen skeptischen Augenausdruck. Vermutlich wollten
die Häftlinge lieber in Freiheit sterben, als im Gulag zu vegetieren.
„Ihr habt die verantwortungsvolle und ehrenhafte Aufgabe, die Leute bei
der Errichtung dieser Schützengräben anzuleiten und zu überwachen“,
wurde auch dem jungen unerfahrenen Unterleutnant aufgetragen. Von
hier aus gings zu Fuß weiter, durch Gestrüpp, dichtes Unterholz, teilweise sumpfiger Unterboden. Nach gefühltem Endlos-Marsch kamen sie auf
eine Lichtung. Dort saßen und lagen auf Baumstümpfen, im Morast, auf
Steinen, geschätzte 100 ehemalige Gulag Häftlinge, ausgemergelte, dürre Gestalten in der Arbeitskleidung der Roten Armee.
Garip war für eine Gruppe von fünf Mann verantwortlich. Auch dafür,
daß niemand fliehen konnte. In seiner Gruppe waren zwei Russen, zwei
Ukrainer und ein Tatar. „Fliehen“ fragte der Tatar, als sie nach Stunden
erschöpft von der Arbeit und dem schwül heißen Sumpfwetter unbeobachtet reden konnten. „Wohin soll ich da fliehen? Den Deutschen in die
Arme, die mich abknallen oder den Unsrigen, die das auch tun“?
Von ihm erfuhr Garip in den nächsten Tagen allerlei, was nicht allgemein
bekannt war. Auch davon, daß zu Beginn des Krieges Stalin untergetaucht war, er weder in Moskau noch sonst irgendwo im Land zu hören
oder zu sehen gewesen war. Außenminister Molotow hatte den Völkern
der Sowjetunion über das Radio den deutschen Überfall verkündet. Dabei war doch Stalin seit Anfang Mai Regierungschef. „Wo ist er“, fragte
man nicht nur in Moskau? Er hatte nicht einmal die britische Militärmission am 27. Juni empfangen, die angereist war, um militärische und
wirtschaftliche Hilfe anzubieten. Gerüchte wollten nicht verstummen, er
sei geflüchtet, in die Türkei, nach Persien?
Erst am 3. Juli 1941 hatte Stalin sich über Rundfunk zu Wort gemeldet:
“Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern! Kämpfer unserer Armee
und Flotte!
An Euch wende ich mich, meine Freunde!
Der von Hitlerdeutschland am 22. Juni wortbrüchig begonnene militärische Überfall auf unsere Heimat dauert an. Trotz des heldenhaften Widerstands der Roten Armee und ungeachtet dessen, daß die besten Divi20
sionen des Feindes und die besten Einheiten seiner Luftwaffe schon zerschmettert sind und auf den Schlachtfeldern ihr Grab gefunden haben,
setzt der Feind, der neue Kräfte an die Front wirft, sein Vordringen weiter fort. Es ist den Hitlertruppen gelungen, Litauen, einen beträchtlichen
Teil Lettlands, den westlichen Teil Belo Rußlands, einen Teil der Westukraine zu besetzen. Die faschistische Luftwaffe erweitert den Tätigkeitsbereich ihrer Bombenflugzeuge und bombardiert Murmansk, Orscha, Mogilew, Smolensk, Kiew, Odessa, Sewastopol. Über unsere Heimat ist eine
ernste Gefahr heraufgezogen. ………“
Zu diesem Zeitpunkt stand die Deutsche Wehrmacht schon tief auf dem
Gebiet der Sowjetunion.
Wann immer sich der Politkommissar und mögliche Denunzianten außer
Hörweite befanden, unterhielt sich Garip mit dem Häftling aus seiner
Gruppe, Ayaz, dem Tataren aus Kasan. 1934 sei er, Mitglied der Tatarischen Deputiertenkammer verhaftet, der Agitation mit ausländischen
Kräften beschuldigt, zu zwanzig Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
Nachdem er unter Folter Taten gestanden hatte, die ihm nicht einmal
dem Namen nach bekannt waren hatte er ein „Geständnis“ unterschrieben und war damit dem sicheren Tod entgangen. Der Mann war 1910 geboren, also nur dreizehn Jahre älter als Garip, machte den Eindruck eines über Fünfzigjährigen.
Nie hatte Garip von den Zuständen in den Gulags gewußt, noch erfahren,
aus welchen „Nichtgründen“ Menschen eingesperrt und gequält wurden.
Wohl war er aus seiner eigenen Familiengeschichte sensibilisiert, stand
dem Regime ambivalent gegenüber, doch von diesen Methoden war
nichts wirklich bekannt.
Das Zeit verging rasch, immer wieder wenige Kilometer vor, dort Schützenlöcher graben, dann wieder einige Kilometer zurück, dort neu graben.
Im Oktober 1941 hatte die deutsche Wehrmacht eine weitere Offensive
gestartet, die die bisherigen Geländegewinne noch rascher vorantreiben
sollte. Doch mit Beginn der herbstlichen Schlammperiode stockte der
weitere Vormarsch. Anfang Dezember brachten Schnee und eisige Temperaturen den Angriff vollständig zum Erliegen.
Im März 1942 hatte vorerst das Frühlingstauwetter die Versuche beider
Seiten gehindert, die Kämpfe wieder aufzunehmen, sodaß erst zwischen
dem 1. und 29 Mai 1942 im Raum Charkow eine Großoffensive der Deutschen Wehrmacht hatte beginnen können. Hier erlitten die Sowjets ungeheure Verluste, die 9. Sowjetrussische Armee wurde eingeschlossen
und zum Großteil vernichtet.
Nach der erfolgten deutschen Offensive hatten die Sowjets einen Stellungskrieg erfochten, hielten – trotz enormer Verluste an Menschen und
Kriegsmaterial – eisern die Frontlinie.
Im Juni 1942 erhielt Garip den Befehl, die deutschen Truppen, die etwa
einen Kilometer entfernt am Waldesrand lagerten, auszukundschaften.
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Fünf Tage lang beobachtete er durch einen Feldstecher wie sie sich verhielten, wann sie zum Essen gingen, wann Ruhezeiten waren.
Inzwischen war Propagandamaterial eingetroffen, das so nah wie möglich an der deutschen Frontlinie verteilt werden sollte, um die Wehrmachtsoldaten zum Überlaufen zur Roten Armee zu motivieren. Rund
um die Stellung der Deutschen war das Unterholz nicht einzusehen und
im Gegensatz zur üblichen Methode nicht abgeholzt. Warum nicht, sollte
sich bald herausstellen.
Die Front der Roten Armee bestand aus drei Linien, die hinterste die 3.
war jene, in der Garip operierte. Garip, der nun aus der Beobachtung die
Verhaltensweise der Deutschen kannte, erhielt den Befehl, zusammen
mit seinen vier Untergebenen die Flugblätter mit dem Inhalt „Wir sind
Sozialisten, wir sind die Arbeiterpartei, kommt auf unsere Seite“ zu den
deutschen Linien zu bringen. Nach Robbenart wurde die zweite sowjetische Linie passiert, dann die erste – die deutschen Linien war bereits
nah, als die Gruppe durch knapp über dem Boden gespannte Drähte am
weiteren Vorwärtskommen gehindert wurden. Deshalb also der nicht gerodete Boden! Bevor Garip noch überlegen konnte, eröffneten die Deutschen das Feuer. Elektrisch geladene Drähte gaben ein Signal an die
deutsche Frontlinie, verrieten die Näherkommenden.
Schon wollte Garip den Befehl zum Rückzug geben, als auch die erste
und dann die zweite Linie der Sowjets das Feuer erwiderten. Nun lagen
die fünf jungen Leute tief in den sumpfigen Boden gepreßt, wagten nicht
sich zu rühren. Über ihre Köpfe zischten die deutschen Geschoße hinweg,
aus der gegenüberliegenden Richtung die sowjetischen. So lagen sie, bis
sie begannen, in der absoluten Dunkelheit der Neumondnacht, nach
rückwärts zu robben. Immer nur zentimeterweit, um ja keinen neuerlichen Alarm auszulösen oder von den eigenen Leuten beschossen zu werden. Als dann die Dämmerung des zweiten Tages hereinbrach, merkten
sie, daß sie sich bereits ziemlich weit von den gefährlichen Drähten entfernt hatten, wagten den Rückzug auf eigenen Füßen und gelangten am
Abend zurück zu ihrer Truppe. Allerdings nur mehr zu dritt. Zwei ihrer
Kameraden waren nicht mehr dabei. Ob erschossen, verwundet liegen
geblieben oder zum Feind übergelaufen, war nicht bekannt.
In der Division wurde die Rückkehr der längst tot Geglaubten gebührend
gewürdigt. Der Divisionskommandant ließ sich haarklein berichten, Garip wurde als Held gefeiert. Das erstaunte ihn sehr. Wieso war er ein
Held? Er hatte Angst gehabt wie nie zuvor in seinem Leben, es blieb keine andere Wahl, als zu versuchen, die Truppe wieder zu erreichen.
Danach wurde Garip als Verantwortlicher der Aktion vor angetretener
Mannschaft noch einmal belobigt, gleichzeitig kündigte der Division
Kommandant Bulatow seine Absicht an, den Helden Garip Sultan auf
Grund seiner bewiesenen Fähigkeiten in die Frunse-Militärakademie zur
Offiziersausbildung nach Moskau zu schicken.
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Der Politkommissar der Truppe war ein Tatar aus Baschkirien. Jedem
Verband der Roten Armee war ein Politkommissar zugeteilt, der die Autorität besaß, Entscheidungen des Kommandeurs aufzuheben. Seine Aufgabe war es, die politische Zuverlässigkeit der Armeeanhörigen gegenüber der Partei sicherzustellen. Der Dienstgrad der Politkommissare oder
Politruks entsprach in sämtlichen Waffengattungen dem Dienstgrad eines Oberleutnants.
Vor dem nächsten Morgenappell raunte der Politkommissar Garip in tatarischer Sprache zu: „Laß mich nur machen, ich bringe das in Ordnung“.
Offensichtlich ahnte er, wie diese „Belobigung“ bei einem Tataren ankam.
Vor versammelter Mannschaft und dem überraschten Divisionskommissär ernannte er Garip zu seinem „Stellvertreter“, brachte das Emblem roter Stern mit golden eingewebtem Hammer und Sichel - auf dessen
Uniformärmel an. Damit war die Gefahr, nach Moskau geschickt zu werden, gebannt. Der Platz für einen Politruk – wenn auch nur stellvertretenden – war an der Front, nicht in Moskau.
4. Exkurs – Historisches
Orientvölker aus der Sicht Nazideutschlands
Hitlers Ziel war es, die sowjetischen Streitkräfte zu zerschlagen, er plante im Osten „Lebensraum“ für die deutsche Bevölkerung zu schaffen,
ebenso wie die Ausbeutung der wirtschaftlichen Ressourcen der Sowjetunion zur Ausdehnung Deutschlands. Die schnellen militärischen Erfolge
in Belgien, Frankreich und Holland schienen Garant dafür, die Sowjetunion ebenso rasch zu unterjochen. Bis zum Ende des Jahres 1941 wollte
Hitler in Moskau sein.
Dies, obwohl die deutschen Militärs schon im Frühjahr 1938 in einer
Denkschrift darauf aufmerksam gemacht hatten, daß diese Politik unausweichlich zum Weltkrieg unter Beteiligung der USA führen könnte,
und daß Deutschland in dieser Auseinandersetzung unterliegen müsse,
weil es nicht über die notwendigen Mittel bzw. das notwendige Kräftepotential verfüge.
Auch später, bereits im Zuge der Planung des Rußlandfeldzuges hatte der
deutsche Generalstab seine Bedenken über unbegrenzte Feldzugsziele in
Rußland, u.a. im Hinblick auf die Nachschubprobleme vorgetragen.
Hitler in seiner grenzenlosen Paranoia setzte sich über alle diese Argumente hinweg, besessen von dem Gedanken den Widerstand der Sowjets
innerhalb von wenigen Wochen brechen zu können, und zwar noch vor
Einbruch des Winters. Zunehmend umgab er sich mit Militärs, die nicht
genug Rückgrat zeigten, ihm entgegenzutreten, oder hofften, selbst auf
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der Welle des Erfolges nach oben getragen zu werden. Doch nur zu bald
bestätigten sich die Bedenken der Generäle.
Als Stalin, noch vor der Schlacht um Moskau aus verschiedenen Quellen,
vor allem durch den Spion Richard Sorge die Information erhielt, daß
Japan die Sowjetunion nicht wie befürchtet im Osten angreifen würde,
zog er seine Truppen aus Sibirien ab und konnte die Westfront entscheidend verstärken.
Unter diesem unerwarteten Widerstand im Mittel- und Südabschnitt der
Ostfront überlegte der Deutsche Generalstab, wie der unersetzliche Verlust an Menschen und Material kompensiert werden könnte. Schon früher, aber spätestens im Frühjahr 1942 war der Entschluß gereift, die
nichtrussischen Völker der Sowjetunion für den Kampf gegen ihre Unterdrücker zu gewinnen, wiewohl Hitler anfangs dagegen war und die
Kriegsgefangenen höchstens für Hilfsdienste zulassen wollte.
Die Bevölkerung der Sowjetunion, vor allem die Minderheitenvölker hatten schwer unter dem Terror des stalinistischen Systems gelitten, durch
die Entkulakisierung, die Errichtung der Gulags, die Deportationen,
Hungersnöte, die Säuberungen innerhalb der Roten Armee und das Verbot der Religionsausübung. Kaum eine Familie war verschont geblieben.
Zu Beginn des Krieges wurde im nördlichen und mittleren Teil Rußlands
die Deutsche Wehrmacht mit Blumen als vermutete Befreier begrüßt.
Vollständige Einheiten der Roten Armee bis hin zur Regiments- und Divisionsstärke hatten sich ergeben, neben Millionen von Kriegsgefangenen.
Ukrainer, Kaukasier und Angehörige der verschiedenen Turkvölker sahen eine Chance ihrem Traum zu nationalen Autonomie näherzukommen, hofften gleichzeitig auf die Befreiung vom stalinistischen Joch. Erwartungen, die nach der Oktoberrevolution 1917 nicht erfüllt worden waren, obwohl die Bolschewiki die Selbständigkeit der Minderheitenvölker
explizit zugesagt hatten.
Der militärische Widerstand der Turkvölker hatte sich bis in die Anfänge
der 1920 er Jahre hingezogen, in manchen Gebieten Mittel- und Zentralasiens bis in die 30 er Jahre gedauert.
Ein Kampf, der heute noch in jenen Republiken andauert, die es in 1990
er Jahren nicht geschafft hatten, sich vom russischen Joch zu befreien.
Als sich der Kampf nach der Revolution 1917 als aussichtlos erwies, waren viele aktive Angehörige der Turkvölker emigriert, hatten sich in China, in der Türkei aber auch in Deutschland angesiedelt.
Anfangs hatte Hitler zwar damit gerechnet die Sowjetunion bis zum Ende
des Jahres in die Knie gezwungen zu haben, doch niemand hatte sich offenbar niemand Gedanken gemacht, was mit den vermutlich Tausenden
von Kriegsgefangenen geschehen sollte. In den ersten Monaten nach
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Kriegsbeginn ergaben sich ungeheure Massen von Sowjetsoldaten. Allein
in fünf Schlachten wurden über zwei Millionen gefangen genommen. Bis
zum 15. Oktober 1941 über drei Millionen und gegen Ende des Jahres
1941 waren es bereits vier Millionen.
Diese Menschenmassen, mit denen man nicht wußte wohin, die zusammensammengepfercht unter freiem Himmel lagerten, tagelang ohne
Wasser und Nahrung, unter unvorstellbaren sanitären Bedingungen, diese gequälten Menschen waren dem „typischen Germanen“ Goebbels eine
willkommene Theorie für die Definition des „Untermenschen“. Beeinflussungsstrategie für Militär und Zivilisten. Fotos von Rotarmisten
tauchten in Zeitungen und Propagandaplakaten auf: „So sieht der Sowjetsoldat aus“ oder „Aussehen entarteter Orientalen“ oder auch “Asiatische, mongolische Gesichter aus dem Kriegsgefangenenlager“.
War also ein Russe ein „Untermensch“, dann der Tatar oder Mongole
erst recht, die Diskriminierung war darauf ausgerichtet, die deutsche Bevölkerung zu größeren Opfern anzuspornen und gegen die schlechte Behandlung der Ostvölker zu immunisieren.
Die Kriegsgefangenen wurden in verschiedene Kategorien eingeteilt, Polen und Ukrainer für Zwangsarbeit vorgesehen, Politkommissare, Intellektuelle und Juden der physischen Vernichtung zugeführt. Dabei kam es
vor, daß Gefangene durch „Verwechslung“ in andere Gruppen gerieten.
Nicht nur Juden praktizieren die Beschneidung, sondern auch Moslems
– religiös oder nicht -. Durch diese Unkenntnis sind vor allem zu Beginn
des Krieges viele Turkestaner, Tataren und Kaukasier als vermeintliche
Juden erschossen worden.
Professor Gerhard von Mende, der als Vertreter des Ostministeriums
1941 das Kriegsgefangenenlager von Siedlice aufsuchte, erlebte dort die
Absonderung von etwa 700 Orientalen, die als „Angehörige einer minderen Nationalität“ hingerichtet werden sollten. Nur mit großer Mühe und
unter Einschaltung der Abwehr konnte Prof. von Mende dieses Massaker
verhindern. Erst als sich das Ostministeriums gemeinsam mit der Abwehr gegen die Verbrechen des Sicherheitsdienstes, des SD, wandte, der
für diese Massaker verantwortlich war, konnte die Henkertätigkeit eingeschränkt werden.
Bereits kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatten
turkstämmige Altemigranten aus der Zeit der Russischen Revolution
Kontakt mit Vertretern der Deutschen Regierung aufgenommen, aus
Sorge um ihre Landsleute in den Kriegsgefangenenlagern. Aber auch mit
der Hoffnung, mit Hilfe der Deutschen ihre Ziele verfolgen zu können,
Organisationen aufzubauen, um die Heimatregionen der Turkvölker von
der russisch-sowjetischen Herrschaft zu befreien. Diese Emigranten hatten sich in ihrer neuen Heimat Türkei, China und Europa eingelebt, waren teilweise wirtschaftlich erfolgreich, hatten aber niemals die Hoffnung
aufgegeben, in ihre angestammte Heimat zurückzukehren.
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Bereits im Juli 1941 lag dem Auswärtigen Amt in Deutschland ein Bericht
von Alimimcan Idris vor, einem Wolgatataren aus Sibirien, mit dem Titel
„Turko-Tataren in Rußland“. Idris hatte in Istanbul, Belgien und der
Schweiz im I. Weltkrieg gekämpft und war danach in seine Heimat zurückgekehrt, wurde dort aber vom sowjetischen Regime gefangen genommen. Mit Hilfe von Deutschland und der türkischen Botschaft wurde
er freigelassen und ließ sich in Deutschland nieder. Nach der Machtergreifung Hitlers arbeitete Idris im Auswärtigen Amt als wissenschaftliche
Hilfskraft und hatte in seinem Bericht auch verschiedene Emigranten
erwähnt, die sich anboten unter deutschem Schutz einen selbständigen
Staat Turkestan aufzubauen.
Hier wurden auch zum ersten Mal die Kriegsgefangenen erwähnt mit
dem Wunsch “Die Gefangenen turko-tatarischer Abstammung sollten
zwecks Information sofort nach Berlin gebracht werden.“ Dieser erste
Kontaktversuch der Emigranten wurde deutscherseits ignoriert, blieb
vorerst erfolglos, auch als der vermögende wolga-tatarische Geschäftsmann Ahmet Veli Menger materielle Hilfe über den Roten Halbmond
und Hilfe bei der Feststellung und Registrierung anbot. Er war den Deutschen nicht genehm, weil er bis zum Krieg „Vertreter englischer und jüdischer Firmen“ gewesen sei.
Doch nach Ende des ersten Kriegsjahres hatte die Wehrmacht begonnen,
in den Lagern eine Trennung der Gefangenen nach verschiedenen
„Volkstumsgruppen“ vorzunehmen. Dazu waren Sprachkundige vonnöten, einer von ihnen war Ahmet Temir, ethnischer Tatar, der 1936 als
Doktorand und türkisch- Lektor aus der Türkei nach Berlin gekommen
war.
Schon im ersten Kriegsjahr wurde er vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete gebeten, in den Lagern nach Tataren zu suchen und
darüber Berichte zu erstellen, um geeignete Kriegsgefangene für verschiedene Tätigkeiten anzuwerben. Im Sommer und im Herbst 1941 hatte er mehrere Lager für sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen
Reich besucht, darunter auch Oerbke und Bergen-Belsen als seine ersten
Stationen.
Anfang 1942 hatten dann diese Bemühungen Erfolg. Ein neuer Trend
hatte sich bemerkbar gemacht, der darauf abzielte, die „Idel-Ural-Völker“
(Tataren und Baschkiren) vor der Diffamierung als „Untermenschen“ zu
bewahren.
Unter den Kriegsgefangenen befand sich eine beträchtliche Anzahl von
Wolgatataren, die bereit waren, unter der Oberaufsicht von Wehrmachtsoffizieren verschiedene Kampfverbände – Legionen - zusammenzustellen. Deshalb wandte man sich mit dem Aufruf zur freiwilligen Teilnahme vor allem an tatarische und baschkirische Rotarmisten und versuchte sie in der Folge von der Stigmatisierung als Untermenschen, zu
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befreien. Der Eintritt in die Legion war freiwillig, weil den Deutschen
bewußt war, daß mit Zwangsrekrutierten kein Erfolg zu erzielen war.
Die Motive der Freiwilligen waren so inhomogen wie nur irgend denkbar.
Männer, die Stalins Gewaltherrschaft schmerzhaft am eigenen Leib oder
innerhalb ihrer Familie erlebt hatten, Nationalisten die für die Autonomie ihrer Nation zu kämpfen bereit waren, aber auch eine große Anzahl
jener, die unter den möglichen Alternativen - entweder in den grauenhaften Zuständen der Lager umzukommen oder das Angebot, das einer Freilassung gleichkam - die letztere wählte.
Doch wie sollte man dem deutschen Volk vermitteln, daß die fremdartig
aussehenden Tataren plötzlich Freunde und Verbündete waren? 1942/43
befaßten sich praktisch alle offiziellen Erwähnungen mit einer indirekten
„Rehabilitierung“ der Tataren, allerdings versteckt und weitgehend wirkungslos.
So kam es vor, daß sowjetisch-orientalische Freiwillige, die in der Deutschen Wehrmacht im Laufe des Krieges in verschiedenen Funktionen im
Einsatz waren, auf ihren Urlaub verzichteten, um nicht persönlichen
Kränkungen in der deutschen Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Ein Fall
eines Kaukasiers ist überliefert, der vorzeitig von einem Urlaub zur
Truppe zurückgekehrt war; er gab an, in Wien aus der Straßenbahn geworfen worden zu sein, weil ein SS-Mann erklärt hatte, er würde den
Wagen erst betreten, wenn das „Mistvieh“ ihn verlassen hätte.
Nie hat die rassistische Verfolgung wirklich aufgehört, die Propaganda
Goebbels hatte ganze Arbeit geleistet.
5. Gefangenschaft.
Zehn Tage nachdem Garip Sultan der Überstellung in die FrunseMilitärakademie entronnen war, gingen die Deutschen – bisher im Stellungskrieg - zur Offensive über. Sie überrannten die im Vorfeld der sowjetischen Linien eingegrabenen Schützenpanzer, stürmten weiter zu und
über die in Schützenlöchern versteckten Vorposten, darunter auch Garip
und vier seiner Kameraden.
Zusammen besaßen die fünf nur eine Maschinenpistole und zwei Gewehre, letztere hatten auch schon im Ersten Weltkrieg Verwendung gefunden. Angesichts der Überzahl der Deutschen, die in geschlossener
Formation heranstürmten, war der Rotarmist, der die einzige Maschinenpistole zu bedienen hatte, so geschockt, daß er es nicht wagte, zu
schießen. Deshalb hoffte Garip die Deutschen würden das Erdloch nicht
entdecken, das nur nach hinten offen war. Dies um so mehr, als die deutschen Panzer bereits vorübergefahren waren, sich bereits hinter den fünf
Rotarmisten befanden. Alle fünf duckten sich tief in den Graben hinein,
als eine Stimmer rief: „Выходи, но быстро“ (Komm raus, aber schnell!).
27
Über dem Schützenloch stand ein Deutscher, die Maschinenpistole im
Anschlag. Der Uniform nach zu schließen, ein Offizier. Garip stieg mit
erhobenen Händen als erster hinauf, die anderen hinter ihm.
„Wo sind die Minen vergraben“ auf deutsch mit dem Versuch russische
Vokabel unterzumischen. „Wir wissen nicht, wo Minen vergraben sind,
wir haben keinerlei Verbindung zu unserer Truppe“ erwiderte Garip in
fließendem Deutsch.
Was die Deutschen nicht wußten: die Nachrichtenverbindungen der Sowjets funktionierten überhaupt nicht. Manchmal waren Mitarbeiter der
operativen Verwaltung gezwungen, über das öffentliche Telefonnetz die
Dorfsowjets anzurufen, um zu erfahren, wo der Feind stand bzw. wo sich
die eigenen Truppen aufhielten. Um den vorderen Verlauf des Verteidigungsstreifens der sowjetischen Truppen oder die Einnahme von Ortschaften durch die Deutschen festzustellen, waren Dienstreisen per Flugzeug an die Front an der Tagesordnung. Ebensowenig waren die Frontstäbe über die Lage informiert, operierten teilweise völlig auf sich allein
gestellt.
Der Deutsche war so erstaunt, daß er die Waffe senkte. „Woher kannst du
Deutsch?“ „Ich habe sechs Jahre lang deutsch gelernt“. Der Deutsche rief
seine Kameraden zu sich, besprach sich kurz, um dann Garip anzuweisen, eine schwere Munitionskiste vor ihnen herzutragen. „Wir werden ja
sehen, ob du die Wahrheit sagst, wenn eine Mine hoch geht, bist du
dran“.
Nach kurzer Zeit wurden die Gefangenen einer anderen Gruppe deutscher Soldaten übergeben, die sie zu einem weiträumig umzäunten Gebiet unter freiem Himmel brachten, in dem sowjetische Kriegsgefangene
dicht an dicht standen, lagen oder saßen. Auf dem Weg dorthin riß sich
Garip in einem unbeobachteten Augenblick das Emblem des Politruks
vom Ärmel. Er kannte die Anweisung des Naziregimes hinsichtlich der
Politkommissare, und wußte, welches Schicksal er zu erwarten hatte,
falls man es entdeckte: Der Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht
der kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion am 6. Juni 1941 erlassen
worden war, lautete:
„„Politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppe sind kenntlich an besonderen Abzeichen – roter Stern mit golden eingewebtem
Hammer und Sichel auf den Ärmeln. […] Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d. h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist
notwendig, um jede Einflussmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten zu
verhindern. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der
für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie
keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“
Der Befehl sollte an die Kommandeure der Wehrmacht nur mündlich
weitergegeben werden. Daß Hitler diesen sogenannten Kommissar Be28
fehl auf Drängen seiner Generäle bereits im Juni 1942 wieder aufgehoben
hatte, war innerhalb der Roten Armee nicht bekannt, doch auch die ausführende Deutsche Wehrmacht hatte im Sommer 1942 offensichtlich
noch keine entsprechende Weisung erhalten.
Nach einer kurzen Nacht im Freien ohne Nahrung oder Wasser, hatten
die Kriegsgefangenen in jenen Gruppen anzutreten, in der sie gefangengenommen worden waren. Dann die Aufforderung: „Juden und Politkommissare vortreten“. Zögernd kamen zwei Soldaten der Aufforderung
nach und wurden sofort weggeführt. Garip stand zwischen jenen Ukrainern die in derselben Division wie er gedient hatten, sie wußten, daß er
stellvertretender Politruk war. Doch keiner von ihnen verzog eine Miene.
Niemand sagte auch nur ein Wort, niemand verriet ihn.
Nach einer weiteren Nacht im Freien, ohne Verpflegung und Wasser,
wurden sie am nächsten Morgen mit einigen hundert Gefangenen und
Überläufern aus anderen Frontabschnitten in ein anderes Durchgangslager gebracht, nach einigen Tagen wieder in ein anderes, und so weiter.
Alles kilometerweit zu Fuß, ohne Marschverpflegung, ohne Wasser. Für
einige Wochen in Charkow, dann wechselten sie noch mehrmals die
Durchgangslager, bis sie im Generalgouvernement eintrafen und zum
Lager Petrekow in Polen gebracht wurden, etwa 130 km von Warschau
entfernt.
Wenige Wochen nachdem Garip im Dulag Petrekow eingetroffen war,
erschien eine Kommission in Begleitung eines Ahmet Temir (später Doktor Temir). Er suchte Landsleute für besondere Verwendungszwecke.
Garip Sultan, der Sportbegeisterte, wollte auch in dem tristen Lagerleben
nicht auf körperliche Ertüchtigung verzichten, animierte zahlreiche Kameraden sich seinen Übungen anzuschließen, um die körperliche Fitneß
trotz der beengten Verhältnisse und der unzureichenden Ernährung aufrecht zu erhalten. Als Vorturner stand er auf einer leeren Regentonne, als
Podest, um besser gesehen zu werden, als die Kommission mit Temir eintraf.
Er fiel als einer der ersten auf, nicht nur seiner „erhöhten“ Position wegen, sondern wegen seines durchtrainierten Körpers, dem auch die unzureichende Lagerkost in der kurzen Zeit seiner Gefangenschaft (noch)
nichts hatte anhaben können.
Ahmet Temir ging durch die Reihen, hielt eine kurze Ansprache, erklärte,
daß er gekommen sei, nach Freiwilligen zu suchen, die bereit seien, den
Kampf der Deutschen gegen den Bolschewismus zu unterstützen, mit
dem Ziel, nach dem Sieg das eigene Volk von dem Joch der sowjetischen
Unterdrückung zu befreien und einen unabhängigen turko-tatarischen
Staat zu gründen.
Nach den Erfahrungen jener, die im ersten Kriegsjahr in verschiedenen
Lagern selbst schreckliche Demütigungen und Mißhandlungen erfahren
oder von anderen Kameraden gehört hatten, als in geradezu pathologi29
schen Wahnvorstellungen der Nazis die asiatischen Völker als Nachfahren Attilas und Dschingis-Chan definiert wurden, die schon deshalb besonders verabscheuungswürdig seien, weil man in den beiden Genannten
die Ahnherren des „Bolschewismus“ sehen müsse - in dieser Atmosphäre
waren viele nur allzu gerne bereit die Chance zur Verbesserung ihrer Lage zu ergreifen. Daß sie nach sowjetischer Lesart (wohl auch nach völkerrechtlicher Definition) Hoch- und Landesverrat begingen, hatte in dieser
Situation keinen Stellenwert. Natürlich auch keinerlei Bedeutung innerhalb der Hitler`schen Diktatur.
Nach der Unterdrückung durch das bolschewistische Regime sahen sich
die meisten nur ihrem Volk verantwortlich, das in der Sowjetunion unterdrückte Minderheit war. Außerdem, welche Alternativen boten sich
an? Der Fronteinsatz im deutschen Heer konnte ebenso gefährlich sein
wie auf der anderen Seite, doch mit besserer Ernährung und Bekleidung
erträglicher als die Enge des Lagers, der Schmutz, der Hunger oder auch
ein möglicherweise erzwungener Einsatz als „Ostarbeiter“, mit Rechtlosigkeit, Diskriminierung und Demütigung. Das angesprochene Ziel Ahmet Temirs sie könnten zur Freiheit ihrer Völker beitragen, hat vermutlich einige Zögerer überzeugt, aber auch überzeugte Kommunisten meldeten sich freiwillig zum Einsatz gegen die Sowjets. Darunter auch Leute,
die als Angehörige der Nomenklatura an den Terrormethoden Stalins aktiv beteiligt gewesen waren, wie z.B. Musa Dshalil und andere. Auch
ihnen war das eigene Leben näher als jede Ideologie.
Von jenen Kriegsgefangenen, die sich zur freiwilligen Mitarbeit meldeten, wurden etwa dreißig ausgewählt. Die nächste Frage war, ob jemand
unter ihnen der deutschen Sprache mächtig sei oder zumindest Kenntnisse habe. Zaghaft hob Garip als einziger die Hand – unsicher welche
Folge diese Aussage haben könnte. Nach einem kurzen Dialog in deutsch,
wurde ihm ein deutscher Text vorgelegt, den er ins Tatarische zu übersetzen hatte. Mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden, forderte Ahmet Temir
Garip und die anderen Freiwilligen auf, ihre Sachen zu packen und mitzukommen. Welche Sachen? Außer einigen Eßgeschirren – nicht alle hatten eines – einer Decke oder einem Mantel war nichts mitzunehmen.
Wohin, wurde vorerst nicht gesagt. Der Zug war ein normaler Personenzug, nicht etwa ein Viehwaggon ohne sanitäre Anlage, und es gab einen
Sitzplatz für jeden. Die Art der Verpflegung, wie sie deutsche Wehrmachtsangehörige auch erhielten, war nach der Zeit mit Wassersuppe
und Brot geradezu ein Festessen. Nach einigen Stunden wechselte die
vorbeiziehende Landschaft von menschenleeren abgebrannten Dörfern
zu freundlicher Umgebung. Bauern, die jetzt im August die Ernte einbrachten, kleine saubere Häuser; wenn der Zug die Fahrt verringerte,
waren spielende Kinder zu sehen, die den Vorbeifahrenden zuwinkten.
Friedlich als wäre der Krieg, die Gefangenschaft, Bomben, Granaten und
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Tote nur ein böser Traum. Obwohl sich der Anblick „Draußen“ sehr von
Garips Heimat unterschied, erinnerte es ihn schmerzlich an Zuhause.
Wie es wohl dem Vater, den Schwestern und den kleinen Brüdern in der
Zwischenzeit ergangen war? Seit Monaten hatte er keine Nachricht, zuletzt hatte er sie 1940 gesehen.
Der Zug ratterte durch die Nacht, die Insassen hatten die Gespräche eingestellt, alle waren müde und wohl war auch jeder mit seinen Gedanken
beschäftigt. Was sie wohl erwartete? Hatte der freundliche Tatar die
Wahrheit gesagt oder war er von den Deutschen dazu gezwungen worden? Mißtrauen stand weiterhin im Raum, so rasch konnten sie die sowjetischen Propagandaparolen nicht aus ihren Köpfen entfernen. Immer
weiter nach Westen ging es.
Als Garip nach unruhigem Schlummer im Morgengrauen erwachte, hielt
der Zug in einem Bahnhof. Ringsherum geschäftiges Treiben, Frauen in
der Uniform von Rotkreuzschwestern liefen von Fenster zu Fenster,
reichten heißen Tee und Brot. Die Außentüren des Waggons blieben verschlossen, doch wohin sollten sie hier fliehen? In den verschlissenen Uniformen von Rotarmisten würden sie nicht weit kommen.
Nach einiger Zeit wieder ein Bahnhof – Lodz. Eine Stunde Aufenthalt,
warme Suppe mit Fleischstücken, wieder Brot. So üppig hatten sie schon
lange nicht gegessen. Dann Posen, wieder Aufenthalt. Später die Durchsage:“ Wir sind bald am Ziel, machen Sie sich bereit. Packen Sie Ihre Sachen zusammen, damit kein unnötiger Aufenthalt entsteht!“ In tatarisch
und anderen Turksprachen, höflich – kein deutscher Aufseher hatte je so
mit ihnen gesprochen!
Die Nähe einer Stadt war nicht zu übersehen. Langgezogene Häuser, Lagerplätze mit abgestellten Wagen, allerlei Material. Es dauerte, dann kamen riesige Häuser in Sicht, vier, fünf Stockwerke zählten die Männer,
hell gestrichene Fassaden unbekannter Stilrichtungen – was war das
hier? Holzhütten und Erdhöhlen hatte die sowjetische Propaganda gesagt, so leben die Deutschen. Armselig und schmutzig. Immer mehr riesige Häuser kamen in Sicht, prachtvolle Bauten mit Erkern und Balkonen, riesigen Fenstern und Vorgärten. So etwas hatten weder Garip noch
seine Kameraden je gesehen. Nirgends Lehm- oder Holzhütten wie in der
Heimat. Die jungen Leute hatten die Gespräche eingestellt, alle standen
an den Fenstern, mehr oder weniger sprachlos, ob des ungewohnten Anblicks.
Die Tataren und Baschkiren stammten allesamt aus kleinen Orten in
ländlicher Umgebung, die wenigsten hatten Ufa oder Kasan gesehen.
Doch auch diese Städte unterschieden sich von Berlin wie Tag und Nacht.
Breite Straßen, alle gepflastert, nirgends staubige oder schlammige
Landstraßen!? Sie kamen aus dem Staunen nicht heraus. So sah es hier
aus? Wo waren die windschiefen Häuser, die Bettler auf den Straßen, von
denen die Sowjetpropaganda gesprochen hatte?
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Der Zug mit den Freiwilligen wurde abgekoppelt, dampfte mit Schnaufen
und Getöse weiter in Richtung Nordwest. Endlich nach weiteren zwei
Stunden: „Aussteigen, antreten“. „Wustrau“ lasen sie auf der Anzeigetafel.
Sie standen vor langgezogenen Holzhäusern, Baracken in Reih und Glied,
alles sauber aufgeräumt, nirgends lagen Abfälle herum. Ein Teil der Baracken war mit Stacheldraht umzäunt, andere standen frei im Feld.
Die neuen Freiwilligen wurden in den umzäunten Teil geführt, hatten vor
einer Kommission ihre persönlichen Daten anzugeben, um danach in einen Badepavillon geführt zu werden, wo sie duschen konnten, entlaust
wurden und saubere Kleider erhielten.
Schon diese Vorgänge trugen wesentlich zu einer besseren Stimmung bei.
Einen sauberen Körper, frisch gewaschene Kleidung und satt, was konnte
man für den Augenblick Besseres wünschen?!
In dem nicht umzäunten, offenen Lager waren Künstler und Intellektuelle untergebracht, erfuhren sie, in Sicherheit gebracht vor der SD, darunter auch Juden, einige sowjetrussische Generäle, wie Nigmeti Sihap, als
Oberster dieser Truppe.
Das zweite, das geschlossene Lager, in das auch Garip Sultan eingeliefert
wurde, beherbergte jene Freiwilligen, die zu den Gebildeten (darunter
verstand man Personen mit abgeschlossener Schulbildung) ihres jeweiligen Volkes gezählt wurden. Sie waren für Propagandatätigkeiten, Übersetzungsdienste und ähnliches vorgesehen. Die weniger Geeigneten würden der bereits Ende 1941 gegründeten Ostlegion zugeteilt werden.
Hier wurden die Freiwilligen für den Einsatz in der Legion geschult, man
veranstaltete Reisen in verschiedene Gegenden von Deutschland, um
ihnen Kulturstätten und –denkmäler zu zeigen, man bemühte sich, den
Kontrast zwischen der wirtschaftlichen und kulturellen Situation
Deutschlands und der Sowjetunion anschaulich zu machen.
Beide Lager unterstanden dem Oberkommando der Wehrmacht, das
auch die Kosten für Verpflegung der Insassen übernahm, die ja den Status von Kriegsgefangenen behielten. Hier hatten weder der SD, der vorrangig für die Massaker an den asiatischen Kriegsgefangenen verantwortlich war, noch die SS Zugang und damit auch keine Kontrollmöglichkeit und Kenntnis über die hier festgehaltenen Personen.
Die Insassen des offenen Lagers machten interessierte Landsleute – wie
Garip Sultan - mit der Geschichte ihrer Nation vertraut, sprachen über
die Historie der verschiedenen Turknationen – die die Jüngeren nur in
der sowjetischen Propagandaversion kannten - und trugen mit der
Schrift „Die Wahrheit über die Sowjetunion“ viel zum besseren Verständnis des isolierten Landes bei.
Eines Abends kündigte sich dem geschlossenen Lager Wustrau wieder
eine Kommission an. Eines der Kommissionsmitglieder, Dr.Heinz Unglaube, ein Mitarbeiter von Prof. Dr. von Mende, suchte gezielt nach
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Sprachkundigen, um weitere Anwerbungen in den verschiedenen Lagern
mit Hilfe eines Dolmetschers vorzunehmen. An Sprachkundigen herrschte extremer Mangel. Wer sprach schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Turksprache, auch Slawisten waren sehr gesucht. Garip
Sultan sprach neben seiner Muttersprache tatarisch auch baschkirisch,
russisch und fließend deutsch, verstand krimtatarisch und usbekisch.
Die Kommission bestand aus mehreren Personen, darunter auch eine
Frau. Wieder hatten die Freiwilligen einen Fragenbogen auszufüllen, dieses Mal detaillierter nach besonderen Fähigkeiten, Herkunft, Familie,
Vatersname, Mädchenname der Mutter, u.a.m. Jedes Mitglied der Kommission überprüfte getrennt die Fragebögen, als sich die Frau aufgeregt
an Garip wandte: „Wie hieß Ihre Mutter mit Mädchennamen? Syrtlan(ov) ?“ Und weitere Fragen zur Bestätigung zur Familien- und Ortsangaben. Dann eine unerwartete Umarmung. „Du bist mein Neffe“! Deine
Mutter war meine Schwester.
Die Frau war Dr. Sophie von Mende, Ehefrau von Gerhard von Mendes
Onkel, Roman von Mende. Damit war Garips Aufenthalt in Wustrau beendet. Ein Mitglied der Kommission und Mitarbeiter von Prof. von Mende im Ostministerium, Dr. Heinz Unglaube, rekrutierte ihn als Dolmetscher, Einsatzort Berlin.
6. Dolmetscher in Hitlers Diensten
Da Dr. Unglaube aus Gesundheitsgründen untauglich für den Wehrdienst war, war er dem Hilfs-Kader (in den Unterlagen, als "LKWFahrer" bezeichnet) zugeordnet worden, wegen seiner akademischen Bildung aber für den Dienst mit den Kriegsgefangenen abkommandiert.
Er war 1904 in Anklam (Pommern) geboren, sein Vater war der Bürgermeister dieser Stadt. Nach dem Abitur im Jahre 1923 studierte er
Rechtswissenschaften in Berlin und Greifswald, war dann als Anwalt in
Anklam und Greifswald tätig. Vor dem Krieg hatte Unglaube keinerlei
Kenntnisse über die östlichen Völker, kam zum ersten Mal in den Gefangenenlagern mit ihnen in Kontakt; deren historisches Schicksal, ihre nationalen Bestrebungen vor dem Krieg waren ihm völlig unbekannt gewesen. In den ersten Monaten des Krieges war er für die Arbeit mit Kriegsgefangenen in Polen im Lager der Insel Mazowiecki eingesetzt. Im August 1941 traf er mit Major Mayer-Mader zusammen, der damals bei der
Auswahl der Gefangenen beteiligt war. Unglaube wurde im März 1942
nach Lyuttenzee nach Bayern geschickt, wo er speziell im Umgang mit
östlichen Volksangehörigen geschult wurde. Ursprünglich sollte er als
Vorgesetzter und Organisator für die „Leitstelle Turkestan „eingesetzt
werden, da es dafür aber bereits einen Kandidaten gab, nahm er das Angebot Professor von Mendes an und leitete die „tatarische Mittelstelle“.
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Jeder Tag in Berlin war für den zwanzigjährigen Garip, der bisher nur
Entbehrungen, Armut, Hunger, Krieg und Gefangenschaft erlebt hatte,
wie ein neues Leben. Er erhielt den Sold eines Unteroffiziers der Deutschen Wehrmacht, die doppelte Lebensmittelration im Vergleich zu
Wustrau, lebte in einem für ihn komfortablen Zimmer mit fließendem
Wasser und Annehmlichkeiten, die in Deutschland Standard waren. Den
mangelnden hygienischen Verhältnissen, dem Hunger, dem Schlafsaal
mit Stockpritschen entkommen, den Handgreiflichkeiten unter den Angehörigen verschiedener Nationalitäten, dem Schmutz und der täglichen
Angst vor der Zukunft.
Als Dr. Unglaubes Mitarbeiter trug er zivil, besaß auch keine Uniform,
reiste mit der Kommission vor allem durch den Osten Deutschlands,
immer zu Lagern, in dem turkotatarische und Angehörige anderer Turkvölker interniert waren. In den Nordosten Deutschlands nach
Peenemünde, nach Dalum in Niedersachsen und Dresden, überall hin,
wo zu Anfang des Krieges die Trennung der einzelnen Nationalitäten der
Sowjetunion vorgenommen worden war.
In dieser Atmosphäre relativer persönlicher Sorgenfreiheit hatte er das
erste Mal in seinem Leben die Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen.
Er entdeckte seine Vorliebe für elegante Kleidung, gepflegtes Aussehen,
nahm sich ein Beispiel an jenen Offizieren, die aus Adelskreisen stammend, entsprechendes Benehmen mit der Muttermilch eingesogen hatten. Bis ans Lebensende praktizierte er die Höflichkeit des kultivierten
deutschen Bildungsbürgertums. Sein Interesse für tatarischen Volkstanz,
den er als Jugendlicher im Komsomolzen Kreis gepflegt hatte, übertrug
er nun auf den Gesellschaftstanz und war, wo immer sich Gelegenheit
bot, ein bei den Damen vielbegehrter Tänzer.
In Wustrau, im Gespräch mit Insassen des offenen Lagers und auch älteren Insassen des eigenen Lagers, die die Zeit nach der Revolution 1917
bewußt miterlebt hatten, erfuhr Garip zum ersten Mal Details zu den historischen Hintergründen seines Volkes. Hier eignete er sich jene Kenntnisse an, die ihn nach dem Krieg und im späteren Berufsleben als Experten der tatarischen Geschichte und Literatur auszeichneten.
Schon als junger Schüler an Geschichte interessiert, kannte er nur die
sowjetische Version, voll von Propagandaparolen und kommunistisch
gefärbten Zielen der Stalinära. Wohl waren die Ungereimtheiten dieser
indoktrinierenden Version dem intelligenten Schüler nicht verborgen geblieben, doch Fragen gehörte nicht zur schulischen Erziehung. Der Vater
hatte Andeutungen gemacht, doch vermieden, über Details zu sprechen.
Er wollte seinen Sohn davor schützen, nach einer unbedachten Äußerung
in der Öffentlichkeit die Repressionen des Regimes am eigenen Leib spüren zu müssen. Die Schwierigkeiten, um als Kulaken Sohn überhaupt
studieren zu dürfen, das im Jahre 1936 wieder eingeführte Schul- und
Studiengeld, ein unüberwindbares Hindernis für die kinderreiche Fami34
lie, die ausgeprägte Armut in der die Familie lebte, die letzten Endes zum
frühen Tod der Mutter beigetragen hatte, waren Erfahrung genug.
Daß Nigmetulla Sultanow überhaupt in der Lage gewesen war, seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, lag am Zusammenhalt innerhalb
der tatarischen Volksgruppe, als ein ehemaliger Mitarbeiter des Fuhrwerksunternehmers – jetzt Parteimitglied der Kommunistischen Partei
Baschkiriens – seinen ehemaligen Chef mit Lohnarbeit und Wohnung
versorgte. Die Sippenverbindung erwies sich stärker als jede propagierte
Propagandaparole der Sowjets. Eine Erfahrung, die Garip auch im
Kriegsgefangenenlager gemacht hatte. Die Angehörigen der einzelnen
Volksgruppen hatten sich sofort zusammengeschlossen und, wenn erforderlich, gegen alle anderen verteidigt.
In Wustrau hörte Garip zum ersten Mal und ausführlich über die Niederwerfung der Wolgavölker aus tatarischer Sicht. Von der Eroberung
Kasans in den Jahren 1552 – 1557, dem jahrzehntelangen Widerstand
gegen die russischen Eroberer, aber auch davon, daß diese Aufstände die
Kontakte zwischen den ethnischen und regionalen Gruppen der Mittleren Wolga gefördert hatten. Eine Verbindung die sich bis ins 20. Jahrhundert erhalten hatte, als sich 1943 Tataren, Udmurten, Tschuwaschen,
Baschkiren und Mari in Deutschland zum Wolgatatarischen Nationalkomitee zusammen schlossen. Er hörte von der großen Revolte, dem
Bashkirenkrieg von 1705-1711, der sich gegen die Russischen Siedlungen
des Kreises Kasan gerichtet hatte, als eine große Anzahl russischer Bauernhöfe und Kirchen zerstört wurden, tausende Russen getötet und gefangen genommen worden sein sollen. Alle Nichtchristen sollten zusammen gegen Kasan und Moskau ziehen und „überall die Russen erschlagen
….“.
Die Diskriminierung der Tataren durch die russischen Besatzer in der
Zarenherrschaft war vielfältig. Nicht nur, daß sie an den Rand der eroberten Gebiete gedrängt wurden, teilweise in die unfruchtbaren Steppen,
sie wurden bei Bedarf als Geiseln genommen, litten unter Metall- und
Waffenverbot. Auch fiel es den regionalen Verwaltungsleuten leicht, sich
auf Kosten der nicht russisch sprechenden Tataren, Tschuwaschen,
Mordwinern und Udmurten zu bereichern.
Er hörte zum ersten Mal von Sultan-Galijew, dem tatarischen Politiker
der Sowjetunion und zwischenzeitlich höchstrangigem Muslim in der
KPdSU. Statt des westlich-proletarischen Kommunismus der Bolschewiki hielt Galijew einen spezifisch östlich-muslimischen Kommunismus für
die orientalischen Völker Rußlands für erfolgversprechend. 1923 wurde
er wegen „bürgerlich-nationalistischer Abweichungen" aus der KP ausgeschlossen, zu 1o Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und nach Solovki im
Weißen Meer verschickt. Danach hatte man nie wieder etwas von ihm
gehört.
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Garip erfuhr, daß eben zu dieser Zeit eine umfangreiche Säuberung der
Partei- und Staatsführung der Tatarischen ASSR begonnen hatte, der
auch der Vorsitzende des ZEK und Mitglieder der Kommunistischen Partei Tatarstans und Baschkiriens zum Opfer gefallen waren. Auch die tatarischen Bildungseinrichtungen und der tatarische Schriftstellerverband
wurden wurden der Sowjetpropaganda einverleibt.
Die Tatarische Geheimorganisation Dzidigjan (Großer Bär) sprach der
Kommunistischen Partei das Recht ab, Literatur und Kunst zu dirigieren
und Parteilichkeit zum Maßstab literarischer Qualität, zu erheben. Außerdem lehnten es die Literaten ab, zum Klassenkampf innerhalb des tatarisches Dorfes aufzurufen, denn „es gebe ihn nicht, außer als Hirngespinst der Moskauer Führung“.6
Das waren bisher unbekannte Fakten für den 20 jährigen, die zusammen
mit den schrecklichen Erinnerungen seiner Kindheit das Fundament für
die Ziele seines Lebens bleiben sollten:
Alles in seiner Macht zu tun, seinem Volk zu helfen, sich aus der Umklammerung der Sowjets zu befreien!
Dr. Heinz Unglaube unternahm weiterhin Inspektionsreisen in die einzelnen Kriegsgefangenenlager, um Freiwillige zu rekrutieren, begleitet
von Garip Sultan, als dessen direkter Vorgesetzter. Sein Weg führte ihn
nach Dargibel, nach Zempin, nach Krienke und Peenemünde auf Usedom. In Peenemünde ließ Hitler unter strengster Geheimhaltung an der
Entwicklung der V2-Raketen forschen und benützte dazu die Arbeitskraft
von etwa 4400 Zwangsarbeitern, die in Gemeinschaftsunterkünften mit
Ausgehbeschränkungen und militärischem Drill, auch in der Freizeit lebten.
Dort holte die „Untermenschen“ Theorie der Nazis Garip Sultan persönlich ein. Die Sekretärin von Wernher von Braun, ein hübsches, zierliches,
blondes Mädchen, fand den dunkeläugigen sportlichen Garip ebenso attraktiv, wie er sie. Einige Wochen lang keimten beider Gefühle, beschränkt auf Umarmungen und Küssen, versteckt hinter Mauervorsprüngen und Türen. Bis Wernher von Braun auf der Suche nach seiner
Sekretärin im Eilschritt kommend eine Türe aufstieß – die beiden Liebenden dahinter in einer eindeutigen Pose. Der Aufenthalt in Peenemünde ging abrupt zu Ende, zu einer weiteren Begegnung kam es nicht
mehr.
Dr. Unglaube und sein Dolmetscher Garip Sultan betreuten weiterhin die
neu in das Komitee Aufgenommen hinsichtlich Ausstellung von Pässen,
Lebensmittel- und Kleiderkarten, wiesen ihnen Wohnungen zu und erteilten die Erlaubnis, in die Legion einzutreten. Außerdem wurden Erho6
Simon, S 95, Im Jahr 1930 wurden auch zahlreiche tatarische Schriftsteller liquidiert.
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lungsaufenthalte für die Legionäre organisiert, wo sie von der kämpfenden Truppe in Polen ausruhen konnten.
7. Kriegsende
Als Rosenberg die künftige Kolonialherrschaft in der Sowjetunion konzipierte, war die Repräsentation der unterworfenen Völker kein Thema.
Eine Anerkennung der sowjetischen Minderheiten - in welcher Form
auch immer - war nicht vorgesehen, sie lag außerhalb des Vorstellungsvermögens des germanischen Übermenschen.
Schon bald aber erlangten die Vertretungen der einzelnen Völker durch
unvorhergesehene Sachzwänge einen erheblichen Stellenwert. Angehörige der sowjetischen Ostvölker – Emigranten und Kriegsgefangene übernahmen sowohl administrative wie auch politische Funktionen für
die Belange ihrer Völker die keine deutsche Organisation – schon aus
sprachlichen Gründen - hätte wahrnehmen können.
Die Nationalausschüsse entwickelten sich im Laufe der ersten beiden
Kriegsjahre zu Führungsorganen, wobei an erster Stelle die Legionen zu
benennen sind. Weder die Nationalausschüsse (das bevorzugte Wort
„National Komitee“ war ursprünglich von Hitler verboten worden) noch
die Legionen waren ursprünglich geplant oder vorgesehen gewesen, sie
erwiesen sich aber für die Organisation und den Einsatz der freiwilligen
Minderheitsangehörigen als unverzichtbar.
Initiiert wurde die Entstehung der Nationalvertretungen durch die
Kriegsgefangenenkommissionen des Ostministeriums, sie bestanden
teilweise aus Emigranten, teilweise aus deutschen Mitgliedern. Neben
der Funktion als Rekrutierungsorgan übten sie vor allem eine psychologische Wirkung aus: sie drängten die Vorbehalte gegen die Verwendung
der Orientalen zurück, wobei offiziell wurde, daß schon bisher jede
Dienststelle inoffiziell ihre jeweiligen „Hausemigranten“ beschäftigt hatte, wie Dolmetscher, Rundfunksprecher und andere Dienste. Der verbale
Kontakt mit den zu Rekrutierenden wäre anders kaum möglich gewesen.
Die Vorarbeit für die Entstehung der Komitees leistete das Referat des
Prof. von Mende im Ostministerium, wo sogenannte Mittelstellen – später Leitstellen - gegründet wurden, in denen Deutsche, Emigranten und
Kriegsgefangene zusammenarbeiteten. Die Geschichte der Komitees ist
eng mit von Mendes Namen verbunden, der ihr Förderer und Vorkämpfer war, er war der wichtigste Fürsprecher der Nationalisten aus dem
Kaukasus und Zentralasien – weit über das Bestehen des Deutschen Reiches hinaus.
Professor von Mende hatte ursprünglich einen Lehrstuhl in Berlin inne,
als sich Vertreter des künftigen Ostministeriums seine Mitarbeit sicherten. Er selbst und seine sechs Geschwister waren Halbwaisen geworden,
als sein Vater 1919 in Riga während des lettischen Unabhängigkeitskrie37
ges von sowjetischen Truppen gefangen genommen und erschossen worden war. Seine Mutter floh danach mit ihm und sechs Geschwistern nach
Deutschland. Wohl nicht zufällig galt deshalb sein Interesse dem Thema
seiner späteren Doktorarbeit an der Universität Breslau „Studien zur Kolonisation in der Sowjetunion“. Von Mende sprach fließend Russisch,
Lettisch, Französisch und verfügte über Kenntnisse im Türkischen und
Arabischen.
Die in den Nationalvertretungen tätigen Emigranten unterstützten ihre
Volksangehörigen materiell und ideell, wählten geeignet erscheinende
Kriegsgefangene oder Überläufer aus, nahmen deren Beschwerden entgegen und versuchten, Abhilfe zu schaffen. Daneben sorgten diese Leitstellen für Zeitschriften und Propagandaschriften, aber auch für die persönliche Betreuung der einzelnen Freiwilligen durch Schaffung von Erholungs- und Urlaubsaufenthalten.
Die größte Bewegungsfreiheit genossen jene Vertretungen, deren Gebiet
außerhalb der deutschen Kolonisationspläne lagen, dazu gehörte unter
anderem der „Kampfbund der Turktataren Idel-Urals“, in dem sich Wolgatataren, Baschkiren, Tschuwaschen, Mari und Udmurten zusammengeschlossen hatten. Der „Kampfbund der Turktataren Idel-Urals“ hatte
sich im ersten Halbjahr 1943 informell konstituiert.
Wie die meisten Nationalvertretungen waren sie in drei Abteilungen gegliedert. Der Abteilung Politik oblag die Sprecherfunktion, sie verwaltete
die Finanzen und stellte die organisatorische Spitze dar. Die Militärabteilung betreute die Legionen und organisierte die Offiziersausbildung und
Schulungskurse aller Art. Der dritten Abteilung oblagen Propaganda,
Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Die Pressearbeit bestand in der Redaktion und Edition von Zeitschriften und propagandistischen Broschüren.
Bei den Wolgatataren erschienen u.a. die Deutsch-Tatarischen Nachrichten, deren Chefredakteur von Anfang an der zwanzigjährige Garip Sultan
war.
Ein Schwerpunkt der Nationalvertretungen lag in der Sozialarbeit, einige
gründeten Erholungsheime und Invalidenhäuser, wofür das Ostministerium einen großzügigen Etat zur Verfügung gestellt hatte. Von diesen
Heimen unterhielten die Wolgatataren allein drei. Die in den Leitstellen
angestellten Angehörigen der Volkvertretungen erhielten ein Gehalt, das
etwa dem eines unteren Beamten entsprach, und zusätzlich den Ersatz
von Sonderausgaben, wie Reisen und für Unterkünfte.
Einige der Leitstellen sahen sich als eine Art Exilregierung, andere ihre
Zukunft mit den fortschreitenden Niederlagen der Deutschen realistischer. Doch nie verloren sie das angestrebte Ziel aus den Augen: die endgültige Loslösung vom sowjetisch-russischen Terrorregime. Entsprach
auch ihr eigenes Selbstverständnis in keiner Weise der Bedeutung, die
ihnen die deutsche Seite einräumte, verteidigten sie energisch ihre Inte38
ressen, wie z.B. im Zusammenhang mit der Rolle Glasows, der versuchte,
die Nationalitäten der UdSSR unter seiner Dominanz zu vereinen.
Als die eroberten Ostgebiete wieder geräumt werden mußten, verlor das
Ministerium für die besetzten Ostgebiete immer mehr an Einfluß. War
schon zuvor Minister Rosenberg als schwach, nicht durchsetzungsfähig
bekannt gewesen, hatte er doch auf die Unterstützung Hitlers vertrauen
können. Mit fortschreitender Zeit war diese immer geringer geworden,
gegen Kriegsende weigerte sich Hitler, seinen (Noch)Minister zu empfangen.
In diese Lücke stieß die SS, die nur darauf gewartet hatte, die Legionen
der Wehrmacht ihrer Organisation einverleiben zu können. Sie ging dazu
über, eigene turktatarische und kaukasische Waffenverbände aufzustellen, um angesichts der kriegsentscheidenden Niederlage in Stalingrad
doch noch eine „Revolutionierung“ der sowjetischen Völker herbeizuführen. Gleichzeitig protegierte sie auch die Wlassow-Armee, eine Politik,
die sich mit den Zielen der sowjetorientalischen Nationalvertretungen
nicht vereinbaren ließ. Das Wlasswow-Komitee sollte den großrussischen
Nationalismus propagieren, und Wlassow beauftragt werden, im Namen
aller Nationalitäten der UdSSR zu sprechen.
Gegen dieses Ansinnen wehrten sich die Nationalvertretungen heftig, sie
schlossen sich zum „Kaukasischen Rat“ zusammen, um mit einer Stimme
dieses Ansinnen ablehnen zu können. Der Kampf gegen diese russische
Oberherrschaft, der die Existenzberechtigung der Nationalvertretungen
gefährdete, dauerte bis zum Kriegsende und darüber hinaus. Selbst noch
nach der Gründung von Radio Liberty im Jahr 1953 versuchte die Russische Redaktion zeitweise russisch zur Lingua Franca innerhalb des Senders zu erheben. Was vehement abgelehnt und mit fortschreitender Zeit
immer seltener verlangt wurde, zumal der redaktionelle Nachschub der
Nationalitäten immer häufiger aus der zweiten Generation der Exilanten
stammte, die in China oder Türkei herangewachsen war und kaum russisch verstand.
Erst Ende März 1945 gestattete Rosenberg offiziell die Umbenennung der
Nationalvertretungen in NATIONALKOMITEES, eine Farce angesichts
der Tatsache, daß die Alliierten bereits auf deutschen Boden standen, das
Kriegsende nach Tagen gezählt werden konnte.
Die personellen Zusammensetzungen der einzelnen Nationalvertretungen unterschieden sich voneinander, einige hatten sich zum „Präsidialsystem“ entschlossen, andere wie der „ Kampfbund der Turktataren“
wurde kollektiv geführt. Hier entstammte nur der Vorsitzenden der
Emigration, alle anderen waren ehemalige Kriegsgefangene.
Im Jahr 1942 waren sowohl die „Wolgatatarische Legion“ wie auch die
„Tatarische Leitstelle“ gegründet worden, in der auch Dr. Ahmet Temir
39
gearbeitet hatte. Um ihn scharte sich ein kleiner Führungskreis, der
hauptsächlich aus „Sowjet-Tataren“ stammte. Dieses tatarische Komitee
erwies sich im Laufe der Zeit als das friedlichste im Zusammenleben,
Spannungen zwischen Legionären und Emigranten waren äußerst selten,
wozu unter anderem sicher auch die Charaktereigenschaften Garip Sultans beitrugen. Er war nahezu pathologisch harmoniesüchtig, ging nie
auf Konfrontation, versuchte nie die Meinung anderer durch verbale Attacken zu ändern, viel eher durch Überredung und Überzeugung. Eine
Eigenschaft, die ihm innerhalb der eigenen Familie als Schwäche ausgelegt wurde, mit dementsprechender Geringschätzung seiner Person.
Für die Legionäre erschien seit dem Frühjahr 1943 das zweisprachige
„Deutsch-Tatarische Nachrichtenblatt“ mit dem neunzehnjährigen Garip
Sultan als Schriftleiter. Zum Vorsitzenden hatte man sich auf den phlegmatischen Emigranten Ahmet Safi-Almaz geeinigt, weil sich niemand
anderer als Führungspersönlichkeit anbot. Garip Sultan, der Leiter der
tatarischen Kulturabteilung der auch für diese Position geeignet schien,
war zu jung, um die mehr als dreißig köpfigen hauptamtlichen Mitglieder
zu leiten.
Nach dem Vorbild des aserbeidschanischen Komitees, das im November
1943 in Berlin einen „Nationalkongress“ abgehalten hatte, führten die
Tataren ihren „Qurultaj“(Kongreß) vom 3.- 5. März 1944 in Greifswald
durch. Vor den etwa 200 Delegierten wurden die Ziele des “Kampfbundes“ erörtert und angenommen. Der siebenköpfige Vorstand proklamierte das Programm für die projektierte „Idel-Ural-Republik“ und rief offiziell die Gründung des „Kampfbundes der Turktataren Idel-Urals“ aus,
obwohl sich das tatarische Komitee schon lange so genannt hatte.
Im April 1944 feierte das Deutsch-Tatarische Nachrichtenblatt das einjährige Bestehen und nahm diesen Jahrestag zum Anlaß eine Feier vom
18.-20 Juli desselben Jahres in Swinemünde auszurichten, zu der zahlreiche involvierte Personen erschienen waren. Der Hauptschriftleiter Garip Sultan begrüßte die Gäste in deutscher Sprache, gab einen Überblick
über die nationalen Ziele der Turktataren, sprach über die Unterdrückung durch den Sowjetstaat und den Maulkorb den die Sowjets den
Minderheitenvölkern verpaßt hatten, um sie am Gedankenaustausch mit
Europa zu hindern. Dieser tatarische Nationalkongreß propagierte u.a.
die Reprivatisierung der Landwirtschaft, hielt aber am Gemeineigentum
von Wäldern und Gewässern, Boden- und Naturschätzen fest, im Gegensatz zu anderen Kongressen der verschiedenen Nationalkomitees, die z.B.
durchaus sozialistische Tendenzen vertraten. Danach ergriff der als Gast
geladene Präsident des National-Turkestanischen Einheitskomittees, Veli
Kajum-Chan, das Wort.
40
Eine inhaltliche Analyse der Vorträge zeigt, daß Garip Sultan ausschließlich über historische Ereignisse seines Volkes berichtete, über die Notwendigkeit der Aufklärungsarbeit zum beiderseits besseren Verständnis
und die angestrebten Ziele der Tatarischen Leitstelle. Mit keinem Wort
erwähnte er irgendwelche Meriten des Hitlerregimes, verabschiedete sich
weder in dieser Rede noch in jener am 20 Juli 1944 mit dem Hitlergruß,
sondern dankte lediglich Dr. Heinz Unglaube für die Unterstützung, und
dem Bürgermeister von Swinemünde für die gastliche Aufnahme.
Im Vergleich dazu endete Veli-Kajum-Chan, der Präsident des Turkestanischen Komitees mit den Worten „Es lebe die Freiheit und Selbständigkeit Eures Landes, Euer Volk und es lebe der Führer der freiheitsliebenden Völker A d o l f H i t l e r.“
Neben seiner Tätigkeit als Dolmetscher, den Diensten für seine Landsleute – die Überführung in eines der Erholungsheime, die Versorgung
mit neuer Kleidung und Unterkünften, die Reisetätigkeit innerhalb
Deutschlands um seine Landsleute mit den Lebensbedingungen in
Deutschland vertraut zu machen - hatte Garip Sultan nie den Wunsch
aufgegeben, zu studieren. In den letzten Kriegsjahren in Berlin entschied
er sich für Staatswissenschaften und Jura, was angesichts des unterschiedlichen Bildungsniveaus Sowjetunion – Deutschland nicht ganz einfach war. War er auch Klassenprimus in seiner Heimat gewesen, fehlte
ihm doch jede Art von humanistischer Bildung, die zum Teil auch im Nationalsozialistischen Deutschland Tradition blieb. Zudem war in der
Sowjetunion jedes Fach den zu erreichenden kommunistischen Zielen
untergeordnet, vermittelte Informationen mit denen er in Deutschland
nichts anfangen konnte. Trotzdem setzte er seine Studien als Gasthörer
fort, mit dem Schwerpunkt „Staatswissenschaften“.
Mit der fortschreitenden Niederlage setzte die SS immer mehr auf den
im Sommer 1942 gefangen genommenen General Wlassow, dessen Einsatz Hitler ursprünglich untersagt hatte. Unter der kritischen Situation
im Sommer 1944 „entdeckte“ Himmler den russischen General wieder,
der bisher ignoriert worden war und stimmte dessen Pläne für die
Gründung einer russischen Armee sowie eines politischen Führungsgremiums zu. Mit Unterstützung der Waffen-SS gab Wlassow am 14. Oktober in Prag die Gründung des „KONR – Komitee der Befreiung der Völker Rußlands“ bekannt.
Gegen den Überbegriff „Befreiung der Völker Rußlands“ liefen die einzelnen Nationalkomitees Sturm. Da die Proteste erwartet worden waren,
versuchte die SS den Schaden so gering wie möglich zu halten, indem sie
die Nationalkomitees, die sich schon lange so nannten, offiziell zu KOMITEES erhob.
41
In den Wochen vor der Gründung von Wlassows Komitee entfalteten die
einzelnen Nationalkomitees fieberhafte Aktivitäten, denen sich auch
weißrussische und ukrainische Gruppen anschlossen, um die von ihnen
erwartete Zusammenarbeit mit KONR zu sabotieren. Die Wortführer der
nicht-russischen Komitees waren Michael Kedia und Veli Kajum-Chan.
Letzterer übersandte ein Schreiben an Himmler in dem gefordert wurde,
daß Lasso nur für die Russen sprechen dürfe, da die Minderheitennationalitäten in erster Linie um ihre nationale Unabhängigkeit kämpften. Er
schrieb am 18. November 1944:
„ Wir sind bereit, nachdem alle unsere Rechte von Ihrer Seite anerkannt
sind, auf Einladung der Reichsregierung und unter deren Vorsitz mit
gleichen Rechten und Pflichten mit Wlassow an stattfindenden Konferenzen teilzunehmen …“ und weiter :„General WLASSOW muß als Russe
seine Tätigkeit nur auf Rußland beschränken, Rußland im ethnographischen Sinne des Wortes verstanden. Auf keinen Fall darf er eine Anwartschaft auf die Führung unserer nichtrussischen Völker erstreben, da die
Bestrebungen dieser Völker durchaus nicht identisch sind mit den Zielen,
die General WLASSOW verfolgt. General WLASSOW spricht von der Idee
des Stürzens des Sowjet Regimes und möchte innerhalb der heutigen
Grenzen ein neues Regime aufrichten. Unsere Völker führen den langjährigen erbitterten Kampf gegen Moskau, um sich vollkommen von Rußland zu trennen und auf der Grundlage völliger nationaler Unabhängigkeit ihre eigenen Staaten neu aufzurichten. Deshalb können unsere Völker den Versprechungen des Generals WLASSOW kein Vertrauen entgegenbringen und aus diesem Grunde kann sein Prager Manifest auf keine
Unterstützung unserer Völker rechnen.
Die Aktion des Generals WLASSOW wird von Anfang an keine Aussichten
auf Erfolg haben bei unseren Landsleuten, den Freiwilligen, den Arbeitern und den Flüchtlingen, die sich innerhalb der deutschen Grenzen befinden, da die Erfahrung diese Massen zu größter Vorsicht gegenüber jeder russischen Initiative zwingt.
Aus den vorstehend angeführten Gründen empfinden wir das Manifest. 7
des Generals WLASSOW als den Interessen unserer Völker entgegenwirkend, soweit es sich das Recht nimmt, unsere Völker zu vertreten, zu führen und in ihrem Namen zu sprechen. Das Wohl unserer Völker und der
Wunsch, die beiderseitigen Beziehungen aufrechtzuerhalten, zwingen
uns, die Reichsregierung zu bitten:
7 „Manifest des Befreiungskomitees der Völker Rußlands“, Prag, 14. November 1944, Der
Vorsitzende des Befreiungskomitees der Völker Rußlands gez. WLASSOFF, Die Mitglieder des
Befreiungskomitees der Völker Rußlands (Folgen 49 Unterschriften) (Ex. Aufbaustelle K,
Dienststelle GOHDES)
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1. Jeden Anspruch des Generals WLASSOW auf die Führung unserer Völker zu unterbinden.
2. Die Rechte unserer Völker auf selbständige Staaten mit sofortiger
Wirkung anzuerkennen und die endgültige Anerkennung unserer nationalen Vertretungen auszusprechen.
3. Unsere nationalen Formationen unter dem einheitlichen eigenen
Kommando zum Kampfe gegen den Bolschewismus, im operativen
Sinne der deutschen Wehrmacht unterstellt, bilden zu dürfen und die
politische Führung innerhalb dieser Formationen unseren nationalen
Vertretungen zu überlassen.
4. Abschließend halten wir es für unsere Pflicht, auf das entschiedenste
zu erklären, wenn die Führungsansprüche des Generals Wlassow auf
unsere Völker nicht mit voller Klarheit beseitigt werden, keine der nationalen Vertretungen unserer Völker die Verantwortung für die Folgen übernehmen kann, welche als Resultat der WLASSOW-Aktion unter
unsern Landsleuten entstehen können.“
Unterzeichner:
Idel-Ural. Im Auftrage des Kampfbundes der Türk-Tataren Idel-Urals:
gez. A. SCHAFI-ALMAZ
Kaukasus. Im Auftrage des Armenischen Verbindungsstabes: gez. DJAMALIAN
Im Auftrage des Aserbaidjanischen Verbindungsstabes: gez. A. ALIBEKOFF
Im Auftrage des Georgischen Verbindungsstabes: gez. M. KEDIA
Im Auftrage des Nordkaukasischen Nationalausschusses: gez. A. KANTEMIR
Krim-Tataren. Im Auftrage des Krim-Tatarischen Zentrums: gez. Edige
KIRIMAL
Turkestan. Im Auftrage des Präsidenten des National-Turkestanischen
Einheitskommando gez. Dr. KHARIMI
Ukrainer. Im Auftrage der ukrainischen nationalen politischen Gruppe:
gez. Andrij MELNIK
Weißruthenen. Präsident des Weißruthenischen Zentralrates: gez. ASTROWSKI.
8. Wie weiter?
Am 19. Oktober 1944 überquerten russische Panzer die ehemalige
deutsch-polnische Grenze. An eine Wendung des Krieges zugunsten
Deutschlands glaubte niemand mehr, weder eingefleischte Nationalsozialisten, noch das Militär und schon gar nicht die Bevölkerung, ausgenommen vielleicht Hitler selbst und einige andere Paranoiker.
Panik breitete sich unter den sowjetischen Kriegsgefangenen aus, sie alle
kannten die Einstellung Stalins gegenüber Rotarmisten die sich auf deut43
schem Gebiet befanden; Gesetze, die auch für die gegen ihren Willen
nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter galten. Ihrer allen
Schicksals schien besiegelt, sofern sich in letzter Stunde kein Ausweg anbahnte.
Der sowjetische Sprachgebrauch kannte keine „kriegsgefangenen“ Rotarmisten. Nach Stalins Maxime gab es keine sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand, sondern lediglich „Vaterlandsverräter“. Zufolge einem Befehl Stalins vom 16. August 1941 betrachtete die kommunistische Diktatur alle Sowjetbürger, die sich freiwillig hatten gefangen
nehmen lassen, als „Deserteure“. Von dieser Meinung ging Stalin auch
nicht ab, als sein ältester Sohn Jakob in deutsche Kriegsgefangenschaft
geriet und er ein deutsches Angebot für einen Austausch mit einem
„prominenten“ deutschen Gefangenen ablehnte. Als deutscherseits der
Versuch mißlang, Jakob Dschugaschwili auf ihre Seite zu ziehen, druckte
die Deutsche Propaganda das Konterfei des Stalinsohnes auf einem der
Flugblätter ab, um den Anschein zu erwecken er sei freiwillig in Deutschland. Als Jakob von dem Flugblatt erfuhr, war er derart schockiert, dass
er den Freitod im elektrisch geladenen Zaun des Lagers Sachsenhausen
suchte.
Dschugaschwili war während der Kämpfe um Witebsk ergriffen worden
und wußte, dass ihm damit der Weg in die Heimat versperrt war. Dass er
den Tod in dieser Art gesucht und gefunden hatte, belegen amerikanischen Archivquellen, entgegen anders lautenden Meldungen, er sei ermordet worden. Die Leiche neben dem Elektrozaun war von allen Seiten
fotografiert worden. Warum auch hätten die Nazis Jakob Dschugaschwili
ermorden sollen? Er war möglicherweise das einzige Faustpfand, das sie
für nicht vorherzusehende Ereignisse hätten einsetzen können. Auch der
Neffe Molotows, Kokerin, wählte ein ähnliches Schicksal wie Jakob
Dschugaschwili.
Als Stalin von der Gefangennahme seines Sohnes erfuhr, reagierte er entsprechend dem Erlaß (Nr. 1926), der die Sippenhaftung vorsah. Vater,
Mutter eines „Volksverräters“, Geschwister und deren Angetraute sollten
verhaftet, entweder erschossen oder in den Gulag verbannt werden.
Unverzüglich ließ er seine eigene Schwiegertochter verhaften, in ein Gefängnis bringen, trennte seinen Enkelsohn von der Mutter und übergab
ihn einem Kindeheim. Wenige Tage nachdem der Tod Jakobs bekannt
geworden war, entließ man dessen Frau wieder in die Freiheit. Der
Grund ihrer Verhaftung war mit dem Freitod ihres Mannes nun weggefallen und „gesühnt“.
In logischer Konsequenz hätte Stalin verbannt oder erschossen werden
müssen, war er doch der Vater eines „Verräters“!
44
Diese Meinung über kriegsgefangene Rotarmisten als „Deserteure“ und
„Verräter“ blieb jahrzehntelang bestehen und besteht teilweise heute
noch in den Köpfen der nachgekommenen Generationen, fast 70 Jahre
nach Kriegsende.
Entschuldbar nach dem Stalin‘schen Dogma war eine Kriegsgefangenschaft nur im Falle einer schweren Verwundung oder Krankheit (z.B. bei
einem Aufenthalt im Lazarett). Diese Hintertüre eröffnete dem Regime
die Möglichkeit einen Kriegsgefangenen beliebig als „verwundeten
Kriegsgefangenen“ zu klassifizieren, um ihn vom „Verräter Status“ auszunehmen. Danach konnte man ihn nach Gutdünken auch zum „Helden
der Sowjetunion“ hochstilisieren, wie noch im Kapitel „Musa Dshalil“
näher ausgeführt wird.
Am 11. Februar 1945 war ein „Abkommen, betreffend die von Truppen
unter sowjetischem Kommando und Truppen unter britischem Kommando befreiten Kriegsgefangenen und Zivilpersonen“ zwischen Großbritannien und der UdSSR, ein gleichlautendes zwischen den USA und
der UdSSR unterzeichnet worden, in dem es unter anderem hieß: „Sowjetische Staatsbürger, die von den Alliierten befreit worden waren, sind
sofort nach ihrer Befreiung von deutschen Kriegsgefangenen zu trennen“
und „an bestimmten Orten und Lagern zusammenzufassen, wohin sich
die sowjetischen Repatriierungsvertreter unverzüglich begeben werden.“
Im Begleittext hieß es auch sinngemäß, daß die Rückführung der Sowjetbürger unabhängig von ihrer Rückkehrwilligkeit durchzuführen sei.
Vielleicht hätten Großbritannien und die USA die Forderung der Sowjets
nach Außerachtlassen der „Rückkehrwilligkeit“ von Millionen ehemaliger
Sowjetbürger zurückgewiesen, doch es befanden sich 1944/45 etwa
40.000 Briten und 75.000 Amerikaner in Ostdeutschland und Polen in
deutscher Gefangenschaft, die sukzessive nun von der Roten Armee befreit wurden oder nach Rückzug der Deutschen teilweise dort ziellos umher irrten. Damit hatte die Sowjetunion ein Faustpfand zur Rückführung
ihrer eigenen Staatsangehörigen gewonnen.
Vorbereitungen zur Regelung des weiteren Vorgehens hinsichtlich der
jeweiligen Kriegsgefangenen waren schon früher getroffen worden. Deshalb war die britische Haltung bestimmt von der vorauseilenden Bereitschaft Londons, jede Bedingung der Sowjets hinsichtlich Gefangenenrückführung zu erfüllen. Sie war zu allem bereit, um ihre Landsleute so
rasch wie möglich heimzuholen.
Die USA, anfangs etwas zögerlich, stimmten ebenfalls einem derartigen
Abkommen zu, nachdem das U.S. State Department ein Schreiben von
Außenminister Molotow erhalten hatte, in dem dieser die Bereitschaft
bekundete, an der ehest baldigen Repatriierung der amerikanischen
45
Kriegsgefangenen mitzuwirken, wenn es eine bedingungslose Rückführung der sowjetischen Kriegsgefangenen gäbe.
Innerhalb der militärischen Führung Amerikas waren die menschenverachtenden Praktiken der Sowjetunion nicht unbekannt. Der amerikanische General Kirk, der in Italien operierte, erhielt auf eine diesbezügliche
Anfrage vom US-Außenamt folgende Antwort:“ Die Vereinigten Staaten
stehen in dieser Frage auf dem Standpunkt, alle, die Anspruch auf eine
sowjetische Staatsbürgerschaft haben, an die Sowjetunion auszuliefern,
gleichgültig, ob sie selbst diese Auslieferung wünschen“.
Nach dieser Version wären nur jene auszuliefern gewesen, die sich selbst
als Sowjetbürger deklarierten. Leider war dies der Mehrheit der Betroffen nicht bekannt bzw. bewußt.
George Kennan, damaliger Mitarbeiter der US-Botschaft in Moskau und
hervorragender Kenner innersowjetischer Verhältnisse, „empfand nur
Grauen und Beschämung über das Vorhaben der westlichen Regierungen“. Er berichtete darüber, daß den Diplomaten klar war, daß mit der
Rückführung und Bestrafung der Repatriierten das NKVD – der sowjetische Geheimdienst - befaßt war und man sich deshalb über das weitere
Schicksal der Betroffenen keine Illusionen zu machen brauche.
Die sowjetische Seite spielte das Faustpfand der Rückstellung der westalliierten Armeeangehörigen knallhart aus und übergab die amerikanischen, britischen und französischen Soldaten den amerikanischen Mächten keinen Tag eher, als die ersten sowjetischen Displaced Persons ab
dem 23. Mai 1945 die westalliierten Zonen in Richtung Demarkationslinie verließen.
Als im Frühjahr 1945 das Ende des Krieges nahte, war vorhersehbar,
welchen Teil Deutschlands welche Alliierten als erste erreichen würden.
Um die Angehörigen der Legionen vor der Repatriierung zu schützen, die
deren sicheren Tod bedeutet hätte, brachte Prof. von Mende die ihm unterstellten Angehörigen der sowjetischen Nationalitäten von Berlin nach
Krispendorf in Thüringen. Die Amerikaner besetzten dieses Gebiet als
erste, behielten es bis Mai 1945, danach wurde es vereinbarungsgemäß
den Sowjets übergeben.
Alle Einwohner von Krispendorf wurden rechtzeitig über den nahenden
Einmarsch der Sowjets informiert und erhielten die Erlaubnis in den
Westen Deutschlands zu fliehen, wenn sie es wünschten.
Auf das Eintreffen der Sowjets verzichtete Garip gerne, er verließ das Gebiet und fuhr mit einem Fahrrad in Begleitung dreier Gleichgesinnten
via Hof nach Tübingen, eine Strecke von mehr als 400 km.
Tübingen gehörte inzwischen zur Amerikanischen Zone, dort schien jedenfalls die Gefahr einer Repatriierung gebannt. Eine Vorhut der UNRRA betrieb dort ein Lager für Displaced Persons, in dem Garip wie tausende andere auf weitere Perspektiven warteten. Im Oktober 1945 wurde
er mit vielen anderen nach München, in die Funkkaserne verlegt.
46
Ein folgenschwerer Einschnitt seiner privaten Lebensplanung, die seine
Zukunftsperspektiven tiefgreifend beschränkten, doch zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen war.
9. Zeitgeschichtliche Hintergründe
In die Überlegungen der kriegsführenden Westalliierten über die Neuordnung nach Ende des Krieges floß bereits 1943 die Sorge um den zu
erwartenden großen Personenkreis der Verschleppten und Flüchtlingen
ein. Bei einem Treffen am 9. November 1943 in Washington wurde die
ursprünglich von Churchill stammende Idee aufgegriffen, den völkerrechtlichen Rahmen und die finanzielle Grundlage für eine weltweite
Hilfsorganisation – UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation
Administration), zu schaffen. 8
Den größten finanziellen Beitrag zu dieser Organisation leisteten die USA
mit 94% der Kosten, den Rest Großbritannien und Kanada. Anfang Mai
1945 bauten die Organisatoren der UNRRA Sammellager für die Displaced Personen auf, verstreut über die gesamte Amerikanische Zone
Deutschlands. Eines der Teams fand in München im Bereich des Deutschen Museums eine geeignete Auffangstelle – das „Camp Deutsches
Museum“. In diesem Camp Nr. 108 fanden sich bald jene zusammen, die
der Krieg an ihrer Laufbahn als Hochschullehrer oder an der Fortsetzung
ihres begonnenen Studiums gehindert hatte. Zwischen 1. August 1945
und 1. Jänner 1946 hatten sich 3061 studierwillige Personen registrieren
lassen. Darunter auch Garip Sultan. Die Registrierung sollte die Grundlage für einen planmäßigen Aufbau einer Lehr- und Lerngemeinschaft
abgeben, die sich zu einer Volluniversität entwickeln sollte. So der Plan
der Gründer.
Als vorerst größtes Hindernis erwies sich die Sprachbarriere innerhalb
der aus 21 Nationen stammenden Interessierten, neben den Schwierigkeiten die erforderlichen Räumlichkeiten für Vorlesungen zu beschaffen,
sowie Verpflegung und Bezahlung der Professoren. Man einigte sich auf
Englisch als „Amtssprache“ in Lehrbetrieb und Verwaltung. An zweiter
Stelle war Deutsch als Unterrichtssprache zugelassen, weil die Professoren und Studenten des Deutschen einigermaßen mächtig waren. Auf
freiwilliger Basis wurden englische Sprachkurse angeboten. Vorgesehen
waren eine philosophische Fakultät, eine für Recht, je eine für Bauwesen,
Maschinenbau, Naturwissenschaft und Land- und Forstwirtschaft. Die
Aufnahme in die Universität lief über ein mehrstufiges Kontrollverfahren, unter anderem eine politische Überprüfung durch die Dienststellen
des CIC (Counter Intelligence Corps).
8
Archivalische Zeitschrift, 75. Band, 1979 Wien
47
Eröffnet wurde die Hochschule am 16. Februar 1946, das erste Semester
im Vollbetrieb endete am 31. Mai 1946. Obwohl man die Eröffnung der
philosophischen Fakultät als Grundlage aller Wissenschaften und Symbol der klassischen europäischen Universität mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln vorangetrieben hatte, konnte sich mangels geeigneter
Professoren nicht verwirklicht werden. 9
10. Konstruierte Unsterblichkeit
Nach dem Ende des II. Weltkrieges, als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in ihr Völkergefängnis Sowjetunion „heimkehrten“, mit oder gegen
ihren Willen repatriiert wurden, standen Tataren im kollektiven Kollaborationsverdacht.
Zum einen beschuldigte Stalin das Volk der Krimtataren der Kollaboration mit den Deutschen und deportierte das gesamte Volk in einer Nachtund Nebelaktion aus ihrem angestammten Gebiet nach Zentralasien,
zum anderen hatten etwa 20.000 sowjetische Kriegsgefangene tatarischbaschkirischer Herkunft auf Seite der Deutschen gegen die Sowjetunion
gekämpft. Deshalb lastete der Pauschalvorwurf der Kollaboration schwerer auf den Tataren, als auf den anderen nichtrussischen Völkern. Auch
die durch die Altemigranten geschaffene Möglichkeit einer „bevorzugten“
Stellung der Tataren und Baschkiren innerhalb der Kriegsgefangenen,
trug zu dem Pauschalvorwurf bei. Obwohl sich aserbeidschanische, ukrainische, turkestanische, georgische und armenische Kriegsgefangene
ebenfalls auf die deutsche Seite geschlagen und Legionen gebildet hatten,
wovon die wolgatatarische die zahlenmässig kleinste gewesen war.
Um diesen – vermeintlichen – Schandfleck loszuwerden, suchte man in
Tatarstan nach einer Gelegenheit, die Kollektivschuld abzuschütteln und
das Image dieses Volkes in Richtung patriotisch-sowjet-tatarisch zu ändern. Ein Beispiel dafür mußte gefunden werden, daß sich Tataren sehr
wohl sowjetisch-patriotisch verhalten hatten, Kollaborateure verblendete
Einzelgänger gewesen waren.
Ob Zufall oder gezielte Auswahl ist nicht bekannt, jedenfalls bot ein Artikel in der „Literaturnaja Gazeta“ vom 25. 1953, die Grundlage das
schlechte Image der Tataren in ein besseres Licht zu rücken. Der Artikel
enthielt ins russische übersetzte Gedichte des tatarischen Schriftstellers
Musa Dshalil, der 1944 in Berlin Plötzensee als Mitglied einer antifaschistischen Widerstandsgruppe dem Fallbeil zu Opfer fiel, die von der
deutschen Abwehr aufgedeckt worden war.
Die Behauptung Garip Sultans (im erwähnten Interview anläßlich seines Ansuchens zur Emigration
in die USA-, vom Oktober 1945) im März 1946 an der UNRRA-Universität Philsophie studiert zu haben, ist nicht zutreffend, weil a) die Universität erst mit Februar 1946 den Betrieb aufgenommen, und
b) dort nie eine Philosophische Fakultät in Betrieb ging.
9
48
Wer war nun dieser Musa Dshalil, bis 1941 nur wenigen Literaturinteressierten bekannt?
Musa Mustafovich Zalilov – später legte er sich den Künstlernamen
Dshalil zu - war im Jahr 1906 in einem kleinen Dorf des Orenburger
Gouvernement als Sohn eines armen Bauern geboren worden. Seine
Schulbildung war eine religiöse, in der Medrese Chusainija, einer der bekanntesten Koranschulen Rußlands. Mit 15 Jahren, 1921, nachdem die
Bolschewiken schon fest im Sattel saßen, entschloß er sich, seine Weiterbildung dort fortzusetzen, wo die größte Chance auf sozialen Aufstieg
wahrscheinlich schien. Ungeachtet seiner „Religiosität“ entschied er sich
für die Ausbildung an der Partei-Militärschule in Orenburg und Kasan
und schloß ein Studium an der literarischen Abteilung der Kasaner Universität an. Schnell machte er auf dem kulturellen Sektor der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Karriere: Er wurde Mitglied der tatarobashkirischen Sektion des Zentralkomitees des Komsomol (sowjetischer
Jugendverband) und fungierte als Herausgeber tatarischer Kinderzeitschriften, die vom Komsomol veröffentlicht wurden.
Seine anderen Arbeiten, Gedichte und ähnliches waren wenig bekannt zu
dieser Zeit, er widmete sich mehr der politischen Arbeit in Partei und
Komsomol, als seinem gewählten Beruf.
Die tatarischen Schriftsteller waren im Schriftstellerverband Kasan organisiert, im Jahr 1936 stand an der Spitze des Verbandes ein bekannter
Dichter namens Talimgan Ibrahimov. Ibrahimov litt an Tuberkulose
und befand sich deshalb zu einer Kur auf der Krim. Um sich nach dem
Erfolg der Kur zur erkundigen und die weitere Zukunft des Schriftstellerverbandes zu besprechen, besuchten ihn Kollegen aus Kasan, direkt aus
Moskau kommend traf Dshalil ein.
Als Ergebnis dieses Besuches wurde Ibrahimov von linientreuen Kollegen des Panislamismus beschuldigt, ein Sakrileg im Stalinreich, das unverzüglich geahndet wurde. Imbrahimov wurde in das KGB-Gefängnis
von Cerek Kül deportiert, das Todesurteil für den kranken Mann. Als
Folge dieses Vorfalls wurden weitere Untersuchungen innerhalb des tatarischen Schriftstellerverbandes durchgeführt, was zu weiteren Deportationen von Mitgliedern führte, die – nach Behauptungen des Untersuchungsausschusses - die Meinung Ibrahimovs geteilt hatten, z.B. der
Dramatiker K. Tintschurin.
Ein ähnliches tragisches Bild bot sich in innerhalb anderer Minderheitenvölker: in Burjatien verhaftete man die Schriftsteller P.Dambinow und
Z. Don, in Udmurtien die Schriftsteller D. Korepanow-Kedra (Mitrei
Kedra) und M. Konowalow, in Baschkirien A. Amantai, D. Julty
(Lutyjew), S. Galimow, G. Dawletschin und A. Tagirow. 10
10
A. Jakowlev, Seite 193
49
Als 1937 der nächste Kongreß des Tatarischen Schriftstellerverbandes in
Kasan stattfand, befand sich unter den Teilnehmern auch Musa Dshalil.
Er kritisierte jene Kollegen, die ein von der Parteilinie abweichendes
Verhalten an den Tag legten und wurde auf Zuruf der KPdSU 1939 zum
Präsidenten der Tatarischen Schriftstellervereinigung gewählt. Ebenso
"gewählt" wurde er als Vorstandsmitglied der Arbeitnehmervereinigung
in Kasan.
Diese politischen Funktionen in den späten 1930 er Jahren belegen die
aktive Beteiligung Musa Dshalils an der stalinistischen Schreckensherrschaft. 11 (Jahre später soll einer der Angehörigen der Wolgatatarischen
Legion – Rähim Sattar –bei einem Zusammentreffen mit Dshalil in
Deutschland gesagt haben: „ Ihr habt über Talimdjan Ibrahimov gesiegt“.) (Unbelegt, aber nicht unglaubwürdig!)
Im ersten Kriegsjahr beteiligte sich Dshalil nicht an den Kämpfen an der
Front, er arbeitete als Redakteur für die Zeitung „otvaga“.12 Im Juni 1942
wurde er als Politkommissar der Frontabteilung zugeteilt, geriet bereits
im August 1942 in deutsche Gefangenschaft.
Zu dieser Zeit war Ahmet Temir, der Tatar mit türkischem Paß, in verschiedenen Lagern unterwegs (wie oben erwähnt), um seine Landsleute
– Tataren und Baschkiren – aus den grauenhaften Zuständen der Kriegsgefangenlager zu befreien. Er bot ihnen an, sich am Kampf gegen die
Sowjets innerhalb der Wolgatatarischen Legion zu beteiligen, mit dem
Ziel, nach dem Sieg Deutschlands einen eigenen Staat zu gründen, um
der russischen Herrschaft nach jahrhundertelanger Unterdrückung zu
entkommen. Der Beitritt erfolgte freiwillig, ohne jeden Zwang - die
Deutschen wußten, mit Zwang hätten sie niemanden zum Kampf gegen
ihre Landsleute bewegen können. Dshalil entschied sich für den Betritt
zur Wolgatatarischen Legion, er hätte die Wahl gehabt auch als Hilfswilliger zu arbeiten oder eine Tätigkeit außerhalb der Legion anzunehmen,
ohne jeden persönlichen Nachteil.
Nach seinem Beitritt wurde er nach Wustrau bei Berlin, vorerst in das
geschlossene Lager überstellt, mit den Gepflogenheiten in Deutschland
und der Legion vertraut gemacht und wechselte nach Absolvierung diverser Kurse in das offene Lager.
Schäfi Almaz, der Präsident des Tatarischen Kampfbundes entschied
den Schriftsteller Dshalil an den tatarischen Radiosendungen im Propagandaministerium mitarbeiten zu lassen. Vermutlich wäre er ohnehin für
die kämpfende Truppe wenig geeignet gewesen, nur etwa 1,50 m groß,
von schmächtiger Gestalt.
Als er aus dem offenen Lager entlassen wurde erhielt er einen Paß zur
freien Bewegung und genoß vor der Aufnahme der Propagandaarbeit ei11
12
Francoise Dauce, s.o.
Francoise Dauce zitiert die Archivarin Olga Fedotova
50
nen Erholungsaufenthalt in Pomernaija auf Rügen, in einem von drei
vorhandenen, nur für Tataren eingerichteten Erholungsheim. Nach seiner Rückkehr aus Pomernaija wurde ihm in Berlin eine Wohnung zugewiesen.
Anfang 1943 war nicht mehr zu übersehen, daß Deutschland den Krieg
verlieren würde. Für die meisten sowjetischen Kriegsgefangenen eine
Schreckensvorstellung, wenn sie an die Rückkehr in die Heimat dachten.
Für jene, die sich den Deutschen angeschlossen hatten, ein Horrorszenario. Ohne Zweifel war das zu erwartende Schicksal das wichtigste Thema
unter den Legionären, alle suchten nach einer Überlebensstrategie. Eine
der Alternativen war, nach dem Krieg möglichst unterzutauchen und danach in Europa zu bleiben, für Optimisten eine andere, in die Heimat zurückzukehren, mit der Hoffnung, die Sanktionen würden nicht allzu
schwer ausfallen.
Auch Dshalil suchte im Gespräch mit Kameraden, unter anderem mit
Enver Ajdagulov, nach einem Ausweg. In Tatarstan hatte Dshalil der nationalen Nomenklatur angehört, mit dem Lebensstandard, wie ihn nur
politische Funktionäre genossen. Hier in Deutschland würde er ein Niemand sein, ohne Beruf oder Perspektiven. Zu Enver Ajdagulov meinte er:
„die Deutschen werden den Krieg verlieren, was sollen wir tun?“ Enver
Ajdagulov erwähnt dies in seinen Memoiren, die in Kasan verfügbar sind.
13 Wie ein Damoklesschwert hing das sich nähernde Kriegsende über allen Legionären.
Ende 1943 beauftragte Schäfi Almaz den Propagandisten Musa Dshalil
innerhalb der Kulturabteilung der Wolga-Tatarischen Legion nach
Künstlern zu suchen, die anläßlich des in Greifswald geplanten Kongresses an den Feierlichkeiten zum einjährigen Bestehen der Legion teilnehmen sollten. Diese Abteilung stand, wie andere Abteilungen auch, unter
Aufsicht der deutschen Spionageabwehr.
Dshalil kam dort mit einem Legionär namens Ahmet Simaev ins Gespräch, der ihm vom Bestehen einer antifaschistischen Widerstandsgruppe erzählte. Er ließ sich überzeugen, ebenfalls beizutreten. Die Mitglieder sahen darin eine dritte Alternative dem Gulag oder sicheren Tod
in der Sowjetunion zu entkommen, hofften mit diesem Hintergrund als
Helden in die Heimat zurückkehren zu können, als Beweis dafür, daß sie
zur Niederlage der Deutschen unter dem Deckmantel der Kollaboration
beigetragen hätten.
Ajdagulov nannte sich nach Kriegsende Enver Galim, arbeitete viele Jahre als Journalist für Radio
Liberty. Ihm gelang es nach dem Krieg die Türkische Staatsbürgerschaft zu erwerben, so entging er
den sowjetischen Häschern.
13
51
Musa Dshalil, der Kommunist stalinistischer Prägung hatte schon die
opportunistische Karte gespielt als er sich freiwillig zur Wolgatatarischen
Legion gemeldet hatte, nun bewies er einmal mehr seine Fähigkeit zum
Wendehals. Nach weiteren Kontakten mit anderen Kollegen und einem
zweiten Besuch im Legionärsquartier kehrte er mit Flugblättern nach
Berlin zurück, die den Aufdruck trugen: „Tötet die Deutschen, lauft zu
den Partisanen über“.
Innerhalb der Legion wurde jeden Morgen ein Zählappell durchgeführt.
Da sowohl die Infiltration von Spionen befürchtet als auch auf deutsche
Ordnung in den Baracken Wert gelegt wurde, durchsuchten jeden Morgen je ein Mann von der deutschen Spionageabwehr und ein tatarischer
Unteroffizier – namens Micurin – die Baracken. Unter einem der Kopfkissen fanden sie das verdächtige Flugblatt, und nach genauer Durchsuchung aller Gepäckstücke, gleichlautende Flugblätter in Dshalils Koffer.
Er wurde unverzüglich zur Gestapo nach Berlin gebracht und gab die
Namen der anderen antifaschistischen Gruppenmitglieder preis:
Gainan Kurmasch als den Anführer und Initiator der Gruppe, Fuat Saifulmulukow, Abdulla Alisch, Fuat Bulakow, Garip Schabajew, Achmet
Simajew, Abdulla Batalow, Sinnat Chasanow, Achatnaschew und Salim
Bucharow.
Die Urteile, Tod durch die Guillotine, wurden ein Jahr lang aufgeschoben, vermutlich wollten die Deutschen ein Faustpfand behalten, das sie
im Bedarfsfall hätten einsetzen können. Doch nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden alle Mitglieder der Widerstandsgruppe in
Berlin-Plötzensee am 25. August 1944, auch Musa Dshalil, im Abstand
von drei Minuten durch das Fallbeil hingerichtet.
In den Jahren nach 1945 waren die sowjetischen Behörden zunächst der
Meinung gewesen, Dshalil würde in Westeuropa bleiben. Es wurde ein
Verfahren gegen ihn eröffnet, später eingestellt,14 vermutlich, als sein
Tod Faktum war.
Das Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR hatte den Tatarischen
Schriftsteller Abdulla Musa Dshalil auf die Liste der besonders gefährlichen Verbrecher gesetzt, weil ehemalige Kriegsgefangene über die Rolle
Dshalils in Verbindung mit den deutschen Truppen ausgesagt15 hatten,
auch das Verfassen einiger antisowjetischer Artikel wurde ihm zur Last
gelegt. Die Namensliste dieser „gefährlichen“ Personen wurde an alle
Spionagenetzwerke – auch jene im Ausland – versandt. In den Schulen
wurden seine Gedichte eliminiert, auf Anweisung der Lehrer mußten die
Schüler seine Abbildung aus den Schulbüchern entfernen. 16 Der spätere
14
Altabash N r . 3 / 4 2 , 2o08: Interview mit Professor Abdulchan Achtamsjan, Kommunistische Partei der Russischen Föderation.
15 Francoise Dauce, s.o.
16 Ilshat Gimadeev, Jan Plamper
52
Nationalheld sollte aus dem Gedächtnis seiner Zeitgenossen gelöscht
werden.
Nach Erscheinen des Artikels in der „Literaturnaja Gazeta“ wendeten
sich auch die Frau Dshalils(ob die 1., 2., oder 3., ist nicht bekannt) und
seine Tochter Chulpan an die Öffentlichkeit mit dem Versuch den Ehemann und Vater vom Vorwurf der Kollaboration zu befreien. Unterstützt
von Gasi Kaschschaf, einem Freund Dshalils und Aktivisten des sowjetischen Terrorregimes.
Die Ehefrau Dshalils war immer wieder vom NKWD verhört worden, alle
Freunde hatten sich abgewandt. 17 Die Familie bemühte sich um die Rehabilitierung Dshalils, nicht zuletzt auch deshalb, um ihr eigenes Leben
lebenswerter zu machen. Frei von ständigen Verhören, nicht mehr bedroht vom Damoklesschwert der Haftung für den Ehemann.
Es bestand keine Zweifel daran, daß Dshalil, wäre er zurückgekommen,
das gleiche Schicksal ereilt hätte wie die anderen Kriegsgefangenen. Er
hätte sein Leben im Arbeitslager weiterführen müssen oder wäre liquidiert worden.18
Der Artikel in der „Literaturnaja Gazeta“, dem zahlreiche weitere folgten,
war eine ungeheuer große Hilfe, der Anstoß, für die von der Familie angestrebten Rehabilitation Dshalils. Allerdings mit einer Eigendynamik,
die nicht vorhersehbar gewesen und vermutlich auch nicht von Frau und
Tochter Dshalils beabsichtigt gewesen war.
Dshalil wurde als Werkzeug zur Konstruktion des tatarisch-sowjetischen
Helden mißbraucht. Endlich war ein Mann gefunden, ein Tatar, ein Held,
der seinen Einsatz für die Sowjetunion mit dem Leben bezahlt hatte. Das
Beispiel seines Schicksals sollte beweisen, daß auch Tataren sowjetischpatriotisch gehandelt hatten!
Die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe, die das gleiche Schicksal
erlitten hatten, wurden nicht oder nur am Rande erwähnt. Propagandaerfolg und Manipulation der Massen, nach erprobter sowjetischer Art!
Tatsächlich hatte sich Dshalil wie viele andere verhalten, die um ihr Leben fürchteten. Hatte er sich einst vom religiösen „Medrese“-Schüler
kurzfristig zum antireligiösen Kommunisten gewandelt, danach vom
„überzeugten“ Rotarmisten 19 zum Mitglied der Wolga-Tatarischen Legion die gegen die Sowjets kämpfte, in letzter Konsequenz zum Beitritt zur
antifaschistischen Untergrundbewegung.
All diese Wandlungen sind gekennzeichnet davon, daß er jede Chance
ergriff um bessere Lebensbedingungen und Aufstiegschancen für sich zu
schaffen. Ein grundsätzlich legitimer Wunsch, der im Fall Dshalil allerdings den Makel ehrloser, unmoralischer Beweggründe aufweist. AusgeInterverwie „Altabash“ vom Februar 2008 mit der Tochter Dshalils
Ebenda.
19 Wie die Briefe an seine Frau und Tochten belegen
17
18
53
nommen die letzte Sinneswandlung. Die meisten Menschen würden im
Angesicht des Todes alles Mögliche unternehmen, um das Unvorstellbare
zu verhindern.
Doch der Beitritt zur Widerstandsbewegung macht Dshali keinesfalls
zum Helden, schon gar nicht zum sowjetisch-tatarischen, eher – an seinen vorangegangenen Entscheidungen gemessen – zum lupenreinen Opportunisten.
Nach den Gesetzen Stalins waren alle Rotarmisten, die in Gefangenschaft
gerieten, Verräter. Ausgenommen jene, die verwundet in diese Situation
gerieten.
Die offizielle Biographie Dshalils berichtet von einer schweren Verwundung, mit der er in Gefangenschaft geraten sein soll. Doch keiner dieser
„Quellen“ liefert einen Hinweis, welcher Art diese Verwundung gewesen
sei, auch nicht an welchem Ort seine Genesung erfolgte!
Diese vielfach zitierte „Verwundung“ ist eine der Unwahrheiten der Biographen, um die Lebensgeschichte eines unbefleckten Helden zu publizieren, eine Geschichte zu erfinden, mit dem Ziel, einen Tataren posthum
zum Nationalhelden zu erheben, um die oktroyierte Kollektivschuld des
Volkes ad absurdum zu führen.
Die Person, die den größten persönlichen Vorteil am Aufbau des Mythos
Musa Dshalil genoß, war Rafael Mustafin. Ein ausschließlich in der Sowjetunion bekannter Schriftsteller, der mit regelmäßigen Publikationen
den Mythos Dshalil mit aufbaute und jahrzehntelang am Leben erhielt.
Geboren in der Stalinära, von frühester Jugend auf indoktriniert durch
stalinistische Propaganda und die Technik des Personenkults.
Er veröffentlichte immer wieder Artikel mit nicht belegten Behauptungen
für das Heldentum Dshalils, suchte und wählte einen Sündenbock, der
am Tod Dshalils mitschuldig sein, ihn verraten haben sollte.
Jahrzehnte lang berichtete Mustafin in der tatarischen Presse, und in allen zur Verfügung stehenden Medien über den „Verräter“ 20 Garip Sultan,
der angeblich den Tod des „Patrioten“ Musa Dshalil verschuldet habe.
Auf der Website http://tatarstan.ru.com/upload/numbers/06-2009.pdf
ergoß er sich in Diffamierungen gegen Sultan, ohne einen Beleg anzuführen, woher diese Beschuldigungen stammen. Daß Behauptungen, sollen
sie glaubwürdig sein, unabhängiger Quellen bedürfen, davon hatte der
1931 Geborene offenbar noch nichts gehört.
Unter anderem behauptete er, Sultan habe die antifaschistischen Aktivitäten Dshalils an die Deutschen verraten und dafür „irgendeinen“ Orden
erhalten. Welchen Orden, wann, wo? Dafür gibt es keinen Hinweis, weder in deutschen noch in US-amerikanischen Quellen.
20 http://www.azatliq.org/content/garif_soltan/1923304.html
54
Über Dshalil behauptete Mustafin, er sei der Initiator und Anführer der
antifaschistischen Gruppe gewesen, obwohl in zahlreichen Quellen die
Mitläuferfunktion Dshalils belegt ist. Der Initiator und Anführer der Untergrundzelle war Gainan Kurmasch.
Mustafin legt Garip Sultan pro-Nazi Bemerkungen in den Mund, die dieser anläßlich der Eröffnung des Kongresses in Greifswald März 1944 gesagt haben soll. Die Rede liegt vor, diese Bemerkungen sind nicht zu finden.
In einer Art Klatsch auf niedrigstem Niveau erwähnt Mustafin einen Ostdeutschen namens Friedrich Bieter (ein beliebiger Name ohne Details),
der behauptet haben soll, die Wolga- tatarischen Kriegsgefangenen seien
in Kampfeinheiten aufgenommen und danach sofort vereidigt – wer sich
weigerte, sei sofort erschossen worden.
Diese Falschaussage sollte wohl die Zwangssituation Dshalils anläßlich
seiner Entscheidung für die Wolgatatarische Legion glaubhaft machen.
Joachim Hoffmann, ein anerkannter Experte dieser Thematik schreibt in
„Ostlegionen“ „. auch beim Stab der Ostlegionen wurden die Kriegsgefangenen vor die freie Wahl gestellt…. ob sie Waffendienst leisten wollten“ 21 und weiter „Wer den Dienst mit der Waffe verweigerte oder sich
aus „politischen“ Gründen als nicht geeignet erwies, brauchte Repressalien deswegen nicht zu befürchten …… er erhielt die gleiche Behandlung
wie die Legionäre…“.
Die wohlrecherchierte Anmerkung Hoffmanns ist auch in zahlreichen
anderen Publikationen belegt – doch Mustafin ignorierte Beweise.
In einem Artikel in englischer Sprache Poetry of truth and passion“ 22
behauptet er im Zusammenhang mit Dshalils Beitritt zur WolgaTatarischen Legion: „The fascists brainwashed the prisoners in a rabidly
chauvinistic and anti-Soviet spirit, to prepare the legionnaires for action
against the Soviet Army…”
Die böswillige Diffamierung Garip Sultans, der sich durch intelligentes
Agieren den Fängen der Sowjets entzogen hatte, sollte wohl davon ablenken, daß sich dieser Mann sein Leben lang dafür einsetzte auf die Unterdrückung seines Volkes aufmerksam zu machen.
Sultan begleitete die Legionäre nach ihrer Entlassung aus dem Lager in
eines der drei Erholungsheime der Wolgatataren – in seiner Funktion als
Assistent von Dr. Heinz Unglaube - und sorgte danach auch für die erforderlichen Papiere und Wohnung. So auch für Dshalil, den er nach in
das Erholungsheim Pomernaija begleitete. Das war die einzige Gelegenheit bei der die beiden zusammen trafen. Bis dahin war der Name Musa
21
22
Joachim Hoffmann „Die Ostlegionen, 1941-1943“, 1986, Seite 89
http://kitaphane.tatarstan.ru/eng/jal_1.htm
55
Dshalil für Sultan kein Begriff gewesen. Dessen Name war weder in der
Schule noch an der Pädagogischen Akademie erwähnt worden.
Obwohl sich Mustafins Publikationen immer wieder mit Sultan befaßten,
fand er es nie für erforderlich, mit dem Mann, dessen Namen er als Einkommensquelle mißbrauchte, Kontakt aufzunehmen, ihn selbst zu befragen. Nach der Zeit der Perestroika wäre dafür reichlich Gelegenheit gewesen, zumal Mustafin mehrmals (Ost-)Deutschland besuchte hatte, um
in Berlin Beweise für das Heldentum Dshalils zu finden. Die gibt es aber
nicht.
Prof. Dr. Nadir Devlet, ehemaliger Mitarbeiter von Radio Liberty, Historiker, anerkannter Universitätsprofessor und Verfasser zahlreicher Bücher, bezeichnet die Aussagen Mustafins als „fraglich“.23
Mustafin äußerte sich auch in beleidigender Form darüber, daß Sultan
nie mehr seine Heimat besucht habe. Da er nichts über diesen Mann
wußte, war ihm auch nicht bekannt, dass sich Sultan bald nach seiner
Pensionierung einer schweren Herzoperation unterzogen hatte, die eine
regelmäßige Überwachung seiner Medikation erforderte. Abgesehen davon, dass die politische Situation Anfang der 1990 er Jahre für einen bekannt politischen Gegner der Sowjetunion, in Rußland nicht weniger gefährlich war, als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.
Mustafin hatte in jedem Fall ganze Arbeit geleistet, um seine Einkommensquelle zu sichern. Wenn man sich schon mit den haltlosen Behauptungen Mustafins befaßt, stellt sich die Frage: was hat dieser Tatar je für
sein Volk geleistet?! Im Vergleich zu Garip Sultan?! (siehe Kap.12) Bekannt sind lediglich die erwähnten Lügenpublikationen, die sich immer
wieder mit demselben Thema befaßten, und ihn als überzeugten Kommunisten sowjetischer Prägung auch nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion auswiesen.
Seine zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema, von anderen
Exkommunisten als Trittbrett benutzt, haben jedenfalls erreicht, das
Musa Dshalil heute in Rußland und Tatarstan als „Nationalheld“ gefeiert
wird. Es wurden Denkmäler zu seinem Andenken errichtet wurden, Straßen nach ihm benannt und Feiertage ihm zu Ehren abgehalten.
In Jahr 1956 wurde ihm posthum der Titel Held der Sowjetunion verliehen, im Jahr 1957, wurde der Lenin-Preis für seinen Zyklus von Gedichten ausgezeichnet.
Sein Ruhm ist auferstanden wie der Phönix aus der Asche, ausgeblendet
und verschwiegen wird, dass er vor 1941 aktiver Teilnehmer am Stalinis-
23
Email vom 28.12.2012
56
tischen Terrorregime gewesen ist, dazu beigetragen hat, dass mehrere
seiner seiner Kollegen in den Gulag geschickt wurden.
Doch nicht alle „Patrioten“ in Tatarstan folgen der Glorifizierung
Dshalils. Journalisten die mit den Usancen der freien Presse vertraut
sind, versuchten die Fakten über den „Helden“ der glorifizierten Legende
gegenüber zu stellen. Sie scheiterten – noch 20 Jahren nach Niedergang
der Sowjetunion - an der Wachsamkeit der Mythos-Erfinder, bis hin zu
persönlichen Nachteilen.
Im Jahr 2009 veröffentlichte Minakhmet Shakhapov, der tatarische Redakteur der Zeitschrift „Miras“ ein historisches Drama mit dem Titel
„Der Tod des Barbarossa“ (Barbarossa war das Kennwort für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion). Das Drama hat den „Großen Vaterländischen Krieg“ zum Thema. Der Verweis auf die Wolgatatarische Legion ist nicht zu übersehen. Musa Dshalil wird in zwei Passagen erwähnt,
er wird von Hitler für seine Loyalität zu Deutschland mit einem Auto und
einem Haus beschenkt.
Shakhapov war ein bekanntes Mitglied der Schriftstellerorganisation in
Tatarstan, sowie Mitglied der Academy of New York und Gewinner des
International Award George Soros.24 Nach der Aufführung dieses Dramas wurden dem Autor Verleumdung und antirussische Beziehungen
zum Westen vorgeworfen. Er wurde von der Tatarischen Schriftstellervereinigung ausgeschlossen.
Minnulin Tufan (tatarischer Schriftsteller, er starb im Mai 2012) tatarischer Staatsrat- Stellvertreter und Ehrenbürger von Kasan, erläuterte,
wie es zu diesem Ausschluß kam:
„Aus meiner Sicht ist die Schriftstellervereinigung eine Union von Menschen, die die gleiche Ansicht teilen. („nach sowjetischen Usancen“ Anm.
der Autorin). Von dem Drama, in dem von Shakhapov Musa Dshalil als
ein Freund Hitzlers, als ein Feind unseres Landes dargestellt wird, war
ich furchtbar getroffen.“
Der Zeitung Miras, die den Text Shakhapov`s veröffentlicht hatte wurden
die staatlichen Subventionen entzogen. Im Jahr 2010 leitete der Staatsanwalt eine Untersuchung gegen Shakhapov wegen falscher Anschuldigung ein.
Zu Dsahlils Zeiten wurde ein Mitglied der Tatarischen Schriftstellervereinigung in den Gulag geschickt, wenn er es wagte eine eigene Meinung
zu haben – 75 Jahre später wird ein Mann mit dem gleichen Makel
„NUR“ ausgeschlossen!
24
Francoise Dauce, s.o.
57
Ein weiterer Bannstrahl traf Fauzia Bayromowa, eine bekannte tatarische
Aktivistin, die versucht hatte die wahre Rolle Dshalils darzustellen. Sie
wurde im Februar 2010 wegen „Anstiftung zum Rassenhaß“ verurteilt.
Garip Sultan litt unter Mustafins Beschuldigungen, konnte sich aber nie
dazu entschließen, sich zu wehren, mit Gegenbeweisen zurückzuschlagen. Seine bereits erwähnte beinahe pathologische Harmoniesucht und
die Aversion gegen Streit, verhinderten dies. Aber auch seine Abneigung
zeitgemäße Kommunikationsmittel zu nutzen.
11. Neuanfang?
Obwohl die Stadt München sehr unter den Kriegseinwirkungen gelitten
hatte, der Häuserbestand dezimiert oder stark beschädigt, die Nahrungsmittel sehr begrenzt und nur auf Marken zu erhalten waren, entwickelte sich fünf Monate nach dem Kriegsende weder reges Leben. Vor
allem die jungen Männer in den UNRRA-Lagern begriffen langsam, dass
sie außer Lebensgefahr waren, alle beeilten sich, die versäumte Jugend
nachzuholen.
Auf dem Gelände der Funkkaserne, in der auch Garip Aufnahme gefunden hatte, wurde Musik gemacht, alte Akkordeons, Geigen und andere
Instrumente tauchten wie aus dem Nichts auf. Tanzabende wurden veranstaltet, allerdings waren Mädchen in der Minderheit. Münchnerinnen
hatten keinen Zugang zu den Lagern, doch ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Flüchtlinge aller möglichen Nationalitäten waren gleichfalls,
wenn auch getrennt von den Männern, interniert.
Tanzen war schon im Teenageralter Garips Leidenschaft gewesen,
gleichgültig ob Volks- oder Gesellschaftstänze. Dem gutaussehenden,
sportlichen Tataren fehlte es nie an Tanzpartnerinnen, damit erregte er
den Neid der Russen, den diese mit tätlichen Angriffen abreagieren wollten. Tataren zusammen mit Tschetschenen wehrten sich gegen die Russen, bis die Militärpolizei einschritt und den Tanzabenden ein Ende bereitete. Nicht nur waren jene gegenseitigen Animositäten ausschlaggebend, die die Minderheitenangehörigen an die Unterdrückung durch die
Russen erinnerten, zudem wollten die Russen im Gegenzug ihre Überlegenheit beweisen. Unterschwellige Abneigungen, wie der Protest gegen
die Wlassow-Aktivität Ende 1944 bewies und - vorweg genommen - der
Vorschlag der russischen Abteilung bei Radio Liberty in den 1960 er Jahren, Russisch als lingua franca innerhalb der Radiostation zu benützen.
Unter den Tanzpartnerinnen, die Garips Gesellschaft suchten, befand
sich auch eine hellhäutige, kleingewachsene, gleichaltrige junge Frau, eine Finnin, wie sie sagte, mit Vornamen Nadja. Sie sei nach Deutschland
gekommen, um ihren Vater zu suchen, der vor vielen Jahren als Schiffskapitän nach Europa gegangen und nicht wiedergekehrt sei. Sie arbeitete
58
als Verkaufshilfe im UNRRA-Laden und warte auf eine Möglichkeit,
nach Finnland zurückzukehren.
Im Februar 1946 wurde Garip, zusammen mit Ukrainern und Angehörigen anderer Nationalitäten - ausgenommen deklarierten Russen - in ein
restauriertes Lager in Mittenwald, an der Grenze zu Österreich, verlegt.
Dort stieg er rasch in eine Führungsposition auf, als Leiter der neu installierten Kriminalpolizei des Lagers, dessen Aufgabe es war, die Infiltration von KGB-Spionen zu verhindern und allgemeine Ordnungsaufgaben zu übernehmen sowie die Verhinderung von Mädchenbesuchen.
Letzteres eine Aufgabe, die den Bock zum Gärtner machte.
Im darauffolgenden Monat erschien Nadja, die seinen Aufenthaltsort
herausgefunden hatte, teilte ihm mit, dass sie von ihm schwanger sei. Ein
Schock für den Zweiundzwanzigjährigen, der ohne Ausbildung, ohne
Einkommen, ohne Perspektiven in einem fremden Land saß. Sie war mit
all ihren Habseligkeiten angekommen, ließ keinen Zweifel daran, dass sie
nicht daran dachte in das UNRRA-Lager in München zurückzukehren.
Der Verbleib einer Frau in der Jägerkaserne war nicht möglich, doch
Kindermädchen und Hausangestellte wurden in Mittenwald auch Anfang 1946 gesucht. In dieser Funktion fand sie eine Bleibe und Broterwerb in Mittenwald. Von einer Schwangerschaft, die doch hätte mindestens drei Monate alt sein müssen, war allerdings nichts zu sehen.
Auch in den kommenden Wochen blieb die Schwangerschaft unsichtbar.
Der zweiundzwanzigjährige Garip aus dem rückständigen tiefsten Mittelasien, der nie zuvor über biologische Voraussetzungen gehört hatte,
dachte nur darüber nach, wie diese Situation zu meistern sei. Über das
zeitliche Fortschreiten einer Schwangerschaft nachzudenken, lag außerhalb seiner Gedankenwelt. Dass er für diese kommende Leben zu sorgen
haben würde, darüber gab es für ihn keinen Zweifel. Die Tradition und
die Werte mit denen er aufgewachsen war, ließen eine andere Möglichkeit nicht zu.
Als im Spätsommer und Herbst 1946 die Schwangerschaft tatsächlich
sichtbar wurde, sah er keine andere Alternative, als sich um die erforderlichen Papiere für eine nicht geplante und nicht gewünschte Verehelichung zu bemühen. Zwar schob er die Entscheidung bis knapp vor der
Geburt hinaus – mit der Illusion, es würde sich eine andere Möglichkeit
ergeben - doch die Ehe wurde am 13. November 1946 am Standesamt
Mittenwald/Bayern geschlossen.
Drei Wochen danach – am 9. Dezember 1946 – wurde das Kind geboren,
ZWÖLF MONATE nach Ankündigung der bestehenden Schwangerschaft!
Die Verehelichung brachte noch eine andere Überraschung: Die Finnin
Nadja hieß mit Vornamen Maria, stammte aus dem sowjetischen Teil Ka59
reliens und befand sich bereits seit Dezember 1942 in Deutschland – lt.
Flüchtlingspaß ausgestellt in Hannover. 25
Spätere Informationen vorweg genommen: Die Frau war mit der zurückflutenden deutschen Wehrmacht nach Deutschland gekommen, schwanger von einem Deutschen und hatte im August 1943 eine Tochter zur
Welt gebracht, in Halberstadt, im Landkreis Sachsen- Anhalt.
Danach arbeitete sie als Dienstmädchen in Halberstadt und ging 1944
nach Berlin, um (angeblich) einen Weg zu finden nach Finnland zurückzukehren. An der finnischen Botschaft war es ihr gelungen (Finnland war
zu dieser Zeit Verbündeter des Deutschen Reiches, den Beamten, die diese Papiere ausstellten mangelte es an geographischen Kenntnissen 26)
finnische Papiere zu erhalten, als Grundlage für alle erforderlichen Nachfolgepapiere.
Tatsächlich war sie in Luigi in Karelien geboren, das auch 1923 schon
zur Sowjetunion gehörte, hatte bis zu ihrer Abreise nach Deutschland
mit ihrer Mutter im Kreis Leningrad gelebt.
Wann Garip davon erfuhr, dass er eine Russin und keine Finnin geheiratet hatte, eine Frau, die ihm unter dem Vorwand einer nicht vorhandenen Schwangerschaft nachgereist war, ist nicht bekannt.
Sicher zu jedem Zeitpunkt – vor allem aber unmittelbar nach dem Krieg als er außerordentlich aktiv und ausschließlich damit beschäftigt war die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Problem der Tataren zu
lenken - hätte das Zugeständnis eine Russin geheiratet zu haben seinem
Image erheblich geschadet. Wenn er auch immer beteuerte, keine Vorbehalte gegen Personen russischer Herkunft zu haben, hätte es sein ausgeprägter Patriotismus nicht zugelassen, zuzugeben, mit einer Russin die
Ehe eingegangen zu sein. In der Atmosphäre der Feindseligkeit, die zwischen den russischen und den nicht-russischen Gruppen im Deutschland
der Nachkriegszeit herrschte, hätte er nie den Mut gefunden die ethnische Herkunft seiner Frau offen zu legen. An der Legende der „Finnin“
hielt er bis zu seinem Lebensende fest.
Von der Existenz der von seiner Frau im Jahr 1943 geborenen Tochter
erfuhr er erst viele Jahr später, als diese, selbst längst erwachsen und
verheiratet, mit Hilfe des Roten Kreuzes ihre Mutter suchte, die sie als
Kleinkind an einem nicht bekannten Ort zurückgelassen und sich nie
mehr um sie gekümmert hatte. Diese Tochter suchte die Mutter, um
mögliche finanzielle Hilfe für ihren kranken Sohn zu finden (so die Aussage Garip Sultans).
Im Interview mit Radio Liberty 2010 erzählte Sultan seine Frau sei mit einer Freundin nach
Deutschland gekommen. Das ist ebenso unrichtig, wie andere Behauptungen in diesem Interview.
Weder war ihre Mutter tatarischer Herkunft, noch wurde sie eine Muslima oder änderte den Namen
auf Medina.
25
26 National Archives Trust Fund, NWCT-IF Room 14N-2 700. Penn. Av. Washington D.S.
60
Die Tatsache, dass Maria Sultan ethnische Russin und nicht Finnin gewesen war, wurde amtlich, als die CIA anläßlich einer Befragung im Februar 1956 ihre Herkunft überprüfte. 27
12. Nachkriegsaktivitäten
Als die Amerikaner im April 1945 den Rhein überschritten, wurde die
Zahl der befreiten DPs 28 immer größer. Die USA und Großbritannien
hatten sich im Februar 1945 im Abkommen von Jalta verpflichtet, alle
sowjetischen Staatsbürger an die Sowjetunion auszuliefern, die vor 1939
auf dem sowjetischen Territorium gelebt hatten. Die Alliierten hielten
sich vorerst strikt daran. Erst als massiver Widerstand der DPs, den Einsatz von Gewaltmaßnahmen erforderte, setzte ein Umdenken ein; die
Amerikaner erkannten die Fragwürdigkeit dieses Abkommens, zumal
nicht wenige der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen einen
Selbstmord der Auslieferung an die Rote Armee vorzog.
Nicht nur Jakob Dschugaschwili, der älteste Sohn Stalins, war sich bewußt gewesen, welche Maßnahmen ihn „zu Hause“ erwartet hätten und
hatte den Tod als Alternative schon 1943 vorgezogen.
Als die Briten in Liverpool – nach zahlreichen Vorgesprächen in dieser
Angelegenheit – festzustellen begannen, welche Staatszugehörigkeit die
Insassen der britischen Lager besaßen, regte sich der Widerstand der
sowjetischen Kriegsgefangenen in weit größerem Ausmaß und folgenreicher, als dies in Großbritannien erwartet worden war. Spätestens mit Beginn der Befragungen hatten die meisten Lagerinsassen begriffen, dass
sie einer Repatriierung nur entgehen konnten, wenn sie glaubhaft nachwiesen, dass sie z.B. in einem der baltischen Ländern gelebt hatten, das
vor 1939 nicht zur Sowjetunion gehört hatte. Die Befragungskommission
bestand aus britischen und sowjetischen Offizieren. Die rüde, zuweilen
bedrohende Art, in der die Sowjets ihre Staatsangehörigen befragten, erregte das Mitleid der britischen Kommissionsmitglieder und sorgte für
scharfe Auseinandersetzungen innerhalb der gemischten Kommission.
Unmittelbar vor Auslaufen der Schiffe, die die Sowjetbürger „nach Hause“ brachte, schnitt sich ein Gefangener im Hafen von Liverpool die Kehle auf, ein anderer erhängte sich. Der Rechtsberater im Foreign Office,
Patrick Dean, brachte sein Empfingen auf den Punkt: „Es ist in höchstem
Grad unangenehm für uns, Leute in die UdSSR zurückschicken zu müssen, die, was immer sie getan oder eben nicht getan haben, sich lieber das
Leben nehmen, als in ihr Heimatland zurückzukehren.“
27 National Archives Trust Fund, NWCT-IF Room 14N-2 700. Penn. Av. Washington D.S.
28
(DP; engl. für eine „Person, die nicht an diesem Ort beheimatet ist“) wurde im Zweiten Weltkrieg vom Hauptquartier der alliierten Streitkräfte (SHAEF) geprägt. Damit wurde eine Zivilperson bezeichnet, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielt und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder in einem anderen Land neu
ansiedeln konnte.
61
Anfang Mai 1945 ereignete sich in Lienz/Drau in Österreich eine bis heute in Erinnerung gebliebene Tragödie, als Kosaken und Kaukasier, die auf
deutscher Seite gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, von den Briten
an die Sowjets übergeben wurden. Im Zuge der Auslieferung spielten sich
erschütternde Szenen ab. Mütter sprangen mit ihren Kindern in selbstmörderischer Absicht in die hochwasserführende, eiskalte Drau. Männer
erschossen oder erhängten sich. Die Ereignisse gingen als „Tragödie an
der Drau“ in die Geschichte ein. Andere nahmen sich aus Furcht vor Verfolgung durch die sowjetischen Organe das Leben bzw. töteten ihre Kinder und Verwandten oder überlebten die Transporte in die Gefangenenlager nicht. Offiziere wurden in der Regel nach kurzem Prozeß mit dem
Tode bestraft, der Kosakengeneral von Pannwitz wurde am 16. Januar
1947 in Moskau mit fünf weiteren Kosakengenerälen und Atamanen hingerichtet.
Erschütternden Beispiele für die Unmenschlichkeit des sowjetisches Systems, zwei von unzähligen anderen, verschwiegenen und nicht publizierten. Die Befürchtungen von George Kennan und anderen Rußlandkennern hatten sich schon nach ersten Übergaben sowjetischer Rotarmisten
an die Sowjetunion bewahrheitet.
Das führte sehr bald auch in jenen Kreisen der USA zu einer anderen Betrachtungsweise, die ursprünglich der teilweise naiven Einstellung des
verstorbenen Präsidenten Roosevelt zugewandt waren. Er war der Meinung gewesen, dass Stalin mit Appeasement-Politik und Besänftigung
zugänglicher sein würde.
Ab September 1945 hatten sich die Ströme der Rückkehrwilligen bis beinahe zu Null hin dezimiert. Nun versuchten die sowjetischen Repatriierungsoffiziere zusätzliche Taktiken. Teilweise plumpe Vorgehensweisen,
so z.B. überbrachten sie einem ehemaligen Sowjetbürger im Lager Mittenwald einem Brief von seinem Vater, der ihm schrieb, dass er keine
Angst vor der Heimkehr zu haben brauche. Ob des scheinbar günstigen
Gespräches strahlten die Heimholer, als der DP sagte: ich freue mich
über den Brief, allerdings ist mein Vater schon seit zehn Jahren tot!
Als sich nach 1945 herausstellte, dass sich keine DP mehr freiwillig würde repatriieren lassen, verlegte sich die sowjetische Repatriierungskommission darauf, die Auslieferung von „angeblich“ sowjetischen Kriegsverbrechern zu fordern. Da die Mitglieder dieser Kommission eine Art
Diplomatenstatus genossen, konnten sie sich frei innerhalb innerhalb der
Amerikanischen Zone bewegen und nützten die Toleranz der Amerikaner
weidlich aus. So sammelten sie unerlaubt Daten der DPs, betrieben Einschüchterung im Hinblick auf in der Sowjetunion lebende Verwandte
und betrieben Spionage in jeder möglichen Situation.
Als Folge dieser Aktivitäten sandten sie im Juli 1946 an die amerikanische Militärregierung 19 Listen, die Namen, Geburtsort und –jahr und
den gegenwärtigen Aufenthaltsort bestimmter Sowjetbürger enthielten,
62
die als Kriegsverbrecher bezeichnet wurden. Da die USA diese gefälschten Angaben nicht akzeptierten, wurde der Ton zwischen den USA und
den Sowjets schärfer. Die Amerikaner tolerierten nicht länger, dass sich
die Sowjets innerhalb der US-Zone investigativ betätigten, sich polizeiliche und geheimdienstliche Vollmachten anmaßten, um dann auf dieser
Basis gewonnenen „Beweise“ Forderungen zu stellen.
Der aktive Widerstand der DP`s wurde inzwischen immer größer, mit
dem Vertrauen auf amerikanische Rückendeckung immer aggressiver.
Für die sowjetische Repatriierungskommission kam es teilweise zu
brenzligen Situationen, z.B. als sie im April 1946 in der ehemaligen SSKaserne in München von einer „wütenden, antisowjetische Schreie ausstoßenden Menschenmasse“ oder im Lager Mittenwald desselben Jahres
von ukrainischen DPs verbal und physisch attackiert wurde.
Nach dem Versiegen der Repatriierungsströme erreichten die Beschwerden der Sowjets eine andere Qualität. Die Westallierten wurden aller
möglichen Verbrechen gegenüber sowjetischen Staatsbürgern beschuldigt, wie vorsätzliche Mißhandlung, der planvollen Vernachlässigung und
auch des Vertragsbruches der entsprechenden Abkommen.
Das war einer der Auftakte zum Beginn des Kalten Krieges.
13. Welche Perspektiven?
Mittlerweile versuchte Garip im DP-Lager in Mittenwald etwas Geld zu
verdienen, um seine Frau und den Sohn unterstützen zu können. Innerhalb des Lagers übernahm er die Verwaltung der Lagerbestände, wie
Ausgabe von Seife, Bettwäsche u.ä., außerdem übertrug man ihm die
Funktion, die Neuzugänge zu überwachen, um die Infiltration von Personen des KGB, und last but not least, auch unerlaubte Besuche von Mädchen zu verhindern. Auch am unerlaubten Schwarzhandel beteiligte er
sich, wie auch die meisten unbescholtenen deutschen Bürger. Der Hunger war groß, die einen beschafften Dinge, die die anderen dringend benötigten.
1947 begannen die Amerikaner das Lager aufzulösen und überprüften die
Papiere der Insassen. Auf der Suche der Repatriierung zu entgehen hatte
sich für Garip die Möglichkeit eröffnet, gefälschte Papiere zu bekommen.
Türkische Studenten in Berlin halfen mit der Ausstellung eines türkischen Passes unter seinem richtigen Namen, allerdings geboren am
20.01.1923 in Kaschgar. Kaschgar ist eine Stadt im äußersten Westen von
China, in der Nähe der Grenze zu Tadschikistan und Kirgistan, die Stadt
liegt an der Seidenstraße und ist ein muslimisches Zentrum. Die Änderung des Geburtstages schien notwendig, damit die Sowjets keinen Zusammenhang zwischen dem gesuchten Garif Sultan aus Baschkirien und
63
einer Person gleichen Namens, jetzt Garip, geboren in China herstellen
bzw. beweisen konnten.
Damit wurde der Tatar Garip Sultan als „Türke“, entsprechend seiner
Papiere an die türkische Botschaft verwiesen, die den Paß als Fälschung
erkannte. Nun, als ehemals sowjetischer Staatsbürger erkannt, wurde er
mit anderen Betroffenen wieder nach Nordrhein-Westfalen in ein Sammellager für Displaced Persons in Marsch gesetzt. Seine Frau (als angebliche Finnin) war von dieser Zwangsübersiedlung nicht betroffen und
mußte mit dem Kind vorerst in Bayern bleiben.
Nicht alle in Frage kommenden Personen aus dem Lager Mittenwald hatten das Verlangen, nach Nordrhein-Westfalen zu übersiedeln. Viele von
ihnen hatten sich im Zeitalter des Schleichhandels und Tauschens eine
vorübergehende Einnahmenquelle gesichert und auch private Beziehungen aufgebaut, wie Garip Sultan auch.
Er und zwei andere ehemalige Sowjetbürger beschlossen Bayern nicht zu
verlassen, sie warteten auf der Reise nach Nordrhein-Westfalen einen
günstigen Zeitpunkt ab. Als die Lokomotive in der Nähe von Landshut,
Kreis Dingolfing, verkehrsbedingt die Geschwindigkeit verringerte,
sprangen sie ab, versteckten sich kurzfristig in den Wäldern. Als niemand
nach ihnen suchte, zerstreuten sie sich und fanden in den umliegenden
Bauernhöfen unschwer Aufnahme.
Garip Sultan wußte, dass seine Frau in Mengkofen in Niederbayern als
Arbeiterin auf einem Bauernhof Aufnahme gefunden hatte. Arbeitskräfte
wurden dringend gebraucht – viele der Männer befanden sich noch in
Kriegsgefangenschaft, waren gefallen oder nicht mehr arbeitsfähig. Der
Bauer Vogensberger begrüßte Garip als zusätzliche Arbeitskraft, zudem
war er begeisterter Fußballanhänger, der seinem neuen Knecht den Weg
in den regionalen Fußballverein ebnete.
In Mengkofen war er sehr bald als Fußballspieler geschätzt, spielte im
regionalen Verein, war als „unser Türke“ sehr beliebt und bald in die
Dorfgemeinschaft integriert.
Allerdings war dieses Leben weitab von jenem, das er anstrebte. In all
den Jahren nach Kriegsende war er mit Prof. von Mende in engem brieflichem Kontakt gestanden, der eröffnete ihm die Möglichkeit, im Juli
1948 nach Senne I, Kreis Bielefeld zu übersiedeln, in das Britische Besatzungsgebiet. Dort gelang es Prof. von Mende, mit Hilfe seiner zahlreichen
Verbindungen zur Britischen Besatzungsmacht, für Garip Sultan ein britisches Stipendium zu erreichen, das auch den Lebensunterhalt für ihn
einschloß.
Im Wintersemester 1951 immatrikulierte er an der Universität Hamburg,
inskribierte Staatswissenschaften und Jura, betrieb die Studien von Dezember 1951 bis April 1953, pendelte immer wieder nach Senne, was weder dem Erfolg seines Studiums noch seinen Finanzen zuträglich war.
64
Neben Studium und gelegentlichen Besuchen bei seiner Familie war er
vor allem in der Wolgatatarischen Emigrantenorganisation außerordentlich aktiv. So nahm er 1950 als Vertreter der wolgatatarischen Emigration in Europa - dessen Präsident er war - an der Konferenz der „Scottish League for European Freedom“ teil, einer Splitterorganisation der
1948 gegründeten antikommunistischen „British League for European
Freedom“, die sich zum Ziel gesetzt hatte die osteuropäischen Emigration zu unterstützen und dieses Potential für Spionagetätigkeiten und noch
zu definierende Ziele gegen die Sowjetunion zu nützen. 1949 war der Antibolschewistische Kampfbund für die Befreiung der
Turk-Tataren gegründet worden, der die Befreiung der Turk-Tataren
vom Sowjetregime zum Ziel hatte. Finanziert wurde diese Organisation
durch Beiträge ihrer Mitglieder, sie löste sich erst 1953 auf, als viele ihrer
Mitglieder in andere Länder emigrierten.
Ab 1953 bis 1956 war Garip Sultan Mitglied des Antikommunistischen
National- Zentrums der Turk-Tataren für Emigration, mit Sitz in Istanbul, Türkei. Diese Organisation hatte zum Ziel, jene Tataren zu erreichen,
die außerhalb der Türkei lebten, um sie mittels Propaganda für den
Kampf gegen den Bolschewismus zu gewinnen. Sultan war – nach eigenen Angaben - der Repräsentant dieser Gruppe in Westdeutschland und
für die Übertragung des täglichen Geschäftes vom Hauptsitz in Istanbul
verantwortlich.
In dieser Eigenschaft verstärkte er seine Aktivitäten, versuchte die in
ganz Europa und der Türkei verstreuten Tataren in einer Konferenz zusammenzubringen, um den Zusammenhalt weiter zu stärken, der Organisation eine neue organisatorische Form zu geben, um offiziell mit mehr
Nachdruck auftreten zu können.
So schlug er in einem Papier vom 9.10.1951 29vor: „ die wolgatatarische
Emigration besser als bisher zusammenzufassen und ihr eine neue organisatorische Form zu geben. Zu diesem Zweck plante er:
1. „Eine Vorkonferenz der mit ihm im Kontakt stehenden Tataren.
Auf dieser Konferenz sollen geklärt werden
a) Umbau der Organisation, Wahl eines neuen Präsidiums als Exekutivorgan.
b) Ausarbeitung einer Resolution zu den Bestrebungen der russischen
Emigration, Kerenskij-Komitee usw.
c) Ausarbeitung der Berichte für eine Zusammenkunft aller in Deutschland lebenden Tataren.
2. Teilnehmer an dieser Vorkonferenz sollen sein:
Aus Senne I: Garip SULTAN, Kajum SUKRI, Enver GALIOGLU,
aus Alsbach: Sabit GUNAFIN (späterer Name Joe JUNFIN)
aus Neu-Ulm: Mustafa VELI,
29
Privatarchiv der Familie v.Mende
65
3.
4.
5.
6.
7.
aus Augsburg: [Ilyas oder Ismail] MINHACH,
aus Dingolfing: Ing. BAHID,
aus München: Abdulla ILIAS, FAHRUDDIN, [Abdulla] VEFALI, Reis DALMAS,
Jussup [Iskender?] AKCHURA, AYAZ.
Als Ort der Tagung schlug SULTAN Senne I vor. Das hätte den Vorteil, dass die Tagung ohne fremde Einflüsse, wie sie in München unvermeidlich sind, durchgeführt werden könnte. Falls daran gedacht ist, die tatarische Gruppe in nächster
Zeit von Senne I nach einem anderen Ort umzusiedeln, so dürften wahrscheinlich
keine Bedenken bestehen, die Tagung hier abzuhalten.
Unterbringung der Teilnehmer z.T. bei SULTAN, z.T. im Hotel zur Post in Brackwede.
Zeit: da ein Teil der Tataren berufstätig ist, so wäre am besten ein Wochenende zu
wählen, z.B. 20.-21. Okt.
Die Kosten für die Vorkonferenz würden, falls Fahrkarten für die Teilnehmer außerhalb Senne gegeben werden können, etwa DM 200. —betragen (für Übernachtung im Hotel und Beköstigung für 2 Tage). Die Fahrkarten bittet SULTAN von den
angegebenen Orten nach Bielefeld oder Windelsbleiche und zurückauszustellen.
Für die Tagung der gesamten wolgatatarischen Emigration in Deutschland ist
München vorgesehen. Sie soll veranstaltet werden für die 50-60 in Deutschland
lebenden Tataren und für Gäste aus den anderen mohammedanischen und nichtrussischen Emigrationsgruppen.
Dauer 2 Tage: der erste Tag soll nur für die Wolgatataren bestimmt sein,
auf ihm soll Rechenschaftsbericht über die bisherige Tätigkeit der Emigration, Festlegung der weiteren Arbeit, Bestätigung der Organisation und der
geplanten Resolutionen stattfinden.
Am 2. Tage ist eine Festveranstaltung unter Teilnahme der Gäste geplant.
Genauer Vorschlag erfolgt, sobald Vorkonferenz stattgefunden hat. Kosten
etwa DM 300. —für Reisegelder, DM 250,-- für Unterbringung, Beköstigung, Saalmiete, etc. in München.“
Während dieser Zeit arbeitete seine Frau als Köchin in der britischen Offiziersmesse in Senne, bis die Messe im Oktober 1953 geschlossen wurde.
Danach war sie arbeitslos und ohne Einkommen. Das mag der Grund für
die Übersiedlung in das Flüchtlingscamp nach Augustdorf, Bezirk Detmold, im Oktober 1953 gewesen sein.
Acht Jahre nach Kriegsende hatte der inzwischen Dreißigjährige noch
keinen festen Platz in Deutschland gefunden, verfügte weder über eine
abgeschlossene Ausbildung, noch über ein geregeltes Einkommen oder
einen ständigen Wohnort.
Unermüdlich bemühte er sich alle in Frage kommenden Kontakte zu nutzen, um Kontinuität und Sicherheit in sein Leben zu bringen. Was angesichts der nicht vorhandenen Ausbildung und der Notwendigkeit für eine
Familie zu sorgen eine schier unlösbare Aufgabe schien.
Anfang 1951 nahm er Kontakt auf mit der Voice of Amerika, (VOA) der
US-amerikanischen Rundfunkstation, die nach Osteuropa sendete und
bemühte sich, die Verantwortlichen der Radiostation dafür zu gewinnen,
Sendungen in tatarischer Sprache zu integrieren. Im März 1951 hatte er,
66
noch in Senne, NRW, wohnend, an den zuständigen Programmdirektor
der VOA in dieser Angelegenheit geschrieben. Archibald Roosevelt, ein
Enkelsohn des verstorbenen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Acting
Chief bei VOA für die Sowjetunion, kam am 15. April 1951 nach München, um Näheres zu besprechen und Personal für die geplanten verschiedenen Abteilungen der Turksprachen zu rekrutieren.
Der Plan wurde am 18. Juli 1951 vom US-Außenministerium bestätigt,
ein Schreiben erging an Garip Sultan als Repräsentant der „New Union of
the Struggle for Independance of the Turko-Tatar of Idel Ural“. 30
Als Korrespondent von VOA konnte Garip vorerst mit einem fixen Einkommen rechnen, das zwar nicht allzu üppig war, doch nebenbei arbeitete der zukünftige Workaholic auch für das „Institut für die Erforschung
der UdSSR“ in München und schrieb den einen oder anderen Artikel für
Emigrantenzeitungen. Die VOA war 1942 vom Büro für Kriegsberichterstattung gegründet worden, sie strahlte Hörfunkprogramme für das von
Deutschland besetzte Europa und Nordafrika aus und nutzte dazu Kurzwellensender, die von CBS und NBC bereitgestellt worden waren. Am 1.
Februar 1942 startete die "Stimme Amerikas" über Anlagen in England
ein deutschsprachiges Programm, aus dem später der RIAS Berlin hervorging.
Am 17. Februar 1947 sendete die VOA das erste Mal in die Sowjetunion.
Die US-Regierung hatte entschieden, der sowjetischen Propaganda gegen
die USA mit grenzüberschreitenden Radiosendungen zu begegnen. Den
Sowjetbürgern in russischer Sprache eine andere Sicht der Weltereignisse nahe zu bringen. Die Sowjetunion reagierte darauf mit der Inbetriebnahme massiver Störsender (am 24. April 1949.)
Auf Grund seiner Kontakte konnte Sultan dreien seiner Studienkollegen
– Stipendiaten der Britischen Regierung wie er selbst (Salich Fraise, Kajum Sukri und Enver Galim (richtiger Name Ajdagulan)) die alle schon in
der Sowjetunion studiert hatten und nun ihre Studien in Deutschland
beendet hatten, Arbeit in den USA vermitteln.
Für ihn selbst war das Angebot für die VOA zu arbeiten zwar aussichtsreich, wenn auch das Gehalt als Korrespondent nicht allzu üppig. Doch,
dass der Inhalt der Sendungen den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechen mußte, keinesfalls eine Kritik oder Informationen über innersowjetische Ereignisse zuließ, die in dem Zielland verschwiegen wurden,
war für den 200%igen Tataren 31 nicht befriedigend.
Mit all diesen Aktivitäten konnte Sultan nun nicht mehr daran denken,
das ohnehin mehr als vernachlässigte Studium weiter zu führen. Er be30
Schreiben vom 18.VII. 1951
So die Charaktisierung Sultans durch den gegenwärtigen Präsidenten der American-Tatar Association, Saide Haci
31
67
endete es ohne Abschluß. Ein Faktum, das in lebenslang bedrückte, sein
Selbstwertgefühl gegenüber Akademikern stark beeinträchtigte. Auch
wenn er dies verbal niemals so ausdrückte.
Wegen der unbefriedigenden beruflichen Zukunft hatte er 1952 beim
Amerikanischen Konsulat in München den Antrag gestellt, in die USA
emigrieren zu dürfen. Die USA und andere Einwanderungsländer selektierten die Bewerber nicht nur nach Alter, Gesundheit, Beruf und Familienstand, sondern entschieden nach einer Quote der Herkunftsländer.
Innerhalb dieser Quote wurden männliche alleinstehende Personen mit
abgeschlossener Berufsausbildung und guter Gesundheit bevorzugt. Garip beantragte, entweder innerhalb der russischen oder der finnischen
Quote einwandern zu dürfen. Er hoffte auf bessere berufliche Chancen in
den USA, zumal in NewYork eine große tatarische Gemeinschaft ansässig war.
Daß die Eingliederung als Teil der finnischen Quote nicht in Frage kam,
weil Maria Sultan keine Finnin sondern Russin war, dieses Faktum fand
die CIA schnell heraus. Ob Garip selbst das auch wußte? Vermutlich
nicht, andernfalls hätte er nicht versucht im Rahmen der Finnischen
Quote in die USA emigrieren zu dürfen oder er war so naiv zu glauben,
die CIA würde das nicht entdecken?! Jedenfalls hatte er nach diesem
Antrag nichts mehr vom amerikanischen Konsulat gehört.
14. Radio Liberty
Anfang 1953 zeichnete sich ein neues, vielversprechendes Engagement
für Garip ab. Der neu gegründete amerikanische Propagandasender,
vorerst „Radio Liberation“ (später Radio Liberty) genannt, der am 1.
März 1953 mit einer russischen Abteilung auf Sendung gegangen war,
suchte Mitarbeiter als Redakteure, Sprecher und technisches Personal;
Muttersprachler der einzelnen Nationalitäten der Sowjetunion.
Von Beginn an hatte Radio Liberty nicht nur die Sowjetunion als Gegner,
sondern auch solche in den USA. Senator Joe McCarthy war einer von
ihnen, der nach Opfern suchte, die er als „Rote“ brandmarken konnte.
Allerdings suchte er an der falschen Stelle, weil die „Roten“ im Kreml saßen. Dann gab es Leute, die sich lustig machten über die wenig bekannten amerikanischen Intellektuellen die als Manager der Radiostation
fungierten und, über die „schäbigen Flüchtlinge“, die als Anfangspersonal vorgesehen waren. Sie verspotteten den Sender wegen Verzichts auf
die üblichen professionellen Voraussetzungen, wegen der zusammengebastelten unkonventionellen Station und waren die ersten, die den Sender als „Radio Loch im Kopf“ (Radio Hole-In-The-Head) bezeichneten.32
32
James Critchlow, „Radio Hole-in-the-Head, Washington, 1994.
68
Radio Liberation verstand sich als Pendant zu dem 1951 gegründeten
Sender „Radio Free Europe“, der in sechs Hauptsprachen Osteuropas –
den Satellitenstaaten Moskaus - sendete. Die Leitung von Radio Free
Europe hatte hinsichtlich Qualität und Professionalität über Radio Liberty eine ähnliche Meinung wie McCarthy und Freunde. Hier scheint die
Meinung des nationalsozialistischen Deutschland hinsichtlich der „Asiaten“ zumindest unterschwellig noch immer präsent gewesen zu sein.
Auch die russische Abteilung innerhalb von Radio Liberty hatte sich in
vielen Fällen nicht davon frei gemacht die Angehörigen der Minderheitenvölker als untergeordnet zu betrachten, verlangte in größeren Abständen immer wieder, die „lingua franca“ innerhalb Radio Liberty habe russisch zu sein. Wogegen sich die Minderheitenredaktionen ebenso erfolgreich widersetzen, wie sie 1945 die Oberherrschaft von General Wlassow
abgelehnt hatten. Im übrigen bestanden zwischen der großen russischen
Redaktion mit durchschnittlich 120 Mitarbeitern und den kleinen Nationalitätenredaktionen mit weniger als 10 Mitarbeitern wenige Berührungspunkte.
Für Radio Liberty war die Ausstrahlung in fünfzehn Sprachen der Sowjetunion vorgesehen. Vom ersten Tag an standen sowohl Radio Free Europe wie auch Radio Liberty unter massivem propagandistischem Beschuß Moskaus und seiner Satelliten. Man warf den USA vor, sie würden
„nach Überlegenheit im Bereich der Ideologie und Propaganda“ streben
und letztlich einen „ideologischen Krieg“ führen.
Von der ersten Sendeminute an nahmen sowjetische Störsender ihre Tätigkeit auf – die Sowjets waren also wohlinformiert und hatten minutiös
auf die Inbetriebnahme von Radio Liberty gewartet. Dreitausend Störsender die rund um die Uhr in Betrieb waren, jaulten in höchsten Dissonanzen, um den Empfang zu unterbinden. Dazu waren etwa 500o Mitarbeiter erforderlich, die Kosten für diesen Aufwand betrugen mehr als die
Jahresbudgets von Radio Free Europe, Radio Liberty und der Voice of
Amerika zusammen.
Während das „Russian Service“ als größte Abteilung innerhalb Radio Libertys 24 Stunden täglich sendete, waren die Minderheitenredaktionen
täglich zwischen einer dreiviertel und eineinhalb Stunden auf Sendung,
allerdings wurden die einzelnen Programme zu verschiedenen Tagesbzw. Nachtzeiten mehrmals wiederholt. Nicht zuletzt um die Störsender,
deren Wirksamkeit von der Sonneneinstrahlung und Tageszeit abhängig
war, zu überlisten.
„Radio Liberation“ verstand sich als Gegenstück zur Voice of Amerika ,
dem offiziellen staatlichen Auslandssender der USA mit Sitz in Washington, D.C, der in den verschiedenen Sprachen der Sowjetunion US-Standpunkte hinsichtlich Außenpolitik verkündete und über inneramerikanische Ereignisse, Musik und kulturelle Neuigkeiten berichtete, immer mit
Rücksicht auf mögliche diplomatische Verwicklungen.
69
Radio Liberation war als angeblich privat finanzierter Sender nicht an die
Rücksichten der amerikanischen Außenpolitik gebunden, verstand sich
als innerstaatlicher Sender der einzelnen Nationalitäten, der über die
Repressionen innerhalb der Sowjetunion aber auch über dort stattgefundene Ereignisse berichtete, die von der Sowjetregierung totgeschwiegen
wurden. Die Station sah ihre Aufgabe darin als Stellvertreter für ein freies inländisches Medium zu fungieren, in einem Land in dem der Staat die
Monopolkontrolle über jede Quelle der Information ausübte.
Eine eigene Research Abteilung existierte – zeitweilig ansässig in Paris , um die Befragungsergebnisse der wenigen Sowjetbürger zu analysieren,
die in den Westen reisen durften. Die Feedbacks - natürlich anonym um
die Personen nicht zu gefährden- dienten vor allem dazu die Gegner der
Radiostation in den USA zu beschwichtigen. Ein Scheinunterfangen, weil
die Umfragekriterien schon allein wegen der geringen Anzahl der befragten Personen nicht annähernd westlichen Standards entsprechen konnten.
Dass die Sendungen aber doch, vor allem auch von einflußreichen Sowjetpolitikern gehört wurden, bewies u.a. die Aussage von Nikolaj Portugalow – Deutschlandexperte beim Zentralkomitee der Kommunistischen
Partei der Sowjetunion – „ Meine Einstellung gegenüber den Kollegen
(Journalisten): Ich betrachte sie als Gegner, die eine gezielte Propaganda
gegen mein Land und gegen unsere Außenpolitik führen. Und dennoch
(habe) ich sie gehört.“
Der DDR- Journalist Karl-Eduard von Schnitzler, äußerte sich weniger
taktvoll über seine Berufskollegen: „Bezahlte Kreaturen … Der Sender
zielt auf die Freiheit für Monopole und die Unfreiheit für 350 Millionen
Menschen, sich sich zwischen Elbe und Stillem Ozean für den Sozialismus entschieden haben (!). Aber diese amerikanischen Drecks-Kübel
…auf dem Territorium der BRD stationiert – sie beweisen, dass Klassenkampf weitergeht.“
Die größte Anfangsschwierigkeit war es, Leute zu finden, die für die
Rundfunkarbeit geeignet waren. In der Nachkriegszeit lebten zahlreiche
Tataren, Azeris, Kasachen und Angehöriger anderer Turkvölker in
Deutschland, die ohne Zukunftsperspektiven auf eine berufliche Chance
warteten. Die wenigsten von ihnen waren mangels Bildung geeignet.
Hier erwies sich das „Institut zur Erforschung der UdSSR“, das schon mit
Weitblick auf auszudehnende Verwendbarkeit gegründet worden war, als
Potential für geeignete Kandidaten.
Am 1. März 1953 ging „Radio Liberation“ auf Sendung, vier Tage bevor
Stalin starb, vorerst mit der russischen Abteilung. Das „Tatar-Bashkir
Service“ nahm erst Ende 1953 seine Arbeit auf.
Einige Aktivisten der „New Union of the Struggle for Independence of the
Turko-Tatar of Idel-Ural“, dessen Vorsitzender Garip Sultan war, wurden
70
eingestellt, darunter Enver Galim, Mustafa Veli (Kerimi Aytugan) Gayaz
Hakimoglu und Shigap Nigmeti (Aksam Josefoglu). Führender Redakteur war Prof. Niaz Maksudow, Garip Sultan war ursprünglich nicht als
Mitarbeiter vorgesehen gewesen, erst auf Empfehlung von Ayaz Ishakiv
33 wurde auch er eingestellt, wofür er sich mit einem Brief an Ishaki bedankte. 34
Die Reichweite des Senders war anfangs so sehr beschränkt, daß der
Empfang nahe und hinter dem Ural unmöglich war, obwohl Radio Liberty das Gegenteil zumindest teilweise behauptete.
Mit zunehmender Zeit wurden stärkere Sendeanlagen von unterschiedlichen Standorten der Welt benützt, der Empfangsradius damit größer,
blieb aber trotzdem problematisch. Trotz all dieser Schwierigkeiten hörten Interessierte die Sendungen regelmäßig, schrieben und vervielfältigten deren Inhalt, um sie über den Samisdat – die Untergrundliteratur in
der Sowjetzeit– innerhalb der Sowjetunion zu verbreiten. Ereignisse, die
die Sowjetregierung geheim zu halten trachtete, fanden so den Weg in
jene Regionen, in denen der Empfang nicht möglich war. Z.B.wurde
Chrustschows Geheimrede über den Sender verbreitet, der zum ersten
Mal über die stalinistischen Greueltaten Stalins berichtet hatte, auch der
„Archipel Gulag“, von Alexander Solschenizyn wurde auf demselben
Weg bekannt gemacht.
Im Oktober 1953 übersiedelte die Familie Sultan nach Puchheim, Fürstenfeldbruck, in die Nähe von München, nachdem der Vertrag über Garips Verwendung als Korrespondent für Radio Liberty unter Dach und
Fach war. Der Vertrag garantierte ein gutes monatliches Einkommen und
die Anmietung einer Wohnung für längere Zeit.
Garip hatte bis dahin den größten Teil seiner Freizeit damit verbracht,
die wolgatatarische Emigration zusammen zu halten, war ständig zwischen Nordrhein-Westfalen, Hamburg und München hin und her gereist,
war präsent gewesen bei verschiedenen Konferenzen in der Schweiz, in
Istanbul und Edinburgh. Hielt sich Garip einmal am Wohnort seiner
Familie auf, war er permanent damit beschäftigt, Artikel zu schreiben,
um den Lebensunterhalt zu sichern und Kontakte schriftlich aufrecht zu
erhalten. Im Laufe der Zeit war sein Arbeitsaufwand für die verschiedenen tatarischen Organisationen zunehmend geringer geworden, weil sich
die Gemeinschaft immer mehr ausgedünnt hatte, die Leute in verschiedene Länder emigriert waren. Priorität mußte ihre persönliche Zukunft
haben, vor dem Einsatz für ihr Volk.
Das Familienleben Familie Sultan begann erst jetzt, als München der
ständige gemeinsame Aufenthaltsort geworden war. Erst jetzt machten
bekannter TatarischerAktivist, der 1919 aus der Sowjetunion geflohen war, vorerst in Paris, später in
anderen Ländern seine Arbeit für die Freiheit der Tataren fortsetzte.
34 Lt.Nadir Devlet, email vom Jänner 2013
33
71
sich das unterschiedliche Bildungsniveau der Ehepartner und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Normen im Zusammenleben unangenehm bemerkbar.
Gemeinsame Interessen existierten nicht, gemeinsame Unternehmungen
beschränkten sich auf regelmäßige Restaurantbesuche zum Wochenende
und nicht zu vermeidende unregelmäßige Treffen mit Redaktionskollegen und deren Familien.
Anfang 1956 erneuerte Garip sein Ansuchen zur Emigration in die USA.
Er hoffte in New York, dem Hauptsitz von Radio Liberty, auf bessere
Karrierechancen. Nachdem Niaz Maksudow ausgeschieden war, wurde
Josefoglou (alias Nigmati) zum Chefredakteur der Tatarisch-Bashkirischen Abteilung bestellt. Er war nur 10 Jahre älter als Sultan, auf dessen Ausscheiden in den Ruhestand konnte er nicht warten. Wenn es auch
ein offenes Geheimnis war, daß Garip auf Grund seiner Sachkenntnis
und journalistischen Erfahrung die Abteilung leitete, wozu Josefoglu wegen seiner Alkoholprobleme nicht imstande war. Doch mit einer mittelfristigen Änderung war nicht zu rechnen.
Das zweite Emigrationsansuchen Garips vom Februar 1956 in die USA
war erfolgreich, die Beschäftigung als permanenter Freelancer in New
York garantiert. Im Gegenzug übersiedelte sein ehemaliger Mitstreiter
und Freund in der Wolgatatarischen Legion, Enver Galim, nach München.
Bisher hatte Enver Galim, der schon in der Sowjetunion studiert hatte,
das Büro in New York als Einmannbetrieb mit Hilfe einiger Freelancer
geleitet. Diese Tätigkeit setzte Garip nicht nur fort, sondern versuchte durchaus im Sinne der US-Außenpolitik - mit Hilfe der Tatar-Amercian
Association den Zielen der Wolgatataren in den USA mehr Gehör zu verschaffen.
Während dessen hatte sich die Sowjetunion auf Radio Liberty eingeschossen, versuchte mit allen dem KGB zur Verfügung stehenden Methoden den Sender unglaubwürdig erscheinen zu lassen. So erfand man
abenteuerliche Geschichten über besonders mißliebige Personen, die als
ehemalige SS-Angehörige persönlich Greueltaten verübt hätten, die Novosti – die regierungseigene Nachrichtenagentur der Sowjetunion –
publizierte Schmähbroschüren in verschiedenen Sprachen, darunter
auch in deutsch, auf dem niedersten sprachlichen und intellektuellen Niveau.
Daneben war der KGB auch in München aktiv, schleuste Spione in die
Sendestation ein – trotz der rigorosen Sicherheitsmethoden von Radio
Liberty -, inszenierte einen Autounfall mit tödlichem Ausgang für einen
aserbaidschanischen Redakteur, ein anderer wurde erschossen in einem
von Radio Liberty angemieteten Apartment entdeckt, mit eindeutiger
Handschrift des KGB.
72
Eines Tages erhielt Garip Sultan einen Brief, mit Poststempel aus Ostberlin – damals noch nicht durch die Mauer getrennt – von einem angeblich
ehemaligen Lehrer, der ihm Grüße seiner Familie übermitteln sollte. Der
Mann schlug ihm ein Treffen vor, am 8.12.1956 sollte es stattfinden, in
Berlin, Gehsenerstraße 34. Der Mann nannte sich Rudolf Gohernemann,
so hatte tatsächlich einer seiner Lehrer geheißen. Garip übergab das
Schreiben des angeblichen Nachrichtenüberbringers sofort der SecurityAbteilung von Radio Liberty und reagierte nicht.
Er war überaus vorsichtig wenn er die Bekanntschaft von bis dahin Unbekannten machte, geprägt von seiner permanenten Angst vor Übergriffen des KGB. Die Beschuldigungen in der sowjetischen Presse, (russisch
und tatarisch), 35 die ihn als Mörder bezeichneten, trafen ihn sehr, er war
sich bewußt, dass die Sowjets nur auf eine passende Gelegenheit warteten seine redaktionellen Beiträge für immer verstummen zu lassen.
Im Juni 1978, dreiunddreißig Jahre nach Kriegsende waren der NEDELJA (sowjetrussische Zeitschrift) die angeblichen Untaten Sultans eine
ganze Seite im Format A3, wert. Eine Publikation, die eine eindringliche
Befragung der CIA München zur Folge hatte. Da nichts aufzudecken war,
ohne Erfolg für die Denunzianten.
Bei jeder Gelegenheit beteuerte er seine Unschuld, wollte jedermann
überzeugen, dass er schuldlos war. Menschen, die ihn lang kannten, seine Eigenschaften einschätzen konnten, brauchte er nicht zu überzeugen.
Tief in seinem Inneren verborgen war er ein sehr sensibler empfindsamer Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, jede Spinne davor rettete, zertreten zu werden! Der, vor dem Mikrophon ein Gedicht
lesend, den Abbruch der Aufnahme erzwang, weil ihm vor Rührung die
Stimme brach, die Augen feucht waren.
Alle Redakteure der Tatar-Bashkir Abteilung hatten sich von Anfang an
falsche Namen zugelegt, in der Hoffnung, damit ihre Spuren zu verwischen um ihre in der Sowjetunion lebenden Verwandten zu schützen. Garip stellte sich in seinen Sendungen als „Fanis Ishimbai“, vor. Allerdings
hatte der KGB – wie aus anderen Quellen bekannt – diese Decknamen so
rasch enttarnt, wie sie erfunden worden waren.
Die Security von Radio Liberty verbat allen Mitarbeitern Urlaubsreisen,
die sie durch Länder des Warschauer Pakts führen würden. Redakteure,
die aus der Türkei stammten, nahmen den Weg über Griechenland, nicht
über Bulgarien, obwohl die Fahrzeit deutlich länger war.
Diese permanente Bedrohung und die Hoffnung, die amerikanische
Staatsbürgerschaft zu erlangen, waren Triebkraft genug, Anfang 1957 die
Übersiedlung in die USA anzutreten. Garip war bis dahin noch immer
Im Juni 1978 erschien in der „Nedelja“ ein Artikel in dem sein (angeblicher ) Verrat als Anlaß für die
Hinrichtung Musa Dshalils breit ausgeschlachtet wurde.
35
73
staatenlos mit ständiger Aufenthaltsbewilligung in Deutschland. Vor den
Reisen ins Ausland mußte er noch immer große bürokratische Hindernisse überwinden, weil er als Staatenloser diverse Durchreisevisa und limitierte Aufenthaltsbewilligungen benötigte. Was besonders hinderlich
war, wenn er spontan z.B. nach Wien reisen wollte, um hier jemanden zu
interviewen, der den Fängen der Sowjetschergen entkommen war.
Die Ankunft in den USA gestaltete sich für alle Familienmitglieder
schwierig, sprach doch niemand die Landessprache. Nach kurzem Aufenthalt in einer Mietwohnung paßte man sich rasch den amerikanischen
Gepflogenheiten an, kaufte auch ohne Kapital ein Haus, das dann über
Jahrzehnte abbezahlt wurde. Der Verkauf des Hauses bescherte dann
den bereits erwachsenen Kindern (den 1946 geborenem Sohn und der
1957 geborenen Tochter) willkommenes Startkapital für Eigentumswohnungen in den USA.
Garip nahm sofort seine in Europa unterbrochenen Aktivitäten für die
Wolgatataren wieder auf, avancierte rasch zum Präsidenten der American-Tatar-Association (damals mit Namen American Islamic Association) und beteiligte sich rege an den Zusammenkünften seiner Landsleute.
Hier fand er auch wieder Zeit und andere Interessierte die tatarischen
Volkstänze zu pflegen, organisierte tatarische Spiele und eine Demonstration für die wolgatatarische Diaspora in Washington unter Mitführung
der tatarischen Flagge.36 Auch an der Weltausstellung 1966 in New York
waren er und seine Gruppe präsent, sie trugen tatarische Nationalkostüme und führten Volkstänze vor.
Im Dezember 1961 nahm er als Abgesandter von Radio Liberty an einem
Empfang einer Kalmücken-Abordnung auf Einladung von Averell Harriman (ehemaliger Botschafter in der Sowjetunion) im Department of
State Building in Washington teil.
Neben all diesen Tätigkeiten, die Verantwortung für das Büro in New
York und den Einsatz der Freelancer war er auch willkommener Lektor
an der Columbia Universität. Er las über tatarische Literatur, Grammatik
der tatarischen Sprache und Geschichte seines Volkes. Dieses umfangreiche Wissen hatte er sich selbst angeeignet, bzw. verdankte es teilweise
den Insassen des offenen Kriegsgefangenlagers in Wustrau, Universitätslehrern und Historikern. Den Rest hatte er sich vielen Stunden angelesen, eine Bibliothek zusammentragen, die ihm bis zum Lebensende eines
der wertvollsten Dinge seines Lebens war.
Darüber hinaus stellte er umfangreiche Unterlagen für die „Second Conference of Asian und African Writers“ (Februar 1962) in Kairo zusammen, berichtete über die Organisation der muslimischen Flüchtlinge aus
der Sowjetunion. Ein umfangreiches, exakt recherchiertes und belegtes
36
Saide Haci, gegenwärtig Präsident der ATA
74
Dokument, das auch der nachgekommenen Generation wertvolle historische Daten liefert. 37
Bald danach folgte der “Fifth World Moot of the Motamar E-Alam-EIslami at Baghdad“, vom 29 bis 3. Juni 1962, wo er als Präsident der
American Islamic Association, die muslimischen Emigranten in den USA
vertrat. All diese Aufgaben und Funktionen, führte er neben seinem
Broterwerb als Mitarbeiter von Radio Liberty aus – und wie vielfach beurteilt – in perfekter Manier.
Im Mai 1965 warb Garip Sultan mit einer eindrucksvollen Rede vor dem
U.S. Amerikanischen Kongreß um internationale Unterstützung gegen
die Unterdrückung der Moslems in der Sowjetunion und für deren Religionsfreiheit, mit dem Ziel dieses Problem von der Kommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen behandeln zu lassen. 38 Aktivitäten
im Namen seines Volkes, die von keinem anderen Tataren in der Diaspora in ähnlichem Umfang bekannt sind.
Was er immer schmerzlicher vermißte, war Gedankenaustausch auf anspruchsvollem Niveau innerhalb der Familie, und persönliche Wertschätzung und Zuwendung. Seine Frau nannte ihn beim Nachnamen
„Sultan“, „wie einen großen Hund“, bemerkte er mit Galgenhumor. Die
persönliche Zuwendung erstreckte sich auf tägliche Streitereien. 39
Diese emotionale Einsamkeit brach sich Bahn, als er beruflich einer Mitarbeiterin des CIA begegnete, die diese Lücke zu füllen versprach. Sie
erlebte den sportlichen, schlanken Garip ebenso attraktiv wie er sie. Da
beide verheiratet waren, war größte Geheimhaltung angebracht.
So zurückhaltend er war, was persönliche Gefühle und berufliche Geheimhaltung betraf, so naiv und unvorsichtig, hinsichtlich seiner privaten Vorlieben.
Die beiden Liebenden wurden unvorsichtig. Beide waren berufstätig, hatten also wenig Zeit füreinander, ignorierten eine mögliche Überwachung,
bis Maria Sultan etwas ahnte. Um Details über die Nebenbuhlerin herauszufinden, engagierte sie einen Privatdetektiv. Ein teures Unterfangen,
das Garips Gehaltskonto rasch schmelzen ließ. Darüber hinaus übernahm sie auch selbst die tägliche „Beschattung“. Getarnt mit einer
schwarzen Perücke und ungewöhnlicher Bekleidung glaubte sie in denselben Verkehrsmitteln die ihr Mann benützte, unentdeckt bleiben zu
können.
Dann im Besitz von Beweisen, kannte ihre Rache keine Grenzen.
Sie drang in die Büroräumlichkeiten des Ehemanns ihrer Nebenbuhlerin
ein – der ebenfalls ein Mitarbeiter der CIA war – und forderte ihn lautstark mittels eindeutiger Wortwahl auf, seine Pflichten als Ehemann
37
Materials for the Second Conference of Asia and African Writers in Cairo
Congress of the United States, Committee on Foreign Affairs, House of Representatives, Wahington, 13. Mai
1965
39 persönliches Zitat G.S.
38
75
wahrzunehmen. Auch den Präsidenten von Radio Liberty konfrontierte
sie mit ihrem Problem: er möge die Liaison ihres Mannes mit dieser Frau
unverzüglich beenden. Ein gefährliches Unterfangen im puritanischen
New York der 60 er Jahre, in den außerehelichen Beziehungen zwar zum
Gesellschaftsspiel zählte – offiziell gab es sie aber nicht.
Mit der Möglichkeit, daß der Präsident derartige Vorkommnisse innerhalb seines Mitarbeiterstabes nicht geduldet und Garips Freelancertätigkeit beendet hätte, war durchaus zu rechnen. Doch das war keine Überlegung, die die rachsüchtige Frau ins Kalkül zog. Garip konnte nicht auf ein
soziales Netz vertrauen, wie Kündigungsfrist und ähnliches. Er hätte von
einem Tag auf den anderen jegliches Einkommen verlieren können, ohne
erlernten Beruf und ohne Staatszugehörigkeit in einem fremden Land.
Der Präsident ließ Garip zu sich kommen und empfahl ihm – von Mann
zu Mann – sich eine andere Gespielin zu suchen und vorsichtiger zu sein.
Augenzwinkernd ließ er durchblicken, daß er sich selbst in einer ähnlichen Situation befinde, ohne daß seine Frau Verdacht geschöpft hätte.
Um ihre Rachefühle bis zur Neige auszukosten und ihren Mann auch an
seiner Achillesferse – der Sparsamkeit – zu treffen, entnahm Maria Sultan die gesamten Ersparnisse dem gemeinsamen Bankkonto und kaufte
für die beträchtliche Summe einen Brillantring.
Diese Ereignisse veranlaßten Garip zu der ernsthaften Überlegung, die
unerwickliche Verbindung durch eine Scheidung zu lösen. Was ihn letzten Endes dieses Vorhaben nicht verwirklichen ließ, war hauptsächlich
die Verantwortung für seine Kinder, daneben die zu erwartenden finanziellen Nachteile, vor allem aber seine Entscheidungsschwäche.
Natürlich waren diese Ereignisse willkommener Anlaß zu genüßlichem
Tratsch innerhalb der CIA-Organisation und wurden bei jeder Party mit
wörtlichen Zitaten der verbalen Entgleisungen Frau Sultans, erzählt.
Die Frau aber, die eine tragende Rolle in diesem Drama gespielt hatte,
verlor aber ihren Job bei der CIA.
Garip konnte diese existenzbedrohenden Vorgänge in New York nie mehr
aus seinem Gedächtnis verbannen, sein ohnehin nicht mehr vorhandenes
Interesse für seine Frau veränderte sich in Richtung Abneigung. Trotzdem fand er nie den Mut und die Kraft diese Verbindung zu beenden,
wobei die Angst vor finanziellen Einbußen eine wesentliche Rolle spielte.
Der Vorfall mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb er sich entschloß, wieder nach München zurückzukehren. Im Jahr 1964 war ihm
die amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Als amerikanischer Staatsbürger konnte er reisen, wohin er wollte. Das einzige, das ihn
störte, war der Eintrag in seinem Paß „geboren in Rußland“.
In München war Shigap Nigmati alias Aksam Josufogl0u noch immer
Chefredakteur. Geboren 1913, von Beruf Lehrer, war er 1936 von den
76
Sowjets wegen antisowjetischer Aktivitäten verhaftet, 1939 in die Rote
Armee einberufen worden. Im II. Weltkrieg war er Mitglied der WolgaTatarischen Legion gewesen, die beiden kannten einander also seit Jahren, Garip wußte, daß er als dessen Nachfolger vorgesehen war.
15. Wieder in München
Mit Feuereifer stürzte sich Garip in München in die alte, neue Arbeit. Die
meisten seiner Münchener Kollegen kannte er noch aus der Zeit vor
1957. Auch die Arbeit war im Wesentlichen die gleiche wie vor seiner
Übersiedlung in die USA. Als hätte er München nie verlassen, übernahm
er unautorisiert die Aufgaben des Chefredakteurs, weil das Alkoholproblem des offiziellen Chefredakteurs Josefouglou weiterhin bestand. Die
Mitglieder der Redaktion gingen Josefoglou wann immer möglich aus
dem Weg, sie bewunderten Sultans Geduld mit dem betrunkenen Josefoglou, den er immer respektvoll behandelte, gleichgültig wie dieser sich
benahm.40 Erst per 1. Februar 1976 nach Ausscheiden von Josefouglu
wurde Garip offiziell zum Chefredakteur bestellt. 41
Um den Zusammenhalt innerhalb der Redaktion zu stärken trafen sich
auf Anregung Sultans vier oder fünf Mitarbeiter der TatarBaschkirischen Abteilung einmal wöchentlich in der Sauna. In entspannter Atmosphäre, doch der Altersunterschied und die dienstliche Distanz
– alle waren jünger als Sultan – verhinderte eine wirklich freundschaftliche Beziehung. Der Chefredakteur war in jeder Situation eine Respektsperson, 42 was wohl auch mit den tatarischen Erziehungswerten zusammen hängt; auch heute noch wird ein älterer Mann respektvoll mit
Vornamen und dem Wort „Abij“ angesprochen.
Das größte Problem der Tatar-Baschkirischen Abteilung bestand darin,
jene Leute zu ersetzen, die aus Alters- oder sonstigen Gründen die Arbeit
in der Redaktion beendeten, wie Gayaz Hakimoglu, Enver Galim oder
Aksam Josefoglu. Muttersprachler, die eine Tatarische Schulbildung genossen hatten, sicher in Grammatik und Aussprache waren, standen
nicht mehr zur Verfügung.
Zur Zeit des Kalten Krieges verließen kaum Tataren die Sowjetunion,
ausgenommen sie waren teilweise jüdischer Herkunft mit tatarischen
Wurzeln. Sie erhielten auf Grund der Vereinbarungen des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky mit der sowjetischen Regierung die Ausreisegenehmigung, um nach Israel zu übersiedeln.
Aussage Prof. Nadir Devlet, email 18.01.2013
Interoffice Memorandum, Radio Liberty Committee, Munich Office, January 23, 1976
42 Ebda.
40
41
77
Beinahe alle neuen Mitarbeiter und –innen, die die ausgeschiedenen
Leute ersetzten, stammten aus China oder der Türkei. Waren Nachkommen jener Tataren, die anläßlich der russischen Revolution nach 1917 aus
der Sowjetunion geflohen waren. Sie sprachen tatarisch ausschließlich im
Kreis ihrer Familie und Freunde, waren Mitglieder tatarischer Jugendvereinigungen in den Einwanderungsländern, hatten aber nie eine Tatarische Schule besucht.
Eine seltene Chance, einen neuen Mitarbeiter zu gewinnen, ergab sich
1986, nachdem sich ein Tatar anläßlich einer Gesellschaftsreise unter
Aufsicht des KGB nach einer risikoreichen Flucht über Syrien und Jordanien in die amerikanischen Botschaft geflüchtet und um Asyl gebeten
hatte. Aber auch er sprach russisch besser als tatarisch, hatte in Moskau
studiert und wurde in New York von Enver Galim sorgsam für die tatarischen Schriftsprache, die Verwendung des lateinisches Alphabets und
die Redaktionsarbeit angelernt.
Die nächste Möglichkeit ergab sich durch Zufall, als 1990 in Bregenz in
Österreich eine Veranstaltung von Kasachen stattfand, die auch von einer
von seit kurzem dort lebenden Tatarin besuchte wurde. Sie hatte in Kasachstan einen Österreicher kennengelernt und geheiratet, durfte nach
zwei mühsamen Jahren ausreisen. Es ergab sich ein Gespräch mit einem
Mitarbeiter von Radio Liberty, dem ein Angebot zur Mitarbeit folgte.
Sehr zögernd willigte die Frau nach mehrmaligen Gesprächen ein, sie
konnte die Angst vor dem langen Arm des KGB nicht so leicht abschütteln.
Ihre Einwilligung zur Mitarbeit drohte dann noch einmal an der Anwesenheit Maria Sultans zu scheitern, die durch abwertende, unangebrachte Bemerkungen ihren Mann immer wieder brüskierte und für eine unangenehme Atmosphäre sorgte. So die Aussage der Frau. 43
Garip Sultan nahm die mangelnden Kenntnisse neuer Mitarbeiter gezwungenermaßen, oder auch, um seinen perfektionistischen Ansprüchen
Rechnung zu tragen, zum Anlaß, jede Arbeit seiner Mitarbeiter immer
wieder zu redigieren, manchmal mehrmals dasselbe Skript. Was ihm den
Ruf einbrachte, bei aller Höflich- und Liebenswürdigkeit ein sehr penibler Vorgesetzter zu sein.
Unter seiner Führung entwickelte sich das Tatar-Bashir-Service zu einer
Vorzeigeabteilung unter den Nationalitätenredaktionen. Er leistete durch
seinen Einsatz und die Einbringung verschiedener Organisationsformen
einen enormen Beitrag zur Entwicklung aller turksprachigen Dienstleistungen des Senders.
In den 50 er Jahren lasen die Redakteure einfach den vorbereitenden Informationstext, ohne Auflockerung oder Unterbrechung durch Musik,
was Sultan unter Einbeziehung zeitgemäßer Rundfunkarbeit änderte.
43
Riva Rüdisser im Gespräch.
78
Auch Feedback erfolgte nicht. Niemand wußte, wie die Sendungen von
den Hörern beurteilt wurden.
Sultan lancierte Sendungen über tatarische Literatur und Geschichte,
Gedichte wurden vorgetragen, mit Musik unterlegt. Er gründete das Archiv, ein Novum in den turksprachigen Redaktionen der Oettingenstraße
(Sitz von Radio Liberty). Mindestens einmal wurde sogar über die Modemesse in München wurde berichtet. Nicht zuletzt um die Sendungen
für die Hörer interessant zu gestalten, sie zum Einschalten zu motivieren.
Andere Redaktionen übernahmen diese vorbildlichen Änderungen.
1967 und später immer wieder in regelmäßigen Abständen leitete er
journalistische Fortbildungskurse, um Anwärter für die eine oder andere
Position zu trainieren, in tatarisch, türkisch, englisch und deutsch, um
möglichst viele Personen einzubeziehen. Der Schwerpunkt der Kurse war
natürlich dem Tatar-Bashkir- und dem Turkestanischen Service gewidmet.44
Doch hinsichtlich seiner privaten Lebensführung hatte sich nichts geändert, die Hoffnung die permanenten Streitereien zu Hause würden sich –
räumlich entfernt von dem vorangegangenem Problem – auf ein erträgliches Maß reduzieren, erfüllte sich nicht.
Beim geringsten Anlaß oder Nichtanlaß holte seine Frau alle zur Verfügung stehenden russischen Schimpfworte aus ihrem Repertoire, attackierte ihn nicht nur verbal, sondern auch physisch.45 Dem wußte er
nichts entgegen zu setzen, als Schweigen. „Damit die Nachbarn hören,
daß nur sie Krach macht“, so seine Haltung.
Einmal im Jahr lud Sultan alle Redaktionsmitglieder zu sich nach Hause
ein. Auch bei diesen Anlässen vergiftete Maria Sultan die Atmosphäre
durch die Geringschätzung, mit dem sie ihren Mann bedachte; auch hier
ignorierte er Beleidigungen und Ausdrücke der Verachtung.46 Sie verschwendete keinen Gedanken daran, welchen negativen Eindruck dies
bei den Besuchern machte könnte und versuchte ständig seine Autorität
gegenüber seinen Untergebenen zu untergraben. „Man merkte an ihrem
Benehmen, daß sie keine Bildung genossen hatte“.47
Die einzige Maßnahme, die Sultan dem Benehmen seiner Frau entgegensetzte: er achtete strikt darauf, daß von seinen privaten Schwierigkeiten
nicht mehr nach außen drang, als unübersehbar war. Nicht einmal sein
bester Freund, Dr. Schönberg, wußte mehr über den Menschen Garip;
auch er kannte nur den äußeren Schein, den dieser, um seine Würde zu
bewahren, um sich herum aufbaute.
RL newsletter Februar 1968
Dass er auf die Frage: „wieso in russisch“ entgegnete, „weil sie in dieser Sprache die ordinärsten
Schimpfworte kennt“, blieb damals in Unkenntnis des wahren Sachverhaltes, so stehen.
46 Prof. Nadir Devlet s.o.
47 Ebda.
44
45
79
Gemeinsame Unternehmungen mit seiner Frau beschränkte er auf beruflich unbedingt erforderliche. Zumal sie sich auch an öffentlichen Orten
keinen Zwang antat, ihn, z.B. anläßlich eines Empfangs in der amerikanischen Botschaft mit Fußtritten zu attackieren, nach einem Besuch eines
Arbeitskollegen in seinem Haus aus der gemeinsamen Wohnung auszusperren – , er nur mit Hausschuhen an den Füßen, im Januar, - oder
nach einem besonders heftigen Streit mit einer Schneiderschere auf ihn
einzustechen; die Narben an den Unterarmen behielt er bis zum Lebensende.
Neben diesen häuslichen Problemen, die ihn mehr belasteten als er sich
eingestand, war die Arbeit in München auch nicht frei von Existenzängsten. Regelmäßig entstanden innerhalb der US-Regierung Diskussionen über die Existenz von Radio Free Europe und Radio Liberty.
Wie schon vor und nach Gründung von Radio Liberty wollten die Gegner
in Kongreß und Repräsentantenhaus nicht verstummen. Beinahe nach
jeder Legislaturperiode, aber spätestens, nachdem ein neuer Präsident
gewählt worden war, meldeten sich immer wieder dieselben Abgeordneten zu Wort, wollten sowohl Radio Free Europe wie auch Radio Liberty
schließen. Viel zu teuer, hieß es, nicht abreißende diplomatische Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion und den Warschauer Pakt Staaten.
Einen Höhepunkt hatte das Thema in den Jahren 1967 bis 1972 erreicht,
nachdem Studenten aus dem linken Lager die Finanzierung der beiden
Radiostationen durch die CIA aufgedeckt und bekannt gemacht hatten.
Eine Kommission wurde gebildet, die als Schlußempfehlung fünf Punkte
zusammenfaßte, die vom Weiterbestand der Radiostationen bis zur
Schließung derselben reichte und letzten Endes die Entscheidung dem
amtierenden Präsidenten überließ.
Präsident Nixon entschied dann anläßlich eines Meetings am 7. Dezember 1969, Radio Liberty zu schließen, Radio Free Europe jedoch „zu verbessern“. Als Grund für die Schließung von Radio Liberty nannte er die
lokalen Arbeitsgesetze in Deutschland, die so stark von jenen in den USA
abwichen, daß für die hohen Kosten in den USA kein Verständnis vorhanden sei! Die Finanzierung sollte jedoch noch bis 1976 gesichert sein,
um die Schließung ordnungsgemäß abwickeln zu können.
Wie immer zuvor, entschieden die nachfolgenden Präsidenten die Radiostationen weiterzuführen, diskutierten aber immer wieder Radio Liberty
zur Gänze in die USA zu verlegen, die Station der Oberaufsicht der USIA
zu unterstellen, veranlaßten zeitweise die Reduzierung der Personals,
den größten Kostenfaktor, weil die Mitarbeiter exorbitant gut bezahlt
wurden, mit der Aussicht hoher Rentenzahlungen und Gesundheitsvorsorge.
80
16. Leben nach Verlust des Lebensinhalts
Garip Sultan hatte immer beabsichtigt, bis zu seinem 70. Lebensjahr in
jener Position zu bleiben, die er beinahe sein Leben lang inne hatte. Die
amerikanischen Gesetze erlauben das, etwas anderes lag außerhalb seiner Gedankenwelt.
Deshalb traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als ihm von der
Direktion der Nationalitäten nahe gelegt wurde, mit 65 Jahren seine Tätigkeit für Radio Liberty zu beenden.
Bis zu seinem Lebensende konnte er diesen Schicksalsschlag nicht verwinden, vermutete eine Intrige dahinter, verdächtigte seinen Stellvertreter und Nachfolger, dies lanciert zu haben, was aber nachweislich nicht
der Fall war. Vielmehr entsprach es der Politik von Radio Liberty, jüngere Leute zu gewinnen, die - im Gegensatz zu jenen, die im Krieg oder
auch schon davor ihr Heimatland verlassen hatten - vertraut waren mit
der geänderten Umgangssprache der Zielgruppen, Personen, die die gegenwärtigen Lebensumstände in der Sowjetunion kannten.
Im Jahr 1989 war die Sowjetunion unter Gorbatschow im Umbruch begriffen, es herrschte Glasnost, die jahrzehntelang betriebenen Störsender, die den Empfang von Radio Liberty sehr schwierig machten, gab es
nicht mehr. Gorbatschow hatte deren Abstellung im Zusammenhang mit
der Rede- und Pressefreiheit veranlaßt. Die Aus- und Einreise war etwas
gelockert worden, die Hoffnung, jüngere Leute aus den Zielgebieten zu
gewinnen, berechtigt.
Was sollte Sultan nun anfangen, ohne Ziel für das er sein Leben lang eingetreten war? Mehrere Monate lang wurde er noch als Freelancer beschäftigt, man benötigte seine Kenntnisse und Erfahrungen, bis sich andere Möglichkeiten eröffneten. Als auch diese Tätigkeit zu Ende war, waren die geliebten Saunabesuche seine einzige Abwechslung, bis er knapp
zwei Jahre nach seiner Pensionierung auf dem Weg dorthin, einen heftigen Schmerz in der Brust verspürte, den Weg kaum fortsetzen konnte.
Der Schmerz wiederholte sich, ein Arztbesuch war nicht mehr zu umgehen.
Wiederholten Untersuchungen ergaben eine weit fortgeschrittene Arteriosklerose der Herzschlagadern, die eine schwere Operation unumgänglich machten. Stents wurden offensichtlich nicht in Erwägung gezogen,
der Brustkorb mußte geöffnet und Bypässe gesetzt werden.
Es gibt viele Vermutungen über die Ursachen dieser Volkskrankheit,
doch bei einem lebenslang durchtrainierten Körper und gesunder Ernährung, wie von Garip Sultan praktiziert, denkt man auch an zusätzliche
Ursachen. Tägliche Streitigkeiten, lebenslange häusliche Auseinandersetzungen und dann noch der Verlust des Lebensinhalts hat mit großer
Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch dieser Krankheit beigetragen.
81
Nach Inanspruchnahme der Rehabilitation ging es ihm körperlich wieder
besser, doch die Inaktivität und der Verlust sozialer Kontakte führte zu
schweren Depressionen, über die er nicht sprach, doch für Menschen, die
ihn kannten, nicht zu übersehen waren.
Für Vorschläge, sich mit dem Computer und Internet vertraut zu machen, um an den Vorgängen in der Welt wenigstens passiv teilhaben zu
können, war er trotz Hilfsangebot nicht zu gewinnen. Seine Antriebskraft
war vollkommen versiegt, zu Neuem konnte er sich nicht aufraffen.
Eine seiner wenigen Freuden war die ungeduldig erwartete wöchentliche
Postsendung mit den Nachrichten von Radio Liberty, ausgedruckt über
das Internet. Ein besonderer Service der Autorin, um ihm Freude zu bereiten, mehr als ein Jahrzehnt lang. Auf diesem Weg konnte er wenigstens indirekt an seinem früheren Leben teilhaben, erfahren was sich in
„seiner“ Redaktion tat.
Natürlich hätte er diese Unterlagen auch direkt von Radio Liberty bestellen können, doch sowohl seine Sparsamkeit ließ diese Ausgaben nicht zu,
wie auch seine Meinung, man hätte diese Unterlagen unverlangt und
kostenlos einem verdienten Mitarbeiter zur Verfügung stellen müssen.
Ähnlich verhielt er sich zu den anfangs noch häufigen Einladungen zu
Vorträgen und Diskussionen. Wenn der angebotene Kostenersatz nicht
entsprach oder der Veranstaltung Ort nicht bequem zu erreichen war,
lehnte er ab. Daß er mit dieser Haltung jeden belebenden Gedankenaustausch verhinderte, das Tor seines Lebens hinter sich schloß, ignorierte
er. Seine Einsamkeit wurde immer größer.
Bald nach seiner Herzoperation zeigten sich bei seiner Frau Folgekrankheiten des Diabetes. Sie erlitt mehrere Schlaganfälle, konnte das Haus
nicht mehr verlassen und wurde zum Pflegefall.
Vor allem aus Sparsamkeitsgründen übernahm Sultan selbst die täglichen Haushaltspflichten, ohne Hilfe von außen, unverständlich für seine
Bekannten wenn man seine angeschlagene Gesundheit und die lebenslange unerfreuliche Ehesituation in Betracht zieht.
Auf außerhäusliche Hilfe angesprochen, meinte er: „wie lange könnte ich
das bezahlen? Die amerikanische Krankenkasse ersetzt nur einen Teil der
Kosten.“ Die Möglichkeit, der deutschen Sozialversicherung beizutreten,
hatte er – im Berufsleben – verweigert. Die amerikanische war billiger
gewesen. Doch von dieser Seite wurden keinerlei Pflegekosten und nur
ein Teil der Arztkosten ersetzt.
Deshalb übernahm er die Alltagspflichten, zumal sich seine Frau weigerte, sonstige Hilfe, wie „Essen auf Rädern“ zu akzeptieren. Die täglichen
Einkäufe, Sauberhalten der Wohnung, Heben seiner Frau aus dem Bett
und vieles mehr schadeten seiner Gesundheit außerordentlich und verschlechterten rasch seine Rückenprobleme.
82
Erst als seine Frau ihre Körperfunktionen nicht mehr kontrollieren
konnte, kam ein ambulanter Pflegedienst ins Haus und damit noch mehr
Stresse für ihn, weil die Pfleger ohne genaue Zeitvereinbarung irgendwann morgens und am späten Nachmittag ins Haus kamen. Er mußte
den größten Teil des Tages anwesend sein, um sie einzulassen. Zumal er
die Überlassung des Wohnungsschlüssels nicht in Betracht zog.
Im Jahr 2007 verstarb sie, einige Tage nachdem ihm selbst ein Herzschrittmacher eingesetzt worden war.
In den letzten Jahren litt er an irreparablen Rückenbeschwerden und
bewegte er sich nur mehr mit Hilfe eines Rollators fort.
Inzwischen war er immer einsamer geworden, einer nach dem anderen
der wenigen Bekannten aus den Redaktionen von Radio Liberty verstarben, zuletzt der Mann den er als „besten Freund“ bezeichnete - Dr. Hans
Schönberg.
Als einzige Unterbrechung des Tages blieben die Einnahme des Mittagessens in einem nahe gelegenen Restaurant, kurze Gespräche mit den dortigen Angestellten und die regelmäßigen Arztbesuche.
Im November 2011 hatte er keinen Lebenswillen mehr, nach einigen Tagen im Krankenhaus verstarb er still und leise, wie er zuletzt gelebt hatte.
Vermutlich hätten viele der über die ganze Welt verstreuten Landsleute
ihre Trauer über das Ableben des - außerhalb seiner Familie geschätzten
und geachteten - Menschen Garip, durch Teilnahme an der Begräbniszeremonie zum Ausdruck gebracht.
Doch die Anwesenheit fremder Personen an der Zeremonie wünschten
seine Nachkommen nicht.
Lediglich eine kleine unscheinbare Anzeige in der Süddeutschen Zeitung
kündete vom Tod eines Mannes der seine Lebensaufgabe darin gesehen
hatte, für die Freiheit seines Volkes – der Tataren – die Stimme zu erheben.
So schrieb Richard H. Cummings, anläßlich des Todes von Garip Sultan:
48„His voice is still familiar to thousands of people who regularly tuned
in to Tatar-language programs of Radio Liberty. Unfortunately, Mr.
Sultan's outstanding contribution to the enlightenment of the Tatar
people is still under-appreciated by the leaders of the Tatar organizations in Russia and by the current leadership of Tatarstan. Many Tatar
leaders simply don't understand the importance of Mr. Sultan's work
for the Tatar people.
Bill Reese schrieb:
In my capacities as Director of the Turkic Services, and as Director of
the Nationalities Services of RFE/RL , I worked with Garip for almost
48 http://coldwarradios.blogspot.co.at/2011/11/garip-sultan-rip.html
Richard H. Cummings
83
20 years. He was always a professional, a real gentleman and an outstanding representative of the Tatar Nation, always a patriot and advocate for his people. “ 49
Saide Haci, gegenwärtiger President der American-Tatar Association:
“We never had any Tatar like Mr. Sultan in American Tatar Association. He was a REAL Tatar who gave 200%.”
Zahlreiche ähnliche Nachrufe sind im Internet zu lesen.
Es bleibt zu wünschen, daß alle, die Garip Sultan gekannt haben, sich der
Hoffnung Sabirjan Badretdins anschließen: „dass es irgendwann in der
Zukunft ein Museum in Kasan geben wird, das sich mit der Geschichte
der Tatar-Baschkirischen-Abteilung von Radio Liberty befaßt, und, dass
der wichtigste Teil darin Garip Sultan gewidmet sein wird, dem Mann,
der für das Volk der Tataren mehr getan hat, als jeder andere Tatar in der
Diaspora.“50
49
http://www.mochpryderi.com
50
http://tatar.yuldash.com/eng_132.html
84
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RL Interview mit Garip Sultan, 2010
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Im Generalstab, Militärverlag 1971
Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, BadenBaden, Köln, 1986
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„Hitlers willfährige Truppe“,
12.12.2008
Deutsch-tatarisches Nachrichtenblatt –
Germanca-tatarca belesme, Nr. 14,
Kollaboration in Nordosteuropa,
Wiesbaden, 2006
Making sense of war, Princeton,
2001
Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt a. M. 2002
Dissertation Universität Wien, 1997
Sowjetische Kriegsgefangene und Ostarbeiter
86
Anhang
Unwahrheiten, von Ian Johnson auf Krimi getrimmt
„Wie schreibe ich einen Thriller, mit der Aufmerksamkeitswirkung von Ian Flemings „Diamonds are Forever“ und gleichzeitig dem Anstrich der Recherchenwahrheit eines Sachbuches?“
So oder so ähnlich mag Ian Johnson überlegt haben, nachdem er bereits 2005
einen Artikel zu dem Thema „Wer ist schuld an der Katastrophe des World Trade
Centers vom 11. 09. 2001?“ im Internet veröffentlicht hatte.
Möglicherweise weiter: „Irgend jemand dem die Schuld an der Katastrophe im
World Trade Center anzulasten ist, müßte sich doch finden lassen?! Ein Buch zu
diesem Thema könnte doch ein Bestseller werden, die Tantiemen würden nur so
fließen?!“
Der Präsident der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“, Galebh Himmat,
geriet neben unzähligen anderen Personen in Terrorverdacht, im Zusammenhang mit der Tragödie vom 11.09.2001. Himmat hatte diese Gemeinschaft im
Jahr 1960 in München mitbegründet. Deshalb, so folgerte Johnson, wurde München zum «Brückenkopf, von dem aus die Bruderschaft die westliche Gesellschaft
erobern wollte».
Johnson`s nicht nachzuvollziehende „Grauen Zellen“ erkoren die Gründung der
seit mehr als 50 Jahren bestehenden Organisation als Keimzelle dieses Verbrechens. Nun waren nur noch Belege vonnöten, die man als Quellen dieser Hypothese mit entsprechenden Argumenten zur These verifizieren konnte. Da kaum
noch ein Zeitzeugen lebte, konnte Johnson alles Mögliche behaupten, ohne Gefahr dafür belangt zu werden. Nur einer lebte noch, Garip Sultan – er war im
Jahr 2005 82 Jahre alt.
Die Rolle in der Sultan in dem oben angeführten Artikel dargestellt wurde, gleicht
einer Diffamierung, basiert auf Vermutungen und unzulässigen Schlußfolgerungen. Da er in seinem Alter nicht mehr den Willen für einen geharnischten Protest
aufbrachte, auch nicht über modernen Kommunikationsmittel verfügte, wäre nur
der mühsame Weg eines Protestbriefes geblieben. Deshalb verlangten sowohl ein
Bekannter Sultans, der den Artikel entdeckt hatte, wie auch die Autorin dieser
Biographie eine Richtigstellung von Johnson. Die erfolgte zwar nicht durch Löschen oder Ändern der entsprechenden Passagen, doch mit einem Brief auf dem
Postweg entschuldigte sich Iohnson bei Garip Sultan. (Aussage Sultan)
Was Johnson aber nicht daran hinderte in seinem Buch „Die vierte Moschee“ (erschienen 2009), die Unwahrheiten zu wiederholen.
Das Buch entspricht dem Muster angelsächsischer „Schund“romane
(pulp fiction) des sinistren Deutschen und debalancierten Orientalen.
(Zitat: Prof. E. von Mende) und entlockte Sultan lediglich die Bemer87
kung: „So ein Blödsinn“, als er las, dass seine Person zum Aufhänger des
Buches mißbraucht wurde.
Zu Beginn des ersten Kapitels „robbte er mit dem Maschinengewehr
durch die Dunkelheit“ (!) Es folgten ebenso lächerliche wie reißerische
Passagen im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Rotarmist.
Den Aufwand weiter zu lesen, leistete er sich nicht mehr: „das ist reine Zeitverschwendung“.
Abgesehen von den auf Thriller getrimmten Wortfolgen ist die Arbeit derart
schlampig recherchiert, dass sie nicht einmal der Schularbeit eines Achtklässlers
genügen würde. Einige Beispiele von vielen:
Seite 22:
„...Auf dem Sterbebett riet Sultans Vater dem Sohn …..“
Nigmetulla Sultan starb in der Zeit des Kalten Krieges, er überquerte im Winter
mit Pferd und Wagen den Fluß, das Eis hielt nicht, er brach ein. Wurde zwar gerettet, verstarb aber danach an Unterkühlung bzw. Lungenentzündung.
Garip Sultan sah seinen Vater das letzte Mal im Jahr 1941, bei guter Gesundheit!
(1941) … Jeder verfügbare Mann wurde eingezogen und an die Front geschickt…
Garip Sultan war im Juni 1941 erst 17 Jahre alt. Um als Rotarmist an die Front
geschickt zu werden, mußte man mindestens 19 Jahre alt sein. 51
„Sultans Kameraden wurden allesamt von Maschinengewehrsalven in Stücke zerfetzt, er selbst überlebte als Einziger….“
Von der fünfköpfigen Truppe kehrten nur Sultan und zwei seiner Kameraden
zurück, die zwei anderen blieben verschollen. Ob die beiden „zerfetzt“, gefangen
oder erschossen wurden, ist nicht bekannt.
Siehe Kap. 3 und Interview Radio Liberty – Sultan.
Seite 30:
… Ich habe deutsch gelernt, weil ein entfernter Verwandter mit einer Deutschen
verheiratet ist.“ „Ein entfernter Verwandter meiner Mutter hat eine Deutsche geheiratet, die im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester diente. Sie pflegte meinen
Verwandten. Sie verliebten sich ineinander und heirateten“.
Dr. Sophie von Mende kam als Mitglied einer Kommission, die tatarische Kriegsgefangene für besondere Verwendung suchte, in Begleitung von Ahmet Termirs
in das Lager Wustrau bei Berlin. Nach Überprüfung der detaillierten Fragebogen
identifizierte sie Garip als Sohn ihrer Schwester. (Siehe Kapitel 5)
Seite 47;
51
A.D. Sacharow,“ Mein Leben“, München 1991
88
…“ Auch Sultan gab zwei Zeitungen heraus, zunächst die Wolga-Ural und später
das Deutsch-Tatarische Nachrichtenblatt….
Garip Sultan war Herausgeber des Deutsch-Tatarischen Nachrichtenblattes und
hauptberuflich Dolmetscher bei Dr. Heinz Unglaube. Er gab keine zweite Zeitung
heraus.
….Einige Jahr später, nach dem Krieg, hielt Sultan seine Gedanken in einer sehr
ausführlichen Autobiographie fest….
Leider hat er nie eine Autobiographie geschrieben, deshalb das Interview auf Initiative von Radio Liberty im Jahr 2010. Radio Liberty hoffte, mehr über seinen
verdienten Mitarbeiter zu erfahren, als bekannt war, vor allem wie die Beschuldigung im Hinblick auf Musa Dshalil zustande kam. Siehe auch Vorwort.
Seite 72:
… 1952 …..Das Paar wollte eine Familie gründen….“
Garip Sultan war seit November 1946, also bereits seit 6 Jahren verheiratet, als
ihn Ian Johnson verheiraten wollte. Sein Sohn war inzwischen 6 Jahre alt. (Siehe
Kapitel 7)
Seite 73
….Edige Kirimal (arbeitete) in der Redaktion (Radio Liberty) der Tataren.“
Edige Kirimal, ein Krimtatare, arbeitete für das „Institut zur Erforschung der
UdSSR“, nie aber für Radio Liberty.
Einige Meinungen zu „Die vierte Moschee“ von Ian Johnson
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1370312/
Sensationelle Erkenntnisse liefert Johnsons Buch nicht… Es konstruiert eine
Koalition der Bösen, wirft dem Westen Mitschuld am Entstehen des radikalen
Islam vor und unterstellt diesem Welteroberungspläne. Johnson verliert aber oft
den Überblick, schreibt wenig stringent. Sprachliche Ungenauigkeiten, der Dramatisierung des Materials geschuldet, verärgern.
http://islam-dialog.ekvw.de/rezensionen/die-vierte-moschee.htm
Auch die These, dass der Moscheebau in München die Blaupause für die Geschehnisse des 11. September gewesen sei, beruht auf Übertreibung. …. Die
Spannung schien ihm eben doch wichtiger zu sein als eine klare Information.
http://www.weltbild.at/3/16436498-1/buch/a-mosque-in-munich.html#information
Ein Faktenthriller von der Entstehung und Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus mit Hilfe Nazi-Deutschlands und der CIA.
Citizen Times ist das Politikmagazin der Gustav Stresemann Stiftung e.V.
89
There is no other book that has broken this kind of ground. Johnson achieves this
through the griping genre of a detective story pealing back the layers of history,
cast of characters on the order of a Dostoyevsky novel, competing political agendas, religions and even intra-communal conflicts of the world-wide ummah, the
international Muslim community.
Hoover Institution Stanford University America, Germany, and the Muslim Brotherhood by John Rosenthal
The contested history of a mosque in Munich
“……..It is not difficult to understand, then, why Johnson’s book has been
hailed as a “cautionary tale.”And this it would be, were it not for the fact
that the tale Johnson tells is not supported by the evidence. The whole
basis of Johnson’s narrative of American “collusion” — as he put it in the
fall 2011 Middle East Quarterly — with Ramadan and the Brotherhood is
circumstantial evidence and conjecture. Unnervingly, once introduced
into the narrative, the conjecture is then elevated to the status of established fact. This procedure allows Johnson, for instance, to refer repeatedly to an American “plan” to install Ramadan as the head of the Munich
mosque project, even though he has offered no proof that such a plan ever existed. Dangerous liaisons or casual contacts?....”
90

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